Kapitel 10

Sie kamen einfach auf mich zu, einer von vorn, einer von hinten.

Beide erreichten mich gleichzeitig und rissen mir augenblicklich den Zimmerschlüssel aus der Hand.

Der Kampf, wenn man es so nennen wollte, dauerte keine fünf Sekunden. Sie packten mich kurzerhand mit den Kräften eines Jik an Armen und Beinen und warfen mich über das Balkongeländer.

Zwei Stockwerke tief fällt man sicher schnell. Dennoch konnte ich mir in der Luft ausmalen, wie wenig von mir heil bleiben würde. Die Katastrophe war unabwendbar. Ein sehr merkwürdiges, grausiges Gefühl.

Als erstes krachte ich dann aber in einen der jungen Bäume, die um die Treppe herum wuchsen. Seine Äste gaben nach und brachen, und ich landete auf dem harten Boden der Zufahrt. Der fürchterliche Aufprall ließ alles um mich schwarz werden. Wie ein Kurzschluß. Ein Sturz ins Dunkel. Ich lag halb bewußtlos da und wußte nicht, ob ich lebte oder tot war.

Mir war warm. Kein Gedanke, lediglich ein Gefühl.

Sonst spürte ich überhaupt nichts. Ich konnte mich nicht rühren. Wußte nicht, woher ich die Kraft nehmen sollte. Kam mir vor wie hingespuckt.

Wie Jik mir später sagte, fand er mich erst nach zehn Minuten, und er kam auch nur, weil er mich bitten wollte, eine Zitrone für den Cinzano mitzubringen, falls ich noch nicht weg war.

«Allmächtiger!«Jiks halblaute, entsetzte Stimme an meinem Ohr.

Ich hörte ihn deutlich. Verstand ihn.

Ich lebe, dachte ich. Ich denke, also bin ich.

Schließlich öffnete ich die Augen. Blendend helles Licht. Wo Jiks Stimme hergekommen war, stand niemand. Vielleicht hatte ich mir das eingebildet. Nein. Jetzt nahm die Welt sehr schnell wieder Konturen an.

Auch den Sturz hatte ich mir nicht eingebildet. Immer stärker bekam ich zu spüren, daß ich mir weder den Hals noch das Rückgrat gebrochen hatte. Jede angegriffene, vorübergehend betäubte Muskelfaser meldete sich mit Macht zurück. Nicht wo es weh tat, sondern wo nicht, war die Frage. Ich erinnerte mich, daß ich in den Baum gefallen und durch die Äste gekracht war. Ich fühlte mich in Stücke gerissen und gestaucht zugleich. Super.

Nach einer Weile hörte ich Jiks Stimme wieder.»Er lebt«, sagte er,»aber das ist auch so ziemlich alles.«

«Man kann hier unmöglich vom Balkon fallen. Unsere Brüstungen sind mehr als halbhoch. «Die Stimme vom Empfang, besorgt und aufgebracht. Schlechte Reklame für ein Motel, wenn da jemand vom Balkon fiel.

«Nur keine… Panik«, sagte ich. Es klang etwas krächzend.

«Todd!«Sarah kniete sich mit blassem Gesicht vor mich hin.

«Wenn ihr mir… Zeit laßt«, sagte ich,»hole ich… den Cinzano. «Wieviel Zeit? Eine Million Jahre reichten sicher.

«Du Saukerl«, Jik stand zu meinen Füßen und schaute auf mich herunter,»du hast uns vielleicht einen Schreck eingejagt. «Er hielt einen abgebrochenen Ast in der Hand.

«Entschuldigung.«

«Gut, dann steh auf.«

«Ja… gleich.«

«Soll ich den Krankenwagen abbestellen?«fragte die Empfangsdame hoffnungsvoll.

«Nein«, sagte ich.»Ich glaube, ich blute.«

Das Krankenhaus von Alice Springs tat auch sonntags alles, was man von einem Stützpunkt fliegender Ärzte nur erwarten konnte. Sie untersuchten und röntgten und nähten und legten mir eine Auflistung vor.

— gebrochenes Schulterblatt (links)

— zwei gebrochene Rippen (links, Lunge unverletzt)

— schwere Prellung an der linken Kopfseite (keine Fraktur)

— vier Rißwunden an Rumpf, Oberschenkel, linkem Bein

(genäht)

— verschiedene kleinere Fleischwunden

— Abschürfungen und Quetschungen an der gesamten linken

Körperhälfte.

