Jik brachte uns von Auckland nach Wellington; acht Stunden mit dem Wagen.
Wir übernachteten in einem Motel in Hamilton, südlich von Auckland, und fuhren am Morgen weiter. Niemand folgte, belästigte oder bespitzelte uns. Alles in allem war ich mir sicher, daß man uns in Auckland nicht abgepaßt hatte und daß niemand von unserem Besuch bei den Updikes wußte.
Wexford konnte sich allerdings denken, daß das Kundenverzeichnis Übersee in meinen Händen war, und er wußte, daß es mehrere neuseeländische Adressen enthielt. Welcher davon ich einen Besuch abstatten würde, konnte er nicht ahnen, doch er würde sicher davon ausgehen, daß mich die Adressen mit dem Kennbuchstaben W direkt zu der Galerie in Wellington führten.
Also würde er dort auf mich warten…
«Du siehst furchtbar grimmig aus, Todd«, meinte Sarah.
«Entschuldigung.«
«Woran hast du gedacht?«
«Nur an die nächste Möglichkeit zum Mittagessen.«
Sie lachte.»Wir haben doch gerade erst gefrühstückt.«
Wir passierten die Abzweigung nach Rotorua und dem Land der heißen Quellen.»Siedeschlammpackung gefällig«? fragte Jik. Und Sarah sagte, daß es in der Gegend ein mit unterirdischem Dampf gespeistes Kraftwerk gab und gräßliche schwarze Krater, die nach Schwefel stanken, und daß die Erdkruste stellenweise so dünn war, daß sie bebte und hohl klang. Als Kind sei sie einmal an einem Ort namens Waiotapu gewesen, der ihr schreckliche Alpträume beschert habe, und da wolle sie nicht noch mal hin.
«Pah«, meinte Jik wegwerfend,»die haben doch nur alle vierzehn Tage mal ein Erdbeben.«
«Mir hat jemand erzählt, in Wellington bebt die Erde so oft, daß alle neuen Bürobauten in Wiegen gebettet werden«, sagte Sarah.
«Schlaf, Wolkenkratzer, schlaf ein«, sang Jik mit
Säuselstimme.
Die Sonne schien unverzagt, und die Landschaft war grün und voller unbekannter Pflanzen. Gleißende Helligkeit wechselte mit geheimnisvollen, tiefen Schatten; es gab Felsen, Schluchten und himmelhohe Bäume, schwerelos wogendes Gras, schulterhoch. Ein fremdes Land, wild und wunderschön.
«Schaut euch dieses Chiaroscuro an«, sagte Jik, als wir in ein besonders reizvoll sich windendes Tal eintauchten.
«Chiaroscuro?«fragte Sarah.
«Licht und Schatten«, sagte Jik.»Kontrast und
Gleichgewicht. Der Fachausdruck dafür. Die ganze Welt ist ein Chiaroscuro, und die Menschen sind nur Tupfer aus Licht und Schatten.«
«Das ganze Leben ein Helldunkel«, sagte ich.
«Wie unsere Seelen.«
«Der Feind«, sagte ich,»ist grau.«
«Und Grau entsteht, wenn man Rot, Weiß und Blau
zusammenmixt«, ergänzte Jik und nickte.
«Graues Leben, grauer Tod, alles vermengt zu einem
einheitlichen grauen Nichts.«
«Ihr beiden«, seufzte Sarah,»seid also alles andere als grau?«
«Grey!«rief ich plötzlich.»Aber klar doch.«
«Wovon redest du?«fragte Jik.
«Grey hieß der Mieter der Vorstadtgalerie in Sydney, und Grey heißt der Mann, der Updike seinen sogenannten Herring verkauft hat.«
«Ach herrje. «Sarahs Seufzer legte sich auf die Stimmung und trübte den strahlenden Tag.
«Es tut mir leid«, sagte ich.
Es waren so viele, dachte ich bei mir. Wexford und Greene. Der Junge. Die Frau. Harley Renbo. Zwei Schläger in Alice Springs, wovon ich nur einen gesehen hatte. Der andere, der von hinten gekommen war, konnte der Schrank sein. Wenn nicht, kam der Schrank dazu.
