Kapitel 8

Jik rief mich am nächsten Morgen um acht an.»Komm runter ins Cafe und frühstücke mit mir.«

«Okay.«

Ich nahm den Lift nach unten und ging durch die Halle zu dem kleinen Restaurant des Hotels. Mit dunkler Brille saß er allein an einem Tisch und machte sich über einen Berg Rühreier her.

«Der Kaffee wird gebracht«, sagte er,»alles andere muß man sich da am Büffet holen. «Er deutete mit dem Kopf auf einen großen, üppig beladenen Tisch in der Mitte des luftig blau und lindgrün tapezierten Raumes.»Wie geht’s?«

«Es war mal besser.«

Er verzog das Gesicht.»Saukerl.«

«Was machen die Augen?«

Er riß sich theatralisch die Brille herunter und beugte sich vor, damit ich genau hinsehen konnte. Sie waren noch rot entzündet, aber eindeutig auf dem Weg der Besserung.

«Hat Sarah sich erweichen lassen?«fragte ich.

«Ihr ist nicht gut.«

«Oh?«

«Weiß der Himmel«, sagte er.»Hoffentlich nicht. Ich will noch keine Kinder. Sie ist nicht über die Zeit oder so.«

«Nette Frau«, sagte ich.

Er warf mir einen Blick zu.»Sie sagt, sie hat nichts gegen dich persönlich.«

«Aber«, tippte ich an.

Er nickte.»Das Gluckensyndrom.«

«Als Küken kann ich dich nicht sehen.«

Er legte Messer und Gabel hin.»Ich, weiß Gott, auch nicht. Sie soll die Ohren steifhalten, hab ich ihr gesagt, uns dieses kleine Abenteuer so schnell wie möglich über die Bühne

bringen lassen und sich klarmachen, daß sie keinen Schlappschwanz geheiratet hat.«

«Was meinte sie dazu?«

Er lächelte schief.»Hätte sie doch, wenn es danach ginge, wie ich gestern abend im Bett war.«

Ich fragte mich unwillkürlich, wie gut ihr Sexualleben klappte. Nach der Auskunft von einer oder zwei Verflossenen, die mir ihr Herz ausgeschüttet hatten, während sie in unserer Bude stundenlang auf Jiks unvorhersehbare Rückkehr warteten, war er ein launenhafter Liebhaber, schnell erregt und leicht aus der Stimmung zu bringen.»Braucht nur ein Hund zu bellen, und nichts geht mehr. «Daran hatte sich wohl wenig geändert.

«Egal«, sagte er.»Wir haben den Wagen. Es wäre saublöd von dir, wenn du nicht mit zum Pferderennen kämst.«

«Würde Sarah«, fragte ich vorsichtig,»nicht schmollen?«

«Sie meint, nein.«

Ich nahm sein Angebot an und seufzte innerlich. Es sah aus, als würde er künftig nicht den kleinsten Schritt ohne Sarahs Einverständnis tun. War das immer so, wenn die wilden Kerle unter die Haube kamen? Stutzte das Eheglück den Adlern die Flügel?

«Wo warst du gestern abend?«fragte er.

«In Ali Babas Höhle«, sagte ich.»Schätze zuhauf und mit viel Glück dem siedenden Öl entronnen.«

Ich erzählte ihm von der Galerie, dem Munnings und meiner kurzen Gefangenschaft. Ich sagte ihm, wie ich mir die Einbruchsdiebstähle erklärte. Es gefiel ihm. Der Schalk blitzte ihm aus den Augen, und die alte Erregung stieg in ihm auf.

«Wie beweisen wir das?«fragte er.

Er hörte das >wir<, sobald er es ausgesprochen hatte. Ein verschämtes Lachen, und der Schwung war dahin.»Also wie?«

«Das weiß ich noch nicht.«

«Ich würde ja gerne helfen«, sagte er in einem Ton, als müsse er sich entschuldigen.

Mir fielen ein Dutzend sarkastische Entgegnungen ein, und ich verkniff sie mir alle. Nicht die beiden waren aus dem Tritt, sondern ich. Die Stimme der Vergangenheit hatte kein Recht, die Zukunft zu zerstören.

