Kapitel 1

Ich stand draußen und sah, es war ein Unglück geschehen.

Drei Streifenwagen und ein Krankenwagen mit unheilvoll rotierendem Blaulicht parkten vor dem Haus meines Cousins, und Menschen eilten zielstrebig durch die offene Haustür. Der kalte Wind des Herbstanfangs blies lustlos welke, braune Blätter auf die Einfahrt, und tieftreibende Wolkenfetzen kündeten schlechteres Wetter an. Sechs Uhr an einem Freitagabend in Shropshire, England.

Weiß blitzendes Licht in den Fenstern verriet, daß drinnen fotografiert wurde. Ich stellte Koffer und Maltasche auf dem Rasen ab und setzte mit begründet böser Vorahnung meinen Weg zum Haus fort.

Ich war mit dem Zug gekommen und wollte übers Wochenende bleiben. Da mich mein Cousin nicht wie versprochen mit dem Auto am Bahnhof abgeholt hatte, war ich zu Fuß losgegangen, hatte aber fest damit gerechnet, daß er mir schon bald auf den anderthalb Meilen Landstraße mit seinem staubigen Peugeot entgegenkommen und mich lachend, den Kopf voller Pläne, um Entschuldigung bitten würde.

Es gab nichts zu lachen.

Weggetreten und bleich stand er auf dem Flur. Eine schlaffe Gestalt im eleganten Straßenanzug, die Arme lang herunterhängend, als wüßte das Nervensystem nichts von ihnen. Sein Kopf war leicht dem Wohnzimmer zugewandt, aus dem die Blitze kamen, und in seinen Augen stand blankes Entsetzen.

«Don?«sagte ich. Ich ging auf ihn zu.»Donald!«

Er hörte mich nicht. Ein Polizist dagegen schon. Rasch kam er in seiner dunkelblauen Uniform aus dem Wohnzimmer, packte mich am Arm und schob mich unsanft wieder in Richtung Tür.

«Bleiben Sie bitte draußen, Sir«, sagte er.

Donalds verstörte Augen blickten unsicher zu uns her.

«Charles…«Seine Stimme war belegt.

Der Polizeibeamte lockerte seinen Griff ein wenig.»Kennen Sie den Mann, Sir?«fragte er Donald.

«Ich bin sein Cousin«, sagte ich.

«Oh. «Er ließ mich los, befahl mir, zu warten und mich um Mr. Stuart zu kümmern, und holte sich Rat.

«Was ist passiert?«fragte ich.

Von Donald war keine Antwort zu bekommen. Er drehte den Kopf wieder zur Wohnzimmertür, angezogen von etwas Schrecklichem, das sich dahinter verbarg. Ich pfiff auf die polizeiliche Anweisung, machte zehn leise Schritte und schaute hinein.

Das vertraute Zimmer war ungewöhnlich leer. Keine Gemälde, kein Dekor, keine Kante an Kante liegenden Orientteppiche. Nur kahle, graue Wände, chintzbezogene Sofas, schiefgerückte Möbel, viel staubiges Parkett.

Und auf dem Parkett, tot in ihrem Blut, lag die junge Frau meines Cousins.

Überall in dem großen Raum waren Polizisten mit Bandmaß, Kamera und Einstaubpulver bei der Spurensicherung. Ich wußte, daß sie dort waren, ohne daß ich sie sah. Ich sah nur Regina, wie sie auf dem Rücken lag, ihr Gesicht sahneweiß.

Die halb geöffneten Augen glänzten noch schwach, der Unterkiefer war heruntergeklappt, so daß die Schädelkonturen hart hervortraten. Eine Urinpfütze stand naß auf dem Parkett um ihre gespreizten Beine, und der eine Arm war seitlich ausgestreckt, die leblosen weißen Finger wie bittend nach oben geöffnet.

Es hatte kein Pardon gegeben.

Ich betrachtete die scharlachrote Masse ihres Schädels und merkte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich.

