Eine pure Reflexbewegung ließ mich nach dem schleifenden Zügel greifen; gleichzeitig warf ich einen Blick über die Schulter.
Zeit bis zum Tod: drei Sekunden.
Der hohe Aufbau des Pferdetransporters verdeckte den Himmel. Der Motorlärm steigerte sich zu einem Heulen. Das Muster der Kühlerverkleidung blieb mir ewig im Gedächtnis. Sechs Tonnen, ohne Ladung, dachte ich. In solchen Augenblicken kommen einem die dümmsten Gedanken. Gedanken sind in Zehntausendstel Sekunden zu messen; Taten dauern etwas länger.
Mit der linken Hand griff ich in die Mähne, mit der rechten packte ich den Sattel und schwang mich auf den Rücken des Braunen. Der Hengst war durch den Lärm und die Nähe des Transporters zu Tode erschreckt, aber Pferde sehen leider die Notwendigkeit nicht ein, sich vor den Rädern herandonnernder Gefahren in Sicherheit zu bringen. Verängstigte Pferde neigen viel eher dazu, vor ein Fahrzeug zu laufen, als vor ihm weg.
Andererseits sind Pferde sehr für menschliche Gefühle empfänglich, besonders, wenn dieser Mensch auf ihrem Rücken sitzt und vor Angst halb verrückt ist. Der Braune verstand die Botschaft laut und klar und ging durch.
Bei stehendem Start kann ein trainiertes Pferd die meisten Autos über eine Strecke von hundert Metern schlagen, aber der Transporter stand keineswegs. Der Blitzstart des Braunen brachte uns nur einen Vorsprung von wenigen Metern vor dem zermalmenden grünen Ungeheuer, das uns brüllend auf den Fersen war.
Wäre das Pferd gescheit gewesen, wäre es rechts oder links in eine schmale Gasse gebogen, in die der Transporter uns nicht folgen konnte. Statt dessen raste es schnurstracks geradeaus, und das Unglück kam unausweichlich näher.
Es half nur wenig, daß ich noch immer ein Stück Zügel hielt. Da Mischa dem Pferd die Zügel über den Kopf gestreift hatte, um es zu führen, waren sie jetzt nicht zur Hand, jeder Zügel ordentlich auf seiner Seite des Gebisses, sondern befanden sich beide auf der linken Seite unter dem Pferdemaul. Da Pferde normalerweise so gelenkt werden, daß das Gebiß nach oben gegen die empfindlichen Mundwinkel gezogen wird, bestand wenig Aussicht, ihm irgendwelche Hilfen zu geben. Erschwerend kam noch hinzu, daß meine Füße nicht in den Steigbügeln steckten, ich einen schweren Mantel trug und die Pelzmütze mir über die Brille rutschte. Der Braune suchte sich selbst den Weg auf die Bahn hinaus.
Instinktiv wandte er sich nach rechts, die Richtung, in der immer gearbeitet wurde. In wilder Flucht raste er dahin, und seine Hufe wirbelten Dreckklumpen hinter uns auf. Während ich mich noch fragte, wie lange er dieses Tempo wohl aushalten konnte, und hoffte, es sei für immer, kam es mir zum erstenmal so vor, als wäre das Motorengeräusch schwächer geworden.
Zu schön, um wahr zu sein. Auf gerader, ebener Strecke war ein Pferdetransporter allemal schneller als ein Pferd; vielleicht hatte er hochgeschaltet und machte einfach deshalb weniger Lärm.
Ich riskierte einen Blick über die Schulter, und sofort stiegen meine Lebensgeister wie ein Heliumballon. Der Pferdetransporter hatte die Verfolgung aufgegeben, drehte gerade um und trat den Rückzug an.
»Gott sei Lob und Dank«, dachte ich, und »Halleluja« und »Du herrliches Tier«, wirrer Dank an das Pferd und seinen mutmaßlichen Schöpfer. Blieb nur noch das Problem, das herrliche Tier zum Stehen zu bringen. Von Panik hatte es sich leicht anstecken lassen. Die Entwarnung kapierte es nicht so schnell.