Und jetzt Grey. Und noch jemand, irgendwo.
Mindestens neun. Vielleicht zehn. Wie sollte ich die alle zur Strecke bringen, ohne daß mir dabei die Luft abgedrückt wurde? Oder, schlimmer noch, nicht mir, sondern Jik und Sarah. Sobald ich einen Finger rührte, wuchs der Schlange ein neuer Kopf.
Ich fragte mich, wer die Einbrüche ausführte. Schickten sie eine Handvoll Leute nach Übersee, oder spannten sie sozusagen Fremdarbeiter ein?
Hatte im ersten Fall einer ihrer eigenen Leute Regina umgebracht?
War mir Reginas Mörder schon über den Weg gelaufen? Hatte er mich in Alice Springs vom Balkon geworfen?
Statt eine Antwort zu finden, fügte ich noch eine Frage hinzu…
Wartete er auf mich in Wellington?
Wir kamen am Nachmittag in der Hauptstadt an und stiegen wegen des herrlichen Blicks über den Hafen im Townhouse Hotel ab. Die Küstenlandschaft war so schön, daß sich Neuseeland einfach nicht erlauben durfte, häßliche Städte zu bauen. Für mich war das platte, versumpfte alte London zwar immer noch die großartigste aller großen Städte, aber das stand auf einem anderen Blatt. Wellington, neu und gepflegt, hatte Leben und Atmosphäre im Überfluß.
Ich schlug die Ruapehu Fine Arts im Telefonbuch nach und fragte an der Rezeption des Hotels nach dem Weg. Sie hatten zwar von der Galerie noch nie gehört, meinten aber, die Straße könne nur auf der anderen Seite der Altstadt sein — hinter Thorndon.
Sie verkauften mir eine Straßenkarte zur besseren Orientierung und erzählten, Mount Ruapehu sei ein (mutmaßlich) erloschener Vulkan mit einem warmen Kratersee. Auf dem Weg von Auckland müßten wir an ihm vorbeigekommen sein.
Ich bedankte mich und nahm die Karte mit hinauf zu Jik und Sarah.
«Wir können zu der Galerie fahren«, sagte Jik.»Aber was machen wir, wenn wir dort sind?«
«Durchs Fenster Fratzen schneiden?«
«Zuzutrauen wäre euch das«, meinte Sarah.
«Schauen wir’s uns einfach mal an«, schlug ich vor.»Die sehen uns ja nicht, wenn wir im Auto vorbeifahren.«
«Und schließlich«, sagte Jik unüberlegt,»sollen sie ja wissen, daß wir hier sind.«
«Wieso das denn?«fragte Sarah verblüfft.
«Ach Gott«, sagte Jik.
«Wieso?«hakte sie mit wiederaufsteigender Angst nach.
«Frag Todd, es war seine Idee.«
«Alter Scheißkerl«, sagte ich.
«Wieso, Todd?«
«Weil sie ihre ganze Energie darauf verwenden sollen, hier nach uns zu suchen, statt in Melbourne sämtliche Beweise verschwinden zu lassen. Wir wollen sie ja schließlich der Polizei überantworten, denn selbst verhaften können wir sie schlecht. Tja… und genauso schlecht wäre es, wenn die Polizei eingreift und keinen mehr zu fassen kriegt.«
Sie nickte.»So habe ich das auch verstanden, als du sagtest, der Laden soll intakt sein. Aber davon, daß du sie bewußt auf unsere Fährte locken willst, war nicht die Rede.«
«Todd hat doch die Kundenliste und die Bilder, die wir ihnen gestohlen haben«, sagte Jik,»und die werden sie natürlich zurückhaben wollen. Todd möchte, daß sie sich ganz darauf konzentrieren, denn wenn sie meinen, die kriegen sie wieder und können uns das Maul stopfen…«
«Jik«, unterbrach ich.»Mach einen Punkt.«
Sarah blickte von mir zu ihm und wieder zurück. Ihre Angst wich einer Art ruhiger Resignation.
