Kapitel 8

Sie waren, wenn möglich, noch überraschter als ich.

»Randall!« sagte Ian. »Was tun Sie denn hier?«

»Wenn das nicht unser Schnüffler ist!« dröhnte Malcolm Herricks Stimme, unbekümmert um Diskretion, selbstbewußt über den Kutusowskiy-Prospekt. »Aljoscha schon gefunden, Sportsfreund?«

»Ich fürchte nein«, sagte ich. »Das ist Stephen Luce. Ein Freund. Engländer.«

»Malcolm Herrick«, stellte sich der MoskauKorrespondent von The Watch vor und wartete auf eine Reaktion. Es kam keine, aber daran mußte er schon gewöhnt sein. »Moskau-Korrespondent von The Watch«, setzte er hinzu.

»Großartiges Blatt«, erklärte Stephen, der offensichtlich kein Wort aus der Herrickschen Feder gelesen hatte.

»Wir sind auf dem Weg in den britischen Klub. Sie auch?« Ians aufmerksame Augen warteten auf eine Antwort. Ich wußte einige unverfängliche Antworten, und eine davon gab ich ihm.

»Ich habe ein Fernschreiben abgeschickt«, erklärte ich. »Es war Olivers Vorschlag.«

»Diese Schlange«, unterbrach Herrick unerwartet und bekam schmale Augen. »Gewöhnlich gibt er die Texte für den Fernschreiber einem Burschen in der Halle unten.«

»Und der Bursche in der Halle gibt sie an Sie weiter?« fragte ich.

»Man hat so seine Quellen.« Er strich sich über die Nase.

Ian war nicht beeindruckt. »Wenn eine Antwort kommt, sorge ich dafür, daß Sie sie kriegen«, sagte er zu mir.

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar.«

»Wo gehen Sie jetzt hin, Sportsfreund?« fragte Malcolm, laut und direkt wie immer.

»Mit Stephen zur Universität, zum Tee.«

»Tee!« Er schnitt eine Grimasse. »Hören Sie, warum treffen wir uns nicht später zu einem anständigen Abendessen? Wir alle«, fügte er hinzu, und seine großartige Geste umfaßte Ian und Stephen. »Paßt Ihnen das Aragvi, Ian?«

Ian hatte den Vorschlag zunächst ohne sichtbare Reaktion aufgenommen, doch die Wahl des Restaurants schien Gnade vor seinen Augen zu finden, und er nickte schweigend. Malcolm wollte den Weg beschreiben, aber Stephen sagte, er wüßte Bescheid.

»Na prima«, strahlte Malcolm. »Halb neun. Seien Sie pünktlich.«

Das leichte Nieseln, das schon den ganzen Tag anhielt, schien in Schneeregen auszuarten. Es dämpfte jedenfalls nachhaltig die Neigung, das Gespräch auf der Straße fortzusetzen, und so trennten wir uns in allgemeinem Einvernehmen und gingen unserer Wege.

»Wer ist der Mann, der wie ein Russe aussieht?« fragte Stephen, der vor den schneidend kalten Tropfen den Kopf einzog.

»Der, der die Sphinx spielt?«

»Nehmen wir das Taxi da«, sagte ich und winkte einem graugrünen Auto. Das grüne Licht hinter der Windschutzscheibe wies es als freies Taxi aus.

»Das ist zu teuer«, protestierte er automatisch, während er neben mich auf den Rücksitz glitt. »Wir werden diese widerwärtige bürgerliche Gewohnheit abstellen müssen.« Er verstand es ausgezeichnet, den russischen Akzent nachzuahmen und dabei sarkastisch den russischen Standpunkt zu vertreten. »Proletarier aller Länder, vereinigt euch ... und fahrt mit der Metro.«

»Kaviar ist unmoralisch«, sagte ich trocken.

»Kaviar ist nicht bürgerlich. Kaviar ist für jeden, der ein Vermögen in Rubeln zusammenkratzen kann.« Er musterte mich nachdenklich und verfiel wieder in normales Englisch. »Warum haben Sie gesagt, daß Kaviar unmoralisch ist? Das paßt gar nicht zu Ihnen.«

»Stammt auch nicht von mir, sondern von jemand anderem.«

»Einem Mädchen?«

Ich nickte.

»Aha«, sagte er. »Ich tippe auf eine reiche, großbürgerliche sozialistische Rebellin gegen Mammi.«

»Gar nicht mal so verkehrt«, sagte ich, eine Spur traurig.

