Kapitel 16

Wieder trat Besserung ein. Er atmete kräftiger und kam wieder zu Bewußtsein, obwohl seine Haut immer noch graublau war und seine Pupillen wie Stecknadelköpfe.

»Mir ist ... schwindlig«, murmelte er.

Ich ließ ihn etwas Wasser trinken und sagte ganz beiläufig: »Waren das Ihre Freunde, oder haben Sie das Zeug über Hans Kramer geschüttet?«

»Herrgott, Sportsfreund ... ich doch nicht. Ich bin kein Mörder .«

»Was war mit dem Pferdetransporter?«

»Sollte Sie nur verletzen ... Ihnen einen Schreck einjagen ... damit Sie abreisen«. Er trank noch einen Schluck. »Dachte, Sie würden nicht bleiben ...«

»Aber Ihre Freunde haben Ernst gemacht«, sagte ich. »Auf der Gorkistraße, und dann am Fluß.«

»Wollten sichergehen ... Sie hätten mit Kropotkins Hilfe . was rauskriegen können .«

»Mm«, machte ich. »Und das war, nachdem Sie ihnen erzählt haben, daß ich Hans Kramers letzte Worte kannte.«

»Verdammter Bengel ... dieser Mischa ...«

»War diese tödliche Flüssigkeit Ihre Idee oder Hans Kramers?«

»Ich habe zufällig davon erfahren. Habe Hans dazu gebracht ... sie zu stehlen.« Er brachte ein schwaches, verächtliches Schnauben zustande. »Blöder Kerl . habe ihn reingelegt ... hat es umsonst gemacht ... aus Idealismus .«

»Er war in der Universitätsklinik Heidelberg«, sagte ich.

»Herrgott ...« Sogar in seiner gegenwärtigen,

kooperativen Stimmung war er unangenehm überrascht. »In dem Fernschreiben . dachte nicht, daß Ihnen das auffällt ... war aber zu riskant. Wollten Sie davon abhalten ... es zu sehen.«

»Aber warum haben Sie Hans Kramer umgebracht? Warum Hans, der Ihnen geholfen hat?«

Er ermüdete sichtlich. Seine Stimme wurde schwächer, und der Atem ging flach und langsam.

»Alle ... Spuren ... verwischen ...«

Ian stand auf und kam zum Bett herüber. Zum erstenmal seit dem Überfall sah er Malcolm richtig, und der Schock erschütterte sogar sein sonst undurchdringliches Gesicht.

»Hören Sie, Randall«, rief er entsetzt, »lassen Sie diese Fragerei, bis es ihm besser geht. Was immer er auch verbrochen hat, es hat doch Zeit.«

Er hatte keine Ahnung, womit wir es hier zu tun hatten, dachte ich, und jetzt war kaum der richtige Augenblick, ihn aufzuklären. Ich gab Malcolm noch etwas Wasser zu trinken. Ians Intervention brachte ihn zum Nachdenken und ließ ihn bedauern, daß er so bereitwillig geantwortet hatte. Wiedererwachende Feindseligkeit trat deutlich in seine Augen, und als ich das Glas von seinen Lippen nahm, bekam sein Gesicht wieder den alten, störrischen Ausdruck.

»Wie sind ihre Namen?« fragte ich. »Welche Nationalität?«

»Hau ab .«

»Randall!« protestierte Ian. »Noch nicht.«

»Einer von ihnen ist Aljoscha«, mischte sich Stephen ein, trat näher und machte dabei einen großen Bogen um den Stuhl.

»Haben Sie es nicht gehört? Malcolm hat einen Aljoscha genannt.«

Es war fast ein Lachen, was da vom Bett kam. Ein breites, sardonisches Grinsen verzerrte seinen Mund. Seine Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, war voller Bosheit.

»Aljoscha bringt Sie doch noch um, Sportsfreund.«

Ungläubig starrte Stephen ihn an. »Aber Ihre Freunde haben versucht, Sie umzubringen ... Randall hat Sie gerettet.«

»Blödsinn.«

»Er ist ganz einfach weggetreten«, sagte ich. »Lassen Sie nur.«

»O Gott«, stöhnte Malcolm. »Mir wird schlecht.«

Stephen sah sich verzweifelt nach einem passenden Gefäß um, aber da war keins, und es wurde auch nicht benötigt.

Malcolms flacher Atem wurde hörbar schwächer. Ich griff nach seinem Handgelenk, konnte aber keinen Puls finden. Langsam schlossen sich seine Augen.

»Tun Sie doch was«, drängte Ian.

»Wir können künstliche Beatmung versuchen«, sagte ich.

»Aber nicht Mund zu Mund.«

»Warum nicht?«

»Das Zeug wurde ihm ins Gesicht geschüttet ... Man weiß nie.«

»Glauben Sie, er stirbt doch noch?« fragte Stephen.

Ian begann bereits energisch Malcolms Arme nach der alten Methode künstlicher Beatmung nach oben und hinten zu ziehen. Er wollte nicht aufgeben, ohne auch die letzte Möglichkeit ausgeschöpft zu haben.