«Wenn sie glauben, sie können sich ihre Sachen zurückholen und uns zum Schweigen bringen, werden sie alles daransetzen, uns zu finden und uns aus dem Weg zu räumen. Darin wollt ihr sie bestärken. Sehe ich das richtig?«
«Nein«, sagte ich.»Das heißt, eigentlich schon.«
«Suchen werden sie uns sowieso«, warf Jik ein.
«Also stellen wir uns hin und rufen: >Huhu, hier sind wir«
«Hm«, sagte ich,»es kann sein, daß sie das schon wissen.«
«Meine Nerven«, stöhnte sie.»Also gut. Ich verstehe, was du vorhast, und ich verstehe, warum du es mir verschwiegen hast. Und ich finde, du bist ein Mistkerl. Wobei ich zugeben muß, daß du bis jetzt viel mehr erreicht hast, als ich gedacht hätte, und da wir immerhin noch alle am Leben sind und halbwegs gesund, können wir ihnen meinetwegen auch stecken, daß wir hier sind. Unter der Bedingung, daß wir dann in Deckung gehen, bis die Polizei in Melbourne zugeschlagen hat.«
Ich küßte sie auf die Wange.»Abgemacht«, sagte ich.
«Und wie stecken wir es ihnen?«
Ich grinste sie an.»Fernmündlich.«
Schließlich übernahm Sarah den Anruf sogar selbst, aus der Erwägung, daß ihr australisches Englisch weniger auffallen würde als das britische von Jik oder mir.
«Ist dort die Ruapehu Fine Arts Gallery? Ah ja? Vielleicht können Sie mir weiterhelfen…«, sagte sie.»Ich würde gern mit dem Chef sprechen. Ja, sicher, aber es ist wichtig. Gut, ich warte. «Sie verdrehte die Augen und hielt die Sprechmuschel zu.»Anscheinend eine Sekretärin. Aus Neuseeland jedenfalls.«
«Du machst das blendend«, sagte ich.
«Ja… hallo? Genau. Mit wem spreche ich denn bitte?«Sie riß die Augen auf. »Wexford? Ehm… also Mr. Wexford, bei mir waren gerade drei merkwürdige Gestalten, die sich ein Bild ansehen wollten, das ich vor einiger Zeit bei Ihnen gekauft habe. Komische Leute. Angeblich haben Sie die an mich verwiesen. Das kam mir spanisch vor. Ich habe sie nicht reingelassen, wollte mich aber vorsichtshalber noch bei Ihnen erkundigen. Haben Sie die zu mir geschickt, damit sie sich mein Bild ansehen?«
Aus dem Hörer kam ein erregtes Gequake.
«Beschreiben? Ein blonder junger Mann mit Bart, ein junger Mann mit einem verletzten Arm und eine ziemlich verlotterte junge Frau. Ich habe sie weggeschickt. Sie gefielen mir nicht.«
Sie verzog das Gesicht und lauschte wieder dem Gequake.
«Nein, natürlich habe ich ihnen keine Auskunft gegeben. Weil die mir doch nicht gefallen haben. Wo ich wohne? Na, hier in Wellington. Recht vielen Dank, Mr. Wexford, es hat mich sehr gefreut.«
Sie legte auf, während es noch aus dem Hörer quakte.
«Er wollte meinen Namen wissen«, sagte sie.
«Große Klasse«, meinte Jik.»Eine echte Schauspielerin, meine Frau.«
Wexford. Wexford selbst.
Es hatte geklappt.
Ich stieß im stillen einen Jauchzer aus.
«Sollen wir denn weiterfahren, nachdem sie jetzt wissen, daß wir hier sind?«fragte ich.
«Bloß nicht«, rief Sarah spontan. Sie sah zum Fenster hinaus auf den geschäftigen Hafen.»Es ist herrlich hier, und wir sind schon den ganzen Tag gefahren.«
Ich widersprach nicht. Vielleicht war mehr als ein Telefonanruf nötig, um das Interesse der Gegenseite an Wellington wachzuhalten, und nur Sarah zuliebe wäre ich bereit gewesen, die Zelte hier abzubrechen.
