Kapitel 7

Jik war nicht mehr in der Herrentoilette, und er war nicht mehr im Arts Centre. Ich fand ihn und Sarah erst im Hotel wieder, wo sich die attraktive Krankenschwester des Hilton seiner annahm. Die Zimmertür stand offen, und sie war im Begriff zu gehen.

«Möglichst nicht reiben, Mr. Cassavetes«, sagte sie gerade.»Wenn Sie Beschwerden haben, rufen Sie in der Rezeption an, dann schau ich noch mal.«

Sie schenkte mir ein berufsmäßiges Lächeln an der Tür und eilte davon, während ich eintrat.

«Wie geht’s den Augen?«fragte ich zögernd.

«Echt beschissen. «Sie waren glutrot, aber immerhin trocken. Schon besser.

«Damit ist das Maß jetzt voll«, sagte Sarah mit zusammengekniffenen Lippen.»Ich weiß zwar, daß sich Jik in ein paar Tagen wieder erholt, aber wir gehen kein Risiko mehr ein.«

Jik war still und sah mich nicht an.

Das alles kam nicht gerade unerwartet.»Okay… Dann wünsche ich euch ein schönes Wochenende und bedanke mich.«

«Todd…«, sagte Jik.

Sarah fuhr dazwischen.»Nein, Jik. Das ist nicht unsere Angelegenheit. Todd soll denken, was er will, aber mit den Problemen seines Cousins haben wir nichts zu tun. Wir halten uns da raus. Ich war von Anfang an gegen dieses blöde Herumspionieren, und jetzt ist Schluß damit.«

«Für Todd nicht«, sagte Jik.

«Dann ist er ein Narr. «Sie war zornig, abschätzig, bissig.

«Natürlich«, sagte ich.»Heutzutage ist jeder, der Unrecht bekämpfen will, ein Narr. Der Kluge hält sich raus, meidet

Verstrickungen, weist die Verantwortung von sich. Ich sollte wirklich auf meinem Dachboden in Heathrow Bilder malen, mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern und Donald vor die Hunde gehen lassen. Viel vernünftiger, geb ich zu. Dummerweise bringe ich das einfach nicht fertig. Ich sehe doch, was er durchmacht. Da kann ich mich nicht einfach abwenden. Nicht, solange die Möglichkeit besteht, ihn da rauszuholen. Es kann zwar sein, daß mir das nicht gelingt, aber unverzeihlich fände ich, es gar nicht zu versuchen.«

Ich schwieg.

Es war ganz still.

«Tja«, sagte ich und brachte ein Lächeln zustande.»Soweit der Vortrag des weltgrößten Schwachkopfs. Viel Spaß beim Pferderennen. Wer weiß, vielleicht sehen wir uns da.«

Ich winkte kurz zum Abschied und ging hinaus. Beide sagten kein Wort. Leise schloß ich die Tür hinter mir und fuhr mit dem Lift nach oben auf mein Zimmer.

Oh, Sarah, dachte ich. Sie würde Jik in Watte und Pantoffeln stecken, wenn er nicht achtgab, und nie mehr würde er diese herrlichen, schwerblütigen Bilder malen, denn sie entsprangen einer Zerrissenheit, die ihm verwehrt sein würde. Sicherheit konnte für ihn nur eine Art Abdankung, eine Art Tod sein.

Ich sah auf meine Uhr und dachte, die Filiale von Yarra River Fine Arts könnte noch aufhaben. Einen Versuch war es wert.

Als ich die Wellington Road entlangging und zur Swanston Street kam, fragte ich mich, ob der junge Terpentinwerfer wohl dort war, und wenn ja, ob er mich erkennen würde. Ich hatte sein Gesicht nur flüchtig gesehen, da ich die meiste Zeit hinter ihm gestanden hatte. Ausgehen konnte ich nur von hellbraunen Haaren, Akne am Kinn, einer runden Kieferpartie und vollen Lippen. Unter zwanzig. Vielleicht erst siebzehn. Bekleidet mit Bluejeans, weißem T-Shirt, Tennis schuhen. Ungefähr einssiebzig, fünfundsechzig Kilo. Flink, aber auch schreckhaft. Und kein Maler.