«Du wirst tun, was Sarah für richtig hält«, sagte ich mit Entschiedenheit, und es war als Aufforderung gemeint, nicht als Stichelei.

«Kommandier mich nicht herum.«

Während wir friedlich zu Ende frühstückten, versuchten wir eine annehmbare neue Beziehung auf den Trümmern der alten aufzubauen und waren uns dessen durchaus bewußt.

Als ich mich später wie verabredet mit ihnen in der Halle traf, war es offensichtlich, daß auch Sarah eine Neueinschätzung vorgenommen und an ihren Gefühlen gearbeitet hatte. Sie begrüßte mich mit dem Versuch eines Lächelns und ausgestreckter Hand.

Ich schlug ein und gab ihr ein symbolisches Küßchen auf die Wange. Sie wußte, wie es gemeint war.

Friede beschlossen, Bedingungen akzeptiert, Vertrag besiegelt. Unterhändler Jik stand selbstzufrieden in der Gegend.

«Schau ihn dir an«, sagte er und wies auf mich.»Der ideale Börsenmakler. Anzug, Binder, Lederschuhe. Wenn er nicht aufpaßt, holen sie ihn in die Royal Academy.«

Sarah sah ihn verwirrt an.»Ich dachte, das sei eine Ehre.«

«Das kommt drauf an«, lästerte Jik.»Passable Pinselschwinger mit geschliffenen Umgangsformen werden da ab dreißig aufgenommen. Meistermaler mit durchschnittlichen Umgangsformen kommen ab vierzig rein, Meister ohne Umgangsformen ab fünfzig. Genies, denen es Wurscht ist, ob sie reinkommen, werden so lange wie möglich übersehen.«

«Und Todd gehört zur ersten, du aber zur letzten Kategorie?«fragte Sarah.

«Selbstverständlich.«

«Das hat schon seine Richtigkeit«, sagte ich.»Man hört nie von jungen Meistern. Immer nur von alten.«

«Du lieber Gott«, meinte Sarah,»fahren wir endlich zur Rennbahn.«

Wir fuhren langsam, denn unzählige Wagen waren in die gleiche Richtung unterwegs. Der Parkplatz der Flemington-Rennbahn, wohin uns die Reise führte, sah aus wie eine riesengroße Picknickwiese, da zwischen den Autos Hunderte von regelrechten Lunchparties stattfanden. Tische, Stühle, Tafeltücher, Geschirr, Besteck und Gläser. Hoffnungsvoll aufgespannte Sonnenschirme trotzten den dunklen Regenwolken. Heiterkeit, Alkohol und das unausgesprochene, aber allgegenwärtige Bekenntnis zum guten Leben.

Zu meiner gelinden Überraschung waren Jik und Sarah darauf eingestellt. Sie zauberten Tisch, Stühle, Getränke und Speisen aus dem Kofferraum hervor und meinten, gewußt wie, gewußt wo, dann könne man das Ganze einfach bestellen.

«Ein Onkel von mir«, sagte Sarah,»trägt den Titel >Schnellster Barmann des Westens<. Zwischen Aussteigen und Einschenken vergehen keine zehn Sekunden.«

Sie gibt sich wirklich Mühe, dachte ich. Nicht in dem Sinn, daß sie sich nur Jik zuliebe arrangiert hätte, sondern von innen heraus. Wenn es sie Überwindung kostete, merkte man nichts davon. Sie trug einen aparten olivgrünen Leinenmantel und einen breitkrempigen Hut gleicher Farbe, den sie festhielt, wenn ein Windstoß kam. Alles in allem eine neue Sarah, hübscher, entspannter, weniger ängstlich.

«Sekt?«fragte Jik und ließ den Korken knallen.»Steak und Austernpastete?«

«Ob ich dann zu Hause wieder Fritten essen kann?«

«Wenn der Hunger kommt.«

Wir putzten alles weg, luden Tisch und Stühle wieder ein und stürzten uns mit dem Gefühl, an einem halb religiösen Ritual teilzunehmen, in das Gedränge vor dem Tor zum Allerheiligsten.