«Wenn sie die Hotels einfach anrufen, finden sie uns ja nicht«, hob Jik hervor.»Auch im Townhouse nicht, denn sie fragen nach Cassavetes und Todd, nicht nach Andrews und Peel.«
«Sind wir Andrews und Peel?«fragte Sarah.
«Wir sind Andrews. Todd ist Peel.«
«Schön zu wissen«, sagte sie.
Mr. und Mrs. Andrews und Mr. Peel nahmen ohne Zwischenfall ihr Abendessen im Hotelrestaurant ein. Mr. Peel hatte aus der Erwägung, daß eine Armschlinge ein bißchen zu sehr auffiel, darauf verzichtet. Mr. Andrews hatte sich geweigert, aus der gleichen Erwägung seinen Bart abzunehmen.
Zu gegebener Zeit sagten wir uns gute Nacht und gingen auf unsere Zimmer. Ich verbrachte ein Stündchen damit, die Pflaster aus Alice Springs von meinem Bein zu entfernen und die Näharbeit zu bewundern. Der Baum hatte Wunden gerissen, die mit den wohlberechneten Schnitten eines Skalpells wenig gemein hatten, und als ich nun die langen, gewundenen Gleise auf ihrem Damm aus roter, schwarzer und gelber Haut inspizierte, kam ich zu dem Schluß, daß die Ärzte hervorragend gearbeitet hatten. Der Sturz lag vier Tage zurück, und es waren nicht gerade vier ruhig verbrachte Tage, aber die Nähte hatten alles überstanden. Jetzt erst wurde mir bewußt, daß ich von meinem anfangs einfach gräßlichen Zustand so weit genesen war, daß ich kaum noch Beschwerden empfand. Schon erstaunlich, wie schnell der Körper sich erholt, wenn man ihn läßt.
Ich überklebte die Andenken mit frischem Pflaster, das ich am Morgen in Hamilton zu diesem Zweck gekauft hatte, und fand sogar eine Lage im Bett, gegen die meine heilenden Knochen nicht streikten. Alles in allem, dachte ich vor dem Einschlafen zufrieden, ging es aufwärts.
Man könnte wohl sagen, ich habe mich zu früh gefreut, oder ich habe zu vieles unterschätzt. Zum Beispiel das Ausmaß der Verzweiflung, die Wexford nach Neuseeland führte. Zum Beispiel den Zorn und die Intensität, mit der er nach uns suchte.
Ebenso die Wirkung unseres Amateureinbruchs auf Profidiebe. Ebenso unseren Erfolg. Ebenso die Angst und die Wut, die wir ausgelöst hatten.
Meine Vorstellung von Wexford, wie er sich in beinah komischer Zerknirschung das Resthaar raufte, war völlig daneben. Er verfolgte uns mit einer an Besessenheit grenzenden Entschlossenheit, verbissen, rabiat und schnell.
Spät am Morgen weckte mich die Sonne eines warmen, windigen Frühlingstags; ich trank Kaffee aus dem Automaten, den es dafür auf jedem Zimmer gab, und dann rief Jik an.
«Sarah sagt, sie muß sich heute die Haare waschen. Die seien verfilzt.«
«Sieht man ihnen aber nicht an.«
«Die Ehe gewährt ganz neue Einblicke in das Wesen der Frau. Jedenfalls wartet sie schon in der Halle auf mich, weil ich mit ihr Shampoo kaufen gehen soll, aber ich dachte, ich sag dir gerade Bescheid, daß wir weg sind.«
Ich sagte unbehaglich:»Seht euch vor.«
«Na klar«, sagte er.»Von der Galerie halten wir uns fern. Wir fahren nicht weit. Nur bis zur nächsten Drogerie. Ich melde mich, sobald wir zurück sind.«
Vergnügt legte er auf, und fünf Minuten später klingelte das Telefon wieder. Ich nahm den Hörer ab.
