Kapitel 6

Ich übernachtete in dem umgebauten Bootshaus, das Jiks Postadresse war. Bis auf eine Schlafnische, ein neu aussehendes Bad und eine provisorische Küche benutzte er den ganzen Raum als Atelier.

Eine riesige alte Staffelei stand in der Mitte, links und rechts davon je ein Tisch mit übersichtlich geordneten Farben, Pinseln, Messern, mit Leinöl, Terpentin und Reiniger, dem ganzen üblichen Zubehör.

Kein angefangenes Gemälde. Alles unter Verschluß. Die große Binsenmatte vor der Staffelei war wie ihr Gegenstück in England schwarz verschmiert, da Jik die Angewohnheit hatte, seine flüchtig ausgewaschenen Pinsel daran abzustreifen, wenn er die Farbe wechselte. Die Farbtuben waren typischerweise in der Mitte plattgequetscht, weil ihm die Geduld fehlte, von unten her zu drücken. Die Palette war ein rechteckiges Plättchen, das ihm genügte, da er die meisten Farben direkt aus der Tube auftrug und seine Effekte durch Übermalen erzielte. Unter dem einen Tisch stand eine große Kiste mit Putzlappen, die er brauchte, um alles sauberzuwischen, was er zum Malen nahm, nicht nur Pinsel und Messer, sondern auch Finger, Nägel, Handballen, Unterarme und was ihm sonst gerade einfiel. Ich schmunzelte. Jiks Atelier war so unverwechselbar wie seine Bilder.

An der einen Wand stand ein zweireihiges Gestell mit Leinwänden, die ich einzeln herauszog. Dunkle, kräftige, dramatische Farben, die ins Auge sprangen. Immer noch der trübe Blick, das Untergangsbewußtsein. Verfall und Kreuzigung, schauerlich düstere Landschaften, welkende Blumen, sterbende Fische, alles nur angedeutet, nichts explizit.

Jik verkaufte seine Bilder ungern und nur selten, was vielleicht kein Fehler war, da sie unangenehme

Zimmergenossen sein konnten und selbst eine Feldlerche deprimiert hätten. Ihre Kraft war jedoch nicht zu leugnen. Wer eine Ausstellung seiner Bilder gesehen hatte, vergaß sie nicht mehr, begann, anders wahrzunehmen, wurde vielleicht sogar zu einem anderen Menschen. Er war ein großer Maler auf eine Art, wie ich es nie sein würde, und Massenerfolg hätte er als persönliches Versagen betrachtet.

Am nächsten Morgen ging ich zum Boot und fand Sarah allein vor.

«Jik holt Milch und Zeitungen«, sagte sie.»Ich mach dir was zum Frühstück.«

«Ich wollte mich verabschieden.«

Sie sah mir in die Augen.»Es ist schon zu spät.«

«Nicht, wenn ich fahre.«

«Zurück nach England?«

Ich schüttelte den Kopf.

«Das dachte ich mir. «Ein kleines Lächeln schien in ihren Augen auf.»Jik hat mir gestern abend erzählt, du wärst der einzige ihm bekannte Mensch, der die Ruhe aufbringt, nachts bei Windstärke zehn auf einem leckgeschlagenen Boot mit kaputten Pumpen, das seit vier Stunden vom Sturm herumgewirbelt wird, die genauen Positionsangaben für einen Notruf auszurechnen.«

Ich grinste.»Aber er hat das Leck gestopft und die Pumpe repariert, und den Notruf haben wir eingestellt, als es hell wurde.«

«Ihr wart beide blöd.«

«Weil es sicherer ist, daheim zu bleiben?«fragte ich.

Sie wandte sich ab. »Männer«, sagte sie.»Ihr habt erst Ruhe, wenn ihr euren Hals riskiert.«

Bis zu einem gewissen Grad hatte sie recht. Ein wenig Gefahr war gesund und fühlte sich gut an, besonders hinterher. Nur das wirklich Extreme war zum Fürchten und zum Abgewöhnen.

«Das geht auch manchen Frauen so«, sagte ich.

