Kapitel 15

Oben in meinem Zimmer stellt Stephen den Stuhl auf mein Bett, meinen Koffer auf den Stuhl und den Recorder auf den Koffer: und machte es an. Das Pfeifen ertönte, kräftig und gesund.

Nun stellte er von »Aufnahme« auf »Wiedergabe« um, und die Zuhörer kamen in den unmittelbaren Genuß eines Strawinsky-Bandes, das unter schwerem Jaulen, wenn nicht gar Eiern litt.

Ich verbrachte die Zeit mit der Betrachtung der Zettel, die Kropotkin mir gegeben hatte; von hinten und von vorn.

»Sie haben nicht zufällig etwas blaues Glas bei der Hand?« fragte ich. »Eine ganz bestimmte Schattierung, natürlich.«

»Blaues Glas?«

»Ja ... einen Blaufilter. Sehen Sie diese Schrift, die ausgestrichen wurde? Sie wurde in einem dunkleren Blau geschrieben als die Striche ... man kann noch die dunklen Schleifen erkennen.«

»Ja . na und?«

»Wenn man sich nun den Zettel durch ein blaues Glas von der gleichen Farbe wie die helleren Striche ansieht, könnte man vielleicht die dunklere Schrift erkennen. Die Farbe des Glases würde sozusagen die Farbe der Striche schlucken, und man könnte den Rest lesen.«

»Ich werde verrückt ...« sagte er. »Vielleicht ginge das wirklich. Aber was würde Ihnen das nützen?«

»Ich habe so eine Ahnung, wer Kropotkin das geschickt hat, aber ich wäre gern sicher.«

»Aber das könnte doch fast jeder sein.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich zeige Ihnen was.«

Ich zog die Schublade auf, die meine Privatapotheke enthielt, und kramte ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus, entfaltete es, legte es auf das Regal und Kropotkins Zettel daneben.

»Die sind ja gleich!« rief Stephen.

»Genau. Von derselben Art Notizblock abgerissen: weißes Papier, blau liniert, Spiralbindung.«

Die beiden Notizblockseiten mit ihren gezackten Abrißkanten lagen nebeneinander. Auf der einen stand »Für Aljoscha, J. Farringford«, und der Rest. Auf der anderen der Name Malcolm Herrick und eine Telefonnummer.

»Das gab er mir an meinem ersten Abend in Moskau in der Bar vom Hotel National«, erklärte ich.

»Ja ... aber diese Notizblöcke sind sehr verbreitet. Man kann sie überall kaufen. Studenten ... Stenotypistinnen ... sind es nicht überhaupt Stenogrammblöcke?«

»Und sie werden ständig von Zeitungsreportern benutzt«, sagte ich. »Die die Angewohnheit haben, Seiten auszustreichen, wenn sie damit fertig sind. Das habe ich immer wieder gesehen, beim Rennen, oder wenn sie nach einem Sieg mit mir geredet haben. Sie beschreiben den ganzen Block zuerst auf der einen Seite, dann drehen sie ihn um und benutzen auch die Rückseiten. Und um nicht nachher endlos die Seiten durchblättern zu müssen, um das zu finden, was sie gerade suchen, streichen oder kreuzen sie eine Seite aus, wenn sie erledigt ist ... genau wie diese hier, die wir von Kropotkin haben.«

Ich drehte das Blatt mit der Telefonnummer um, das Malcolm mir gegeben hatte, und auf der Rückseite waren einige Notizen über das Gastspiel eines Puppentheaters mit einem großen, dicken S ausgestrichen.

»Malcolm«, sagte Stephen mit verwirrtem Gesicht. »Warum sollte Malcolm das an Kropotkin schicken?«

»Ich nehme nicht an, daß er es war. Vielleicht hat er es nur demjenigen gegeben, der dann die Rückseite beschrieben hat.«

»Aber warum sollte er?« fragte Stephen frustriert. »Und was spielt das für eine Rolle? Das Ganze ist Irrsinn.«

»Es ist unwahrscheinlich, daß er sich daran erinnert, wem er vor fast drei Monaten einen Zettel gegeben hat«, meinte ich.

»Aber ich denke ... wir könnten ihn fragen.«

Ich wählte die Nummer auf dem Zettel, und er war zu Hause. Seine laute Stimme polterte durch den Hörer.