Yarra River war geöffnet, hell erleuchtet, und mitten im Schaufenster prangte auf einer vergoldeten Staffelei ein Pferdebild. Kein Munnings. Das Porträt eines australischen Pferdes mit Reiter, jedes Detail scharf abgegrenzt, einfühlsam, aber für meinen Geschmack zu bemüht. Daneben, gold auf schwarz geprägt, der Hinweis auf eine Sonderausstellung herausragender Pferdemalerei, und auf einem weniger aufwendigen, aber größer geschriebenen Schild stand:»Willkommen zum Melbourne Cup«.

Die Galerie war angelegt wie tausend andere auf der Welt, ein langer, schmaler Raum, der von der Straße aus weit nach hinten führte. Zwei oder drei Leute schlenderten drinnen umher und betrachteten die Bilder an den gut beleuchteten grauen Wänden.

Eigentlich hatte ich hineingehen wollen. Das wollte ich immer noch, aber ich zögerte vor dem Eingang, als stünde ich am Start zu einem Skisprung. Albern, dachte ich. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Wenn du nicht nachsiehst, findest du nichts.

Ich nahm mich zusammen, holte tief Luft und trat über die einladende Schwelle.

Graugrüner Teppichboden, ganz in Türnähe ein antiker Schreibtisch, an dem eine junge Frau breit lächelnd schmale Kataloge ausgab.

«Schauen Sie sich ruhig um«, sagte sie.»Auch unten hängen Bilder.«

Sie reichte mir den Katalog, eine milchweiße Mappe mit einem gehefteten, maschinegeschriebenen Verzeichnis. Ich blätterte darin. Einhundertdreiundsechzig Exponate, fortlaufend numeriert, jeweils mit Titel, Name des Künstlers und Preis. Bereits verkaufte Bilder, hieß es, seien mit einem roten Punkt am Rahmen gekennzeichnet.

Ich dankte der Frau.»Bin zufällig vorbeigekommen«, sagte ich.

Sie nickte und lächelte geschäftsmäßig, während ihre Blicke rasch über meine Jeans und Jeansjacke glitten und sie mich als nicht dem Jet-set zugehörig einstufte. Sie selbst trug nonchalant die neueste Mode und strahlte die Offenheit aus, mit der man Millionäre angelt. Australierin, selbstbewußt und eine zu starke Persönlichkeit, um bloß Empfangsdame zu sein.

«Lassen Sie sich nur Zeit«, sagte sie.

Ich ging langsam durch den ganzen Raum und las die Katalogangaben zu den Bildern. Es waren vorwiegend australische Künstler, und ich begriff, was Jik unter starker Konkurrenz verstand. Der Markt war mindestens so überlaufen wie zu Hause und das Niveau in mancher Hinsicht besser. Wenn ich mich mit der glänzenden Begabung anderer konfrontiert sah, erschien mir das eigene Können mitunter zweifelhaft.

Hinten im Parterre ging eine Treppe nach unten, geschmückt mit einem Pfeil und dem Hinweis:»Ausstellung auch im Basement«.

Ich ging hinunter. Gleicher Teppichboden, gleiche Beleuchtung, aber keine Besucher, die sich anhand des Katalogs die Bilder anschauten.

Unten bestand die Galerie nicht aus einem durchgehenden Raum, sondern aus mehreren kleineren, die von einem langen Flur abgingen, weil man die tragenden Wände und Zwischenwände offenbar nicht ohne weiteres hatte wegnehmen können. Ein Raum hinter der Treppe diente als Büro, ausgestattet mit einem edlen Schreibtisch, zwei oder drei bequemen Sesseln für Kaufinteressenten und einer Reihe gediegener Aktenschränke mit Teakfurnier. Bilder in schweren Rahmen schmückten die Wände, und ein schwergewichtiger Mann saß am Schreibtisch über einem Hauptbuch.

Er hob den Kopf, als er mich vor seiner Tür bemerkte.

«Kann ich etwas für Sie tun?«

«Ich sehe mich nur um.«

Er nickte uninteressiert und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Alles hier machte im Gegensatz zu dem windigen Schuppen in Sydney einen soliden und beständigen Eindruck. So ein achtbares Geschäft, dachte ich, konnte nicht das sein, wonach ich suchte. Ich war auf dem Holzweg. Wahrscheinlich mußte ich warten, bis mir Hudson Taylor etwas zu Donalds Scheck sagte, und mich neu orientieren.