«Mir nicht.«

«Ich werde Jik nicht mitnehmen.«

Sie wandte mir immer noch den Rücken zu.»Du wirst ihn umbringen.«

Nichts konnte ungefährlicher aussehen als die kleine Vorstadtgalerie, in der Maisie ihr Bild gekauft hatte. Es gab sie nicht mehr. Durchs Schaufenster sah man einen leeren Raum mit nackten Wänden, und eine ebenso knappe wie überflüssige Notiz an der Glastür besagte:»Geschlossen«.

In den kleinen Nachbarläden links und rechts zuckte man die Achseln.

«Die lief nur einen Monat oder so. War kaum besucht. Kein Wunder, daß sie eingegangen ist.«

Konnten sie mir sagen, welcher Makler das Objekt betreute? Nein, das konnten sie nicht.

«Ende der Ermittlung«, meinte Jik.

Ich schüttelte den Kopf.»Versuchen wir es bei den Maklern in der Gegend.«

Wir trennten uns und vergeudeten eine Stunde mit Lauferei. Keiner der Makler im Umkreis hatte die Galerie im Schaukasten ausgeschrieben.

Vor der geschlossenen Tür trafen wir uns wieder.

«Und jetzt?«

«Zur Art Gallery?«

«Im Domain«, sagte Jik, und wie sich herausstellte, meinte er damit eine ausgedehnte Parkanlage im Zentrum. Die Art Gallery hatte eine repräsentative Vorderfront mit sechs Säulen, und drinnen entdeckten wir auch bald den Munnings.

Niemand sonst betrachtete ihn. Niemand verwickelte uns in ein Gespräch und gab uns den Tip, daß in einer kleinen, außerhalb gelegenen Galerie billig ein Munnings zu haben sei.

Wir ließen uns Zeit, so daß ich in Ruhe die meisterhafte Komposition mit den beiden weißen Ponys bewundern konnte, die sich im Schein unwetterdrohenden Lichts gegen die dunkle Herde dahinter abhoben, und Jik gab widerwillig zu, daß der Mann immerhin etwas von Farbgebung verstand.

Sonst passierte gar nichts. Wir fuhren mit dem MG zum Boot zurück und aßen enttäuscht zu Mittag.

«Was jetzt?«fragte Jik.

«Herumtelefonieren, wenn du mir den Apparat im Bootshaus zur Verfügung stellst.«

Es dauerte fast den ganzen Nachmittag, aber als ich die Makler im Branchenverzeichnis in alphabetischer Reihenfolge bis Holloway & Sohn durchtelefoniert hatte, wurde ich fündig. Das fragliche Objekt, sagten Holloway & Sohn, sei kurzfristig an North Sydney Fine Arts vermietet worden.

Für wie lange?

Ein Vierteljahr, ab ersten September.

Nein, Holloway & Sohn wußten nicht, daß das Objekt leerstand. Sie konnten es erst nach dem ersten Dezember wieder vermieten, da North Sydney Fine Arts die Miete im voraus bezahlt hatte; konkrete Namen zu nennen war ihnen leider nicht möglich. Ich schleimte ein bißchen, deutete zart an, selbst in der Branche zu sein und einen Kunden für den leerstehenden Laden zu haben. Holloway & Sohn nannten mir einen Mr. John Grey mit einer Postfachnummer als Adresse. Ich bedankte mich. Mr. Grey, sagten sie ein wenig auftauend, habe die Galerie nur für eine kleine Privatausstellung nutzen wollen, daher wundere es sie eigentlich nicht, daß er schon draußen sei.

Wie konnte ich Mr. Grey erkennen, falls ich mit ihm zusammentraf? Da waren sie überfragt; sie hatten nur telefonisch und brieflich mit ihm verkehrt. Ich solle ihm doch schreiben, wenn mein Kunde die Galerie vor dem ersten Dezember brauchte.

Na, vielen Dank, dachte ich.

Andererseits konnte es nichts schaden. Ich suchte mir ein geeignetes Blatt Papier und teilte Mr. Grey in verstellter, verschnörkelter Schrift und schwarzer Tinte mit, Holloway & Sohn hätten mir seinen Namen und seine Postfachnummer gegeben; ob er mir freundlicherweise die letzten vierzehn Tage seines Mietvertrags zur Nutzung überlassen würde, damit ich die wirklich starken Aquarelle eines Freundes ausstellen könnte. Den angemessenen Preis dürfe er selbst bestimmen… Hochachtungsvoll, Peregrine Smith.