Er sah mich besorgt an. »Ich habe Sie doch nicht gekränkt?«

»Nein.«

Ich bat ihn, das Taxi bei einer Telefonzelle halten zu lassen, wo Stephen erneut die beiden Nummern wählte. Bei Mischa hatte er kein Glück, aber bei der zweiten Nummer meldete sich beim ersten Klingeln jemand. Den Hörer in der Hand, signalisierte mir Stephen mit erhobenem Daumen Erfolg, sagte etwas, hörte zu und reichte mir dann den Hörer. »Es ist Juri Iwanowitsch Chulitskij persönlich. Er sagt, er spricht Englisch.«

»Mr. Chulitskij?« meldete ich mich. »Mein Name ist Randall Drew. Ich bin Engländer und besuche Moskau. Ihr Name und Ihre Telefonnummer wurden mir von der britischen Botschaft gegeben. Ich würde Sie gern sprechen, wenn das möglich ist.«

Längeres Schweigen. Dann sagte die Stimme am anderen Ende ruhig und mit einem Akzent, der eine genaue Kopie von Stephens Imitation war: »In welcher Angelegenheit?«

Dank der spärlichen Auskünfte des Fernschreibens konnte ich das nur schwer beantworten. »Pferde?« fragte ich hoffnungsvoll.

»Pferde.« Das klang wenig begeistert. »Immer Pferde. Ich kenne Pferde nicht. Ich bin Architekt.«

»Aha«, sagte ich. »Haben Sie bereits mit anderen Engländern über Pferde gesprochen?«

Pause. Dann die Stimme, gemessen und immer noch ruhig.

»Das ist so. In Moskau, ja. Und in England, ja. Viele Male.«

Mir dämmerte etwas. »Sie waren bei der Military in Burleigh, im September?«

Pause. Dann: »Viele Military. September ... und August.«

Volltreffer, dachte ich. Einer der Beobachter.

»Mr. Chulitskij«, sagte ich überredend, »bitte, kann ich Sie irgendwo treffen? Ich habe mit Nikolai Alexandrowitsch Kropotkin gesprochen, und wenn Sie sich über mich erkundigen wollen, wird er Ihnen gewiß sagen, daß Sie sich mit mir unterhalten können.«

Ganz lange Pause. »Schreiben Sie für Zeitung?«

»Nein«, sagte ich.

»Ich anrufen Nikolai Alexandrowitsch«, sagte er. »Ich suchen seine Nummer.«

»Ich habe sie hier«, sagte ich und las sie ihm langsam vor.

»Sie wieder anrufen. Eine Stunde.«

Der Hörer auf seiner Seite wurde energisch aufgelegt, und Stephen und ich kehrten zum Taxi zurück.

Unterwegs sagte Stephen. »Wenn wir in meinem Zimmer sind, sagen Sie nichts, was nicht für fremde Ohren bestimmt ist. Oder jedenfalls nicht, bis ich sage, daß die Luft rein ist.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Ich bin Ausländer. Ich lebe in dem Teil der Universität, der für ausländische Studenten reserviert ist. Von jedem Raum, der in Moskau von Ausländern bewohnt wird, sollte man zunächst annehmen, daß er abgehört wird, bis das Gegenteil bewiesen ist.«

Das Universitätsgebäude, ein Areal riesiger Blocks mit schmalen Fenstern, das von schlanken, hohen Türmen durchbrochen war und wie ein gewaltiger grauer Steinpudding wirkte, schaute von seinem Hügel auf den Fluß und das Stadtzentrum hinab. Am anderen Ufer lag das weitläufige Lenin-Stadion, wo die Olympioniken laufen, springen und werfen sollten.

»Wie schaffen die das, wo die ganze Stadt voller Ausländer ist?« fragte ich.

»Hier herrscht Apartheid.« Der russische Akzent machte die Bemerkung zu einem üblen Scherz. »Die Rassentrennung wird unbarmherzig aufrechterhalten.«

»Warum sind Sie eigentlich nach Rußland gekommen, wenn Sie so denken?« fragte ich.

Er warf mir einen raschen, belustigten Blick zu. »Ich liebe die Stadt und hasse das Regime, so wie jeder hier. Und wenn man jederzeit raus kann, ist es kein Gefängnis.«

Das Taxi setzte uns am Tor ab, und wir gingen zu Fuß zum Eingang für ausländische Studenten, einer Tür, die durch die schiere Höhe der Wände drumherum winzig klein wirkte. Im Innern saß eine rundliche, ältere Frau hinter einem Tisch. Stephen sah sie ohne jede Reaktion an, was bedeutete, daß sie ihn kannte, und dann mich; mit der Geschwindigkeit einer Klapperschlange war sie von ihrem Stuhl hoch und versperrte mir den Weg.