Der Polizist, der mich vorhin aufgehalten hatte, wandte sich von seinem um Rat gefragten Kollegen ab, sah mich wankend in der Tür stehen und kam mit raschen Schritten wieder zu mir.

«Sie sollten doch draußen bleiben, Sir«, sagte er verärgert, als wollte er klarstellen, daß ich an meinem Schwächeanfall selbst schuld sei.

Ich nickte stumm und kehrte in den Flur zurück. Donald saß auf der Treppe und blickte ins Leere. Abrupt ließ ich mich neben ihm auf den Boden fallen und nahm den Kopf zwischen die Knie.

«Ich-ich… habe sie gefunden«, sagte er.

Ich schluckte. Was konnte man sagen? Es war schon für mich schlimm genug, aber er hatte mit ihr zusammengelebt und sie geliebt. Das Schwächegefühl legte sich allmählich, doch ein leichter Brechreiz blieb zurück. Ich lehnte mich an die Wand hinter mir und wünschte, ich könnte ihm helfen.

«Sie ist freitags… n-nie zu Hause«, sagte er.

«Ich weiß.«

«Um sechs… um sechs… k-kommt sie erst heim. Immer.«

«Ich hol dir einen Brandy«, sagte ich.

Ich rappelte mich hoch und ging ins Eßzimmer, und erst dort drang mir die Bedeutung des leeren Wohnzimmers ins Bewußtsein. Auch im Eßzimmer waren die Wände kahl, die Borde leer, und aus den Schränken gerissene Schubladen lagen ausgekippt auf dem Boden. Kein Stück Silberware. Kein Tafelsilber. Kein antikes Porzellan. Nur ein Haufen Untersetzer, Servietten und Glasscherben.

Bei meinem Cousin war eingebrochen worden. Und Regina… Regina, die freitags nie daheim war… hatte die Einbrecher gestört…

Zornentbrannt ging ich zu dem geplünderten Sideboard und hätte am liebsten allen Gierhälsen und abgebrühten Lumpen, die bedenkenlos das Leben ihnen unbekannter Menschen zerstörten, die Köpfe eingeschlagen. Mitgefühl war nur etwas für Heilige. Ich fühlte blanken Haß, heiß und innig.

Zwei ganze Gläser fand ich noch, aber die Getränke waren verschwunden. Wütend stapfte ich durch die Pendeltür in die Küche und setzte den Elektrokessel auf.

Auch hier herrschte Chaos, waren die Vorräte komplett von den Regalen gefegt. Was für Wertsachen hofften Einbrecher bloß in einer Küche zu finden? Mit fahrigen Fingern machte ich zwei Becher Tee, sah nach, ob in Reginas Gewürzschrank vielleicht Brandy war, und freute mich über Gebühr, als ich tatsächlich welchen entdeckte. Wenigstens den hatten die Schweine übersehen.

Donald saß noch immer reglos auf der Treppe. Ich drückte ihm den Becher heißer, süßer Flüssigkeit in die Hände und forderte ihn auf zu trinken. Mechanisch setzte er ihn an die Lippen.

«Sie ist freitags… nie zu Hause«, sagte er.

«Nein«, stimmte ich zu und fragte mich, wer wohl sonst noch wußte, daß hier freitags niemand war.

Langsam tranken wir unseren Tee. Dann stellte ich die beiden Becher weg und setzte mich wieder neben ihn. Die meisten Dielenmöbel waren verschwunden. Der kleine

Sheraton-Schreibtisch… der mit Nägeln beschlagene

Ledersessel… die Kutschenuhr aus dem neunzehnten

Jahrhundert…

«Herrgott, Charles«, sagte er.

Ich blickte ihm ins Gesicht. Tränen und fürchterlicher

Schmerz. Nichts, gar nichts konnte ich tun, um ihm zu helfen.