»Wo waren Sie, Sportsfreund? Habe versucht, Sie zu erreichen. Moskau am Wochenende ist wie Epsom, wenn Rennen in Ascot ist.«

»Ich war draußen auf der Rennbahn«, erklärte ich entgegenkommend.

»Tatsächlich? Und was tut sich sonst? Aljoscha schon gefunden?«

»Noch nicht.«

»Habe ich Ihnen ja gesagt. Das Ganze ist eine Ente. Ich habe mich umgesehen, und wenn ich nichts finden kann, dann ist da nichts, verstehen Sie?«

»Sie sind ein alter Hase, und ich nicht. Aber Kropotkin, der Trainer, hat alle Pferdeleute in Moskau gebeten zu helfen. Wir haben also eine Armee von Verbündeten.«

Er knurrte, und es klang nicht sehr erfreut. »Hat die Armee schon was geliefert?«

»Bis jetzt nur etwas sehr Kleines. Tatsächlich sieht es so aus wie eine Seite von einem Ihrer Notizblöcke«, sagte ich halb im Scherz.

»Eine was?«

»Seite ... mit dem Namen Aljoscha darauf. Und Johnny Farringford, von Sternchen umgeben. Und eine Menge Kritzeleien. Ich bin sicher, Sie werden sich nicht daran erinnern, es geschrieben zu haben. Aber folgendes ... können Sie sich vielleicht erinnern, jemandem in Burleigh ein Blatt von Ihrem Notizblock gegeben zu haben, der jetzt in Moskau sein könnte?«

»Gott, Sportsfreund, Sie stellen vielleicht Fragen.«

»Ja ...« Ein Seufzer brachte mich zum Husten. »Äh ... falls Sie sich zu sehr langweilen ... haben Sie vielleicht Lust, auf einen Drink zu mir ins Hotel zu kommen? So gegen sechs? Ich muß noch mal weg, aber bis dahin bin ich zurück.«

»Klar«, sagte er leichthin. »Verdammt gute Idee. Samstagabend kann man nur saufen. Wie ist Ihre Zimmernummer?«

Ich teilte sie ihm mit, er bedankte sich und legte auf. Ich legte langsam den Hörer auf, überlegte und kam zu dem Schluß, daß ich in meinem Leben schon manche Dummheit gemacht hatte, das hier aber wahrscheinlich alles übertraf.

»Ich dachte, Sie mögen ihn nicht besonders«, sagte Stephen.

Ich schnitt eine Grimasse und zuckte die Schultern. »Muß mich wohl für das Abendessen im Aragvi revanchieren.«

Auf dem Sofa sitzend untersuchte ich vorsichtig die Finger meiner rechten Hand mit denen meiner linken. Das Schlimmste war vorbei, und ich konnte sie schon etwas beugen und strecken. Möglicherweise waren ein paar Knochen angebrochen, obwohl man das ohne Röntgenaufnahmen schwer sagen konnte, aber ich konnte mich wohl glücklich schätzen, daß sie nicht gesplittert waren.

»Wann kritzeln Sie?« fragte ich Stephen.

»Kritzeln?«

»So wie da.« Ich deutete mit dem Kopf auf das Blatt aus Malcolms Notizblock.

»Ach so . hauptsächlich während der Vorlesungen. Zickzacklinien und Dreiecke, hauptsächlich. Keine Kästchen, Sterne und Fragezeichen. Immer, wenn ich mit einem Bleistift in der Hand zuhöre, glaube ich. Am Telefon beispielsweise. Oder beim Radiohören.«

»Hm ... ja ...« Ich hörte auf, erfolglos meine Finger zu befummeln, und wählte die internationale Vermittlung. Anrufe nach England, wurde mir gesagt, nur mit großer Verzögerung.

Wie groß war eine große Verzögerung? Verbindungen mit England kamen im Augenblick überhaupt nicht zustande. Hieß das Stunden oder Tage? Das konnte oder wollte die internationale Vermittlung nicht sagen. Frustriert stand ich auf.