Ich ging zum Boot, um Jik und Sarah zu fragen, ob ich ihr Postfach als Absenderadresse angeben dürfe.

«Wenn das ein Gauner ist, antwortet er nicht«, meinte Sarah, als sie den Brief gelesen hatte.»Ich würde es sein lassen.«

«Ködern ist das A und O beim Fischefangen«, sagte Jik.

«Da würde nicht mal ein ausgehungerter Piranha anbeißen.«

Trotzdem schickte ich den Brief mit Sarahs widerwilliger Zustimmung ab. Einen Erfolg versprach sich keiner von uns.

Jiks Telefonstunde verlief dagegen recht erfreulich. Melbourne war wegen der größten Rennveranstaltung des Jahres offenbar restlos überlaufen, aber wir hätten Glück gehabt, meinte er belustigt, und zwei kurzfristig abbestellte Zimmer bekommen.

«Wo?«fragte ich mißtrauisch.

«Im Hilton«, sagte er.

Ich konnte es mir zwar nicht leisten, aber wir fuhren. Jik hatte in seiner Studentenzeit von vorsichtigen Zuwendungen aus einer Familienstiftung gelebt, und sein Einkommen floß offenbar immer noch aus dieser Quelle. Das Boot, das Bootshaus, der MG und die Frau wurden nicht durch Farbe unterhalten.

Wir flogen am nächsten Morgen südwärts nach Melbourne, schauten unterwegs auf die Snowy Mountains hinab und waren mit unseren unerquicklichen Gedanken allein. Sarahs Mißbilligung saß mir wie ein kalter Hauch im Nacken, aber sie hatte sich geweigert, in Sydney zu bleiben. Es sah aus, als sei Jiks angeborener Hang und Drang zu gewagten Abenteuern durch die Liebe gedrosselt worden und als sei in Zukunft keine unkomplizierte Reaktion auf Gefahr mehr zu erwarten. Falls ich ihn denn in Gefahren brachte, auf die er reagieren mußte. Die Fährte in Sydney war kalt und unbrauchbar, und vielleicht fand sich auch in Melbourne nur wieder ein öffentlich ausgestellter, unbeachteter Munnings und eine aufgegebene Galerie. Aber was dann? Für Donald würden die Aussichten trostloser sein als die seltsamen zerkerbten Bergketten, die unter uns dahinglitten.

Wenn ich den stichhaltigen Beweis mit zurückbringen konnte, daß die Plünderung seines Hauses ursächlich mit dem Kauf eines Bildes in Australien zusammenhing, mußte ihm das eigentlich die Polizei vom Hals schaffen, ihm neuen Lebensmut geben und Regina zu einem anständigen Begräbnis verhelfen.

Wenn.

Und es mußte schnell gehen, sonst war es ohnehin zu spät. Für Donald, der Stunde um Stunde in einem leeren Haus auf ein Porträt starrte… Donald, der vor dem Zusammenbruch stand.

Melbourne war kalt, naß und stürmisch. Dankbar meldeten wir uns im warmen, feudalen Hilton an, rings umgeben von wohltuendem Rot, Purpur und Blau, Samtstoffen, Kupfer, Blattgold und Glas. Die Angestellten lächelten. Der Lift funktionierte. Ungläubiges Staunen, als ich meinen Koffer selber trug. Die karge Dachstube daheim war weit weg.

Ich packte meine Sachen aus, das heißt, meinen einzigen Anzug, der in der Malertasche etwas gelitten hatte, hängte ihn auf einen Bügel und setzte mich wieder ans Telefon.

Das Melbourner Büro der Monga Vineyards GmbH teilte mir fröhlich mit, daß ihr Geschäftsführer, Hudson Taylor, mit Mr. Donald Stuart aus England verhandelt habe und daß er sich gegenwärtig im Büro auf dem Weingut selbst aufhalte, das nördlich von Adelaide gelegen sei. Ob ich die Telefonnummer haben wollte?

