Kapitel 15

Dreißig bis fünfunddreißig Meter sind weit für einen Revolver, aber Greene schien so nah. Ich konnte seinen hängenden Schnurrbart sehen und das im Wind wehende, strähnige Haar. Ich sah seine Augen und die konzentrierte Körperhaltung. Breitbeinig stand er da, die Arme vorgestreckt, und hielt mit beiden Händen den Revolver im Anschlag.

Durch den Lärm der anbrandenden Wellen hörte ich die Schüsse nicht. Und ich sah nicht, wie er abdrückte. Aber ich sah, wie seine Arme durch den Rückstoß nach oben zuckten, und wollte keinesfalls so blöd sein, ihm ein stehendes Ziel zu bieten.

Mir war wirklich ganz schön mulmig. Ich stand ihm genauso nah vor Augen wie er mir. Er muß ziemlich sicher gewesen sein, daß er mich treffen würde, auch wenn ich aus seinem vorsichtigen Umgang mit der Waffe im Auto geschlossen hatte, er sei kein Fachmann.

Ich drehte mich um und stolperte ein paar Meter voran, obwohl das jetzt noch schlechter ging und der erbitterte Kampf gegen Wellen, Strömung, Felsen mich die letzten Kräfte kostete.

Es mußte ein Ende haben.

Bald.

Ich stolperte, fiel auf einen Felszacken, riß mir die Innenseite des Unterarms auf, und wieder floß kostbares Blut. Himmel, dachte ich, lauf nicht aus, du mußt schon ganz zerschnitten sein.

Immerhin brachte mich das auf eine Idee.

Ich stand bis zur Taille im tückischen grünen Wasser, das jetzt die Uferfelsen weitgehend bedeckte. Auf der einen Seite verlief eine Reihe größerer Felszähne ins Meer wie die Horrorversion eines Wellenbrechers, und weil dort die

Brandung noch stärker war, hatte ich mich davon ferngehalten. Aber es war die einzige mögliche Deckung. In drei taumeligen Anläufen kam ich näher heran, und die Strömung half mit.

Ich sah mich nach Greene um. Er lud den Revolver nach. Wexford sprang neben ihm im Dreieck, um ihn zur Eile anzutreiben; und der Schrank, der so gar keine Anstalten traf, hinter mir herzujagen, war vermutlich Nichtschwimmer.

Greene schwenkte die Trommel ein und nahm mich wieder ins Visier.

Ich ging ein fürchterliches Risiko ein.

Ich drückte meinen heftig blutenden Unterarm gegen die Brust und richtete mich schwankend in der Strömung auf, so daß er meinen Oberkörper sehen konnte.

Er legte mit gestreckten Armen an. Aber wohl nur ein Scharfschütze konnte mich auf diese Entfernung bei diesem Wind mit dieser Waffe treffen. Weil die Arme eines Scharfschützen beim Feuern nicht nach oben zuckten.

Die Waffe zielte genau auf mich.

Ich sah die Arme hochgehen, als er abzog.

Einen lähmenden Augenblick lang war ich überzeugt, der Schuß hätte gesessen, aber ich spürte und hörte und sah nichts von dem fliegenden Tod.

Ich warf den rechten Arm hoch und blieb einen Augenblick so, damit Greene sehen konnte, daß mein Hemd vorn rot von Blut war.

Dann drehte ich mich kunstvoll weg und ließ mich mit dem Gesicht voran ins Wasser fallen — und konnte nur hoffen, daß er dachte, er habe mich umgebracht.

Viel besser als Blei war das Meer auch nicht. Nur die ungeheure Angst, eine Kugel einzufangen, ließ mich ausharren, während ich zwischen den scharfkantigen Steinen im Wasser zerrieben wurde wie ein Stück Käse.

Die Wellen trieben mich auf die Reihe der großen Felszähne zu, und ziemlich verzweifelt versuchte ich, mich daran festzuhalten, um nicht abwechselnd angesaugt und wieder weggespült zu werden und dabei immer noch mehr Haut zu lassen.