Seufzend ging ich weiter durch die Räume, da es nicht schaden konnte, sich von der Konkurrenz ein Bild zu machen. An einigen Rahmen klebten rote Punkte, aber die wirklich guten Sachen hatten Preise, die nur Leute mit viel Geld erschwingen konnten. Im letzten Raum, der größer als die anderen war, stieß ich auf die Munnings’. Drei. Alle mit Pferden: eine Rennsportszene, eine Jagdszene, eine mit Zigeunern.

Im Katalog waren sie nicht aufgeführt.

Sie hingen einfach so zwischen ähnlichen Sujets von anderer Hand, und für mich stachen sie heraus wie Vollblüter zwischen Mietpferden.

Schauer liefen mir über den Rücken. Grund dafür war nicht nur die handwerkliche Meisterschaft, sondern eins der Bilder selbst. Pferde beim Aufgalopp. Eine lange Reihe von Jockeys, leuchtend vor einem dunklen Himmel. Die Farben des vordersten Reiters, Purpur mit grüner Kappe.

Maisies geschwätzige Stimme klang mir im Ohr, wie sie beschrieb, was ich vor mir sah:»… auch wenn Sie das jetzt albern finden, das war mit ein Grund, warum ich es gekauft habe… weil Archie und ich Purpur mit grüner Kappe als Farben nehmen wollten, wenn die noch nicht vergeben waren…«

Munnings hatte für Schatten und Hintergründe immer gern Purpur und Grün verwendet. Trotzdem… Dieses Bild entsprach in Format, Sujet und Farbgebung genau demjenigen von

Maisie, das hinter einem Heizkörper versteckt gewesen war und in ihrem Haus verbrannt sein sollte.

Das Bild vor mir sah echt aus. Die richtige Patina für die Jahrzehnte, die seit Munnings’ Tod vergangen waren, hervorragende Technik, genau das gewisse Etwas, das die Großen von den Guten unterscheidet. Vorsichtig fuhr ich mit dem Finger über die bemalte Leinwand. Nirgends etwas, das nicht hingehörte.

Eine Stimme mit britischem Akzent sagte hinter mir:»Kann ich etwas für Sie tun?«

«Ist das ein Munnings?«fragte ich beiläufig und drehte mich um.

Er stand in der Tür und sah mich mit der vorsichtigen Hilfsbereitschaft von jemand an, dessen kostbarste Ware von einem offenbar zu wenig zahlungskräftigen Kunden bewundert wird.

Ich erkannte ihn sofort. Nach hinten gekämmtes, schütteres braunes Haar, graue Augen, hängender Schnurrbart, sonnengebräunte Haut — dreizehn Tage zuvor gesehen im englischen Sussex, wo er in einer Brandruine am Meer herumstocherte.

Mr. Greene, mit >e< am Schluß.

Er brauchte nur einen Sekundenbruchteil länger. Verwirrung, während er von mir zum Bild und wieder zu mir schaute, dann die schlagartige Erkenntnis, wo er mich schon einmal gesehen hatte. Jäh trat er einen Schritt zurück und griff an die Wand.

Ich war schon auf dem Weg zur Tür, aber nicht schnell genug. Am Eingang fiel ein Stahlgitter herab und rastete in ein Schloß am Boden ein. Mr. Greene stand draußen, immer noch ungläubig staunend, mit offenem Mund. Ich vergaß meine wohlfeile Ansicht über Gefahren, die stark machen, und hatte Angst wie noch nie.

«Was ist los?«rief eine tiefe Stimme vom Gang her.

Mr. Greene brachte keinen Ton heraus. Der Mann aus dem Büro erschien an seiner Seite und sah mich durch das Gitter an.

«Ein Dieb?«fragte er verärgert.

Mr. Greene schüttelte den Kopf. Ein dritter Mann kam dazu, mit neugierigem Gesicht und Akne auf der Haut, als hätte er die Masern.

«Hoppla«, rief er überrascht in australischem Englisch.»Das ist der Typ aus dem Arts Centre. Der hinter mir her war. Ich schwöre, daß ich ihn abgehängt habe. Ehrenwort.«

«Halt den Mund«, sagte der Mann vom Büro nur. Er sah mir fest in die Augen. Ich erwiderte seinen Blick.