«Am Dienstag wird das noch viel schlimmer«, meinte Sarah, die den ganzen Zirkus schon kannte.»Der Melbourne Cup ist ein gesetzlicher Feiertag. Die Stadt hat drei Millionen Einwohner, und die Hälfte davon wird versuchen herzukommen. «Sie schrie durch den Lärm und hielt krampfhaft ihren Hut fest, während wir hin und her gestoßen wurden.

«Wenn sie vernünftig sind, bleiben sie zu Hause und sehen sich’s im Fernsehen an«, sagte ich atemlos und bekam einen kräftigen Hieb mit dem Ellbogen in die Nieren von einem, der gerade eine Dose Bier aufriß.

«Es kommt im Melbourne nicht im Fernsehen, nur im Radio.«

«Du meine Güte. Wieso denn das?«

«Die Leute sollen herkommen. Der Cup wird in ganz Australien übertragen, nur nicht vor der eigenen Haustür.«

«Dasselbe gilt für Golf- und Kricketturniere«, sagte Jik ein wenig düster.»Und auf die kann man noch nicht mal ordentlich wetten.«

Wir passierten die Kasse und kamen dank unserer Karten durch ein zweites Tor in den ruhigeren Bereich des grünen Rasens vor der Mitgliedertribüne. Ganz wie zu Hause beim Derby, dachte ich. Der gleiche Triumph des Willens über das Wetter. Strahlende Gesichter unter grauem Himmel. Warme Mäntel über den hübschen Kleidern, Stockschirme zu dem einen oder anderen Zylinder. Interessanterweise fanden es viele Leute lustig, wenn sie auf meinen Bildern Rennbahnbesucher im Regen sahen. Vermutlich lachten sie, weil sie wußten, daß wahres Vergnügen durch äußere Einflüsse nicht getrübt werden

kann; weil sie auch selbst geneigt waren, unter schwarzem Himmel die Fahne hochzuhalten.

War das nicht eine Idee für ein Bild? Ein Rennbahnbesucher, der unter schwarzem Himmel die Fahne hochhielt? Das wäre vielleicht sogar für Jiks Geschmack symbolisch genug gewesen.

Meine Freunde waren in ein Wortgefecht über die Form der Pferde im ersten Rennen vertieft. Sarah hatte offenbar ebensoviel Wettfreude im Blut wie ihr Mann, jedoch abweichende Ansichten.

«Weiß ich, daß in Randwick vorige Woche schwerer Boden war. Den haben wir nach dem vielen Regen hier aber auch, und er mag’s lieber fest.«

«In Randwick hat ihn nur Boyblue geschlagen, und der war im Caulfield Cup einsame Spitze.«

«Mach doch, was du willst«, sagte Sarah von oben herab.»Der Boden ist und bleibt zu schwer für Grapevine.«

«Wettest du auch?«fragte mich Jik.

«Ich kenne die Pferde nicht.«

«Als ob das eine Rolle spielte.«

«Na schön. «Ich sah in mein Programm.»Zwei Dollar auf Generator.«

Beide sahen mich an und fragten:»Wieso?«

«Im Zweifelsfall wette ich die Elf. Einmal habe ich fast ein ganzes Programm mit der Elf durchgespielt.«

Sie schnalzten mißbilligend mit der Zunge und sagten, ich könne meine zwei Dollar entweder den Buchmachern oder dem TAB in den Rachen werfen.

«Wem?«

«Dem >Totalizator Agency Board<.«

Buchmacher arbeiteten offenbar nur auf der Bahn und nicht in so großem Stil wie in England. Alle Wettbüros außerhalb wurden vom TAB betrieben, der einen Großteil des Gewinns wieder in Pferderennen steckte. Der Rennsport florierte und war kerngesund. Schön für Australien, meinte Jik.

Wir trafen unsere Wahl, setzten unser Geld, und Sieger Generator zahlte 260 zu 10.

«Anfängerglück«, schnaubte Sarah.

Jik lachte.»Von wegen Anfänger. Der ist aus dem Kindergarten geflogen, weil er Wetten angenommen hat.«

Sie zerrissen ihre Scheine, konzentrierten sich aufs zweite Rennen und legten ihre Wetten an. Ich setzte vier Dollar auf die Eins.