Ja, gern, danke.

«Kein Problem«, wurde mir geantwortet — wie ich herausfand, die australische Kurzform für:»Keine Ursache, gern geschehen.«

Ich holte die Karte von Australien hervor, die ich mir auf dem Herflug von England gekauft hatte. Melbourne, die Hauptstadt des Bundesstaats Victoria, lag tief unten im Südosten. Adelaide, die Hauptstadt Südaustraliens, lag etwa vierhundertfünfzig Meilen nordwestlich davon. Berichtigung, siebenhundertdreißig Kilometer — die Australier hatten bereits das metrische System eingeführt, woran ich mich erst noch gewöhnen mußte.

Hudson Taylor war nicht in seinem Büro in den Weinbergen. Eine fröhliche Stimme teilte mir mit, er sei zum Pferderennen nach Melbourne gefahren. Er habe einen Starter im Cup. Der Stimme nach war Ehrfurcht angezeigt.

Konnte ich ihn irgendwie erreichen?

Wenn es wichtig war, schon. Er wohnte bei Freunden. Telefon wie folgt. Rufen Sie gegen neun an.

Ein wenig seufzend ging ich zwei Etagen tiefer und klopfte bei Jik und Sarah an, die in ausgelassener Zufriedenheit durch ihr Zimmer tanzten.

«Wir haben Karten fürs Pferderennen morgen und am Dienstag«, sagte Jik.»Und eine Parkerlaubnis und ein Auto. Und am Sonntag gibt’s gegenüber dem Hotel ein Kricketmatch Westindien gegen Victoria, und dafür haben wir auch Karten.«

«Wunder a la Hilton«, meinte Sarah, von diesem Programm sichtlich angetan.»Das ganze Paket war in den abbestellten Zimmern inbegriffen.«

«Aber was hast du denn heute nachmittag mit uns vor?«schloß Jik aufgeräumt.

«Könntet ihr das Arts Centre ertragen?«

Sie hatten nichts dagegen. Sogar Sarah kam mit, ohne einen Weltuntergang vorauszusagen, da mein bisheriger Mißerfolg sie positiv gestimmt hatte. Wir nahmen ein Taxi, damit ihre Locken nicht naß wurden.

Das Victoria Arts Centre war riesig, modern, innovativ und mit dem größten Buntglasdach der Welt ausgestattet. Jik holte tief Luft, als wollte er den pulsierenden Geist des Ortes einatmen, und erklärte lauthals, Australien sei das allerallergrößte, das einzige noch aufregende Land in der korrupten, kriegswütigen, geldgeilen, freiheitsfeindlichen, skrupellosen, angefaulten, erstickungsgefährdeten, verdreckten Welt. Die Vorübergehenden bekamen lange Ohren, aber Sarah schien kein bißchen überrascht.

Tief im Labyrinth der Ausstellungsräume entdeckten wir schließlich den Munnings. Er schimmerte in dem erstaunlichen Licht, von dem das ganze Gebäude durchflutet war:»Der Aufbruch der Hopfenpflücker «mit seinem weiten Himmel und den stolzen Zigeunern, ihren Kindern und ihren von Ponys gezogenen Wohnwagen.

Ein junger Mann, der schräg davor an einer Staffelei saß, war intensiv damit beschäftigt, eine Kopie des Bildes anzufertigen. Auf einem Tisch neben ihm standen große Gläser mit Leinöl und Terpentin und eins mit Pinseln und Reinigungsflüssigkeit. Die verschiedensten Farben lagen griffbereit in einer Schachtel. Zwei oder drei Umstehende schauten ihm verstohlen zu, wie Galeriebesucher auf der ganzen Welt es tun.

Jik und ich traten hinter ihn, um ihm über die Schulter zu sehen. Der junge Mann drehte sich nach Jik um, sah aber nichts als ein freundliches Gesicht mit hochgezogenen Brauen. Wir schauten zu, wie er Schieferweiß und Kadmiumgelb aus zwei Tuben auf die Palette gab und sie mit einem Borstenpinsel zu einem hübschen hellen Farbton mischte.