Ich stand mitten in einem rund fünf mal fünf Meter großen, hellerleuchteten Raum. Keine Fenster. Kein Ausgang außer der vergitterten Tür. Abgehoben von der Sprungschanze, ohne Aussicht auf eine sanfte Landung.

«Na, hören Sie mal«, nörgelte ich.»Was soll denn das?«Ich trat an das Stahlgitter und schlug dagegen.»Machen Sie mir auf. Ich will raus.«

«Was tun Sie hier?«fragte der Mann vom Büro. Er war größer als Greene und hatte offensichtlich in der Galerie mehr zu sagen. Schweres, dunkles Brillengestell, unfreundliche Augen, weiß gepunktete blaue Fliege und Doppelkinn. Kleiner Mund mit voller Unterlippe. Gelichtetes Haar.

«Ich schaue mich um«, sagte ich mit gespielter Verwunderung.»Wollte mir Bilder ansehen. «Ein harmloser Tourist, dachte ich, nur ein bißchen beschränkt.

«Der ist mir im Arts Centre nachgerannt«, wiederholte der Junge.

«Weil Sie dem Mann was ins Gesicht geschüttet hatten«, sagte ich empört.»Er hätte ja blind werden können.«

«Ein Bekannter von Ihnen?«fragte der Mann vom Büro.

«Nein«, sagte ich.»Ich war nur gerade da. So wie ich gerade hier bin. Weil ich mir gern Bilder ansehe. Das wird man ja noch dürfen, oder? Ich gehe dauernd in Ausstellungen.«

Auch Mr. Greene fand jetzt Worte.»Ich habe ihn in England gesehen«, sagte er zu dem Mann vom Büro. Sein Blick kehrte zu dem Munnings zurück, dann legte er dem Angesprochenen die Hand auf den Arm und zog ihn hinaus auf den Flur, außer Sichtweite.

«Machen Sie mir auf«, sagte ich zu dem Jungen, der immer noch draußen stand.

«Ich weiß nicht, wie das geht«, erwiderte er.»Und ich glaube, damit würde ich mich ziemlich in die Nesseln setzen.«

Die beiden anderen kamen wieder. Alle drei sahen mich an. Mitgefühl für Zoobewohner stieg in mir auf.

«Wer sind Sie?«fragte der Mann vom Büro.

«Wer soll ich schon sein? Ich will hier zum Pferderennen gehen und natürlich zum Kricket.«

«Name?«

«Charles Neil. «Charles Neil Todd.

«Was haben Sie in England gemacht?«

«Da lebe ich doch!«sagte ich.»Hören Sie«, ich tat, als versuchte ich, unter erschwerten Umständen die Übersicht zu behalten.»Den Mann da«, ich nickte zu Greene,»habe ich bei einer entfernten Bekannten in Sussex gesehen. Sie hat mich nach dem Pferderennen mal im Wagen mitgenommen, als ich den Zug nach Worthing verpaßt hatte und per Autostopp gefahren bin. Da meinte sie auf einmal, sie würde gern an ihrem kürzlich abgebrannten Haus vorbeifahren, und dort haben wir dann diesen Mann angetroffen. Er sagte, er heiße Greene und komme von der Versicherung, sonst weiß ich nichts über ihn. Also, was liegt an?«

«Dann hat Sie der Zufall hier so bald wieder zusammengeführt?«

«Das will ich meinen!«stimmte ich inbrünstig zu.»Aber deswegen braucht man mich doch nicht gleich einzusperren.«

Ich las Unentschlossenheit auf ihren Gesichtern. Auf meinem war hoffentlich kein Angstschweiß zu sehen.

Gereizt hob ich die Schultern.»Von mir aus rufen Sie die Polizei, wenn Sie meinen, ich hab was getan.«

Der Mann vom Büro suchte den Schalter an der Außenwand, drückte darauf, und viel langsamer, als es herabgefallen war, glitt das Gitter nach oben.