Es war die Frau an der Rezeption.»Ihre Freunde hätten gern, daß Sie zum Wagen kommen und mit ihnen fahren.«
«Okay«, sagte ich.
Ich fuhr in Hemdsärmeln mit dem Lift nach unten, gab meinen Zimmerschlüssel ab und ging durch die Glastür hinaus auf den windigen, sonnenbeschienenen Parkplatz. Dort sah ich mich nach Jik und Sarah um, doch sie waren leider nicht die Freunde, die auf mich warteten.
Vielleicht wäre ich besser gerüstet gewesen, hätte ich meinen Arm nicht unterm Hemd in der Schlinge gehabt. So packten sie mich einfach beim Schlafittchen, hoben mich in die Luft und schmissen mich ruck, zuck hinten in ihren Wagen.
Drinnen saß Wexford als Einmann-Empfangskomitee. Die Augen hinter der dicken Brille blickten mit vierzig Grad minus, und von Zaghaftigkeit war jetzt nichts bei ihm zu erkennen. Er hatte mich praktisch zum zweiten Mal hinter seinem Fallgitter, und diesmal wollte er auf keinen Fall etwas verkehrt machen.
Er trug wieder eine Fliege. Die flotten Punkte paßten schlecht zum Ernst der Sache.
Die kräftigen Arme, die mich zu ihm hineinstießen, gehörten Greene mit >e< und einem starken Mann, den ich nicht kannte, der aber ganz nach» Schrank «aussah.
Mein Mut sank schneller, als die Lifts im Hilton fahren. Wexford und der Schrank nahmen mich zwischen sich, während sich Greene ans Steuer setzte.
«Wie haben Sie mich gefunden?«fragte ich.
Mit einem wölfischen Grinsen nahm Greene ein Polaroidfoto aus der Tasche und hielt es mir hin. Es war ein Schnappschuß von Jik, Sarah und mir vor den Geschäften im Melbourner Flughafen. Die Frau von der Galerie hatte uns wohl nicht bloß beobachtet, bis wir davonflogen.
«Wir haben in den Hotels gefragt«, sagte Greene.»Es war ein Klacks.«
Da mir dazu nichts weiter einfiel, schwieg ich. Vielleicht kam hinzu, daß mir das Atmen schwerfiel.
Auch von den anderen war keiner allzu gesprächig. Greene ließ den Wagen an und fuhr stadteinwärts — und der Schrank verdrehte mir den Arm mit einem Griff, dem ich mich beugen mußte. Unmöglich, Haltung zu bewahren. Die Stirn wurde mir regelrecht auf die Knie gedrückt. Es war entwürdigend und qualvoll.
«Wir möchten unsere Liste zurück«, sagte Wexford schließlich. Seine Stimme entbehrte jeder Höflichkeit. Das war kein Plauderton. Seine schwarzgallige Rachsucht teilte sich mir unmißverständlich mit.
Herrgott, dachte ich unglücklich, wie ein Volltrottel bin ich da hineingetappt.
«Haben Sie verstanden? Wir wollen unsere Liste und alles, was Sie sonst noch mitgenommen haben.«
Ich antwortete nicht. Zuviel rohe Gewalt.
Dem Lärm nach fuhren wir im Freitagmorgenverkehr durch die belebte Innenstadt, aber sehen konnte ich nichts, da mein Kopf unter Fensterhöhe war.
Nach einiger Zeit bogen wir scharf nach links ab und fuhren dann, wie mir schien, meilenweit bergauf. Der Motor ächzte vor Überlastung, als wir oben ankamen, und die Straße fiel wieder ab.
Kaum ein Wort wurde gesprochen. Der Gedanke, wohin die Reise sehr wahrscheinlich für mich ging, war so unerfreulich, daß ich ihn nach Kräften von mir schob. Ich konnte Wexford zwar seine Liste zurückgeben, aber was dann? Ja, was dann?
Nach einer langen Talfahrt hielt der Wagen kurz und bog dann nach rechts ab. Anstelle der Stadtgeräusche war jetzt Meeresrauschen zu hören. Außerdem kamen uns keine Autos mehr entgegen. Ich gelangte zu dem traurigen Schluß, daß wir die Landstraße verlassen hatten und auf einer wenig befahrenen Nebenstraße unterwegs waren.