Der unbeschreibliche Abend zog sich bis Mitternacht und länger hin. Die Polizei arbeitete durchaus gründlich, war höflich und auch verständnisvoll, machte aber keinen Hehl daraus, daß sie eher dafür zuständig war, Verbrecher zu fangen, als Opfer zu trösten. Außerdem schien mir in vielen ihrer

Fragen ein leiser Argwohn mitzuschwingen, da Einbrüche auf Bestellung gutversicherter Hausherren immerhin schon vorgekommen waren und selbst die einfachsten

Betrugsmanöver bekanntlich furchtbar danebengehen konnten.

Donald merkte offenbar nichts davon. Er antwortete müde, automatisch, manchmal erst nach langem Schweigen.

Ja, die fehlenden Gegenstände waren gut versichert.

Ja, die Versicherung lief schon seit Jahren.

Ja, er war den ganzen Tag wie üblich im Büro gewesen.

Ja, außer zum Mittagessen. Ein Sandwich in einer Kneipe.

Er war Weinimporteur.

Seine Firma saß in Shrewsbury.

Er war siebenunddreißig.

Ja, seine Frau war viel jünger. Zweiundzwanzig.

Über Regina konnte er nur stotternd sprechen, als wollten ihm Zunge und Lippen nicht gehorchen. F-freitags arbeite sie immer… im B-blumenladen einer Freundin.

«Wieso?«

Donald sah den Kriminalinspektor, der ihm am Eßzimmertisch gegenübersaß, geistesabwesend an. Die zum Tisch gehörenden antiken Stühle waren fort. Donald saß in einem Gartenstuhl, den sie aus der Glasveranda geholt hatten. Der Inspektor, ein Kriminalassistent und ich saßen auf Hockern.

«Bitte?«

«Wieso hat sie freitags in einem Blumenladen gearbeitet?«

«Sie… sie… ich… es macht ihr…«

Ich mischte mich ein.»Sie war Floristin, bevor sie Donald geheiratet hat. Das wollte sie nicht ganz aufgeben. Freitags hat sie immer Blumenarrangements für Tanzfeste, Hochzeiten und ähnliche Anlässe gefertigt…«Auch Kränze, dachte ich, ohne es auszusprechen.

«Vielen Dank, Sir, aber ich bin sicher, Mr. Stuart kann uns selbst antworten.«»Das kann er eben nicht.«

Der Inspektor richtete sein Augenmerk auf mich.

«Er steht unter Schock«, sagte ich.

«Sind Sie Arzt, Sir?«Die höfliche Skepsis in seiner Stimme war durchaus verständlich. Ich schüttelte gereizt den Kopf. Er sah Donald an, schürzte die Lippen und wandte sich wieder zu mir. Sein Blick schweifte über meine Jeans, die verwaschene Drillichjacke, den hellbraunen Rolli, die Wüstentreter und kehrte unbeeindruckt zu meinem Gesicht zurück.

«Also gut, Sir. Ihr Name?«

«Charles Todd.«

«Alter?«

«Neunundzwanzig.«

«Beruf?«

«Maler.«

Der Assistent schrieb diese faszinierenden Einzelheiten ungerührt in sein kleines Notizbuch.

«Anstreicher oder Künstler?«fragte der Inspektor.

«Künstler.«

«Und wo kommen Sie jetzt her?«

«Ich bin um 14.30 Uhr in Paddington in den Zug gestiegen und vom Bahnhof zu Fuß hierhergekommen.«

«Zweck des Besuchs?«

«Kein bestimmter. Ich bin jedes Jahr ein- oder zweimal hier.«

«Befreundet also?«

«Ja.«

Er nickte unverfänglich. Wandte seine Aufmerksamkeit wieder Donald zu und befragte ihn weiter, aber geduldig und ohne zu drängen.

«Wann kommen Sie denn normalerweise freitags nach Hause, Sir?«

Don sagte tonlos:»Gegen fünf.«

«Und heute?«

«Heute auch. «Seine Gesichtsmuskeln zuckten krampfhaft.»Ich habe gesehen… daß eingebrochen worden war… und habe die Polizei… «

«Ja, Sir. Wir erhielten Ihren Anruf um siebzehn Uhr sechs. Und nachdem Sie uns verständigt hatten, sind Sie ins Wohnzimmer gegangen, um zu sehen, was dort entwendet worden war?«

Donald schwieg.