»Gehen wir.«

»Wohin?«

»Irgendwohin. Mit dem Taxi in Moskau herum.«

»Außer Reichweite der Bösewichte?«

»Manchmal sind Sie wirklich ganz gescheit«, spottete ich. Wir nahmen die Matroschka in ihrer Tüte mit, außerdem (in meiner Jackentasche zusammen mit dem Telex) die beiden Seiten aus Malcolms Notizblock, und zwar aus der Überlegung heraus, daß diese vier Schätze die einzig greifbaren Erfolge meiner Bemühungen darstellten und nicht sorglos liegengelassen werden sollten, damit Frank oder jeder, der meine Zimmertür

aufkriegte, sie klauen konnte.

Obwohl Stephen nicht mehr sagte, wieviel billiger die Metro sei, erschrak er doch über die Kosten dieses Nachmittags. Der Prinz zahlt, belehrte ich ihn und teilte dem Taxifahrer, der mich wohl für verrückt hielt, in halbstündlichen Intervallen reichliche Rubelraten zu. Stephen schlug die Universität vor, wo er am Morgen für mich einen Besucherausweis besorgt hatte, um die umständliche Prozedur des gestrigen Tages zu vermeiden: Aber aus irgendeinem Grund konnte ich beim Fahren immer am besten nachdenken und hatte schon manchen Schlachtplan entworfen, während ich auf einem Traktor hin und her fuhr. Irgend etwas an einem bewegten Hintergrund löste bei mir Gedankengänge aus, und neue Ideen entstanden, wo vorher nichts gewesen war. Letzten Endes war ich eben ein Mensch, der frische Luft brauchte.

Wir sahen eine Menge von Moskau, Altes und Neues. Alte Eleganz und neuen Funktionalismus, historisch schlecht zusammenpassend, aber im stillen, weißen Winterschlaf vereinigt.

Dicke, weiße Kappen auf den goldenen Kuppeln. Läden mit mehr Platz als Waren. Riesige Spruchbänder mit Parolen zum Ruhme der Kommunistischen Partei über den Dächern. In mir erzeugte das eine überwältigende, alles durchdringende Melancholie, Trauer um eine große, in erstickende Bürokratie verstrickte Stadt, so ohne Freiheit, wo man gezwungen war, sich umzusehen, bevor man sprach.

Bei Einbruch der Dunkelheit hielten wir einmal, um einige Gläser und Nachschub für die Alkoholbatterien zu kaufen, und außerdem ein Souvenir, das ich Emma mitbringen wollte: eine buntbemalte Matroschka, die lauter kleine Matroschkas in sich trug. Was ich in Moskau gemacht hatte, war ja mehr oder weniger wie das Öffnen einer solchen Puppe. Entfernte man eine Schicht, war immer noch eine Schicht darunter, und darunter noch eine und immer so weiter. Und in der Mitte keine winzige, hölzerne Mama mit rosigen Wangen, sondern die aufgehende Saat des Terrors.

Als wir schließlich in mein Zimmer zurückkehrten, deutete nichts auf ein unbefugtes Eindringen hin.

Vielleicht hätten wir ruhig dort bleiben können, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht, und »hätte ich nur« einer der traurigsten Sätze überhaupt.

Der Recorder stand noch immer auf seinem wackeligen Thron, und als Stephen ihn einschaltete, sagte es uns durch sein Schweigen, daß die Lauscher schliefen.

Es war fünf nach sechs. Wir ließen das Gerät an und gingen zu den Sesseln bei den Fahrstühlen, um die Gäste zu erwarten.

Ian kam zuerst, keineswegs betrunken, aber leicht schwankend. Das blieb jedoch ohne Auswirkungen auf sein Gesicht, das wie immer bleich, still und ausdruckslos, und seine Aussprache, die klar und deutlich war. Ohne Umschweife teilte er uns mit, daß er sich Freitag abends und samstags der großen russischen Freizeitbeschäftigung mit dem ganzen Eifer des Bekehrten hingab. Natürlich nur, wenn kein Schlamassel vorlag. Und wo, fragte er, seien die Flaschen?

Wir kehrten in mein Zimmer zurück. Ian wählte Wodka und hatte den ersten bereits hinuntergekippt, bevor ich Stephen eingegossen hatte. Ich schenkte ihm nach und nahm mir einen Scotch.

Ohne sichtbare Gemütsbewegung betrachtete er den Recorder.