Schließlich hielt der Wagen mit einem Ruck an.
Der Schrank ließ mich los. Steif und mit verdrehten Knochen sah ich hoch.
Eine einsamere Stelle hätten sie sich kaum aussuchen können. Die Straße verlief so dicht am Meer, daß sie mehr oder weniger mit der Küstenlinie verschmolz, und die Küste war ein
Dschungel aus spitzen schwarzen Klippen, zwischen denen weiß schäumende Wellen schwappten, kein Vergleich mit den harmlosen Stränden zu Hause.
Rechts ragten steile, zerklüftete Felsen auf. Vor uns endete die Straße in steinbruchähnlichem Gelände. Der Fels war zum Teil abgetragen worden; es gab staubbedeckte Lücken in der Wand, Haufen scharfkantigen Gerölls, sortierter Steine, gesiebten Splitts. Alles hart, roh und vulkanisch schwarz.
Keine Menschen. Keine Maschinen. Alles still.
«Wo ist die Liste?«fragte Wexford.
Greene drehte sich auf dem Fahrersitz um und sah mir ernst ins Gesicht.»Sie sagen uns das schon. Mit oder ohne Prügel. Und wir werden Sie nicht mit Fäusten dazu bringen, sondern mit Steinen.«
«Warum denn nicht mit Fäusten?«begehrte der Schrank auf.
Aber Greene hatte, genau wie ich, zu wenig in den Fäusten, um damit Informationen aus jemandem herauszuprügeln. Mit den Steinen hier sah das gleich anders aus.
«Und wenn ich rede?«sagte ich.
Ein so leichtes Spiel hatten sie nicht erwartet. Ich sah ihnen die beinah schmeichelhafte Überraschung an. Aber ihre Gesichter hatten auch einen scheinheiligen Ausdruck, der überhaupt nichts Gutes verhieß. Regina, dachte ich. Regina mit dem eingeschlagenen Schädel.
Ich betrachtete die Felsen, den Steinbruch, das Meer. Kein leichter Fluchtweg. Und hinter uns die Straße. Lief ich dorthin, würden sie hinter mir herfahren und mich niederwalzen. Wenn ich überhaupt laufen konnte. Da fingen die Schwierigkeiten schon an.
Ich nickte und sah, ohne mich groß verstellen zu müssen, unglücklich drein.
«Gut, ich rede…«, sagte ich.»Draußen.«
Darüber dachten sie einen Moment schweigend nach; aber da es in dem Wagen ohnehin zu eng war, um ordentlich mit Steinen zu hantieren, waren sie nicht ganz abgeneigt.
Greene langte nach dem Handschuhfach auf der Beifahrerseite, öffnete es und zog ein Schießeisen hervor. Ich wußte gerade genug über Handfeuerwaffen, um Revolver und Pistole auseinanderzuhalten, und das hier war ein Trommelrevolver, eine Waffe, deren Hauptvorzug, so hatte ich gelesen, darin besteht, daß sie keine Ladehemmung kennt.
Greene faßte sie eher mit Vorsicht als mit Routine an. Er zeigte sie mir stumm und legte sie wieder ins Handschuhfach, ließ aber die Klappe offen, so daß wir das Drohmittel Nummer eins alle deutlich vor Augen hatten.
«Dann wollen wir mal«, sagte Wexford.
Wir stiegen aus, und ich sah zu, daß ich auf der Seeseite herauskam. Der Wind blies hier an der offenen Küste sehr stark und kalt, auch wenn die Sonne schien. Er zauste das sorgsam gekämmte, lichte Haar auf Wexfords Schädel, und er ließ den Schrank noch dümmer aussehen. Greenes Augen blieben wachsam und so hart wie das Gestein ringsum.
«Also«, sagte Wexford barsch, mit erhobener Stimme, um Wind und Meer zu übertönen,»wo ist die Liste?«
Ich wirbelte herum und rannte, so schnell ich konnte, aufs Meer zu.