«Wie Sie wissen, fand Sie unser Sergeant ja dort.«

«Wieso?« sagte Donald gequält.»Wieso ist sie heimgekommen?«

«Das werden wir wohl herausfinden, Sir.«

Die vorsichtige Befragung zog sich endlos hin, führte aber, soweit ich es beurteilen konnte, zu nichts, außer daß sie Donald an den Rand des Nervenzusammenbruchs trieb.

Ich bekam ganz gewöhnlichen, in dieser Situation aber doch ein wenig beschämenden Hunger, da ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Mit Bedauern dachte ich an das freudig erwartete Abendessen, an Regina, wie sie mit lockerer Hand Zutaten mischte, Kräuter und Wein beigab und immer wieder scheinbar spielend ein Festmahl auf den Tisch brachte. Regina mit ihrem dunklen Pagenkopf und dem vergnügten Lächeln, schwatzhaft, für jeden Spaß zu haben, aber strikt gegen Fuchsjagden. Eine junge Frau, die niemandem etwas zuleide tun konnte — ermordet.

Irgendwann am Abend wurde ihr Leichnam in einen Krankenwagen geladen und fortgebracht. Ich hörte es, Donald aber sah nicht so aus, als registrierte er, was vorging. Wahrscheinlich errichtete er innerlich Schranken gegen das Unerträgliche, und das konnte man ihm kaum verdenken.

Schließlich stand der Inspektor auf und streckte seine Glieder, die von dem Hocker ganz verspannt waren. Er sagte, er werde für die Nacht einen Mann als Wache zurücklassen und am Morgen selbst wiederkommen. Donald, der offensichtlich nicht recht hingehört hatte, nickte zerstreut und saß, als die Polizei fort war, immer noch unbeweglich auf dem Gartenstuhl, ohne Kraft, sich aufzuraffen.

«Komm«, sagte ich.»Gehen wir schlafen.«

Ich nahm ihn beim Arm, bewog ihn aufzustehen und führte ihn die Treppe hinauf. Benommen, ohne Widerrede kam er mit.

Ihr Schlafzimmer sah wie ein Schlachtfeld aus, aber das Zweibettzimmer, das sie für mich hergerichtet hatten, war verschont geblieben. Er ließ sich angekleidet auf das eine Bett fallen, legte den Arm übers Gesicht und stellte in fürchterlicher Verzweiflung die Frage, die alle Leidtragenden dieser Welt bewegt:

«Warum? Warum mußte gerade uns das passieren?«

Ich blieb acht Tage bei Donald, und einige Fragen, wenn auch nicht diese eine, wurden bis dahin beantwortet.

Eine ganz einfache Erklärung gab es für Reginas vorzeitige Heimkehr. Zwischen ihr und der befreundeten Floristin war es nach wochenlang unterdrückter Verstimmung zu einem so heftigen Streit gekommen, daß Regina auf der Stelle gekündigt hatte. Sie war gegen halb drei gegangen und wahrscheinlich direkt nach Hause gefahren, denn man schätzte, daß sie um fünf bereits zwei Stunden tot war.

Diese in Kanzleisprache abgefaßte Auskunft erteilte der Inspektor Donald am Samstag nachmittag. Donald ging in den herbstlichen Garten und weinte.

Der Inspektor, ein kühler Kopf mit Namen Frost, kam leise zu mir in die Küche und beobachtete Donald, der gebeugt zwischen den Apfelbäumen stand.

«Erzählen Sie mir bitte, was Sie über die Beziehung zwischen Mr. und Mrs. Stuart wissen.«

«Wie bitte?«

«Wie war ihr Verhältnis zueinander?«

«Sehen Sie das nicht selbst?«

Nach einem kurzen Schweigen antwortete er mit neutraler Stimme:»Bekundung tiefer Trauer ist nicht unbedingt ein Spiegel tief empfundener Liebe.«

«Reden Sie immer so?«

Ein kleines Lächeln flackerte auf und verschwand.»Ich habe aus einem Psychologiebuch zitiert.«

«>Nicht unbedingt< heißt meistens schon«, meinte ich.