«Vielen Dank«, sagte ich seufzend.

«Danken Sie dem Baum. Ohne den hätte es schlimm für Sie ausgesehen.«

Sie empfahlen mir, den Rest des Tages und über Nacht zu bleiben. Das sei besser, meinten sie etwas zu bedeutungsvoll.

«In Ordnung«, fügte ich mich.»Sind meine Freunde noch da?«

Meine Freunde waren im Wartezimmer. Sie stritten auf Teufel komm raus über den aussichtsreichsten Starter im Melbourne Cup.

«Newshound packt das…«

«Einpacken kann der…«

«Heiland«, sagte Jik, als ich steifen Schrittes hereinkam.»Er ist wieder auf den Beinen.«

«Ja. «Ich hockte mich vorsichtig auf eine Sessellehne und kam mir fast wie eine Mumie vor, vom Hals an abwärts eingewickelt, den linken Arm unterm Verband fixiert.

«Lacht nicht«, sagte ich.

«Nur ein Verrückter kann von dem Balkon fallen«, meinte Jik.

«Mhm«, stimmte ich zu.»Man hat mich runtergeworfen.«

Sie sperrten den Mund auf wie Fische auf dem Trocknen. Ich schilderte ihnen den genauen Hergang.

«Wer waren die zwei?«fragte Jik.

«Keine Ahnung. Ich hatte sie noch nie gesehen. Sie haben sich nicht vorgestellt.«

«Du mußt zur Polizei gehen«, sagte Sarah bestimmt.

«Ja«, erwiderte ich.»Aber… ich weiß nicht, wie man so etwas hier anzeigt, und ich kenne eure Polizei nicht. Könntet ihr vielleicht… hier im Krankenhaus Bescheid sagen und ordnungsgemäß und ohne Trara die Sache bei der Polizei melden?«

«Ordnungsgemäß und ohne Trara«, meinte Sarah,»wie sich das gehört, wenn jemand vom Balkon geschmissen wird.«

«Vorher haben sie mir noch den Zimmerschlüssel abgenommen«, sagte ich.»Könnt ihr mal nachsehen, ob meine Brieftasche noch da ist?«

Sie starrten mich an, da sie eine unangenehme Ahnung beschlich.

Ich nickte.»Ja, und das Bild.«

Zwei Polizisten kamen, ließen mich erzählen, machten sich Notizen und verschwanden wieder. Ganz unverbindlich. In Alice sei so etwas noch nie passiert. Das müßten Fremde gewesen sein. Die Stadt habe einen ständigen Zustrom von Besuchern, darunter seien naturgemäß auch einige Gewalttäter. Meinem Eindruck nach hätten sie wesentlich mehr Wirbel gemacht, wenn ich zu Tode gekommen wäre. Ihre Zurückhaltung war mir nur recht.

Als Sarah und Jik wiederkamen, lag ich in dem Bett, das man mir zugewiesen hatte, und fühlte mich hundsmiserabel. Ich fror bis ins Mark. Die Reaktion des Organismus auf die erlittenen Verletzungen, kurz, der Schock.

«Sie haben beides mitgenommen«, sagte Jik.»Das Bild und die Brieftasche.«

«Und die Galerie ist geschlossen«, ergänzte Sarah.»Die Frau von der Boutique gegenüber hat gesehen, daß Harley heute früher Schluß gemacht hat, aber sie weiß nicht genau, wann. Er geht hinten raus, weil da sein Wagen steht.«

«Die Polizei war auch im Motel«, übernahm wieder Jik.»Wir haben ihnen zwar gesagt, daß das Bild weg ist, aber sie werden sich deswegen kein Bein ausreißen, wenn du ihnen nicht die ganze Geschichte erzählst.«

«Ich überlege es mir.«

«Und was machen wir jetzt?«fragte Sarah.

«Nun… es bringt nichts, noch länger hierzubleiben. Morgen fliegen wir nach Melbourne zurück.«

«Gott sei Dank«, sagte sie strahlend.»Ich dachte schon, wir müßten uns den Melbourne Cup entgehen lassen.«

Trotz einer Menge Tabletten und hingebungsvoller Betreuung verbrachte ich eine äußerst unangenehme, schlaflose Nacht. Ich konnte mich nicht richtig hinlegen. Nach dem Schüttelfrost war mir fieberheiß. Pochende Schmerzen an einem Dutzend Stellen. Bei der kleinsten Bewegung knirschten meine Gelenke. Wie ein Motor mit Kolbenfresser. Kein Wunder, daß die Ärzte mir empfohlen hatten, dazubleiben.