«Entschuldigung«, sagte er lediglich.»Bei den vielen wertvollen Bildern in unseren Räumen müssen wir vorsichtig sein.«

«Das sehe ich ja ein«, sagte ich und widerstand dem starken Drang davonzurennen.»Aber trotzdem…«Mir gelang ein gekränkter Tonfall.»Nun, es ist ja nichts passiert. «Gekränkt und doch großzügig.

Sie blieben auf dem ganzen Weg nach oben und durch den Ausstellungsraum im Erdgeschoß hinter mir, was meinen Nerven überhaupt nicht guttat. Alle anderen Besucher waren offenbar gegangen. Die Empfangsdame schloß gerade die Vordertür ab.

Mein Hals war so trocken, daß ich nicht mal mehr schlucken konnte.

«Ich dachte, es wären alle weg«, sagte sie überrascht.

«Bin etwas aufgehalten worden«, meinte ich mit einem dünnen Lachen.

Sie zeigte ihr geschäftsmäßiges Lächeln und öffnete wieder die Tür. Trat zurück. Hielt sie mir auf.

Sechs Schritte.

Hinaus ins Freie.

Allmächtiger, wie herrlich frisch die Luft war. Ich drehte mich halb um. Alle vier standen am Eingang und schauten mir nach. Ich zuckte die Achseln, neigte den Kopf und stapfte im Sprühregen davon, schwach wie eine Feldmaus, die der Habicht fallengelassen hat.

Ich stieg in eine Straßenbahn und fuhr tief ins unbekannte Innere der großen Stadt hinein, getrieben nur von dem Wunsch, möglichst weit von diesem Kellergefängnis wegzukommen.

Sie würden sich anders besinnen. Keine Frage. Sie würden sich wünschen, sie hätten mehr über mich in Erfahrung gebracht, bevor sie mich laufen ließen. Sie konnten zwar nicht ausschließen, daß ich zufällig in ihre Galerie gekommen war, denn es gab noch viel erstaunlichere Zufälle, wie etwa den, daß Präsident Lincoln zur Zeit seiner Ermordung einen Sekretär namens Kennedy gehabt hatte und Präsident Kennedy einen Sekretär namens Lincoln; aber je länger sie darüber nachdachten, desto unwahrscheinlicher würde es ihnen vorkommen.

Wo würden sie suchen, wenn sie mich finden wollten? Sicher nicht im Hilton, dachte ich belustigt. Auf der Rennbahn — ich hatte ihnen gesagt, daß ich dorthin wollte. Eigentlich wäre mir lieber gewesen, ich hätte das bleiben lassen.

An der Endstation stieg ich aus und stand direkt vor einem einladenden kleinen Restaurant, an dem groß die Abkürzung B.Y.O. angeschrieben war. Da ich gesunden Hunger verspürte, ging ich hinein, bestellte ein Steak und bat um die Weinkarte.

Die Kellnerin sah mich erstaunt an.»Wir haben B.Y.O.«, sagte sie.

«Und das heißt?«

Ihre Augenbrauen kletterten noch höher.»Sie sind Ausländer? Es steht für Bring Your Own — Getränke bitte mitbringen. Wir bieten nur Speisen an.«

«Ach so.«

«Hundert Meter von hier ist aber eine Drive-in-Getränkehandlung, die noch aufhat. Wenn Sie da was kaufen wollen, warten wir mit Ihrem Steak so lange.«

Ich schüttelte den Kopf und begnügte mich mit einem alkoholfreien Abendessen und einer guten Tasse Kaffee — fast so gut wie das Schild an der Wand:»Wir haben ein

Abkommen mit unserer Bank. Die Bank brät keine Steaks, und wir lösen keine Schecks ein«.

Als ich mit der Straßenbahn zurück ins Zentrum fuhr, kam ich an der Getränkehandlung vorbei, die auf den ersten Blick so sehr nach Tankstelle aussah, daß ich angenommen hätte, die Autos stünden um Benzin an. Mir wurde klar, wieso Jik den Australiern Phantasie bescheinigte: Sie dachten praktisch und bewiesen Humor.

Der Regen hatte aufgehört. Ich stieg aus, um die letzten zwei oder drei Meilen zu Fuß durch helle Straßen und dunkle Parks zu gehen, und fragte nach dem Weg. Dachte an Donald und Maisie, an Greene mit >e<, an Bilder und Einbrüche und Gewalttätigkeit.