Meine Mütze fiel endgültig hinunter. Unser Tempo trieb kalte Luft durch mein Haar und zwickte mich in die Ohren. Der Nieselregen trübte meine Brillengläser. Schwere Mäntel eignen sich schlecht für Ritte auf durchgehenden Pferden. Flatternde Hosenbeine wirken kaum beruhigend auf sie. Wenn mir nicht bald etwas zu den Bremsen und der Steuerung einfiel, konnte ich auch ebensogut unrühmlich hinunterfallen; und was würde Mr. Kropotkin sagen, wenn ich sein Olympiapferd durchgehen ließ?
Nach und nach gewann ich etwas Kontrolle über die Vorgänge. Schließlich handelte es sich um einen sechzehnhundert Meter langen Linkskurs, und links war die einzige Richtung, in die ich das Pferd steuern konnte. Dauernder Zug am Zügel richtete den Kopf des Braunen auf die Innenrails, und nachdem es mir gelungen war, die Füße in die Steigbügel zu stecken, bewirkte der Druck meines rechten Knies dasselbe. Einige beruhigende Ermahnungen, wie »Ho, ho, Junge, nur ruhig, mein Alter«, schienen auch zu helfen. Wenn die Worte auch englisch waren, so kannte das Tier doch den Ton.
Irgendwo im Einlauf, vor den Tribünen, ging ihm die Puste aus, und bald verfiel er in Schritt. Ich klopfte ihm den Hals, machte weiter Konversation, und kurz darauf blieb er stehen.
Jetzt zeigte er alle Anzeichen großer Anstrengung. Ich wischte die Nässe von meiner Brille und knöpfte den Mantel auf.
»Na, siehst du, mein Junge«, sagte ich. »Bist ein braver Kerl«, und klopfte ihm noch ein bißchen den Hals.
Er rührte sich kaum, als ich mich vorsichtig nach vorn über seine Ohren beugte, ihm mit den Armen unters Kinn griff und die Zügel über seinen Kopf brachte. Mir kam es fast so vor, als wäre er nachgerade erleichtert, sein Kopfzeug wieder in Ordnung zu haben, denn auf mein Zeichen trottete er mit der Willigkeit des gut ausgebildeten Pferdes den Weg zurück.
Kropotkins ganze Sorge galt verständlicherweise seinem Pferd. Nachdem ich abgestiegen war und die Zügel einem wie betäubt aussehenden Mischa übergeben hatte, befühlte er ängstlich die Beine des Braunen, trat zurück, um sonstigen Schaden zu begutachten und wandte sich dann mit seinem rollenden Baß längere Zeit an Stephen. Mit dem Arm machte er eine weitausholende Geste, die weder nach Angst noch Entschuldigung aussah, sondern irgendwo in der Mitte lag.
»Mr. Kropotkin sagt«, übermittelte Stephen, »er weiß nicht, was der Pferdetransporter heute hier zu suchen hatte. Die Olympiapferde reisen darin, aber heute hatte Mr. Kropotkin ihn nicht bestellt. Die Transporter sind immer neben den Ställen geparkt, die er leitet, auf der anderen Straßenseite. Und keiner der Fahrer würde zwischen den Stallungen so schlecht fahren. Er kann nicht verstehen, wie Sie und das Pferd dem Wagen in die Quere kommen konnten, als der Transporter vom Stall wegfahren wollte.«
Stephen hob die Augenbrauen. »Ich würde ja sagen, Sie waren ihm nicht im Weg. Das verdammte Ding ist direkt auf Sie losgefahren.«
»Vergessen Sie’s«, sagte ich. »Sagen Sie Mr. Kropotkin, ich verstehe, was er sagt. Sagen Sie ihm, ich bedaure, dem Wagen in die Quere gekommen zu sein. Sagen sie ihm, ich bin froh, daß dem Pferd nichts passiert ist, und deshalb sehe ich auch keinen Grund, die Ereignisse des heutigen Morgens irgend jemand gegenüber zu erwähnen.«
Stephen starrte mich an. »Sie lernen aber schnell ...«
»Sagen Sie ihm, was ich gesagt habe!«
Kropotkins ganze Art wurde nach meinen Worten so viel gelöster, daß ich erst da das ganze Ausmaß seiner Befürchtungen erkannte. Er brachte tatsächlich beinahe ein Lächeln zustande und sagte etwas zu Stephen, was diesem anscheinend weniger zweifelhaft vorkam.