Auf der Staffelei stand die eben erst begonnene Studie. Nur die Umrißlinien waren zu sehen, wie durchgepaust, und am Himmel war ein wenig Blau angelegt.

Jik und ich verfolgten interessiert, wie er das helle Gelb auf das Hemd der vordersten Figur auftrug.

«He«, sagte Jik plötzlich laut, klopfte ihm auf die Schulter und ließ die andächtige Stille der Galerie in tausend Stücke zerbrechen.»Sie sind ein Scharlatan. Wenn Sie Maler sind, bin ich der Gasmann.«

Nicht gerade höflich, aber auch kein Frevel. Die Umstehenden waren verlegen, nicht entrüstet.

Die Wirkung auf den jungen Mann war jedoch immens. Er fuhr so heftig in die Höhe, daß er die Staffelei umstieß, starrte Jik entgeistert an, und der setzte mit sichtlichem Vergnügen noch eins drauf.

«Was Sie da machen, ist kriminell«, sagte er.

Darauf reagierte der junge Mann blitzschnell und brutal, ergriff das Leinöl und das Terpentin und schüttete Jik beides in die Augen.

Ich packte ihn am linken Arm. Er schnappte sich mit rechts die farbbeladene Palette, wirbelte herum und wollte sie mir ins Gesicht schleudern. Instinktiv wich ich aus. Die Palette verfehlte mich und traf Jik, der sich die Augen zuhielt und laut brüllte.

Sarah stürzte auf ihn zu und prallte in ihrer Hast gegen mich, so daß sich mein Griff am Arm des jungen Mannes lockerte. Er riß sich los, rannte zum Ausgang, huschte an zwei verdatterten Besuchern mittleren Alters vorbei, die gerade hereinkamen, und stieß sie mir voll in den Weg. Bis ich mein Gleichgewicht wiederfand, war er bereits verschwunden. Ich lief durch etliche

Hallen und Gänge, konnte ihn aber nirgends entdecken. Im Gegensatz zu mir kannte er sich hier aus; und als ich die Verfolgung schließlich aufgab, brauchte ich eine ganze Weile, um zu Jik zurückzufinden.

Ziemlich viele Leute standen um ihn herum, und Sarah, die vor lauter Angst schrie, fiel mich wie eine Furie an, als sie mich erblickte.

«Tu doch was«, schrie sie.»Tu was, sonst wird er blind… er wird blind… Hätten wir bloß nicht auf dich gehört!«

Ich packte sie an den Handgelenken, denn sie war fast hysterisch und schien sich für Jiks Ungemach mit ein paar Verletzungen an meinem Gesicht rächen zu wollen. Kraft genug hatte sie.

«Sarah«, sagte ich energisch.»Jik wird nicht blind.«

«Doch! Wird er ja!«wiederholte sie und trat mir gegen die Schienbeine.

«Oder hättest du das etwa gern?«rief ich.

Empört schnappte sie nach Luft. Was ich gesagt hatte, war mindestens so wirksam wie ein Schlag ins Gesicht. Sie kam plötzlich zur Besinnung, wie von einer kalten Dusche, und aus der Berserkerin wurde eine aufgebrachte, aber wieder ansprechbare Frau.

«Leinöl schadet überhaupt nicht«, sagte ich entschieden.»Terpentin ist schmerzhaft, aber das ist auch alles. Es nimmt ihm auf keinen Fall das Augenlicht.«

Sie starrte mich wütend an, riß ihre Arme los und wandte sich wieder Jik zu, der vor Schmerzen im Kreis trat und sich mit geballten Fäusten die Augen zuhielt. Da Jik aber Jik war, betätigte er auch sein Mundwerk.

«So ein hinterhältiger Dreckskerl… wenn ich den erwische… Himmel Arsch, ich kann nichts sehen… Sarah, wo ist der verdammte Todd? Ich dreh ihm den Hals um… ruf einen Krankenwagen… mir brennt’s die Augen aus… Teufel noch mal…«

«Deine Augen sind okay«, sagte ich ihm laut ins Ohr.

«Es sind meine verdammten Augen, und wenn ich sage, die hat’s erwischt, dann hat’s sie erwischt.«

«Du weißt ganz genau, daß du nicht blind wirst, also mach nicht so ein Theater.«

«Es sind ja nicht deine Augen, du Aas.«

«Aber du ängstigst Sarah«, sagte ich.