Das Grundschema des Ganzen schien von Anfang an recht einfach: In Australien verkaufte Bilder wurden in England mitsamt allem, was nicht niet- und nagelfest war, per Einbruch wieder zurückerbeutet. Da ich innerhalb von drei Wochen auf zwei solche Fälle gestoßen war, war ich sicher, daß es noch mehr gab, denn trotz der gemeinsamen Verbindung zum Pferderennen und zur Malerei war es mehr als unwahrscheinlich, daß ich an die beiden einzigen Fälle geraten sein sollte. Seit ich mit den Petrovitchs und dem Ehepaar Minchless gesprochen hatte, konnte ich kaum noch davon ausgehen, daß die Einbrecher nur in England arbeiteten. Warum nicht auch in Amerika? Oder überall sonst, wo sich der Einsatz lohnte.

Wenn nun eine internationale Diebesbande am Werk war, die Antiquitäten containerweise von Erdteil zu Erdteil verschob, um sie auf dem gefräßigen Markt schnell und teuer loszuwerden? Inspektor Frost hatte ja gesagt, daß Antiquitäten kaum jemals wieder auftauchten. Die Nachfrage war unersättlich und das Angebot naturgemäß begrenzt.

Ich stellte mir vor, ich wäre ein Gauner, dem nichts daran lag, wochenlang in Übersee nach Haushalten zu suchen, die einen Einbruch lohnten. Dann hätte ich die Möglichkeit, daheim in Melbourne zu bleiben und Bilder an reiche Touristen zu verhökern, die sich Spontankäufe für zehntausend Pfund durchaus mal leisten konnten. Ich hätte die Möglichkeit, mit ihnen über ihre Privatsammlung zu plaudern, und könnte sie ganz nebenbei auf ihr Silber, ihr Porzellan und ihre Kunstgegenstände ansprechen.

Kunden, die Rembrandts, F ab erge-Schmucksachen oder ähnlich Bekanntes und Unverkäufliches zu Hause hatten, würden mich nicht interessieren. Nur die Reichen, aber nicht allzu Reichen, bei denen es georgianisches Silber, kleinere Gauguins und Chippendalestühle zu holen gab.

Wenn sie bei mir Bilder kauften, gaben sie mir ihre Adresse. Denkbar einfach. Kinderspiel.

Ich würde so etwas wie ein Superhehler sein, mit einem hohen Umsatz an kleiner Ware. Wenn meine Opfer weit genug voneinander entfernt lebten, würde die jeweilige Polizei einer Australienreise, die sie im Jahr vorher unternommen hatten, keine Bedeutung beimessen. Und den Versicherungen, die Tausende von Einbruchsdiebstählen zu bearbeiten hatten, würden Australienreisen ebensowenig auffallen.

Allerdings würde ich nicht mit einem Spielverderber wie Charles Neil Todd rechnen.

Wäre ich ein Gauner mit einem gutgehenden Geschäft und gutem Ruf gewesen, hätte ich mich davor gehütet, mit Fälschungen zu handeln. Bei Ölgemälden waren Fälschungen unter dem Mikroskop fast immer nachzuweisen, und erfahrene Kunsthändler erkannten sie meist sogar mit bloßem Auge. Die Handschrift eines Malers zeigte sich im ganzen Bild, nicht nur in der Signatur, denn die Pinselführung eines jeden war unverwechselbar. Pinselstriche ließen sich so eindeutig zuordnen wie Kratzspuren auf Pistolenkugeln.

Wäre ich ein Gauner gewesen, hätte ich mich mit einem echten Munnings, einer original Picassozeichnung oder dem echten Werk eines produktiven, just verstorbenen Künstlers auf die Lauer gelegt, und all die reichen kleinen Fliegen wären mir ins Netz gegangen, angelockt von meinen redseligen Komplizen, die eigens zu dem Zweck in den Galerien der Großstädte herumstanden. Maisie und Donald waren auf diese Weise eingefangen worden.

Angenommen, ich verkaufte einem Engländer ein Bild und raubte ihn aus, bekam mein Bild zurück und verkaufte es sogleich an jemand in Amerika — um dann wieder den auszurauben, es mir zurückzuholen und immer so weiter.