»Sie reiten wie ein Kosak, meint er. Ist das ein Kompliment?«
»Dicht dran.«
»Außerdem sagt Mr. Kropotkin, er wird Ihnen jede Unterstützung geben, die Sie haben wollen«, übersetzte Stephen.
»Vielen Dank«, sagte ich.
»Freund«, sagte die tiefe Stimme in schlechtem Englisch, »du reiten gutt.«
Heftig rückte ich meine Brille gerade und dachte in mörderischer Wut an die Leute, die mir das Rennreiten verboten.
Stephen und ich schleppten uns mühsam eine halbe Meile bis zu der Stelle, wo, wie Kropotkin gesagt hatte, ein Taxistand sein sollte.
»Ich dachte, Sie wären so einer, der gleich zur Polizei rennt«, sagte Stephen.
»Nicht auf dieser Reise«, erwiderte ich und klaubte Dreck aus meiner Pelzmütze, die jemand zurückgebracht hatte.
»Nicht in diesem Land«, verbesserte er. »Wenn man sich hier bei den Bullen beschwert, endet man sehr wahr-scheinlich im Knast.«
Ich gab die Reinlichkeit zu Gunsten eines warmen Kopfes auf.
»Hughes-Beckett würde einen Anfall kriegen.«
»Wie dem auch sei, und Kropotkin kann sagen, was er will, der Pferdetransporter hat versucht, Sie umzubringen«, sagte Stephen.
»Oder Mischa. Oder das Pferd.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Haben Sie den Fahrer gesehen?«
»Ja und nein. Er trug eine von diesen Balaclavas unter der Pelzmütze, und die Ohrenklappen waren unten. Nur die Augen waren zu sehen.«
»Er ist ein verdammt hohes Risiko eingegangen«, sagte ich nachdenklich. »Trotzdem ist es ihm beinahe gelungen.«
»Sie nehmen das alles sehr gelassen hin«, wunderte sich Stephen.
»Wäre Ihnen ein hysterischer Anfall lieber? Da ist ein Taxi.«
Ich winkte, der Wagen hielt, und wir kletterten hinein.
»Ich habe noch nie jemand so auf ein Pferd springen sehen«, sagte Stephen unterwegs. »Eben noch auf dem Boden, gleich darauf in vollem Galopp. Dabei sehen Sie wie einer dieser nutzlosen Fatzkes in der Fernsehreklame aus ...« Ihm fehlten die Worte.
»Ja«, sagte ich. »Deprimierend, nicht wahr?«
Er lachte. »Übrigens, Mischa hat mir eine Telefonnummer gegeben, während Kropotkin nicht hinsah. Er möchte Ihnen was erzählen, ohne daß Kropotkin dabei ist.« Er holte einen zerknüllten Zettel hervor.
»Spricht der Taxifahrer englisch?« fragte ich.
Stephen sah nur leicht besorgt aus, und auch nur ganz kurz.
»Nein, nie. Dem können Sie erzählen, er stinkt wie ein Misthaufen, ohne daß er mit der Wimper zuckt.«
Ich versuchte es. Der Fahrer zuckte nicht mit der Wimper.
Da man kommen soll, wenn man erwartet wird, erschien ich pünktlich zum Mittagessen im Speisesaal des Hotel Intourist. Suppe, Blinis und Eiscreme mit Johannisbeergelee waren in Ordnung, aber das Fleisch mit der Beilage aus gehackten Karotten, gehacktem Salat und winzigen Kartoffelchips wanderte über den Tisch zu Frank.
»Sie werden verhungern«, sagte Mrs. Wilkinson ohne allzu große Besorgnis. »Mögen Sie kein Fleisch?«
»Ich produziere selber welches«, sagte ich. »Allerdings Rindfleisch. Auf einem Bauernhof. Deshalb bin ich wahrscheinlich auch so heikel, was das Zeug hier angeht.«
Mrs. Wilkinson musterte mich skeptisch. »Ich hätte nie gedacht, daß Sie auf einem Bauernhof arbeiten.«
»Äh ... doch. Aber er gehört mir. Von meinem Vater geerbt.«
»Können Sie eine Kuh melken?« fragte Frank, eine Spur herausfordernd.