Ich hielt durch bis zum Morgengrauen. Alles hätte viel schlimmer kommen können.

Das wirklich Alarmierende war nicht die Brutalität der beiden Männer, sondern wie schnell sie uns gefunden hatten. Seit dem Anblick von Reginas eingeschlagenem Kopf wußte ich, daß hinter dem Ganzen ein Mensch von skrupelloser Gewaltbereitschaft stand. Wie die Chargen, so der Chef. Mit einer weniger brutalen Einstellung hätte man sie gefesselt und geknebelt, statt sie umzubringen.

Mein Sturz vom Balkon verriet die gleiche rohe Handschrift. Rabiat, aber keine sichere Methode, jemanden ins Jenseits zu befördern. Einen Sturz aus dieser Höhe konnte man durchaus überleben, auch wenn kein Baum den Fall bremste. Soweit ich mich erinnern konnte, hatten die beiden nicht nachgesehen, ob ich lebte oder tot war, und sie hatten die Sache nicht zu Ende gebracht, während ich hilflos dalag.

Entweder hatten sie mich also einfach hauruck aus dem Weg geräumt, um ungestört mein Zimmer zu durchstöbern, oder sie hatten es darauf angelegt, mir so die Knochen zu lädieren, daß ich meine Nase künftig nicht mehr in ihre Angelegenheiten stecken würde. Oder beides.

Aber wie hatten sie uns gefunden?

Ich grübelte lange darüber nach, kam aber zu keinem schlüssigen Ergebnis. Sehr wahrscheinlich hatte Harley Renbo einen Anruf von Wexford oder Greene aus Melbourne bekommen, er solle auf der Hut sein, falls ich auftauchte. Als ihnen dann aufging, daß ich nicht nur den Munnings und die pinselfrische Millais-Kopie gesehen, sondern sogar eins von Renbos Werken abgeschleppt hatte, waren sie sicher bös überrascht, aber unmöglich konnten sie in der kurzen Zeit zwei Schläger von Melbourne nach Alice Springs geschickt haben.

Zwischen dem Bildkauf und dem Überfall waren gerade mal vier Stunden vergangen, und dabei hätten sie ja noch unser Motel und unsere Zimmernummern ermitteln müssen, um dann abzuwarten, bis ich nach oben ging.

Vielleicht waren wir also doch von der Rennbahn in Melbourne aus beschattet worden, oder man hatte unsere Spur über die Passagierlisten der Fluglinie bis hierher verfolgt. In diesem Fall wäre Renbo aber sicher rechtzeitig gewarnt worden und hätte uns nichts von all dem gezeigt, was wir gesehen hatten.

Ich gab es auf. Ich wußte nicht mal, ob ich meine beiden Angreifer wieder erkennen würde. Bestimmt nicht den, der hinter mir gewesen war, denn ihn hatte ich gar nicht richtig zu Gesicht bekommen.

Jedenfalls hatten sie nach dem Überfall Grund genug anzunehmen, daß ich fürs erste außer Gefecht gesetzt war — und wäre ich vernünftig gewesen, hätte ich auch wirklich den Rückzug angetreten.

Wenn sie Zeit gewinnen wollten, wofür?

Um ihre Tarnung auszubauen, ihre Spuren zu verwischen, damit die Polizei, falls ich sie auf eine Verbindung zwischen Gemälden und Einbruchsdiebstählen hinwies, bei ihren Ermittlungen gegen eine solide Betonwand rennen würde.

Vorläufig rechneten sie sicher nicht mit meinem Eingreifen, auch wenn sie wußten, daß ich überlebt hatte; je früher ich also in Aktion trat, desto besser.

Gut. Mein Verstand war leicht zu überreden. Vom Hals abwärts sah die Sache anders aus.

Jik und Sarah erschienen erst gegen elf, und ich empfing sie im Bett sitzend. Aufrecht, aber nicht gerade munter.

«Himmel«, sagte Sarah,»du siehst schlimmer aus als gestern.«

«Zu gütig.«

«Dich kriegen wir im Leben nicht nach Melbourne. «Es klang entmutigt.»Adieu, Cup.«

«Ihr könnt doch ruhig fahren«, sagte ich.