«Wieso?«

«Doppelter Einsatz auf die halbe Elf.«

«O Gott«, meinte Sarah.»Ich fasse es nicht.«

Es begann in Strömen zu regnen, und die weniger Wetterfesten brachten sich in Sicherheit.

«Kommt«, sagte ich,»setzen wir uns da oben ins Trockene.«

«Du und Jik«, antwortete Sarah.»Ich kann nicht.«

«Wieso nicht?«

«Weil die Plätze nur für Männer sind.«

Ich lachte. Sie scherzt, dachte ich, aber wie sich herausstellte, war es kein Scherz. Alles andere. Ungefähr zwei Drittel der besten Plätze auf der Mitgliedertribüne waren Männern vorbehalten.

«Und was ist mit ihren Frauen und Freundinnen?«fragte ich ungläubig.

«Die können aufs Dach gehen.«

Sarah als Australierin fand nichts weiter dabei. Mir — und sicher auch Jik — kam es absurd vor.

«Auf vielen großen Rennbahnen«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen,»haben die führenden Herren des australischen Rennsports verglaste Logen mit Ledersesseln auf der Tribüne und feudale Bars und Restaurants, in denen sie sich fürstlich bewirten lassen, ihre Frauen aber schicken sie zum Essen in die Cafeteria und zum Zuschauen raus auf die Ränge mit den

Plastiksitzen. Sie halten das für ganz normal. Jede Stammesgemeinschaft sieht noch ihre seltsamsten Bräuche als völlig normal an.«

«Ich dachte, an Australien gefällt dir alles.«

Jik seufzte schwer.»Idealzustände gibt es nirgends.«

«Ich werde naß«, sagte Sarah.

Wir fuhren mit der Rolltreppe auf das mit Sitzbänken ausgestattete Dach, wo es feucht und windig war und wo zwei Frauen auf jeden Mann kamen.

«Mach dir nichts draus«, sagte Sarah belustigt, als sie sah, wie mich die Umstände entsetzten.»Ich bin daran gewöhnt.«

«Und ich dachte, Gleichberechtigung wird hier ganz groß geschrieben.«

«Für die eine Hälfte der Bevölkerung«, sagte Jik.

Von unserem Horst aus konnten wir das Rennen wunderbar verfolgen. Sarah und Jik feuerten die Pferde an, die sie getippt hatten, aber Nummer eins gewann mit zwei Längen und zahlte neunzig zu zehn.

«Das darf doch nicht wahr sein«, meinte Sarah, wieder Wettscheine zerreißend.»Wie tippst du im dritten?«

«Das dritte Rennen seht ihr ohne mich. Ich bin mit einem Bekannten von Donald zu einem Drink verabredet.«

Sie lauschte den Worten nach, und ihre Unbekümmertheit verschwand.»Wieder… Nachforschungen?«

«Es muß sein.«

«Ja. «Sie schluckte und gab sich sichtlich einen Ruck.»Viel Glück dann.«

«Du bist großartig.«

Sie machte ein Gesicht, als wunderte es sie, das von mir zu hören, und als argwöhnte sie, es könnte ironisch gemeint sein, aber es schien sie auch zu freuen. Ich nahm das Vexierbild ihres Gesichts gutgelaunt mit nach unten.

Der Rasen vor der Mitgliedertribüne grenzte auf der anderen Seite an den Weg, auf dem die Pferde vom Sattelplatz zum

Führring gebracht wurden. Eine Schmalseite des Rasens grenzte an den Führring selbst, und an der Ecke, wo der Weg in den Führring mündete, sollte ich mich mit Hudson Taylor treffen. Zum Glück für meinen Anzug hatte der Regen aufgehört. Ich wartete an der vereinbarten Stelle und bewunderte das leuchtende Rot der Blumen in dem langen Beet, das den Zaun zwischen Weg und Rasen säumte. Kadmiumrot mit Orange und weißen Glanzlichtern und dazu vielleicht eine Spur Zinnober…

«Charles Todd?«

«Ja — Mr. Taylor?«

«Hudson. Freut mich. «Er gab mir kurz und trocken die Hand. Ende Vierzig, mittelgroß, kräftig, freundliche Augen, deren Schrägstellung ihnen etwas Trauriges gab. Er war einer der wenigen Männer hier, die einen Cut trugen, und er bewegte sich darin, als wäre es Freizeitkleidung.