Stephen sprach russisch mit ihr. Mürrisch schüttelte sie den Kopf. Zusammen konsultierten sie eine Liste auf dem Tisch; und mit strengem Blick ließ sie mich passieren.

»Solche Drachen hüten jede Tür in Rußland«, sagte Stephen. »Die einzige Möglichkeit, an ihnen vorbeizukommen, ist, angemeldet zu sein; oder man erschlägt sie.«

Ein langer Marsch endete schließlich in einem Selbstbedienungsladen. Sämtliche Verpackungen wirkten fremd, und aufgrund des kyrillischen Alphabets, in dem Restaurants für westliche Augen wie >PECTOPAH< aussahen, konnte ich ihren Inhalt nicht einmal erraten. Stephen machte zielsicher die Runde und holte etwas, das sich später als Cremetorte und Milch herausstellte.

An der Kasse stand ein hübsches Mädchen mit hellbraunem Haar und beneidenswert schlanker Taille vor uns. Als Stephen sie grüßte, wandte sie den Kopf und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Ein sehr vertrauliches Lächeln, fand ich.

Stephen stellte sie als Gudrun vor, und die weniger hübsche Dame hinter der Kasse deutete auf ihre Pakete und sagte ihr offenbar, sie möge sie nehmen und verschwinden.

Das Mädchen nahm die Milchflasche auf, und der Boden fiel heraus. Milch spritzte auf den Boden. Mit verdutztem Gesicht und Milchflecken auf den Beinen stand Gudrun da, die scheinbar heile Flasche noch in der Hand.

Ich sah mir die Pantomime an, die nun folgte. Stephen bestand darauf, daß sie eine neue Flasche bekam. Die weniger Hübsche schüttelte den Kopf und deutete auf die Kasse. Es folgte ein heftiger Wortwechsel, bei dem die weniger Hübsche die Oberhand behielt.

»Sie hat eine neue Flasche kaufen müssen«, sagte Stephen angewidert, und wir machten uns zu einem neuen Marsch durch das Gebäude auf.

»Das habe ich mitgekriegt.«

»Die machen die Flaschen hier wie Röhren und stecken als Boden einfach eine runde Scheibe rein. Na egal«, schloß Stephen fröhlich, »Gudrun kommt jedenfalls auch zum Tee.«

Gudrun war aus Westdeutschland, aus Bonn. Sie füllte und erhellte Stephens winzige Zelle, die ein Bett, einen mit Büchern bedeckten Tisch, einen Stuhl und einen verglasten Bücherschrank enthielt. Auf dem Fußboden lag eine kleine Perserimitation, und an den hohen, schmalen Fenstern hingen lappige grüne Vorhänge.

»Das Ritz«, stellte ich ironisch fest.

»Ich habe Glück«, sagte Stephen, während er drei Becher aus dem Bücherschrank nahm und auf dem Tisch Platz schaffte.

»Eine Menge russischer Studenten wohnen zu zweit in so einem Raum.«

»Wenn hier zwei Betten drin wären, könnte man die Tür nicht mehr aufmachen«, gab ich zu bedenken.

Gudrun nickte. »Tagsüber werden die Betten hochgeklappt.«

»Keine Protestmärsche? Keine Demonstrationen?« fragte ich.

»Sind nicht erlaubt«, erklärte Gudrun ernsthaft. »Jeder, der es versuchte, würde seinen Studienplatz verlieren.«

Ihr Englisch war hervorragend und fast akzentfrei. Ihr

Russisch, sagte Stephen, sei ebensogut. Sein Deutsch sei passabel, sein Französisch ausgezeichnet. Ich seufzte innerlich ob dieser Fertigkeiten, die ich niemals erworben hatte.

Stephen ging Tee machen.

»Kommen Sie lieber nicht mit«, sagte er. »Die Küche ist ein Schweinestall. Sie wird von ungefähr zwanzig Leuten benutzt, alle sollen sie sauberhalten, also macht’s keiner.«

Gudrun saß auf dem Bett und fragte mich, wie es mir in Moskau gefalle, und ich saß auf dem Stuhl und sagte, sehr. Ich fragte sie, wie ihr das Studium gefalle, und sie sagte, sehr.