»Wenn Sie das da oben viel spielen lassen, alter Junge, dann achten Sie mal lieber auf verdächtige Personen«, meinte er.

»Wenn die denken, Sie hätten etwas zu verbergen, bringen sie eine andere Wanze an.«

Stephen griff wortlos nach dem Apparat und machte eine ausgiebige Reise durch das Zimmer. Geistesabwesend sah Ian zu, schüttete seinen Drink hinunter und goß sich mit fast ruhiger Hand nach.

Das Ergebnis der Suche war glücklicherweise gleich Null. Zurück auf dem Thron: noch immer kein Pfeifen. Stephen ließ den Recorder auf Wache, und er und Ian setzten sich auf das Sofa.

Ian verbrachte fünf Minuten mit der Beschreibung der außerordentlichen Langeweile des diplomatischen Lebens, wie es die Engländer in Moskau führten, und erweckte in mir den innigen Wunsch, er wäre stocknüchtern.

Malcolm kam wie ein Sturmwind aus der Wüste herein, hart, geräuschvoll und trocken.

»Was ganz Feines«, verkündete er lärmend, nachdem er das Etikett auf der Wodkaflasche gelesen hatte. »Der Rolls-Royce der hiesigen Brennereien. Ich sehe, Sie finden sich rasch zurecht, Sportsfreund.«

»Hat Stephen ausgesucht«, sagte ich. »Bedienen Sie sich.«

Auch für ihn schien Samstagabend der Abend zu sein, wo alle Hemmungen fielen. Er goß sich ein und schüttete mit einem Schluck genug hinunter, um einen Abstinenzler einen Monat aus dem Verkehr zu ziehen. »Sie haben gar nicht gesagt, daß hier eine Party stattfindet, Sportsfreund«, sagte er.

»Nur wir vier.«

»Hätte eine Flasche mitbringen können.«

Bei der augenblicklichen Trinkgeschwindigkeit würden wir sie vielleicht brauchen. Stephen sah aus, als gehöre diese Art von Party nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, und vermutlich blieb er nur aus dem vagen Gefühl heraus, das sinkende Schiff nicht vor den Ratten verlassen zu wollen.

»Wie war das doch gleich, Sportsfreund?« fragte Malcolm, ein halbvolles Zahnputzglas in der Hand. »Was war das mit einer Seite von meinem Notizblock?«

Ich fischte sie aus meiner Tasche und reichte sie ihm. Er steckte die Nase ins Glas und betrachtete das kleine Blatt schräg über den Rand hinweg. Ein paar Wodkatropfen rannen über sein Kinn.

»Herrgott, Sportsfreund«, rief er, setzte das Glas ab und fuhr sich mit dem Handrücken über das Kinn. »Das ist doch nur Gekritzel.« Er drehte das Blatt um. »Und was steht da?«

»Das weiß ich nicht.«

Er sah auf die Uhr und schien zu einem raschen Entschluß zu kommen. Ein weiterer Schluck brachte ihn fast bis zum Boden des Glases, das er mit einem Ruck auf dem Regal abstellte.

»Also, Sportsfreund, ich muß weiter.« Er faltete das Papier zusammen und wollte es in die Tasche stecken.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich das gerne behalten«, sagte ich freundlich.

»Wozu, um Himmels willen?« Das Blatt verschwand in seiner Tasche.

»Ich will versuchen, die Schrift auf der Rückseite zu entziffern«, erklärte ich.

»Aber wozu denn?«

»Ich möchte einfach wissen, wem Sie es in England gegeben haben ... sehen, was er da geschrieben hat.«

Malcolm zögerte noch immer. Ian kämpfte sich hoch und verhalf sich zu einem weiteren Wodka.

»Nun gib’s ihm schon, Malcolm«, sagte er gereizt. »Was soll’s denn?«

Der aufmerksame Blick von drei Augenpaaren war auf Malcolm gerichtet, und zögernd steckte er die Hand in die Tasche.

»Es wird Ihnen nichts nützen, Sportsfreund.« Seine Stimme war scharf und hatte einen Anflug von Gehässigkeit.