«Suchen wir uns ein trockenes Plätzchen«, sagte er.»Hier entlang bitte.«

Er führte mich zügig die Tribüne hinauf, durch eine Tür, einen breiten Flur entlang, der über die ganze Vorderseite ging, und an einem uniformierten Wächter sowie einem Schild mit der Aufschrift >Nur für Komiteemitglieder< vorbei in einen großen, quadratischen Raum, der ansprechend als Bar eingerichtet war. Der Weg dahin war ein einziges höfliches Vorbeidrängeln an Scharen vornehm gekleideter Leute gewesen, doch die Bar war vergleichsweise ruhig und leer. Eine Gruppe von zwei Männern und zwei Frauen unterhielt sich im Stehen, die halb gefüllten Gläser vor der Brust, und zwei Damen in Pelzmänteln klagten lautstark über die Kälte.

«Dabei führen sie liebend gern ihre Zobel vor«, lachte Hudson Taylor leise, holte zwei Scotch und bedeutete mir, an einem kleinen Tisch Platz zu nehmen.»Wenn es um diese Zeit warm ist, verdirbt ihnen das den Spaß am Cup.«

«Ist es denn sonst warm?«

«In Melbourne kann sich die Temperatur in einer Stunde um zwanzig Grad ändern. «Es klang, als sei er stolz darauf.»Aber jetzt zu Ihrem Anliegen. «Er langte in die Brusttasche und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus.»Bitte sehr, extra für Donald. Die Galerie heißt Yarra River Fine Arts.«

Alles andere hätte mich gewundert.

«Und der Mann, mit dem wir verhandelt haben, hieß Ivor Wexford.«

«Wie sah er aus?«fragte ich.

«So genau erinnere ich mich nicht. Das war ja im April.«

Ich überlegte kurz und zog ein kleines, schmales Skizzenbuch hervor.

«Würden Sie ihn erkennen, wenn ich ihn zeichne?«

Er schmunzelte.»Mal sehen.«

Ich skizzierte mit weichem Bleistift rasch Greenes Konterfei, aber ohne den Schnurrbart.

«War er das?«

Hudson Taylor schien unschlüssig. Ich zeichnete den Schnurrbart ein. Er schüttelte entschieden den Kopf.»Nein.«

«Und das hier?«

Ich blätterte um und begann eine neue Zeichnung. Hudson Taylor sah nachdenklich zu, wie ich mich an dem Mann aus dem Büro im Basement versuchte.

«Möglich«, sagte er.

Ich zeichnete die Unterlippe voller und fügte eine dickgerahmte Brille und eine Fliege mit Punkten hinzu.

«Das ist er«, sagte Hudson erstaunt.»Jedenfalls erinnere ich mich an die Fliege. Das sieht man ja heutzutage eher selten. Wie kommen Sie darauf? Sie müssen ihn kennen.«

«Ich habe gestern nachmittag ein paar Galerien besucht.«

«Sie sind ja richtig begabt«, meinte er interessiert, als ich das Skizzenbuch wieder einsteckte.

«Übungssache. «Man konnte lernen, Gesichter als Formen, Proportionen und Flächen zu sehen und sich einzuprägen, wie die Linien verliefen. Hudsons Augen hätte ich jetzt schon aus dem Gedächtnis zeichnen können. Die Fertigkeit dafür hatte ich mir von klein auf angeeignet.

«Ist Zeichnen Ihr Hobby?«fragte Hudson.

«Auch mein Beruf. Ich male vor allem Pferde.«

«Wirklich?«Er blickte zu den Pferdeporträts an der Wand.»So in der Art?«

Ich nickte, und wir unterhielten uns ein wenig darüber, wie man von der Malerei leben konnte.