Das zog. Er nahm die Hände runter und hörte auf herumzutorkeln.

Beim Anblick seines Gesichts ging ein Raunen wohligen Entsetzens durch das gebannte Publikum. Eine Backe war von der Palette des jungen Mannes leuchtend blau und gelb gefleckt, und die rot entzündeten Augen, aus denen die Tränen nur so strömten, sahen wirklich übel aus. Er kniff sie vor Schmerzen zusammen.

«Gott, Sarah«, sagte er,»entschuldige, Liebes. Der Blödmann hat recht. Von Terpentin ist noch keiner blind geworden.«

«Nicht auf Dauer«, sagte ich, denn es war offensichtlich, daß er im Augenblick nur Tränen sehen konnte.

Sarahs Abneigung war unverändert stark.»Dann ruf ihm einen Krankenwagen.«

Ich schüttelte den Kopf.»Er braucht jetzt nur Wasser und Zeit.«

«Was bist du bloß für ein unmögliches Ekel! Man sieht doch, daß er einen Arzt braucht und ins Krankenhaus gehört.«

Jik, von seinen Mätzchen abgebracht, zog ein Taschentuch hervor und wischte sich behutsam die tränenden Augen.

«Er hat recht, Liebes. Jede Menge Wasser, dann geht’s wieder. Das spült den Schmerz weg. Bring mich zur nächsten Herrentoilette.«

Gestützt auf die immer noch skeptische Sarah zur Linken und einen mitfühlenden Zuschauer zur Rechten, wurde er fürsorglich hinausgeleitet wie Samson auf einer Laienbühne.

Der Chor in Gestalt der Zuschauer strafte mich mit Blicken und freute sich auf den nächsten Akt.

Ich schaute auf den Farbensalat und die umgeworfene Staffelei, die der junge Mann zurückgelassen hatte. Die Zuschauer auch.

«Es hat sich nicht zufällig jemand von Ihnen mit dem Künstler unterhalten, bevor das hier passiert ist?«fragte ich ruhig.

«Doch, wir«, antwortete eine Frau überrascht.

«Wir auch«, sagte eine andere.

«Und worüber?«

«Munnings«, sagte die eine und:»Munnings «die andere, und ihre Blicke gingen zu dem Bild an der Wand.

«Nicht über seine eigene Arbeit?«fragte ich und bückte mich, um sie aufzuheben. Über die vorgezeichneten Linien lief wild ein gelber Strich, die Folge von Jiks Schulterschlag.

Die beiden Damen wie auch ihre Männer schüttelten die Köpfe und sagten, sie hätten darüber gesprochen, wie schön es wäre, selbst einen Munnings daheim zu haben.

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

«Er wußte aber nicht zufällig, wo man einen bekommen kann?«fragte ich.

«Doch, doch«, antworteten sie.»Er hat uns einen Tip gegeben.«

«Welchen?«

«Also bitte, junger Mann…«Der ältere der beiden Herren, ein Amerikaner um die Siebzig, unverkennbar wohlhabend, ermahnte die anderen mit einer geübten, dämpfenden Bewegung der rechten Hand zum Schweigen. Nichts ausplaudern, hieß das, es könnte unser Schaden sein.»…Sie stellen eine Menge Fragen.«

«Ich werde es Ihnen erklären«, sagte ich.»Trinken Sie einen Kaffee mit mir?«

Sie sahen auf ihre Armbanduhren und meinten zögernd, das ließe sich machen.

«Am Ende des Gangs ist ein Cafe«, sagte ich.»Das habe ich gesehen, als ich hinter dem jungen Mann her war… ich wollte wissen, warum er meinem Freund Terpentin in die Augen geschüttet hat.«

Neugier trat in ihre Gesichter. Sie hatten angebissen.

Die übrigen Zuschauer verliefen sich, und ich bat meine vier Amerikaner, einen Augenblick zu warten, raffte die mitten im Raum verstreuten Malsachen zusammen und räumte sie auf die Seite.