Er sah mich groß an.

«Ihr Buch ist Quark«, sagte ich.

«Schuld kann sich in übergroßer Trauer äußern.«

«Gefährlicher Quark«, schob ich nach.»Und soweit ich es beurteilen kann, waren sie noch mitten in den Flitterwochen.«

«Nach drei Jahren?«

«Warum nicht?«

Er zuckte die Achseln und gab keine Antwort. Ich wandte mich von Donalds traurigem Anblick ab und sagte:»Kann man damit rechnen, von den gestohlenen Sachen etwas zurückzubekommen?«

«Wohl kaum. Bei gestohlenen Antiquitäten ist die Beute meist schon auf dem Weg über den Atlantik, bevor der Eigentümer aus dem Urlaub zurückkommt.«

«Diesmal doch nicht«, wandte ich ein.

Er seufzte.»Trotzdem. In den letzten Jahren hat es Hunderte von derartigen Einbruchsdiebstählen gegeben, und von der Beute ist nur wenig wieder aufgetaucht. Der Handel mit Antiquitäten blüht.«

«Diebe vom Fach?«fragte ich skeptisch.

«Nach unserer Information ist in den Gefängnisbibliotheken nichts so sehr gefragt wie Bücher über Antiquitäten. Jeder kleine Eierdieb macht sich kundig, um da einzusteigen, sobald er draußen ist.«

So klang er direkt menschlich.»Möchten Sie einen Kaffee?«fragte ich.

Er sah auf seine Uhr, zog die Brauen hoch und sagte ja. Während ich den Kaffee aufgoß, nahm er wieder auf dem Hocker Platz, ein Mann um die Vierzig mit rotblondem, schütterem Haar, in einem abgetragenen grauen Anzug.

«Sind Sie verheiratet?«fragte er.

«Nein.«

«Verliebt in Mrs. Stuart?«

«Sie probieren aber auch alles, hm?«

«Wenn man nicht fragt, kommt man nicht weiter.«

Ich stellte Milch und Zucker auf den Tisch und bat ihn, sich zu bedienen. Nachdenklich rührte er seinen Kaffee um.

«Wann waren Sie zuletzt hier im Haus?«fragte er.

«Im März. Bevor sie nach Australien gefahren sind.«

«Australien?«

«Sie wollten sich den Jahrgangswein ansehen. Donald spielte mit dem Gedanken, australischen Wein en gros zu importieren. Sie waren mindestens drei Monate drüben. Warum konnten die Einbrecher nicht damals kommen, als beide weit vom Schuß waren?«

Er hörte die Bitterkeit in meiner Stimme.»Das Leben kann gemein sein. «Er führte vorsichtig den Becher an die Lippen, setzte ihn ab und blies auf den heißen Kaffee.»Was hätten Sie und Ihre Freunde heute gemacht? Wenn alles seinen normalen Gang genommen hätte?«

«Wir wären zum Pferderennen gefahren«, sagte ich.»Wie immer, wenn ich zu Besuch bin.«

«Die beiden waren rennsportbegeistert?«Das Imperfekt hörte sich falsch an. Doch so vieles gehörte jetzt der Vergangenheit an. Mir fiel es nur wesentlich schwerer als ihm, mich daran zu gewöhnen.

«Schon… aber ich glaube, sie gehen nur… sind nur meinetwegen mitgegangen.«

Er probierte noch einmal den Kaffee und wagte ein vorsichtiges Schlückchen.»Wie meinen Sie das?«fragte er.

«Mein Hauptsujet«, sagte ich,»sind Pferde.«

Donald kam erschöpft und mit geröteten Augen zur Hintertür herein.