»Trotzdem könnte es interessant sein, glauben Sie nicht auch?« sagte ich, nahm ihm das Blatt aus der Hand und steckte es ein. »Sie haben die Seite in Burleigh beschrieben, aber Sie haben mir gar nicht gesagt, daß Sie dort waren. Ich bin überrascht, daß Sie das nicht erwähnt haben. Und es überrascht mich, daß Sie überhaupt dort waren.«

»Na und? Ich war dort, um einen Artikel zu schreiben.«

»Für The Watch? Ich dachte, Sie sind Auslandskorrespondent, nicht Sportreporter.«

»Hören Sie, Sportsfreund, was soll eigentlich der ganze Scheiß?« Die Muskeln an seinem wuchtigen Hals traten deutlich hervor.

»Ich will darauf hinaus, daß Sie wissen ... die ganze Zeit gewußt haben ... was ich hier suchte, und Sie haben alles getan, damit ich im dunkeln tappe oder gar im Leichenschauhaus ende.«

Stephen und Ian lauschten mit offenem Mund.

»Blödsinn«, sagte Malcolm.

»Können Sie einen Pferdetransporter fahren?«

Seine einzige Antwort bestand in einem äußerst feindseligen Blick, verstärkt von so etwas wie einem inneren Entschluß.

»Das Abendessen im Aragvi«, fuhr ich fort. »Auf Ihre Einladung hin. Zwei Männer saßen in unserer Nähe. Ich konnte sie sehen ... sie konnten mich sehen. Stundenlang, ganz deutlich. Danach würden sie mich überall wiedererkennen. Sie nahmen mir die Brille weg ... jeder konnte feststellen, daß ich ohne sie verloren bin. Als wir aus dem Restaurant kamen, wurde ich in der Gorkistraße überfallen . von zwei Männern, die zuerst versuchten, mir die Brille herunterzuschlagen, und mich dann in einen Wagen stoßen wollten. Sie trugen Balaclavas, aber ihre dunklen, gar nicht russischen Augen sah ich deutlich. Und ich fragte mich ... wer wußte, daß ich die Gorkistraße langgehen würde, zu genau diesem Zeitpunkt?«

»Das ist doch alles Mist. Sie werden noch in einer psychiatrischen Klinik am falschen Ende der Nadel landen, Sportsfreund, wenn Sie so weitermachen.«

Malcolm war äußerst wütend, aber sein Selbstbewußtsein ungebrochen. Er war immer noch sicher, daß ich nicht genau ins Schwarze treffen würde.

»Das Telex«, sagte ich. »Und Ihr kleiner Informant. Als ein langes Fernschreiben für mich kam, erfuhren Sie davon, da bin ich ganz sicher. Als ich mich daher auf dem kürzesten Weg zur Botschaft begab, wurde ich unterwegs von denselben Männern überfallen, die schon auf mich warteten. Dieses Mal wurde ich nur durch eine Art Ironie des Schicksals gerettet ... aber als ich meinen Verstand wieder beisammen hatte, fragte ich mich, wer davon gewußt haben könnte, daß ich diesen Spaziergang unternahm.«

»Halb Moskau«, sagte Malcolm grob.

»Ich wußte davon«, erklärte Ian mit gespielter Unbefangenheit.

»Natürlich«, bekräftigte Malcolm. »Und Ian wußte auch, daß wir im Aragvi essen wollten. Und Ian wußte, Sie wollten sich mit Kropotkin auf der Rennbahn treffen, weil Sie uns das in Olivers Büro erzählt haben . warum zum Teufel beschuldigen Sie eigentlich nicht Ian? Sie sind völlig übergeschnappt, Sportsfreund, und ich werde Sie wegen übler Nachrede verklagen, wenn Sie nicht augenblicklich alles zurücknehmen und sich entschuldigen.« Wieder sah er auf die Uhr und revidierte sein Ultimatum.

»Ich bleibe nicht hier und höre mir noch länger diesen Quatsch an.«

»Ian hat mir geholfen. Sie haben mir nur geraten, wieder nach Hause zu fahren«, sagte ich.

»Nur zu Ihrem eigenen Besten.«

»Das reicht nicht«, sagte Ian unsicher. »Randall ... möglich wär’s schon, aber bestimmt haben Sie das alles mißverstanden.«

»Ich brauche keinem Gericht irgend etwas zu beweisen«, beharrte ich. »Ich brauche nur Malcolm wissen zu lassen, was ich glaube. Das reicht schon. Wenn ein neugieriger Nachbar weiß, daß Sie eine Bank überfallen wollen, wären Sie verrückt, wenn Sie Ihren Plan in die Tat umsetzen würden. Halten Sie mich also für einen neugierigen Nachbarn . nur, was Malcolm vorhatte, war schlimmer als ein Bankraub.«

»Was hatte er denn vor?« wollte Ian wissen.