»Wenn die Russen so sehr darauf bedacht sind, sich Ausländer auf Armeslänge vom Leib zu halten, warum lassen sie dann ausländische Studenten an die Universität?« fragte ich.

Ihre Augen glitten unwillkürlich über die Wände - ein aufschlußreicher Einblick in die Art, wie sie alle lebten. Die Wände hatten Ohren, und das ganz buchstäblich.

»Wir sind Austauschstudenten«, sagte sie. »Für Stephen ist ein russischer Student in London, für mich eine russische Studentin in Bonn, beides linientreue Kommunisten.«

»Die das Evangelium verkünden und Anhänger werben?«

Von meiner Offenheit unangenehm berührt, nickte sie etwas unglücklich und ließ dabei wieder den Blick über die Wände gleiten. Ich ging zu harmlosem Geplauder über, und gleich darauf kehrte Stephen zurück und verteilte die Leckerbissen, die bei mir eine nagende Leere füllten.

»Jetzt zeige ich Ihnen was«, sagte er, stopfte sich das letzte Stück Kuchen in den Mund und rutschte ans Ende des Bettes, auf dem er saß. »Einen kleinen Trick.«

Er griff nach einem Recorder und schaltete es ein. Dann stand er auf und drückte es mit einer theatralischen Geste an die Wand neben meinem Kopf.

Nichts geschah. Er drückte es auf eine andere Stelle. Wieder nichts. Er nahm es weg und hielt es vorsichtig an die Wand über seinem Bett. Aus dem Recorder ertönte ein schrilles Pfeifen.

»Abrakadabra«, sagte er, und schaltete das Tonbandgerät wieder ab. »Bei gewöhnlichen Wänden passiert nichts. Befindet sich ein Mikrophon in der Wand, bekommt man eine Rückkopplung.«

»Wissen die das?« fragte ich.

»Natürlich. Soll ich es Ihnen borgen?« Er deutete auf den Recorder.

»Das wäre sehr nett.«

»Dann hole ich rasch einen Zettel.«

»Was für einen Zettel?«

»Sie können doch nicht einfach etwas hier raustragen. Angeblich soll es Diebstähle verhindern, aber es ist nur diese Zwangsvorstellung, sie müßten alles wissen.«

Ich sah zu der Wand hinter seinem Kopf hinüber. Stephen lachte. »Wenn Sie nicht über das ganze, verdammte, repressive sowjetische System meckern, denken die, Sie verstellen sich.«

Von dem für die Studenten installierten Telefon auf dem Gang aus rief ich Juri Iwanowitsch Chulitskij an. Das Telefon sei sicher, sagte Stephen. Die einzigen angezapften Telefone seien in den Wohnungen bekannter Dissidenten, und Juri Chulitskij konnte kaum einer sein, sonst hätte man ihn nicht als Beobachter nach England geschickt.

Er meldete sich sofort.

»Ich sprechen mit Nikolai Alexandrowitsch«, sagte er. »Ich treffen Sie morgen.« »Vielen Dank.«

»Ich fahre Auto. Ich komme vor Hotel National, zehn Uhr, morgen früh. Ist gut?«

»Ist gut«, bestätigte ich. Wieder wurde der Hörer energisch aufgelegt, bevor ich fragen konnte, woran ich ihn oder sein Auto erkennen sollte. Das würde ich vermutlich wissen, wenn ich ihn sah.

Stephen versuchte die andere Nummer. Am anderen Ende der Leitung tutete es hohl, und nach zehnmaligem Klingeln wollten wir schon aufgeben. Dann hörte das Klingeln auf, und mit einemmal war eine atemlose Stimme am Apparat.

»Es ist Mischa«, sagte Stephen.

»Reden Sie mit ihm. Das ist einfacher.«

Stephen lauschte.

»Mischa möchte Sie noch mal sehen, aber es muß heute abend sein. Morgen muß er mit zwei Pferden nach Rostow fahren. Es ist Schnee angesagt, und die Pferde werden nach Süden verlegt. Nikolai Alexandrowitsch - das heißt, Mr. Kropotkin - fährt nächste Woche. Mischa hat es erst heute erfahren«, berichtete Stephen nach längerer Unterhaltung.

»Gut«, sagte ich. »Wann und wo?«

Stephen fragte nach. Er schrieb die Antwort auf, und die Wegbeschreibung nahm einige Zeit in Anspruch.