«Die Presseleute schlagen ein Loch in die Hecke«, sagte er dumpf.

Inspektor Frost schnalzte mit der Zunge, stand auf, öffnete die Tür zum Flur und rief laut ins Hausinnere:»Wache? Sorgen Sie dafür, daß die Reporter nicht in den Garten eindringen.«

Eine ferne Stimme erwiderte:»Sir«, und Frost bat Donald um Entschuldigung.»Einfach wegschicken kann man die Leute nicht, verstehen Sie? Die Redakteure sitzen ihnen im Nacken. Wenn so etwas ist, machen sie uns das Leben sauer.«

Schon seit dem Morgen säumten Autos die Straße vor Donalds Haus, und Scharen von Reportern, Fotografen oder einfach Sensationslüsternen stürzten daraus hervor, sobald sich jemand an der Haustür zeigte. Wie ein Rudel hungriger Wölfe lagen sie auf der Lauer, und es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie sich auf Donald selbst stürzen würden. Rücksicht auf seine Gefühle war nicht zu erwarten.

«Die Zeitungen hören den Polizeifunk ab«, meinte Frost düster.»Manchmal ist die Presse schon vor uns am Ort eines Verbrechens.«

Das hatte seine komische Seite, aber für Donald wäre es keineswegs lustig gewesen, wenn es hier passiert wäre. Wobei die Polizei sogar mehr oder weniger davon ausgegangen war, denn der Polizist, der mich am Betreten des Hauses hindern wollte, hatte mich, wie ich inzwischen wußte, für einen besonders schnellen Reporter gehalten.

Donald ließ sich schwer auf einen Hocker fallen und legte müde die Ellenbogen auf den Tisch.

«Charles«, sagte er,»könntest du mir jetzt vielleicht ein wenig Suppe warm machen?«

«Sicher«, sagte ich überrascht. Vorhin hatte er es abgelehnt, etwas zu essen, als würde ihm bei dem bloßen Gedanken schlecht.

Frost hob wie auf ein Signal den Kopf, sein ganzer Körper straffte sich, und mir wurde klar, daß er bis dahin quasi im Leerlauf gefahren war und nur auf einen solchen Moment gewartet hatte. Er wartete auch noch, während ich eine Dose Campbell’s öffnete, den Inhalt mit etwas Wasser in einen Topf schüttete, Brandy hinzufügte und das Ganze umrührte, bis sich die Klümpchen auflösten. Er trank seinen Kaffee und wartete, bis Donald zwei Teller Campbell’s und einen Kanten braunes Brot verdrückt hatte. Dann bat er mich höflich, Leine zu ziehen, und begann, wie Donald mir hinterher sagte,»ernsthaft zu stochern«.

Erst nach drei Stunden, als es schon dunkel wurde, ging der Inspektor. Ich sah es vom Fenster im oberen Treppenflur aus. Er und der diensthabende Kriminalassistent wurden direkt vor der Haustür von einem jungen Mann mit wilder Mähne und Mikrophon abgefangen, und bevor sie sich in ihren Wagen retten konnten, strömte auch schon die gesamte Schar der Wegelagerer in wilder Jagd zum Garten hinein und über den Rasen.

Ich ging durchs Haus, schloß systematisch die Fenster, zog die Vorhänge zu und verriegelte alle Außentüren.

«Was tust du denn?«fragte Donald, blaß und müde, in der Küche.

«Ich ziehe die Zugbrücke hoch.«

«Ach so.«

Trotz der langen Befragung durch den Inspektor wirkte er wesentlich ruhiger und gefaßter, und als ich die Tür von der Küche zum Garten verbarrikadiert hatte, sagte er:»Die Polizei braucht eine Liste der gestohlenen Sachen. Hilfst du mir dabei?«

«Natürlich.«»Da haben wir erst mal zu tun…«

«Klar.«

«Wir hatten zwar ein Inventar, aber das lag in dem Schreibtisch in der Diele. Und den haben sie mitgenommen.«

«Wie kann man so was denn da aufbewahren?«sagte ich.