»Menschen bei der Olympiade umzubringen.«

Malcolms Reaktion trug viel dazu bei, Ian und Stephen zu überzeugen. Er wurde weiß wie die Wand, und die geplatzten Äderchen auf Wangen und Nase traten deutlich hervor. Ihm blieb buchstäblich der Atem weg: Sein Mund öffnete sich, ohne daß ein Laut kam. Entsetzte Ungläubigkeit lag in seinen Augen; diesmal hatte ich seinem Selbstvertrauen wirklich einen tödlichen Schlag versetzt.

»Vielleicht kommen Sie also nie vor Gericht«, fuhr ich fort. »Aber wenn einer der Reiter auf der Olympiade genauso stirbt wie Hans Kramer, dann wird die Welt wissen, wo man suchen muß.«

Er war wie erschlagen: fast im Stehen bewußtlos. Eine beinahe greifbare Stille herrschte im Raum. Ian, Stephen und ich beobachteten ihn atemlos: Und in diesem spannungsgeladenen Augenblick klopfte es energisch an der Tür.

Es war Ians Pech, daß er sich als erster fing und zur Tür ging.

Malcolms Freunde griffen mit ihrer üblichen brutalen Schnelligkeit an, stürmten wie Stiere durch die sich öffnende Tür und schlugen alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Diese schiere, animalische Raserei brach wie ein Vulkan in das Zimmer ein, und die halb über die Gesichter gezogenen Balaclavas schienen die fürchterliche Wirkung nur noch zu verstärken.

Der geschwungene Schlagstock des ersten traf Ian voll am Kopf. Ohne einen Laut sackte er zusammen und lag regungslos vor der Badezimmertür.

Der zweite Mann schlug die Tür zum Korridor mit dem Fuß zu und kam zielstrebig näher, ein kleines Schraubglas in der Hand. Er trug Gummihandschuhe. In dem Glas befand sich eine Flüssigkeit, blaßgolden wie Champagner.

Alles geschah mit atemberaubender Geschwindigkeit.

Malcolm erwachte mit weitaufgerissenen Augen zum Leben und schrie: »Aljoscha« und dann »Nein, nein.« Und als er den auf Stephen zielenden Schlagstock sah: »Nein, nein, der hier«, wobei er auf mich deutete.

Ich sprang auf mein Bett, packte den Recorder und warf ihn nach dem Mann, der Stephen angriff. Es traf ihn im Gesicht und verletzte ihn. Er drehte sich zu mir um, noch mordlustiger als zuvor.

Der Mann mit dem kleinen Glasbehälter schraubte den Deckel auf.

»Der da«, schrie Malcolm, auf mich zeigend. »Der da.«

Der Mann mit dem Glas starrte Malcolm mit furchterregender Grausamkeit an und hob den Arm.

Malcolm schrie.

Schrie.

»Nein. Nein. Nein.«

Ich hob den Stuhl hoch und schlug nach dem Mann mit dem Glas, aber der mit dem Schlagstock stand im Weg.

Der Mann mit dem Glas schüttete Malcolm dessen Inhalt ins Gesicht. Malcolm stieß einen hohen, klagenden Schrei aus, wie der einer Möwe.

Wieder ließ ich den Stuhl niedersausen und traf das Handgelenk des Mannes mit dem Glas wie mit einer Axt. Er ließ das Glas fallen und krümmte sich vor Schmerzen. Ich sprang vom Bett und ging mit einer Wut auf die beiden los, die mich selbst überraschte. Stephen griff sich eine der Wodkaflaschen und rammte sie in den Augenschlitz einer der Balaclavas.

In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie eine solche Wut verspürt. Ich haßte diese Männer. Zitterte vor Haß. Ich schwang den Stuhl, nicht um mein Leben zu verteidigen, sondern um sie zu töten. Reiner, primitiver, blutdürstiger, rachsüchtiger Haß, nicht nur auf das, was sie hier in dieser Stadt, diesem Raum taten, sondern auch auf ihresgleichen in der ganzen Welt. Für alle die hilflosen Geiseln, die für ein Lösegeld gefangenen Opfer schlug ich zurück.