«Vielleicht habe ich einen Auftrag für Sie, wenn mein Pferd im Cup gut abschneidet. «Er lächelte, und feine Krähenfüße zeigten sich in seinen Augenwinkeln.»Wenn es verliert, wird mir eher danach sein, es zu erschießen.«

Er stand auf und bedeutete mir wieder, ihm zu folgen.»Zeit für das nächste Rennen. Wollen Sie es sich mit mir zusammen ansehen?«

Wir kamen auf der Haupttribüne heraus, von der aus man das große Geviert überblicken konnte, das sowohl als Führring vor dem Rennen wie als Absattelplatz für die Sieger diente. Belustigt sah ich, daß die vordersten Ränge ganz den Männern gehörten. Zwei Paare vor uns teilten sich wie Amöben, die Männer gingen nach links unten, die Frauen nach rechts oben.

«Hier herunter bitte«, Hudson wies mit dem Finger.

«Dort hinauf dürfen wir nur in Damenbegleitung?«

Er sah mich schräg an und lächelte.»Seltsame Sitten, finden Sie? Gehen wir halt nach oben.«

Ich folgte ihm, und wir machten es uns in der vorwiegend weiblichen Gesellschaft bequem, wobei er ringsum Leute begrüßte und mich wohlwollend als seinen Freund Charles aus England vorstellte. Vornamen und Aufgeschlossenheit nach australischer Art.

«Regina, das arme Mädel, konnte diese Geschlechtertrennung nicht ausstehen«, sagte Hudson.»Aber die historischen Wurzeln sind interessant. «Er lachte leise.

«Australien wurde fast das ganze vorige Jahrhundert mit Hilfe der britischen Armee verwaltet. Die Offiziere und Gentlemen ließen ihre Frauen in England zurück, aber wie es in der Natur liegt, haben alle hier Beziehungen zu Damen von zweifelhaftem Ruf geknüpft. Um von ihren Kollegen nicht in so wenig standesgemäßer Begleitung gesehen zu werden, haben sie den Zutritt zu den Offizierslogen offiziell auf Männer beschränkt, so daß ihre Gespielinnen gar nicht erst gefragt haben, ob sie mitkommen durften.«

Ich lachte.»Raffiniert.«

«Traditionen einzuführen ist leichter, als sie abzuschaffen«, sagte Hudson Taylor.

«Donald meint, Sie seien dabei, mit Ihrem Wein eine gute Tradition einzuführen.«

Die traurigen Augen funkelten vergnügt.»Er war wirklich begeistert. Er hat natürlich alle großen Weingüter besucht, nicht nur unser Haus.«

Die Pferde für das dritte Rennen galoppierten auf, angeführt von einem widerspenstigen Fuchshengst mit zuviel Weiß am Kopf.

«Ein häßliches Vieh«, sagte Hudson.»Aber er wird siegen.«

«Haben Sie auf ihn gewettet?«

Er lächelte.»Eine Kleinigkeit.«

Das Rennen begann, das Feld flog dahin, und Hudson hielt das Fernglas so fest umklammert, daß seine Fingerknöchel weiß hervortraten und ich mich fragte, wie groß die Kleinigkeit effektiv war. Der Fuchshengst wurde nur Vierter. Hudson ließ das Glas langsam sinken und schaute dem unbefriedigenden Finish ausdruckslos zu.

«Nun ja«, sagte er, und seine traurigen Augen blickten noch trauriger.»Morgen ist auch noch ein Tag. «Er zuckte resigniert die Achseln, nahm den Kopf hoch, gab mir die Hand, bat mich, Donald von ihm zu grüßen, und fragte, ob ich allein hinausfände.

«Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte ich.

Er lächelte.»Gern geschehen.«

Nach nur zweimaligem falschen Abbiegen kam ich nach draußen, nicht ohne unterwegs ein paar faszinierende

australische Gesprächsfetzen aufzuschnappen.

«… Im Ausschuß soll er eine Zumutung sein. Angeblich macht er nur den Mund auf, wenn er das Standbein wechselt…«

«… einen bösen Virus, deswegen konnte er nicht…«

«… hör mal, sag ich, jammer hier nicht rum wie ein

verdammter Brite… «

«… zwanzig Dollar gewonnen? Glückwunsch, Joanie…«

Und überall die Doppelvokale, die aus der kleinsten Silbe fünf Einzellaute herausholten und mir den Gaumen verdrehten, wenn ich sie nachahmen wollte. Auf dem Flug von England hatte mir ein Australier gesagt, hier würden alle mit dem gleichen Akzent sprechen. Ebensogut konnte man behaupten, alle Amerikaner oder alle Briten hätten die gleiche Aussprache. Englisch war unendlich wandlungsfähig, und hier in

Melbourne schöpfte es aus dem vollen.