Im Laufen griff ich mit der rechten Hand unter mein Hemd und zerrte an der Trageschlinge.
Wexford, Greene und der Schrank schrien wütend auf und setzten mir nach.
Ich zog die beiden Kundenverzeichnisse Übersee aus der Schlinge, drehte mich noch einmal um mich selbst und schleuderte sie mit Schwung und Anlauf, so weit ich konnte, zum Ufer hin.
In der Luft flatterten die Seiten auseinander, doch der ablandige Wind kam wie gerufen und wehte die meisten wie Laub aufs Meer hinaus.
Ich blieb nicht am Ufer stehen. Ich lief geradewegs in das kalte, unwirtliche Schlachtfeld aus gezackten Felsen, grünem Wasser und weiß schäumenden Wellen hinein. Rutschte, fiel, raffte mich auf, stolperte weiter, stellte fest, daß die Strömung viel stärker, der Boden glitschiger, die Felsen schärfer gezähnt waren, als ich erwartet hatte. Kurz, daß ich auf der Flucht vor einer tödlichen Gefahr in die nächste geraten war.
Einen Augenblick lang sah ich mich um.
Wexford war mir ein paar Schritte ins Wasser gefolgt, aber offenbar nur, um ein Blatt aus der Liste an sich zu bringen, das vor den anderen heruntergekommen war. Das Wasser schäumte ihm um die Hosenbeine, während er dastand und auf das nasse Blatt Papier schaute.
Greene war beim Auto und beugte sich hinein — auf der Beifahrerseite.
Der Schrank glotzte mit offenem Mund.
Ich widmete mich wieder dem Problem des Überlebens.
Wie an den meisten Küsten fiel das Ufer hier allmählich ab. Jeder Schritt führte in eine stärkere Strömung, die an mir zerrte und zog und mich umherwarf wie ein Stück Treibholz. In den hüfthohen Wellen fiel es mir schon schwer, auf den Beinen zu bleiben, und wenn ich taumelte, ließen die schwarzen, nadelspitzen Felsen, die dicht gestaffelt über und unter der Wasserfläche lauerten, mich das jedesmal büßen.
Das waren nicht die vom Meer glattgeschliffenen Steine, wie ich sie aus England kannte. Es war vulkanischer Auswurf, der scheuerte wie Bimsstein. Die Finger glitten nicht einfach darüber weg; die Haut blieb kleben und riß auf. Kleidern erging es nicht besser. Nach kaum dreißig Metern lief mir das Blut schon aus einem Dutzend Schürfwunden, und kein
Blutgefäß blutet überzeugender als die kleinen Kapillaren an der Hautoberfläche.
Mein linker Arm war immer noch in der Schlinge gefangen, die — als Vorsichtsmaßnahme, falls noch einmal in mein Zimmer eingebrochen würde wie in Alice — seit dem Tag des Cups das Kundenverzeichnis beherbergt hatte. Jetzt klebten der durchnäßte Verband und mein Hemd wie festgepappt an mir. Der nach dem Bruch geschonte und daher geschwächte Arm wurde damit nicht fertig. Ich wankte auch deswegen herum, weil ich nicht beide Hände frei hatte.
Mein Fuß trat ungeschickt auf den Rand eines von Wasser bedeckten Felsens, und als ich merkte, daß ich mir das Schienbein aufschürfte, kam ich auch schon aus dem Gleichgewicht, fiel nach vorn, versuchte vergeblich, mich mit der Hand abzufangen, krachte mit der Brust voll auf einen kleinen gezackten Felsen und drehte schnell den Kopf weg, um nicht auch noch mit der Nase aufzuschlagen.
Der Stein neben meiner Backe zerbarst plötzlich wie durch eine Explosion. Ein paar Splitter flogen mir ins Gesicht. Im ersten Moment konnte ich mir das nicht erklären; dann drehte ich mich schwerfällig herum und blickte Böses ahnend zum Ufer.
Greene stand da, den Revolver im Anschlag, und er schoß scharf.