Malcolms Hals, seine Hände und die nackte Brust wandelten sich von Blaugrau zu tiefstem Indigo. Nur sein Gesicht blieb bleich.

Stephen und ich sahen eine mir endlos vorkommende Weile zu, wie Ians beharrliche Bemühungen, Luft in Malcolms Lungen zu pumpen, dessen Brustkorb hoben und senkten.

Ich versuchte nicht, ihn zu stoppen. Zu diesem Entschluß mußte er selbst kommen. Ich glaube, etwas an Malcolms völliger Regungslosigkeit überzeugte ihn schließlich, denn zögernd ließ er seine Arme los und wandte uns ein ausdrucksloses, sphinxhaftes Gesicht zu.

»Er ist tot«, sagte er tonlos.

»Ja.«

Es entstand ein langes Schweigen, weil keiner von uns es über sich brachte zu sagen, was wir alle dachten. Schließlich sprach Ian es aus.

»Der Arzt ist unterwegs. Was sagen wir ihm?«

»Herzanfall?« schlug ich vor.

Die anderen nickten.

»Dann wollen wir lieber aufräumen«, sagte ich mit einem Blick auf die Überreste der Schlacht. »Was wir am nötigsten brauchen, ist ein Paar Gummihandschuhe.«

Der kleine Glasbehälter lag immer noch umgestürzt unter dem schützenden Stuhl. Irgendwie mußte er in ein Zahnputzglas praktiziert werden, und ich sah mich nach einem genügend langen Löffel für das Nachtmahl mit dem Teufel um, als Stephen sein Päckchen aus der Apotheke zum Vorschein brachte.

»Wie wäre es damit?« fragte er. »Angeblich sind die absolut undurchlässig.«

Bei jeder anderen Gelegenheit wären wir vor Lachen außerstande gewesen, etwas zu unternehmen. So aber kleidete ich Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand in preservativij und befestigte sie mit Gummibändern.

Stephen hatte protestiert, es seien seine preservativij, deshalb müsse er es sein, der sie benütze, zumal ich die Operation mit der linken Hand durchführen wollte. Ich befahl ihm, den Mund zu halten. Das war mein Job, dachte ich. Ich hatte den Schwarzen Peter und die Verantwortung.

Er nahm den Stuhl weg. Ich kniete nieder, setzte mein ganzes Vertrauen in die improvisierten, lose sitzenden Gummifingerlinge, ergriff den kleinen Glasbehälter und stellte ihn aufrecht in ein Zahnputzglas.

Um ehrlich zu sein, mein Mund war ganz trocken.

Auf der Seite liegend hatte der Behälter mehr oder weniger leer ausgesehen, aber das täuschte. Jetzt war deutlich ungefähr ein halber Teelöffel einer blaßgoldenen Flüssigkeit am Boden zu sehen. Blaßgolden ... eine schöne Farbe für den Tod.

»Der Deckel muß irgendwo sein«, sagte ich. »Aber rühren Sie ihn nicht an.«

Ian fand ihn unter dem Sofa. Er hob es an, ich erwischte den kleinen Schraubdeckel und tat ihn zu dem Behälter in das Zahnputzglas.

»Was wollen Sie jetzt damit machen?« fragte Stephen, der mit verständlicher Beklommenheit die Überreste betrachtete.

»Verdünnen.«

Ich brachte das Zahnputzglas ins Badezimmer und stellte es in die Mitte der Badewanne. Dann tat ich den Stöpsel in den Abfluß und drehte die Hähne auf. Das Wasser strömte in die Wanne, und bald begann das Glas wie ein Wasserspielzeug zu schwimmen, noch immer mit seiner tödlichen Fracht. Mit der geschützten Fingerspitze drückte ich es in die Tiefe.

Drehte die Hähne zu, bewegte das Glas mit dem Stiel meiner Zahnbürste hin und her, und ließ dann das Wasser ablaufen. Schließlich lagen der gewaschene Behälter, der Verschluß und das Zahnputzglas als harmloses, nasses Häufchen auf dem weißen Emaille der Wanne. Ich nahm sie heraus, tat sie ins Waschbecken und ließ noch einmal Wasser einlaufen, um ganz sicherzugehen.

Dann streifte ich die preservativij ab und spülte sie, wie es sich gehörte, im Klo herunter: und atmete erleichtert auf.

Im Zimmer hatten Stephen und Ian alles wieder in Ordnung gebracht. Die Spritze und die leeren Ampullen waren nicht mehr zu sehen. Die beiden Hälften der Matroschka waren wieder vereint. Die zerbrochene Flasche und die Glassplitter waren verschwunden. Der Stuhl stand ruhig neben dem Regal und darauf ganz harmlos der Recorder. Mein Koffer befand sich wieder im Schrank. Alles ordentlich. Alles ruhig. Alles unverdächtig.