«Das hat er mich auch gefragt. Inspektor Frost.«

«Und deine Versicherung? Hat die kein Verzeichnis?«

«Nur von den wertvolleren Sachen, das heißt von einem Teil der Gemälde und ihrem Schmuck. «Er seufzte.»Alles andere war unter >Hausrat< zusammengefaßt.«

Wir begannen mit dem Eßzimmer und teilten uns die Arbeit, indem er überlegte, was die leeren Schubladen, die er wieder in das Sideboard schob, einmal enthalten hatten, und ich nach seinem Diktat die Liste schrieb. Von Donalds begüterter Familie hatten sie viel gediegenes Tafelsilber geerbt. Als Freund schöner alter Dinge hatte Donald es gern benutzt, aber mit dem Silber schien auch die Freude an seinem Besitz verlorengegangen zu sein. Statt ihm nachzutrauern, zählte er alles mit unbeteiligter Stimme auf, und als wir mit dem Sideboard fertig waren, klang er nur noch gelangweilt.

Vor dem leeren Regal, das erlesenes Porzellan aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert beherbergt hatte, verging ihm die Lust endgültig.

«Was soll’s?«meinte er traurig und wandte sich ab.»Das ist mir einfach zu mühsam…«

«Sollen wir uns an die Gemälde machen?«

Er blickte geistesabwesend auf die kahlen Wände. Die Anordnung der fehlenden Bilder war an den hellen Rechtecken in dem zarten Olivgrün klar zu erkennen. Hier hatten vorwiegend neuere Briten gehangen: ein Hockney, ein Bratby, zwei Lowrys und ein Spear etwa, alles Werke aus zurückhaltenderen Phasen der Künstler. Donald hielt nichts von Bildern, die» hier! schreien und wichtig tun«.

«Du hast sie wahrscheinlich besser im Kopf als ich«, sagte er.»Übernimm du das.«

«Ich bekäme nicht alle zusammen.«

«Ist was zu trinken da?«

«Nur der Brandy zum Kochen«, sagte ich.

«Wir können ja einen Wein aufmachen.«

«Welchen Wein?«

«Aus dem Keller. «Plötzlich riß er die Augen auf.»Herrgott, den Keller habe ich ganz vergessen.«

«Ich wußte gar nicht, daß du einen hast.«

Er nickte.»Deswegen habe ich das Haus gekauft. Ideale Temperatur und Luftfeuchtigkeit für die Langzeitlagerung. Da unten liegt ein kleines Vermögen an Bordeaux-Rotwein und Port.«

Fehlanzeige. Wir fanden drei Reihen leergeräumter Regale und auf einem Holztisch einen einzelnen Karton.

Donald zuckte nur die Achseln.»Tja… das war’s dann.«

Ich klappte den Karton auf und sah die schlanken Hälse verkorkter Weinflaschen.

«Die haben sie in der Eile wenigstens dagelassen«, sagte ich.

«Vielleicht auch bewußt. «Donald lächelte schief.»Das ist australischer Wein. Den haben wir von der Reise mitgebracht.«

«Besser als nichts«, meinte ich geringschätzig und zog eine Flasche heraus, um das Etikett zu lesen.

«Besser als viele andere, glaub mir. Es gibt ausgezeichneten australischen Wein.«

Ich brachte den ganzen Karton in die Küche hinauf und stellte ihn auf den Tisch. Die Treppe führte vom Keller in den Wirtschaftsraum, wo die Waschmaschine und andere Haushaltsgeräte standen, und ich hatte hinter der Kellertür eigentlich immer einen Wandschrank vermutet. Nachdenklich betrachtete ich das unauffällige, weißgestrichene Rechteck, das sich nahtlos ins Gesamtbild einfügte.

«Glaubst du, die Einbrecher haben von dem Wein gewußt?«fragte ich.