Sie trat zu mir ans Bett.»Sollen wir dich vielleicht hier einfach liegen lassen, während wir uns ein paar schöne Tage machen?«

«Warum denn nicht?«

«Sei nicht albern.«

Jik rekelte sich in einem Besuchersessel.»Wir können doch nichts dafür, wenn er sich irgendwo runterschmeißen läßt.«

Sarah fuhr zu ihm herum.»Wie kannst du so was sagen?«

«Wir wollen da nicht hineingezogen werden«, stieß Jik nach.

Ich grinste. Sarah merkte, daß ihr ironisch die Worte vorgehalten wurden, die sie vor drei Tagen selbst im Mund geführt hatte, und warf gereizt die Arme hoch.

«Du widerliches Miststück!«schimpfte sie.

Jik schmunzelte wie ein sahnesatter Kater.»Wir waren noch mal bei der Galerie«, sagte er.»Sie ist immer noch geschlossen. Also sind wir außen rum und haben hinten durch die Glastür geschaut, und rate mal, was wir gesehen haben?«

«Gar nichts.«

«Keine Staffelei mit einem Pseudo-Millais. Alles Zweifelhafte sorgfältig versteckt. Was noch da ist, sieht nach normalem, ehrlichem Geschäft aus.«

Ich verlagerte ein wenig das Gewicht, um eine schmerzende Körperpartie zu entlasten, und erntete Protest von einer anderen.»Selbst wenn ihr reingekommen wärt, hättet ihr wahrscheinlich nichts Fragwürdiges entdeckt. Bestimmt hat er alles Belastende schon gestern nachmittag verschwinden lassen.«

Jik nickte.»Klar.«

«Wir haben die Empfangsdame im Motel gefragt, ob sich jemand nach uns erkundigt hat«, sagte Sarah.

«Und?«

Sie nickte.»Ein Mann hat angerufen. Um kurz nach zehn, meinte sie. Er wollte wissen, ob ein Mr. Charles Todd mit einem befreundeten Ehepaar bei ihnen wohne, und als sie es bestätigte, ließ er sich deine Zimmernummer geben. Er hätte eine Lieferung für dich.«

«Himmel. «Schöne Lieferung. Expreß. Abwärts.

«Sie nannte ihm zwar die Nummer, sagte aber, wenn er das Paket am Empfang abgebe, werde sie es weiterleiten.«

«Er wird sich eins gelacht haben.«

«Dafür dürfte es ihm an Humor fehlen«, meinte Jik.

«Um kurz nach zehn?«fragte ich nachdenklich.

«Als wir in der Stadt waren«, nickte Sarah.»Gar nicht lange nachdem wir die Galerie verlassen hatten… vielleicht, als wir die Schwimmsachen kaufen waren.«

«Warum hat die Frau uns nichts von dem Anruf gesagt?«»Sie war in der Kaffeepause, als wir zurückkamen. Und danach hat sie’s vergessen. Außerdem hielt sie es auch für ganz unwichtig.«

«Allzu viele Motels gibt es nicht in Alice«, sagte Jik.»Als erst mal feststand, daß wir hier sind, waren wir sicher leicht zu finden. Ich nehme an, die Clique in Melbourne hat Renbo verständigt, und es ging los.«

«Die hat wahrscheinlich der Schlag getroffen, als sie hörten, daß du das Bild gekauft hast.«

«Ich wünschte, ich hätte es versteckt«, sagte ich. Und prompt mußte ich an Maisie denken, die ihr Bild versteckt hatte und deren Haus angezündet worden war.

Sarah seufzte.»Tja… was machen wir jetzt?«

«Letzte Gelegenheit, nach Hause zu fahren«, sagte ich.

«Hast du das vor?«wollte sie wissen.

Ich lauschte kurz dem flehentlichen Bitten meines geschundenen Körpers, und ich dachte an Donald in seinem kalten Haus. Ich schwieg.

Es war ihr Antwort genug.»Na bitte«, sagte sie.»Was tun wir also?«

«Hm«, sagte ich.»Zuerst mal laßt ihr die Empfangsdame im Motel wissen, daß ich in sehr schlechter Verfassung bin und wohl noch mindestens eine Woche im Krankenhaus bleiben muß.«

«Nicht mal übertrieben«, meinte Jik leise.