»Ja«, sagte ich sanft. »Melken, pflügen, was Sie wollen.«
Er warf mir über meine Kartoffelchips hinweg einen scharfen Blick zu, aber ich hatte die Wahrheit gesagt.
Die praktische Seite der Landwirtschaft hatte ich vom zweiten Lebensjahr an gelernt, und zwanzig Jahre später war ich mit dem technischen Wissen von der Hochschule abgegangen. Seither hatte ich mich unter staatlicher Förderung ein wenig mit der chemischen Wechselwirkung zwischen Boden und Nahrungsmittel beschäftigt und einige Hektar Versuchsfläche angelegt. Nach dem Rennsport war diese Tätigkeit mein Hauptinteresse gewesen ... und von jetzt an wohl mein einziges.
Mrs. Wilkinson sagte mißbilligend: »Sie halten doch nicht etwa Kälber in diesen schrecklichen Käfigen?«
»Nein.«
»Ich finde es immer ganz furchtbar, an die armen geschlachteten Tiere zu denken, wenn ich die Koteletts fürs Wochenende kaufe.«
»Wie waren denn die Ökonomischen Errungenschaften?«
»Wir haben eine Raumkapsel gesehen.« Sie stürzte sich in eine widerwillig bewundernde Schilderung der Ausstellung. »Schade, daß es so etwas bei uns nicht gibt. So eine Ausstellung, meine ich. Eine Dauerausstellung. Mit der wir zur Abwechslung mal unser eigenes Loblied singen.«
»Waren Sie auch dort?« fragte ich Frank.
»Nein.« Er schüttelte mampfend den Kopf. »Kenne sie allerdings von früher.«
Er sagte nicht, wo er statt dessen gewesen war. Ich hatte nicht bemerkt, ob er Stephen und mir gefolgt war, aber möglich war es. Falls ja, was hatte er dann gesehen?
»Morgen fahren wir nach Zagorsk«, sagte Mrs. Wilkinson.
»Wo ist das?« fragte ich, sah Frank beim Kauen zu und konnte seinem Gesichtsausdruck absolut nichts entnehmen.
»Eine Menge Kirchen, glaube ich«, sagte sie vage. »Wir fahren mit dem Bus hin, mit Visum, weil es außerhalb von Moskau liegt.«
Ich warf ihr einen flüchtigen Seitenblick zu, da ich in ihrer Stimme leise Enttäuschung wahrzunehmen meinte. Sie war eine kleine Frau, solide, Ende fünfzig, mit dem wohlmeinenden Gesicht der meisten Engländer. Ebenso typisch war ihr Scharfsinn, der sich gelegentlich in wirkungsvoll direkten Bemerkungen äußerte. Je mehr ich von Mrs. Wilkinson kennenlernte, desto mehr respektierte ich sie.
Ihr gegenüber, neben Frank, saß Mr. Wilkinson und schwieg wie üblich. Offenbar machte er diese Reise nur seiner Frau zuliebe und wäre gern wieder zu Hause in seiner Kneipe und bei Manchester United gewesen.
»Viele Leute gehen heute abend ins Bolschoi theater«, fuhr Mrs. Wilkinson leicht bekümmert fort. »Aber Vater macht sich nichts aus Ballett. Nicht wahr, Vater?«
Vater schüttelte den Kopf.
»Er mag diese Dinger nicht, die die Männer tragen«, vertraute Mrs. Wilkinson mir mit gesenkter Stimme an. »Diese Trikots. Sie wissen schon, wo man hinten alle Muskeln sieht ... und dann das vorne.«
»Hosenbeutel«, sagte ich mit unbewegtem Gesicht.
»Wie?« Sie machte ein verlegenes Gesicht, als hätte ich ein für ihre Schamschwelle zu derbes Schimpfwort benutzt.