«Weiß der Himmel.«

«Ich hätte ihn nie gefunden.«

«Du bist aber auch kein Einbrecher.«

Er holte einen Korkenzieher, öffnete eine Flasche und goß die dunkelrote Flüssigkeit in zwei Trinkgläser. Selbst für meinen ungeschulten Gaumen war es ein fabelhafter Wein. Wynns Coonawarra Cabernet Sauvignon. Schon der Name zerging auf der Zunge. Donald kippte den guten Tropfen herunter, als wäre es Wasser, und ein paarmal stieß ihm das Glas gegen die Zähne. Seine Bewegungen waren unsicher, als hätte er plötzlich die einfachsten Dinge verlernt — offensichtlich kreisten seine Gedanken immer wieder um Regina, und das lähmte ihn regelrecht.

Der alte Donald war ein selbstbewußter Mensch gewesen, der mit Kompetenz ein mittelgroßes, ererbtes Geschäft weitergeführt und ausgebaut hatte. Bernsteinfarbene Augen, die oft lächelten, belebten ein grob geschnittenes, hartes Gesicht, und für eine gute Frisur war ihm sein Geld nie zu schade gewesen.

Der neue Donald war ein zuinnerst erschütterter Zauderer, ein Mann, der nichts verkehrt machen wollte, der aber beim Treppensteigen über die eigenen Füße stolperte.

Wir verbrachten den Abend in der Küche, unterhielten uns über alles und nichts, improvisierten etwas zu essen und räumten die Vorräte wieder in die Regale. Donald hielt fleißig mit, stellte aber jede zweite Dose verkehrt herum hin.

Dreimal klingelte es zwischendurch an der Haustür, aber nicht in dem Code, den wir mit der Polizei vereinbart hatten. Das Telefon war still, der Hörer lag neben dem Apparat. Donald hatte die gutgemeinten Angebote mehrerer Freunde im Ort ausgeschlagen und zitterte sichtlich bei dem Gedanken, irgend jemanden außer Frost und mir um sich zu haben.

«Warum gehen die nicht weg?«sagte er verzweifelt nach dem dritten Klingeln an der Haustür.

«Das werden sie erst, wenn sie dich gesehen haben«, sagte ich und dachte: Wenn sie dich ausgelutscht und die Schale ausgespuckt haben.

Er schüttelte den Kopf.»Ich kann einfach nicht.«

Es war, als ständen wir unter Belagerung.

Schließlich gingen wir zu Bett, obwohl es aussah, als würde Donald wie in der Nacht zuvor wieder kaum ein Auge zutun. Das Schlafmittel, das ihm der Polizeiarzt dagelassen hatte, rührte er nicht an. Auch an diesem Abend war mein Zureden vergebens.

«Nein, Charles. Ich hätte das Gefühl, daß ich sie verrate. Sie w-wegdränge. Nur an mich selbst denke und nicht daran… w-wie schrecklich sie gestorben ist… wie allein… ohne jemand, der sie… liebhat.«

Er wollte ihr seinen Kummer gewissermaßen als Trost anbieten. Ich schüttelte zwar den Kopf darüber, ließ ihn aber in Ruhe.

«Macht es dir was aus«, fragte er zögernd,»wenn ich heute nacht allein schlafe?«

«Überhaupt nicht.«

«Wir können dich ja in einem anderen Zimmer einquartieren.«

«Klar.«

Er öffnete einen Wäscheschrank im oberen Flur und deutete unentschlossen auf den Inhalt.»Kommst du zurecht?«

«Natürlich«, sagte ich.

Er drehte sich um und erstarrte förmlich angesichts einer bestimmten Stelle an der Wand.

«Sie haben den Munnings mitgenommen«, sagte er.

«Welchen Munnings?«»Den haben wir in Australien gekauft. Erst vor acht Tagen habe ich ihn… dahin gehängt. Ich wollte ihn dir zeigen. Das war mit ein Grund, warum ich dich eingeladen habe.«

«Das tut mir leid«, meinte ich. Unzulängliche Worte.

«Alles«, sagte er hilflos.»Alles ist weg.«

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