Angenommen, ich verkaufte in Sydney ein Bild an Maisie, holte es mir zurück und bot es in Melbourne an… Genau da war Schluß mit meinem Gedankenspiel, weil es sich nicht zusammenreimte.

Hätte das Bild bei Maisie offen an der Wand gehangen, hätten die Diebe es natürlich wie alles andere mitgenommen. Falls sie es aber erbeutet hatten und es jetzt in alter Pracht bei Yarra River Fine Arts hing, wieso war dann das Haus angezündet worden, und wieso hatte Mr. Greene dort im Schutt herumgestochert?

Das reimte sich nur, wenn Maisies Bild eine Kopie gewesen war und wenn die Einbrecher es nicht hatten finden können: Sie wollten es nicht zurücklassen, deshalb mußte das Haus brennen. Allerdings hatte ich gerade noch überlegt, daß mir Fälschungen zu riskant gewesen wären. Aber… hätte Maisie eine gelungene Kopie als solche erkannt? Wohl kaum.

Ich seufzte. Selbst um Maisie zu täuschen, brauchte es einen versierten Maler, der bereit war, seine eigene Arbeit zugunsten von Abkupfereien zurückzustellen, und der wollte erst mal gefunden sein. Jedenfalls hatte Maisie ihr Bild nicht in Melbourne, sondern in der kurzlebigen Galerie in Sydney gekauft; vielleicht wagten sie es an bestimmten Orten eben doch, Fälschungen anzubieten.

Das Hotelhochhaus ragte auf der anderen Seite des Parks empor. Die kühle Nachtluft wehte mir um den Kopf. Ich hatte die lebhafte Empfindung, von allem abgeschnitten zu sein, ein Fremder in einem unermeßlich großen Land, ein Nichts unter den Sternen. Die Geräuschkulisse und die Wärme des Hilton schraubten das expandierende Weltall auf faßbare Maße zurück.

Von meinem Zimmer aus rief ich Hudson Taylor unter der Nummer an, die seine Sekretärin mir gegeben hatte. Punkt neun Uhr. Es hörte sich an, als hätte er gut zu Abend gegessen, eine kräftige Stimme, umgänglich, höflich und sehr australisch.

«Der Cousin von Donald Stuart? Stimmt es, daß die kleine Regina ermordet worden ist?«

«Leider ja.«

«Was für eine Tragödie. Ein wirklich nettes Mädel, diese Regina.«

«Ja.«

«Nun, und was kann ich für Sie tun? Möchten Sie Karten fürs Pferderennen?«

«Ehm, nein«, sagte ich.»Es geht nur darum, daß sich Donald wegen der Versicherung gern mit der Galerie, die ihm das Bild verkauft hat, in Verbindung setzen würde, weil ihm auch die Quittung und der Herkunftsnachweis gestohlen worden sind, aber er weiß nicht mehr, wie sie hieß, und da ich wegen des Cups sowieso nach Melbourne wollte…«

«Das ist kein Problem«, sagte Hudson Taylor entgegenkommend.»Ich erinnere mich gut an den Laden. Ich habe mir das Bild dort mit Donald angesehen, und nachher kam der Galerist damit ins Hilton, wo wir das Finanzielle geregelt haben. Augenblick…«Eine Denkpause folgte.»Im Moment fällt mir weder der Name der Galerie noch der des Galeristen ein. Das ist ja schon einige Monate her. Aber in unserem Geschäft hier in Melbourne habe ich die im Buch stehen, und da muß ich morgen früh sowieso hin, dann schau ich nach. Kommen Sie morgen zum Pferderennen?«

«Ja«, sagte ich.

«Treffen wir uns doch auf ein Glas. Sie können mir dann von Regina und dem armen Donald erzählen und bekommen von mir den Namen, den er braucht.«

Ich war damit einverstanden, und er erläuterte mir, wo und wann ich mich mit ihm treffen sollte.»Da wird ein Riesenandrang sein«, sagte er.»Aber wenn Sie genau dort stehen, werde ich Sie nicht verfehlen.«

Es handelte sich offenbar um eine ziemlich exponierte Stelle im Freien. Ich hoffte, daß niemand außer ihm mich dort entdecken würde.

«Bis dann«, sagte ich.

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