»So nennt man das. Diese Dinger, die die natürlichen Umrisse verhüllen.«
»Ach so.« Sie war erleichtert. »Ich finde jedenfalls, es wäre viel hübscher, wenn sie Hemden anhätten. Das wäre viel weniger aufdringlich. Und man könnte sich auf den Tanz konzentrieren.«
Mr. Wilkinson murmelte etwas, was wie »dämliches Herumgehopse« klang und stopfte sich den Mund mit Eiscreme voll.
Mrs. Wilkinson schaute drein, als hätte sie das schon öfter gehört, und fragte mich: »Haben Sie denn Ihre Pferde gesehen?«
Franks Konzentration auf das Essen erfuhr eine winzige Unterbrechung.
»Sie waren wunderbar«, erklärte ich und verbreitete mich zwei Minuten lang über die Trainingsleistungen und ihr Aussehen. Nichts in Franks Ausdruck verriet, daß er von der Lückenhaftigkeit meines Berichtes wußte, aber wenn man ihm etwas angemerkt hätte, wäre er wohl auch für seine Aufgabe ungeeignet gewesen.
Natascha näherte sich geschäftig, um mein Leben noch komplizierter zu machen.
»Wir haben Glück gehabt«, verkündete sie ernst. »Wir haben für morgen abend ein Billett für Sie bekommen. Im Bolschoitheater.«
Ich fing einen Blick voll spöttischen Mitgefühls von Mr. Wilkinson ein, während ich schwache Dankesworte murmelte.
»Für Pique Dame«, sagte Natascha mit fester Stimme.
»Ah ...« sagte ich.
»Das Bolschoitheater gefällt jedem«, sagte sie. »Es ist die beste Oper der Welt.«
»Ausgezeichnet«, sagte ich. »Ich freue mich schon darauf.«
Sie sah zufrieden aus, und ich ergriff die Gelegenheit, ihr mitzuteilen, daß ich am Abend mit Freunden zum Essen verabredet sei. Behutsam versuchte sie herauszubekommen, wo genau ich hingehen wollte, da ich das aber zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht wußte, außer daß es irgendwo war, wo man etwas Anständiges zu essen bekam, hatte sie kein Glück.
»Und heute nachmittag«, kam ich ihr zuvor, »das Leninmuseum.«
Ihre Miene hellte sich auf. Endlich, dachte sie zweifellos, benahm ich mich wie ein braver Tourist.
»Hätten Sie was dagegen, wenn ich mitkomme?« fragte Frank und vertilgte den Rest meines Mittagessens. Sein
Gesicht wirkte vollkommen arglos, und ich konnte ihn nur bewundern. Wenn man durch die Beschattung eines Menschen dessen Verdacht erregen könnte, schloß man sich ihm einfach unter einem Vorwand an.
»Im Gegenteil«, sagte ich. »Treffen wir uns in einer halben Stunde in der Halle.« Sobald er sich über seinen Nachtisch hermachte, verschwand ich und eilte zur glücklicherweise nahe gelegenen Post.
Rief die Botschaft an. Erreichte Oliver Waterman.
»Hier ist Randall Drew«, sagte ich.
»Von wo rufen Sie an?« unterbrach er.
»Vom Postamt.«
»Ah. Sehr gut. Sprechen Sie weiter.«
»Sind Fernschreiben für mich eingetroffen? Von Hughes-Beckett oder sonst jemand in London?«
»O ja«, sagte er zerstreut. »Ich glaube, da war was, mein Lieber. Bleiben Sie dran ...« Er legte den Hörer hin, und ich hörte Rascheln und seine fragende Stimme. »Da haben wir es«, meldete er sich wieder. »Haben Sie was zu schreiben?«
»Ja«, erklärte ich geduldig.
»Juri Iwanowitsch Chulitskij.«
»Buchstabieren Sie bitte.«
Das tat er.
»Das habe ich. Weiter.«
»Da ist nichts weiter.«
»Das ist alles?« fragte ich ungläubig.
Seine Stimme klang zweifelnd. »Das Schreiben lautet, so wie es aus dem Fernschreiber kam: Randall Drew informieren, Juri Iwanowitsch Chulitskij; und dann noch ein paar Zahlen. Das ist alles.« »Zahlen?«
»Könnten eventuell eine Telefonnummer sein. Jedenfalls hier sind sie: 180-19-16. Haben Sie das?«
Ich las zur Sicherheit noch mal vor.