Nirgends stand ein Name drauf. Alles handelsüblicher Malerbedarf. Profiqualität, nicht die billigere Ware für Studenten. Nichts Nagelneues, aber auch nichts Altes. Das Bild war auf einer genormten, gebrauchsfertigen Hartfaserplatte, nicht auf Leinwand skizziert. Ich stellte die leeren Gläser für Terpentin und Leinöl zum übrigen und wischte mir die Hände an einem Lappen ab.

«So«, sagte ich.»Gehen wir?«

Sie waren reich, in Rente und rennsportbegeistert. Mr. und Mrs. Howard K. Petrovitch, New Jersey, und Mr. und Mrs. Wyatt L. Minchless aus Carter, Illinois.

Wyatt Minchless, der die anderen zum Schweigen gebracht hatte, eröffnete die Sitzung bei vier Eiskaffees mit viel Sahne und einem schwarzen ohne Zucker. Der schwarze war für ihn. Schwaches Herz, meinte er leise und klopfte in Höhe der linken Brust auf sein Jackett. Weißhaarig, schwarzes Brillengestell, blasse Stubenhockerhaut und hochtrabendes Gehabe.

«Also, junger Mann, erzählen Sie mal von Anfang an.«

«Hm«, sagte ich. Wo fing das eigentlich an?» Der Jungmaler ist auf meinen Freund Jik losgegangen, weil der ihn als kriminell bezeichnet hat.«»Jaja«, nickte Mrs. Petrovitch.»Hab ich gehört. Gerade, als wir raus wollten. Wie kam er denn dazu?«

«Gute Gemälde zu kopieren ist nicht verboten«, wußte Mrs. Minchless.»Im Louvre in Paris kommt man vor lauter kopierwütigen Studenten nicht an die Mona Lisa ran.«

Sie hatte blaugetöntes, hochtoupiertes Haar, war ganz in knitterfreiem Blau und Grün und trug genügend Diamanten auf sich, um einen Meisterdieb auf den Plan zu rufen. Falten gewohnheitsmäßiger Mißbilligung liefen von ihren Mundwinkeln herab. Magerer Körper. Enge Stirn.

«Es kommt darauf an, wozu man kopiert«, sagte ich.»Wenn man vorhat, die Kopie als Original auszugeben, ist das auf jeden Fall Betrug.«

«Dann war der junge Mann ein Fälscher, oder — «, setzte Mrs. Petrovitch an, nur um von Wyatt Minchless unterbrochen zu werden, der ihre Frage mit einer Handbewegung und erhobener Stimme abwürgte.

«Wollen Sie damit sagen, dieser Maler hat ein Werk von Munnings kopiert in der Absicht, es nachher als Original zu verkaufen?«

«Ehm…«, sagte ich.

Wyatt Minchless war nicht zu halten.»Wollen Sie damit sagen, daß auch der zum Verkauf stehende Munnings, auf den er uns hingewiesen hat, eine Fälschung ist?«

Die anderen waren entsetzt über die Vorstellung und beeindruckt vom Scharfsinn des Wyatt L.

«Ich weiß es nicht«, sagte ich.»Ich würde ihn nur gern mal sehen.«

«Sie wollen nicht selbst einen Munnings erwerben? Sie treten nicht als Agent für jemand anders auf?«Wyatts Doppelfrage klang scharf wie bei einem Verhör.

«Sicher nicht«, sagte ich.

«Also gut. «Wyatt blickte zu den drei anderen, holte sich ihr stillschweigendes Einverständnis.»Er hat Ruthie und mir erzählt, in einer kleinen Galerie nicht weit von hier gebe es ein gutes Rennsportbild von Munnings zu einem sehr annehmbaren Preis…«Er langte mit Daumen und Zeigefinger in seine Brusttasche.»Na bitte. Yarra River Fine Arts. Von der Swanston Street die dritte Straße rechts ab, etwa zwanzig Meter rein.«

Mr. und Mrs. Petrovitch trugen es mit Fassung.»Uns hat er genau dasselbe gesagt.«

«Dabei war er so nett«, ergänzte Mrs. Petrovitch traurig.»Ganz Ohr für unsere Reise. Auf wen wir im Cup wetten, wollte er wissen.«

«Er hat uns gefragt, wo wir von Melbourne aus hinwollen«, nickte Mr. Petrovitch.»Nach Adelaide und Alice Springs, haben wir gesagt, und er meinte, Alice Springs sei eine Hochburg der Malerei, da sollten wir unbedingt auch in die Yarra River Gallery gehen. Gleiche Firma wie hier. Die hätten immer gute Bilder.«

Mr. Petrovitch würde es mißverstanden haben, wenn ich mich über den Tisch gebeugt und ihn umarmt hätte. Ich konzentrierte mich auf meinen Eiskaffee und behielt meine Erregung für mich.