Als ich wieder zu Jik und Sarah stieß, stritten sie gerade über ihre Tips für das nächste Rennen im Programm, das Victoria Derby.

«Ivory Ball ist überfordert und hat ungefähr soviel Chancen wie ein Blinder in einem Schneesturm.«

Sarah ignorierte das.»Er hat vorige Woche in Moonee Valley gesiegt, und zwei Tipster haben ihn vorn.«

«Die waren wahrscheinlich besoffen.«

«Hallo, Todd«, rief Sarah.»Sag um Himmels willen eine Nummer.«

«Zehn.«

«Wieso zehn?«

«Elf minus eins.«

«Heiland«, sagte Jik.»Du warst auch mal vernünftiger.«

Sarah schaute die Zehn nach.»Royal Road. Dagegen ist Ivory Ball ein ganz sicheres Ding.«

Wir setzten unser Geld und stiegen aufs Dach und gingen alle leer aus. Sarah schimpfte über Ivory Ball, der immerhin noch Fünfter wurde, aber Royal Road blieb vollends auf der Strecke. Es siegte die Nummer zwölf.

«Elfplus eins hättest du nehmen müssen«, sagte Sarah.»Wie kann man nur so dumm sein.«

«Was schaust du?«fragte Jik.

Ich sah aufmerksam auf die Zuschauer hinunter, die das Rennen vom Rasen vor der Mitgliedertribüne aus verfolgt hatten.

«Gib mir mal dein Fernglas.«

Jik reichte es mir. Ich hob es an die Augen, sah hindurch und ließ es langsam wieder sinken.

«Was ist?«fragte Sarah besorgt.»Was hast du?«

«Jetzt ist alles zu spät«, sagte ich.

«Wieso?«

«Seht ihr die beiden Männer da… ungefähr zwanzig Meter vom Führring entfernt, einer im grauen Cut?«

«Was ist mit ihnen?«fragte Jik.

«Der Mann im Cut ist Hudson Taylor, mit dem ich gerade etwas getrunken habe. Er ist Geschäftsführer einer Kellerei und hatte viel mit meinem Cousin Donald zu tun, als der hier war. Der andere Mann heißt Ivor Wexford und ist Leiter der Yarra River Fine Arts Gallery.«

«Na und?«sagte Sarah.

«Ich kann mir die Unterhaltung gut vorstellen, die zwischen den beiden da abläuft«, sagte ich.»Zum Beispiel: >Verzeihen Sie, Sir, habe ich Ihnen nicht kürzlich ein Bild verkauft?< >Mir nicht, Mr. Wexford, sondern meinem Freund Donald Stuart.< >Und wer war der junge Mann, mit dem ich Sie gerade sprechen sah?< >Das war Donald Stuarts Cousin, Mr. Wexford.< >Und was wissen Sie über ihn?< >Daß er von Beruf Maler ist und Sie gerade gezeichnet und mich nach Ihrem Namen gefragt hat, Mr. Wexford.<«

Ich schwieg.

«Weiter«, drängte Jik.

Ich sah zu, wie Wexford und Taylor ihr Gespräch beendeten, sich flüchtig zunickten und ihrer Wege gingen.

«Ivor Wexford weiß jetzt, daß es ein krasser Fehler war, mich laufenzulassen, als er mich gestern abend in seiner Galerie hatte.«

Sarah blickte mir forschend ins Gesicht.»Du nimmst das wirklich sehr ernst.«

«Allerdings. «Ich lockerte ein paar angespannte Muskeln und versuchte ein Lachen.»Zumindest wird er jetzt auf der Hut sein.«

«Und wenn’s hart kommt«, meinte Jik,»wird er dich suchen.«

«Ehm…«, sagte ich nachdenklich.»Was haltet ihr von einer kleinen Spontanreise?«

«Wohin?«

«Alice Springs?«schlug ich vor.

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