»Richtig, lieber Freund. Und wie geht es sonst?«
»Es geht«, sagte ich. »Könnten Sie ein Fernschreiben für mich absenden, wenn ich Ihnen den Text gebe?«
»Ah«, machte er. »Ich glaube, ich sollte Sie warnen. Im Augenblick scheinen sich da einige internationale Verwicklungen zusammenzubrauen, und der Fernschreiber ist ziemlich besetzt. Sie haben uns ziemlich unverblümt gesagt, wir sollten sie nicht mit Nebensächlichkeiten in Anspruch nehmen. Nebensächlichkeiten, ich bitte Sie. Wenn Sie also Wert darauf legen, daß Ihre Nachricht wegkommt, sollten Sie selbst hingehen, lieber Freund.«
»Wo soll ich hingehen?« fragte ich.
»Ach, das können Sie ja nicht wissen. Der Fernschreiber ist nicht hier in der Botschaft, sondern in der Handelsabteilung auf dem Kutusowskiy-Prospekt. Das ist die Verlängerung des Kalinin-Prospekt. Haben Sie einen Stadtplan?«
»Ich werde es schon finden«, versicherte ich.
»Sagen Sie, ich hätte Sie geschickt. Und ich würde dabeibleiben, lieber Freund. Fallen Sie ihnen auf die Nerven, dann haben Sie vielleicht Erfolg.«
»Ich werde Ihren Rat befolgen«, versprach ich.
»Der britische Klub ist auch auf dem Kutusowskiy-Prospekt«, sagte er träge. »Voll von zeitweilig Verbannten, die in Heimweh schwelgen. Trauriger kleiner Ort. Ich gehe nicht oft hin.«
»Wenn noch mehr Fernschreiben für mich kommen, würden Sie mich im Hotel anrufen?«
»Natürlich«, sagte er höflich. »Geben Sie mir Ihre Nummer.«
Ich unterdrückte das Verlangen, ihm zu sagen, daß ich das bereits zweimal getan hatte, sondern wiederholte sie und stellte mir vor, wie bei meiner Abreise sein Büro von kleinen Zetteln, auf denen immer die gleiche Nummer stand, überschwemmt war, die er mit sanfter Verwirrung betrachtete, wobei er sein graues Haar zurückstrich.
Nachdem das Gespräch beendet war, überlegte ich, ob ich Frank versetzen und gleich zum Fernschreiber eilen sollte, aber die Nachricht hatte noch ein, zwei Stunden Zeit, und es lohnte nicht, ihn deswegen kopfscheu zu machen. Ich ging ins Intourist zurück, fuhr nach oben, fuhr wieder nach unten und fand, als ich aus dem Fahrstuhl schlenderte, den wartenden Frank vor.
»Da sind Sie ja«, sagte er. »Ich dachte schon, ich hätte Sie verpaßt.«
»Na denn, auf geht’s«, sagte ich aufgeräumt, und wir verließen das Hotel und stiegen in den langen Fußgängertunnel hinunter, der unter dem Platz des Fünfzigsten Jahrestages der Oktoberrevolution hindurch auf eine gepflasterte Straße führte. Rechts von uns zogen sich die roten Mauern des Kreml hin.
Auf dem Weg durch die Passage teilte mir Frank seine Ansichten zum Genossen Lenin mit, der ihm zufolge das einzige Genie des 20. Jahrhunderts war.
»Geboren ist er allerdings im neunzehnten«, sagte ich.
»Er hat den Massen die Freiheit gebracht«, verkündete Frank ehrfürchtig.
»So? Welche denn?« fragte ich.
Frank ignorierte die Frage. Irgendwo unter dem dämlichen, wirren Soziologengewäsch, mit dem er die
Wilkinsons und mich so reichlich überhäufte, mußte ein hartgesottener, überzeugter, fanatischer Kommunist stecken. Ich betrachtete sein in einen langen, gestreiften Schal gehülltes, eckiges, narbiges Gesicht und fand ihn einfach herrlich: er lieferte eine perfekte Darstellung des halbgebildeten linken Anhängers der Lehrergewerkschaft, und das so überzeugend, daß es schwer zu glauben war, daß er schauspielerte.