«Wir wollen weiter nach Sydney«, erklärte Wyatt L.»Für Sydney hatte er keinen Tip parat.«

Die hohen Gläser waren beinah leer. Wyatt sah auf die Uhr und trank seinen Schwarzen ohne Zucker aus.

«Sie haben uns noch nicht erzählt, warum Ihr Freund den jungen Mann als kriminell bezeichnet hat«, sagte Mrs. Petrovitch nachdenklich.»Ich meine… mir leuchtet ein, daß der Kerl auf ihren Freund losgegangen und davongelaufen ist, wenn er etwas auf dem Kerbholz hat, aber wie kam Ihr Freund darauf?«

«Genau das wollte ich Sie auch gerade fragen«, sagte Wyatt und nickte gewichtig mit dem Kopf. Aufgeblasener Lügner, dachte ich.

«Mein Freund Jik«, sagte ich,»ist selbst Maler. Er war von der Arbeit des jungen Mannes nicht begeistert. Deswegen hat er sie als kriminell abgetan. Er hätte ebensogut >stümperhaft< sagen können.«

«Mehr war nicht dahinter?«sagte Mrs. Petrovitch enttäuscht.

«Nun… der junge Mann hat Farben benutzt, die nicht richtig zusammenpassen. Jik ist Perfektionist. Er kann nicht mitansehen, wie Farbe falsch angewendet wird.«

«Was heißt, nicht zusammenpassen?«

«Farben sind Chemikalien«, holte ich die versäumte Erklärung nach.»Die meisten tun sich zwar nichts, aber aufpassen muß man schon.«

«Was kann denn sonst passieren?«wollte Ruthie Minchless wissen.

«Tja… in die Luft fliegt nichts«, sagte ich lächelnd.»Aber wenn man Schieferweiß, das auf Blei basiert, mit schwefelhaltigem Kadmiumgelb mischt, wie es der junge Mann getan hat, ergibt das zwar einen schönen hellen Farbton, doch die gegenseitige Reaktion der beiden Mineralien läßt das Bild mit der Zeit dunkler werden und verändert es.«

«Und das nennt Ihr Freund kriminell?«fragte Wyatt ungläubig.»So schlimm kann das doch wohl nicht sein.«

«Ehm…«, sagte ich.»Also van Gogh hat für seine Sonnenblumenbilder ein leuchtendes neues Hellgelb auf Chrombasis benutzt. Kadmiumgelb war damals noch nicht erfunden. Es hat sich aber gezeigt, daß Chromgelb im Lauf von ein paar hundert Jahren zerfällt, es wird zu einem grünlichen Schwarz, und auch die Sonnenblumen sind inzwischen verfärbt, und ich glaube, bisher hat niemand ein Mittel gefunden, das den Vorgang aufhält.«

«Der junge Mann hat aber doch nicht für die Nachwelt gemalt«, meinte Ruthie gereizt.»Wenn er nicht gerade ein neuer van Gogh ist, spielt das doch wohl keine Rolle.«

Sie brauchten nicht unbedingt zu wissen, daß Jik auf Anerkennung im dreiundzwanzigsten Jahrhundert hoffte. Die Haltbarkeit von Farben war ein Thema, das ihn seit jeher beschäftigte, und einmal hatte er mich in einen Kurs über ihre chemischen Eigenschaften mitgeschleppt.

Die Amerikaner standen auf, um zu gehen.

«Alles hochinteressant«, meinte Wyatt mit einem überlegenen Lächeln.»Ich schätze, ich werde mein Geld weiter in Aktien investieren.«

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