«Sagt ihr, sie darf das ruhig weitergeben, falls sich jemand erkundigt. Sagt, daß ihr nach Melbourne wollt, zahlt unsere Rechnungen, laßt euch euren Flug für heute nachmittag bestätigen, storniert meinen und nehmt dann ganz normal den Bus zum Flughafen.«

«Und du?«fragte Sarah.»Wann willst du nachkommen?«

«Ich komme mit euch«, sagte ich.»Falls ihr eine Möglichkeit findet, eine bandagierte Mumie in ein Flugzeug zu verfrachten, ohne daß es jemand merkt.«»Heiland«, rief Jik begeistert.»Das kriegen wir schon hin.«

«Ruft beim Flughafen an und bucht mir einen Platz unter einem anderen Namen.«

«Okay.«

«Und kauft mir ein Hemd und eine Hose. Was ich anhatte, ist im Müll.«

«Wird erledigt.«

«Geht aber immer davon aus, daß ihr beobachtet werden könntet.«

«Du meinst, wir sollen ein trauriges Gesicht machen?«fragte Sarah.

Ich grinste.»Ich würde mich geehrt fühlen.«

«Und wenn wir dann in Melbourne sind?«fragte Jik.

Ich biß mir auf die Unterlippe.»Dann gehen wir am besten wieder ins Hilton. Schon weil da noch unsere Sachen sind, vor allem auch mein Paß und mein Geld. Wenn Wexford und Greene nicht wissen, daß wir da schon gewohnt haben, sind wir im Hilton bestens aufgehoben. Und überhaupt, wo sonst wollen wir am Abend vor dem Cup in Melbourne ein Zimmer bekommen?«

«Wenn du im Hilton aus dem Fenster geworfen wirst, kannst du das keinem mehr erzählen«, meinte er vergnügt.

«Die gehen nicht so weit auf«, sagte ich.»Es besteht also keine Gefahr.«

«Tröstlich.«

«Und morgen?«fragte Sarah.»Was wird morgen?«

Zögernd und mit einigen Unterbrechungen erläuterte ich meine Pläne für den Tag des Cups. Als ich damit fertig war, schwiegen sie beide.

«Also«, sagte ich.»Wollt ihr jetzt nach Hause fahren?«

Sarah stand auf.»Wir besprechen das mal«, sagte sie nüchtern.»Dann kommen wir wieder her.«

Auch Jik stand auf, aber an seinem vorgereckten Kinnbart sah ich, wie er sich entscheiden würde. Er hatte schließlich auch die Schlechtwetterrouten auf der Nordsee und im Atlantik für uns ausgesucht. Im Herzen war er weit verwegener als ich.

Um zwei Uhr erschienen sie wieder und schleppten eine schwere Tragetüte, aus der oben eine Flasche Scotch und eine Ananas herausragten.

«Proviant für einen kranken Freund«, sagte Jik und legte mir die Flasche und die Frucht ans Fußende des Bettes.»Wie geht’s dir?«

«Auf dem Zahnfleisch gehe ich.«

«Jeder, wie er kann. Also Sarah sagt, wir machen mit.«

Ich suchte in ihrem Gesicht. Die dunklen Augen blickten mich ruhig an, als fügte sie sich in etwas Unvermeidliches. Ich konnte keine Feindseligkeit, aber auch keine Begeisterung bei ihr entdecken. Sie hatte mit dem Kopf, nicht aus dem Bauch entschieden.

«Gut«, sagte ich.

«Wir haben noch mehr für dich«, meinte Jik, mit Auspacken beschäftigt,»… eine mittel graue Hose, ein hellblaues Baumwollhemd.«

«Wunderbar.«

«Das ziehst du aber erst in Melbourne an. Für die Abreise aus Alice Springs haben wir dir etwas anderes gekauft.«

Ich sah die Belustigung auf ihren Gesichtern und fragte argwöhnisch:»Was?«

Mit wachsendem Vergnügen breiteten sie die Sachen aus, die für meinen unauffälligen Abschied von Alice Springs bestimmt waren.

So kam es, daß ich auf dem kleinen Flughafen in der Zeit zwischen Einchecken und Anbordgehen unmöglich von irgend jemand übersehen werden konnte. Ich trug ausgeblichene, in Wadenhöhe abgeschnittene und zünftig ausgefranste Jeans. Keine Socken. Zehensandalen mit Sisalsohle. Einen halblangen, ponchoähnlichen Überwurf in leuchtendem

Orange, Rot und Magenta, aus dem nur Kopf und Hände hervor schauten. Darunter ein weites, weißes T-Shirt. Auf der Nase eine große Sonnenbrille. Künstliche Sonnenbräune auf jedem Stückchen Haut. Und zur Krönung des Ganzen einen großen Strohhut mit fünf Zentimeter langen Fransen an der Krempe, wie er bevorzugt im Busch getragen wird, um die Fliegen abzuhalten. Fliegen sind die Crux Australiens. Die fliegenverscheuchende Bewegung der rechten Hand ist nicht umsonst als großer australischer Gruß bekannt.