Es mag verwerflich und unzivilisiert gewesen sein, aber auf jeden Fall war es wirkungsvoll. Stephen zerschlug die Flasche an der Wand und ging mit dem bedrohlich scharf gezackten Rest auf sie los, und ich schlug weiter mit Stuhl,

Füßen und Wut um mich. Zusammen trieben wir sie in den schmalen Gang vor dem Badezimmer zurück, wo Ian immer noch unbeweglich lag.

Wie in einer plötzlichen gemeinsamen Entscheidung drehten sie sich um, rissen die Tür zum Flur auf und flohen.

Keuchend blieb ich stehen.

»Ihnen nach«, japste Stephen.

»Nein ... kommen Sie zurück ...« Ich rang nach Atem. »Machen Sie die Tür zu ... Wir müssen uns um Malcolm kümmern.«

»Malcolm?«

»Er stirbt«, sagte ich. »In neunzig Sekunden ... Lieber Gott.«

Malcolm war wimmernd zusammengebrochen und lag halb auf dem Boden, halb auf dem Bett.

»Machen Sie die Matroschka auf«, drängte ich. »Mischas Matroschka. Schnell, schnell ... die Schachtel mit dem Naloxon.«

Ich riß die Schublade auf, die mein Atemzubehör enthielt, und holte die Plastikhülle heraus. Meine Finger wollten nicht recht. Geschieht ihm recht, dachte ich wütend, wenn ich ihm nicht das Leben retten kann, weil sie mir die Hand zerschmettert haben, als er mich umbringen lassen wollte.

Konnte die starke Plastikhülle nicht von der Injektionsspritze reißen. Schnell. Um Gottes willen, schnell ... nahm die Zähne zu Hilfe.

»Das?« fragte Stephen und hielt die Hustenbonbonschachtel hoch. Ich öffnete sie und legte sie auf das Regal.

»Ja ... ziehen Sie ihm die Hosen runter.«

Neunzig Sekunden. Lieber Gott.

Meine Hände zitterten.

Malcolm rang hörbar nach Luft.

»Er läuft blau an«, meldete Stephen voll Entsetzen.

Die Nadel war im Glaskörper der Spritze verpackt. Ich holte sie heraus und steckte sie auf.

»Er atmet kaum noch und ist bewußtlos«, sagte Stephen.

Ich brach die Spitze von einer der Naloxonampullen. Stellte sie mit zitternden Händen aufrecht auf das Regal. Nur nicht umstoßen ... Durfte sie nicht umstoßen. Hätte zwei Hände gebraucht, zwei zuverlässige, nicht zitternde Hände.

Ich nahm die Spritze in die rechte Hand und die Ampulle in die linke. Ich war Rechtshänder ... ich konnte es nicht anders, wenn ich es auch gern getan hätte. Senkte die Nadel in den kostbaren Teelöffel Flüssigkeit, zog sie auf die Spritze. Meine Finger schmerzten. Macht nichts, macht nichts. Neunzig Sekunden ... fast vorbei.

Ich wandte mich Malcolm zu. Stephen hatte ihm die Hosen heruntergezogen. Ich stieß die Nadel in den Muskel und drückte auf den Kolben. Den Rest mußte Gott tun, dachte ich.

Wir hoben ihn aufs Bett, was gar nicht einfach war, zogen ihm Jacke und Krawatte aus und rissen sein Hemd auf. Seine Hautfarbe und die Atmung waren immer noch schrecklich, hatten sich aber nicht verschlimmert. Er war wieder bei Bewußtsein und zu Tode erschrocken: »Dreckskerle« murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Vor dem Badezimmer begann Ian zu stöhnen. Stephen ging zu ihm. Ian kam rasch wieder zu sich und versuchte aufzustehen. Stephen half ihm auf, stützte ihn und bugsierte ihn zum Sofa.

Der kleine Glasbehälter lag neben dem Sofa auf dem

Teppich, und Stephen bückte sich ganz automatisch, um ihn aufzuheben.