Und Malcolm ... Malcolm lag in ewiger Ruhe, die Hosen wieder hochgezogen und geschlossen und das Hemd bis zum Hals zugeknöpft. Seine Jacke und die Krawatte lagen auf dem Sofa, jetzt allerdings ordentlich zusammengelegt. Der tote Malcolm sah sehr viel friedlicher aus als der sterbende.

Der russische Arzt erschien mit ausdruckslosem Gesicht und ließ routinemäßig und unbewegt den Amtsschimmel wiehern. Stephen und Ian glaubten zu verstehen, daß er nicht viel von Ausländern hielt, die Samstag abends abkratzten, wo alle Dienstleistungen auf das Notwendigste beschränkt waren.

Anweisungsgemäß warteten wir in den Sesseln am Fahrstuhl und sprachen wenig. Die rundliche Dame hinter dem Schreibtisch kam und ging mehrere Male, und Stephen fragte sie, ob sie ihre Arbeit als langweilig empfinde.

Ungerührt antwortete sie, es passiere nicht eben viel, aber ihr Job sei ihr Job. Stephen übersetzte Frage und Antwort, wir nickten mitfühlend und waren ziemlich überzeugt, daß sie nicht hinter ihrem Schreibtisch gesessen hatte, als Malcolms Freunde uns ihren Besuch abgestattet hatten.

Der Doktor schöpfte keinen Verdacht. In England war Hans Kramers Tod sogar nach einer Autopsie für die Folge eines Herzanfalls gehalten worden, und mit etwas Glück würde es hier auch so sein. Der Doktor hatte nicht erwähnt, daß er gebeten worden war, Naloxon mitzubringen. Offenbar hatte die Rezeption versäumt, Stephens Bitte weiterzuleiten: glücklicherweise, wie sich herausstellte.

Ian bekam vom Wodka und von der Gehirnerschütterung dröhnende Kopfschmerzen und lehnte mit geschlossenen Augen stöhnend in seinem Stuhl.

Stephen knabberte an seinen Fingernägeln.

Ich hustete.

Eine ganze Reihe ernster Gesichter kam und ging, einige davon sagten schließlich, wir könnten in mein Zimmer zurückkehren, Ian und Stephen, um ihre Mützen und Mäntel zu holen, und ich, um zu packen und in ein anderes Zimmer umzuziehen.

Zu diesem Zeitpunkt stöhnte Ian sich heimwärts, aber Stephen half, meine Habseligkeiten im Lift zum fünfzehnten Stock hinauf zuschaffen. Das neue Zimmer war identisch im Schnitt, etwas anders in der Farbe, und auf dem Bett lag keine steife Gestalt unter einem weißen Laken.

Stephen ließ seinen Blick an den Wänden entlangwandern und legte zwei Finger an die Lippen. Ich nickte. Mit dem Recorder herumzufummeln, lohnte sich wohl nicht. Wir machten ein oder zwei passende, schockierte Bemerkungen über Herzattacken, nur für alle Fälle, und beließen es dabei.

Wie ich feststellte, hatte er bei dem hastigen Ordnungmachen das ganze zerbrochene Glas, die Ampullen und die Spritze einfach in meinen Morgenrock gerollt und diesen in den Koffer gesteckt. Schon auf dem Weg hatten wir darüber gesprochen und es für vernünftig gehalten, alles auf einmal loszuwerden, also steckten wir die Sachen in die äußerste Hülle der neuen Matroschka und ließen ein kleines Mütterchen lächelnd auf dem Regal zurück. Die mit Abfall gefüllte Puppe taten wir in die Einkaufstasche, nahmen den Recorder mit und verließen leise das Zimmer, Die Dame auf der fünfzehnten Etage schenkte uns einen uninteressierten Blick. Wir lächelten ihr zu, während wir auf den Fahrstuhl warteten, aber Lächeln gehörte nicht zu ihren Gewohnheiten.

Erreichten das Erdgeschoß. Ohne Schwierigkeiten. Schlenderten gemächlich, ohne aufgehalten zu werden, auf dem längeren Weg zum Ausgang. Gingen unter den wachsamen Augen, die nichts anderes taten als wachen, hinaus. Kletterten in ein Taxi. Überließen uns ihm vertrauensvoll und kamen wohlbehalten in der Universität an.

Es war uns keine Privatsphäre beschieden, wo wir die Reaktion hätten verdauen können. Stephen und ich zitterten beide, nachdem wir Mantel und Mützen abgelegt hatten, und wir verspürten einen geradezu zwanghaften Drang zu reden. Selten war mir etwas so schwergefallen, wie jetzt belanglose Konversation zu machen, während die Schrecken des Abends noch in unseren Köpfen lebten, aber der Recorder hatte wieder definitiv angezeigt, daß wir nicht allein waren. Die ungelöste Spannung machte uns so nervös, daß wir uns schon nicht mehr in die Augen sehen konnten. Schließlich sagte er, mit einiger Heftigkeit, er wolle jetzt Tee machen gehen und die Matroschka in die Mülltonne leeren. Ich ging unterdessen auf den Gang und führte ein langes Telefongespräch mit Juri Chulitskij.

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