An meinem Touristenhut war ein Hutband mit der gut lesbaren Aufschrift:»Ich habe den Ayers Rock bestiegen.«

In der Trans-Australian-Airline-Tasche, die mir Sarah in der Stadt gekauft hatte, trug ich die dezente Kleidung für danach.

«Niemand wird drauf kommen, daß du ein Fall für die Tragbahre bist, wenn du damit herumläufst«, hatte Jik zufrieden beim Ausbreiten meiner Garderobe gesagt.

«Eher für die Klapsmühle.«

«Nicht weit gefehlt«, meinte Sarah trocken.

Beide warteten schon mit düsterer Miene, als ich zum Flughafen kam. Sie warfen nur einen Blick auf mich und konzentrierten sich sogleich auf den Fußboden, um, wie sie mir nachher erzählten, angesichts solch wandelnder Pracht nicht laut herauszuplatzen.

Ich ging gemessenen Schrittes zum Ansichtskartenstand und blieb dort stehen, denn, um die Wahrheit zu sagen, Sitzen war für mich beschwerlicher. Die Ansichtskarten zeigten vorwiegend und in immer neuen Varianten den riesigen orangefarbenen Steinblock in der Wüste: Ayers Rock bei Tagesanbruch, bei Sonnenuntergang und alle fünf Minuten dazwischen.

Während ich die Karten begutachtete, schaute ich mich gleichzeitig in der Halle um. Ungefähr fünfzig bunt gemischte Reisende. Etliche Flughafenangestellte, ruhig und entspannt. Ein paar Aborigines mit umschatteten Augen und dunklen

Gesichtern, die geduldig auf den Flughafenbus zurück in die Traumzeit warteten. Vollklimatisierte Luft, aber alle hier bewegten sich noch im gemächlichen Rhythmus des Lebens in der Sonne.

Niemand wirkte im geringsten bedrohlich.

Der Flug wurde aufgerufen. Die gemischten Passagiere, einschließlich Jik und Sarah, standen auf, nahmen ihr Handgepäck und strömten hinaus zur Maschine.

Da, und erst da, sah ich ihn.

Der Mann, der über den Balkon gekommen war, um mich runterzuwerfen. Zuerst traute ich meinen Augen nicht, dann war ich mir sicher. Er hatte unter den Reisenden gesessen und in einer Zeitung gelesen, die er jetzt zusammenfaltete. Reglos beobachtete er, wie Jik und Sarah ihre Bordkarten vorzeigten und durch die Tür aufs Rollfeld traten. Sein Blick folgte ihnen bis zum Flugzeug. Als sie die Treppe hinaufgegangen und eingestiegen waren, drehte er sich um und kam geradewegs auf mich zu.

Mein Herz tat einen fürchterlichen Satz. Weglaufen war unmöglich.

Er sah nicht nur so aus. Er war es. Jung, kräftig, zielbewußt, geschmeidig wie eine Katze. Auf dem Weg zu mir.

Heiland, hätte Jik gesagt.

Er würdigte mich keines Blickes. Drei Meter von mir entfernt blieb er an einem Münztelefon stehen und suchte in seiner Tasche nach Kleingeld.

Meine Füße gehorchten mir nicht. Ich glaubte immer noch, er würde mich sehen, stutzen, mich erkennen… und mir auf den Pelz rücken. Ich spürte, wie mir unter dem Verband der Schweiß lief.

«Letzter Aufruf für den Flug nach Adelaide und Melbourne.«

Es muß sein, dachte ich. Um zur Tür zu kommen, mußte ich an ihm vorbei.

Ich riß meine Füße los. Ging. Erwartete bei jedem Schritt, ihn hinter mir rufen zu hören. Oder schlimmer noch, seine schwere Hand auf der Schulter zu spüren.

Ich kam zur Tür, zeigte die Bordkarte vor, ging hinaus aufs Rollfeld.

Konnte der Versuchung, mich noch einmal umzublicken, nicht widerstehen. Durch die Scheibe sah ich, wie er mit ernster Miene telefonierte, ohne auch nur in meine Richtung zu schauen.

Der Weg zur Maschine kostete trotzdem Nerven. Gnade uns Gott, dachte ich, wenn ich beim kleinsten Anlaß schon so weiche Knie bekomme.

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