»Also, das ist meilenweit von der Innenstadt entfernt«, sagte er, legte langsam den Hörer auf und betrachtete das Geschriebene. »Es muß wohl ein Wohnblock sein. Er sagt, er wartet vor der Tür, und Sie sollen nicht Englisch sprechen, bevor er nicht sagt, es ist okay.«

»Kommen Sie denn nicht mit?« fragte ich.

»Sie brauchen mich eigentlich nicht. Mischa spricht etwas Englisch.« Er gab mir die Adresse, die in kyrillischer Schrift geschrieben war. »Zeigen Sie das einem Taxifahrer, der findet es dann schon. Ich sehe Sie später, im Aragvi.«

Durch die halboffene Tür zu seinem Zimmer konnte ich Gudrun einladend auf seinem Bett fläzen sehen. Erst zögerte ich, schließlich sagte ich: »Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie mitkämen. Jemand hat heute morgen versucht, Mischa oder mich umzubringen. Vielleicht werden Sie lachen, aber wenn ich mich schon in die Wildnis begebe, um ihn zu treffen, dann wäre mir etwas Rückendeckung angenehm.«

Er lachte nicht. Verabschiedete sich von Gudrun und kam mit. Außerdem sagte er in seinem scherzhaft übertriebenen Akzent: »Wir haben Meeglichkeit, unser Ver-gniegen bis morgen zu verschieben.« Was Gutmütigkeit anbetraf, war er schwer zu überbieten.

»Es ist sehr schwer, einen guten Treffpunkt zu finden, wenn Sie ein ganz normaler Russe sind und mit einem Ausländer reden wollen«, sagte Stephen. »In Rußland gibt es keine Kneipen und keine diskreten kleinen Cafes. Und es gibt überall Beobachter, die alles weitermelden. Man muß schon ganz schön gute Beziehungen zur Obrigkeit haben, um sich in der Öffentlichkeit mit einem Ausländer sehen lassen zu können.«

Ohne groß warten zu müssen, winkten wir ein vorbeifahrendes Taxi heran.

»Daran herrscht jedenfalls kein Mangel«, sagte ich beim Einsteigen. Als Stephen den Mund aufmachte, unterbrach ich ihn: »Ja, ja, ich weiß. Taxis sind teuer, die Metro ist billig.«

»Und die Taxigebühren haben sich kürzlich praktisch verdoppelt.«

»Sagen Sie ihm, er soll am Intourist vorbeifahren, damit ich den Recorder auf mein Zimmer bringen kann«, bat ich.

»In Ordnung.«

Wir fuhren den Komsomolskiy-Prospekt hinunter, und ich sah zwei- oder dreimal aus dem Rückfenster. Ein mittelgroßer schwarzer Wagen folgte uns getreulich, aber schließlich war das hier eine Hauptstraße; ich konnte mich irren.

»Wenn wir zum Hotel kommen, steige ich aus und verabschiede mich deutlich sichtbar von Ihnen. Ich gehe dann ins Hotel, und Sie fahren mit dem Taxi um die Ecke und warten vor dem Hotel National auf mich. Ich bringe den Recorder auf mein Zimmer und komme dann dorthin.«

Stephen sah aus dem Rückfenster.

»Mal im Ernst, glauben Sie, man folgt Ihnen?«

»Mal im Ernst, fast dauernd«, sagte ich.

»Aber wer?«

»Würde Ihnen der KGB zusagen?«

»Wie kommen Sie darauf?« Trotz seiner Vertrautheit mit dem Überwachungsstaat war er erschüttert.

»Die Sphinx hat es mir gesagt.«

Das ließ ihn verstummen. Wir haben Meeglichkeit, Sie zum Schweigen zu bringen, dachte ich ironisch. Als wir vor dem Intourist ankamen, zogen wir unsere Nummer ab. Ich stand einige Zeit auf dem Bürgersteig und sprach durch das Taxifenster mit Stephen, wünschte ihm dann mit lauter Stimme gute Nacht und winkte, als ich durch die Glastür des Hotels ging; zweifellos reichlich übertrieben. Ich holte meinen Schlüssel, zog Mantel und Mütze aus, fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben, brachte den Recorder in mein Zimmer und ging ohne Hast, um nicht das Mißtrauen der alten Schachtel an ihrem Tisch zu erregen, wieder zum Fahrstuhl zurück und fuhr ins Erdgeschoß hinunter. Das Riesenhotel hatte mehrere Ausgänge, und ich wählte den entferntesten, zog unterwegs Mantel und

Mütze wieder an und schwebte in normalem Schrittempo wieder auf die Straße hinaus. Zweifellos bemerkten mich die müßig herumstehenden Beobachter, aber keiner folgte mir.