Mir kam der Gedanke, daß Ian Young vielleicht unrecht hatte und Frank gar nicht vom KGB war. Aber wenn Ian das war, wofür ich ihn hielt, irrte er sich bestimmt nicht. Wenn Frank nicht vom KGB war, warum sollte mir Ian das dann erzählen?
Ich fragte mich, wie viele Lügen ich seit meiner Ankunft in Moskau schon gehört hatte und wie viele man mir noch auftischen würde.
Auf der Schwelle des Lenin-Museums fiel Frank praktisch auf die Knie. Drinnen mußten wir uns endlose Vorträge über die Kleidung, den Schreibtisch, das Auto etc. des Befreiers der Massen anhören. Und so sah er aus, dachte ich, während ich das pedantische kleine, bärtige Gesicht betrachtete, das einem unzählige Male von Bildern, Plakaten, Broschüren und Postkarten entgegenstarrte: der Mann, der eine Million Morde veranlaßt und überall auf der Welt seine Jünger zurückgelassen hatte, damit sie sein blutiges Reich errichteten. Das war der Visionär, der die Massenvernichtungen in Gang gesetzt, der Mann, der nur das Beste im Sinn gehabt hatte.
Ich sah auf meine Uhr und sagte Frank, daß es mir reichte; ich brauchte frische Luft. Er ignorierte die implizite Kränkung und folgte mir nach draußen. Dort sagte er einfach nur, er besuche das Museum jedesmal, wenn er in Moskau sei, und finde es immer wieder faszinierend. Das immerhin nahm ich ihm ohne weiteres ab.
Stephen, zurück vom Mittagessen und einer wichtigen Vorlesung, wartete wie verabredet vor dem Hotel. Natürlich nur auf mich, deshalb war er überrascht, als ich mit Frank auftauchte.
Ich stellte sie einander vor, ohne irgendwelche Erklärungen abzugeben; sie waren sich sofort unsympathisch.
Wären sie Hunde gewesen, hätten sie sich feindselig beschnüffelt und die Zähne gefletscht: So kräuselten sie nur die Nase. Ich fragte mich, ob Stephens instinktive Ablehnung dem eigentlichen oder dem getarnten Frank galt, dem Individuum oder dem Typus. Frank konnte wohl erwarten, daß ein Freund von mir nicht sein Freund sein konnte; und wenn Ian recht damit hatte, daß er mir folgte, dann mußte er Stephen schon gesehen haben.
»Tja, Frank«, sagte ich, meine Erheiterung verbergend, »danke für Ihre Begleitung. Den Rest des Tages kümmert sich Stephen um mich. Wir sehen uns dann beim Frühstück.«
»Ja, natürlich.«
Wir gingen los, aber nach ein, zwei Schritten drehte Stephen sich stirnrunzelnd um. Ich schaute in die gleiche Richtung wie er: Franks sich entfernende Rückenansicht.
»Habe ich den nicht schon mal gesehen?« sagte Stephen.
»Wo denn?«
»Keine Ahnung. Gestern morgen hier auf dem Platz, vielleicht.«
Wir gingen am Rande des Roten Platzes auf das Kaufhaus GUM zu.
»Er wohnt im Intourist«, sagte ich.
Stephen nickte. Es beschäftigte ihn schon nicht mehr. »Wo soll’s denn hingehen?«
»Zu einer Telefonzelle.«
Wir fanden eine, warfen die zwei Kopeken ein, aber unter der Nummer, die Mischa uns gegeben hatte, meldete sich niemand. Dasselbe Ergebnis bei Juri Iwanowitsch Chuhtskij.