»Rühren Sie das nicht an«, rief ich entsetzt. »Nicht anfassen, Stephen. Es bringt Sie um.«

»Aber es ist doch leer.«

»Das bezweifle ich. Ich glaube, ein paar Tropfen würden reichen.« Ich hob den umgefallenen Stuhl auf und stellte ihn über den Behälter. »Vorläufig muß es so gehen. Passen Sie auf, daß Ian es nicht anfaßt.«

Ich wandte mich wieder Malcolm zu. Seine Atmung war etwas kräftiger, aber nicht viel.

»Wie kriegen wir einen Arzt?« fragte ich.

Stephen warf mir einen verzweifelten Blick zu, den ich als panische Angst vor jedweder Konfrontation mit sowjetischen Behörden deutete, nahm aber den Hörer ab und wählte die Rezeption.

»Sagen Sie ihnen, der Arzt soll Naloxon mitbringen.«

Er wiederholte die Forderung zweimal und buchstabierte sie außerdem, sah aber nach Beendigung des Gesprächs nicht sehr zuversichtlich aus. »Sie sagt, sie wird einen Arzt rufen, aber mit dem Naloxon ... sie meint, der Arzt weiß schon, was er mitzubringen hat. Sie wollen einfach nicht. Je mehr man auf etwas besteht, um so strikter weigern sie sich.«

»Randall .«

Malcolms ehemals kräftige Stimme war nur noch ein schwaches Krächzen.

»Ja?« Ich beugte mich über ihn, um besser zu verstehen.

»Sie müssen die Schweinehunde ... erwischen.«

Ich holte tief Luft. »Warum haben sie das Zeug Ihnen ins Gesicht geschüttet und nicht mir?«

Er schien zu hören und zu verstehen, aber er antwortete nicht. Große Schweißperlen erschienen plötzlich auf seinem Gesicht, und er begann wieder nach Atem zu ringen.

Ich füllte die Spritze mit der zweiten Ampulle Naloxon und injizierte sie in seinen Oberschenkel. Wieder setzte die Reaktion ein, langsam, aber unverkennbar, nahm ihm die Atemnot, ließ ihn aber in einem gefährlichen Erschöpfungszustand zurück.

»Die Schweinehunde haben gesagt ... ich hätte ... sie beraubt.«

»Was soll das heißen?«

»Ich habe ihnen ... das Zeug ... verkauft. Sie sagen ... es ist das Geld nicht wert.«

»Wieviel haben die Ihnen bezahlt?« fragte ich.

»Fünfzig . tausend .«

»Pfund?«

»Herrgott ... Sportsfreund ... natürlich. Heute nachmittag ... haben sie gesagt ... ich hätte sie beraubt. Ich habe gesagt ... sie sollen herkommen ... Sie fertigmachen ... sind viel zu schlau. Wußte nicht, daß Ian hier sein würde.«

Er hatte wohl, als er Ian und Stephen bei mir fand, versucht, wegzugehen und seine Freunde aufzuhalten, bevor sie mein Zimmer erreichten. Es war völlig offen, ob das Ergebnis sehr viel anders gewesen wäre, wenn er Erfolg gehabt hätte. Seine Freunde waren ungefähr so berechenbar wie ein Kugelblitz.

Ich ging mit einem Zahnputzglas ins Badezimmer, füllte es zur Hälfte mit Wasser und brachte es Malcolm. Es gelang mir nur, seine Lippen zu benetzen, aber das schien alles zu sein, was er wollte.

Sah auf die Uhr. Zwei Minuten waren seit der zweiten Injektion vergangen, vier seit der ersten. Es schien wie eine Ewigkeit.

Ian erholte sich rasch und begann Fragen zu stellen. Ich fand es erstaunlich, daß niemand das Tohuwabohu gehört hatte und angelaufen kam. Niemand hatte Malcolms Geschrei gehört oder darauf reagiert, obwohl es bis zum Kreml gedrungen sein mußte. Wenn die Wanzen nicht in Betrieb waren, blieben die Wände taub.

Malcolm erlitt einen weiteren schweren Kollaps. Grimmig füllte ich die Spritze aus der letzten Ampulle und injizierte den Teelöffel voll in den Muskel.

Jetzt hatten wir kein Naloxon mehr; keine Rückversicherung mehr, für keinen von uns.

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