An der Ecke blieb ich stehen und warf einen Blick zurück. Niemand schien sich aus der Gruppe zu lösen und in nicht vorhandene Schaufenster zu starren. Ich ging weiter. Wenn meine Verfolger entschlossene Profis waren, dann waren meine amateurhaften Versuche, ihnen zu entwischen, sicherlich nutzlos gewesen. Andererseits hatten sie aber auch keinen Grund anzunehmen, daß ich von ihrer Existenz wußte oder den Versuch machte, ihnen zu entkommen, denn dafür hatte ich bislang keinerlei Anzeichen erkennen lassen; vielleicht dachten sie auch einfach, ich wäre immer noch irgendwo im Hotel.

Der Taxifahrer war aufgeregt und ärgerlich, weil er so lange an einer Stelle hatte warten müssen, wo er nicht hätte stehen dürfen. Stephen begrüßte mich mit einem erleichterten Seufzer. Mit einem Ruck fuhren wir los.

»Ihr Freund Frank hat gleich hinter Ihnen das Hotel betreten«, berichtete er. »Haben Sie ihn gesehen?«

»Nein«, antwortete ich gelassen.

Er ließ das auf sich beruhen. »Der Fahrer sagt, die Temperatur fällt. Für November war es warm, sagt er.«

»Heute haben wir Dezember.«

»Er sagt, es wird schneien.«

Eine ganze Weile fuhren wir nordwärts, dann in nordöstlicher Richtung durch die gutbeleuchteten, fast leeren Straßen.

»Sagen Sie dem Fahrer, er soll anhalten«, sagte ich schließlich.

»Wieso?«

»Ich will sehen, ob man uns folgt.«

Kein Wagen blieb hinter uns stehen, und als wir weiterfuhren, wartete kein Wagen vor uns.

Ich bat Stephen, dem Fahrer zu sagen, er solle einen ziemlich großen Wohnblock umrunden. Der Fahrer hatte die Tour mittlerweile gründlich satt und begann leise vor sich hin zu murren.

»Er soll uns absetzen, bevor wir das Haus erreicht haben. Wir wollen doch nicht, daß er unser Ziel weitermeldet«, sagte ich.

Ein großes Trinkgeld zusätzlich besänftigte den Ärger des Fahrers, würde ihm aber vermutlich nicht den Mund verschließen.

Er brauste davon, zurück in hellere Gefilde, als wäre er froh, uns los zu sein. Weder schwarze noch andere Autos fuhren vorbei oder hielten. Soweit wir sehen konnten, waren wir völlig allein.

Wir befanden uns zwischen großen Wohnblocks in einer neu erschlossenen Siedlung. Zu beiden Seiten standen, die Schmalseiten zur Straße, Reihen neuerbauter Wohnblocks, alle etwa zwölf Meter breit, neun Stockwerke hoch und mit Rauhputz versehen. Ihre vorderen und hinteren Fensterfronten verloren sich in der Dunkelheit.

»Die üblichen Behausungen«, meinte Stephen. »Eierkisten für die Massen. Sechs Quadratmeter pro Person. Die vorgeschriebene maximale Wohnfläche.«

Wir gingen den matschigen Bürgersteig entlang, die einzigen Menschen, die zu sehen waren. Der Block, an dem wir gerade vorbeikamen, war noch nicht fertig: die Wände standen schon, doch die Fenster waren leere Höhlen. Der dahinter war zwar unbewohnt, aber schon verglast. Der nächste wirkte eingerichtet, und der übernächste war bewohnt. Es war die angegebene Adresse.

Ein letzter Blick die Straße hinauf und hinunter zeigte, daß niemand das geringste Interesse an uns hatte. Wir bogen in die breite Lücke zwischen den beiden Blocks ein und stellten anhand der Nummern fest, daß wir den zweiten Eingang nehmen mußten. Wir gingen ohne Eile darauf zu und blieben ein paar Schritte davor stehen.

Wir warteten. Eine Minute verging. Dann noch eine. Kein Mischa. Die kalte, feuchte Nachtluft pfiff einem durch Mark und Bein. Wenn wir diese ganze Reise umsonst gemacht hatten, war das gar nicht komisch, dachte ich bei mir.

Eine leise Stimme sagte hinter uns: »Kommen, bitte.«

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