»Dann also zum Fernschreiber auf dem Kutusowskiy-Prospekt«, sagte ich. »Wo kriegen wir hier ein Taxi?«
»Die Metro ist billig. Nur fünf Kopeken, egal wie weit man fährt.«
Er verstand einfach nicht, warum ich Geld ausgab, wenn es nicht nötig war. In seinem Blick und seiner Stimme lag eine fast schon zornige Fassungslosigkeit. Ich gab achselzuckend nach, und wir nahmen die Metro, wo ich wie immer gegen die klaustrophobischen Gefühle ankämpfen mußte, die mich jedesmal befielen, wenn ich durch Maulwurfsgänge tief unter der Erde sauste. Die kathedralenähnlichen Stationen der Untergrundbahn schienen zur höheren Ehre der Technologie erbaut worden zu sein (nieder mit den Kirchen), aber auf den schrecklich langen, langweiligen Rolltreppen begann ich mich nach der lauten, vulgären Büstenhalterreklame der Londoner Untergrundbahn zu sehnen. Singendes, Swingendes, lärmendes, dreckiges, hemmungsloses London, gierig, gefräßig und lebenshungrig. Goldene Kutschen und weiße Pferde auf der Mall - anstelle von Panzern - und streikende Müllabfuhr.
»Streikt die Müllabfuhr hier auch?« fragte ich Stephen.
»Streiken? Seien Sie nicht albern. Streiks sind in Rußland nicht erlaubt.«
Schließlich gelangten wir wieder an die Oberfläche und erreichten die Handelsabteilung, die ebenfalls von einem Soldaten bewacht wurde. Wieder gelang es uns einzudringen, und Oliver Watermans Rat folgend, fiel ich den Telexleuten so auf die Nerven, daß sie die folgende
Anfrage für mich durchgaben: Erbitte Einzelheiten über Leben und Herkunft von Hans Kramer. Wo befindet sich die Leiche. Erbitte außerdem Namen und Telefonnummer des Pathologen, der Autopsie vornahm.
»Erwarten Sie keine Antwort«, wurde mir brüsk gesagt. »In irgendeinem afrikanischen Land, das vollgestopft ist mit sowjetischen Waffen und sogenannten Beratern, ist die Hölle los. Der Fernschreiber raucht, und die Diplomaten haben Vorrang. Sie sind ganz unten auf der Liste.«
»Vielen Dank«, sagte ich, und wir trotteten auf die
Straße zurück.
»Was jetzt?« fragte Stephen.
»Versuchen Sie noch mal die Nummern.«
Wir fanden eine verglaste Telefonzelle, steckten die Kopeken in den Schlitz, erhielten aber wieder keine Antwort.
»Wahrscheinlich noch nicht von der Arbeit zurück«, meinte Stephen.
Ich nickte. Das Tageslicht ging schon jetzt, um vier Uhr nachmittags, rasch in Dämmerung über, und die
erleuchteten Fenster strahlten mit jeder Minute heller.
»Was wollen Sie jetzt machen?«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich.
»Wollen Sie mit mir zur Universität kommen? Wir sind schon ziemlich in der Nähe. Jedenfalls näher als zu Ihrem Hotel.«
»Was zu essen gibt es da wohl nicht?«
Er sah mich überrascht an. »Doch, wenn Sie möchten. Es gibt eine Art Supermarkt für Studenten im Erdgeschoß und Küchen auf den Etagen. Wir können was kaufen und auf meinem Zimmer essen. Aber so gut wie im Intourist ist es sicher nicht.«
»Ich werde es trotzdem wagen.«
»Dann rufe ich an und sage, daß Sie mitkommen«, sagte er und wandte sich wieder der Telefonzelle zu.
»Können wir nicht einfach hingehen?«
Er schüttelte den Kopf. »In Rußland muß alles vorher angemeldet werden. Wenn es angemeldet ist, ist es in Ordnung. Wenn nicht, ist es irregulär, verdächtig und subversiv, und außerdem kommen Sie nicht rein.« Er fischte weitere zwei Kopeken aus der Tasche und legte sie nutzbringend an.
Nachdem das erledigt war, begann er unsere Route mit der Untergrundbahn festzulegen, aber ich hörte ihm nicht zu. Zwei Männer, ganz in ein Gespräch vertieft, kamen auf uns zu. Von dem Gefühl, daß einer der beiden mir bekannt vorkam, gelangte ich über einige Gedankensprünge zu dem Schluß, daß ich beide kannte.
Es waren Ian Young und Malcolm Herrick.