Außerdem durfte ich mich nicht zu auffällig gegen die Strömung wehren. Wenn Wexford und Greene mich dort herumrudern sahen, war meine ganze Schauspieleinlage umsonst gewesen.

Nach einigen Anläufen hatte ich Glück, und die See drückte mich in einen Spalt zwischen den Felsen, von wo aus ich das Ufer nicht mehr sehen konnte. Ich hielt mich mit beiden Händen fest, stemmte mit gebeugten Knien die Füße gegen den Fels und fand so einigermaßen Halt, während die See versuchte, mich wieder loszukriegen. Jede ankommende Welle drohte mir die Füße aus dem Spalt zu schwemmen, und im Zurückgehen drohte sie mich mitzuziehen wie ein Saugrohr. Ich hielt mich krampfhaft fest, schaukelte in dem brusthohen Wasser hin und her, hielt mich fest, schaukelte, und es erschöpfte mich zusehends.

Ich hörte nur die anbrandenden Wellen. Mutlos fragte ich mich, wie lange Wexford und Greene dableiben und nach Lebenszeichen auf dem Wasser Ausschau halten würden. Ich riskierte keinen Blick zum Ufer, aus Angst, sie könnten mich ausmachen, wenn ich den Kopf hob.

Das Wasser war kalt, und die Wunden hörten allmählich auf zu bluten, auch der so nützliche Schnitt am Unterarm. Es geht doch wirklich nichts über einen kräftigen, gesunden jungen Körper, dachte ich. Nichts, aber auch gar nichts geht über einen kräftigen, gesunden jungen Körper auf trockenem Boden, einen Pinsel in der einen, ein Bier in der anderen Hand, in beiden kein Geld für die Gasrechnung, dafür freundliches Flugzeuggedröhn in den Ohren.

Aus Erschöpfung wagte ich schließlich doch einen Blick. Sonst konnte ich wie eine Klette da hängenbleiben, bis ich saft-und kraftlos abfiel und buchstäblich keine Reserven mehr hatte, um noch einmal auf die Beine zu kommen.

Wenn ich etwas sehen wollte, mußte ich loslassen. Ich suchte woanders Halt, doch das klappte nicht ganz. Die erste ablaufende Welle trug mich unweigerlich davon, die nächste ankommende warf mich wieder zurück.

In der Flaute dazwischen bekam ich das Ufer zu sehen.

Straße, Felsen, Steinbruch, alles wie gehabt. Auch der Wagen. Und Leute.

Verdammt noch mal, dachte ich.

Ich klammerte mich wieder an den Stein. Meine Finger waren kalt, verkrampft und fingen wieder an zu bluten. Herrgott, dachte ich. Wie lange denn noch? Drei Wellen kamen und gingen, bis mir in meiner Erschöpfung klar wurde, daß da nicht Wexfords Wagen stand und davor auch nicht Wexford.

Wenn es nicht Wexford war, konnte mir alles egal sein.

Ich ließ mich von der nächsten Welle aus dem Spalt heraustragen, um von ihm wegzuschwimmen, bevor die Gegenbewegung mich wieder zurückwarf. Unter Wasser waren aber immer noch überall Felsen. Ein paar Meter konnten verdammt weit sein.

Vorsichtig richtete ich mich auf, tastete mich, anders als bei der überstürzten Flucht nach draußen, ruhig zum Ufer vor und sah mir genauer an, was sich dort tat.

Ein grauweißer Wagen. Daneben, zusammenstehend, ein Paar; der Mann hielt die Frau in den Armen.

Hübsches, ruhiges Plätzchen dafür, dachte ich ironisch. Ich hoffte, sie würden mich irgendwo ins Trockene bringen.

Sie lösten sich voneinander und starrten aufs Meer hinaus.

Ich starrte zurück.

Im ersten Moment schien es unmöglich. Dann fuchtelten sie aufgeregt mit den Armen und liefen aufs Wasser zu — es waren Sarah und Jik.

Jik warf seine Jacke ab und stürzte sich mit Eifer in die Fluten, blieb aber jäh stehen, als er sich die ersten Schrammen an den Beinen einfing. Gewarnt, kam er mir vorsichtig weiter entgegen.

Ich hielt meinen Kurs. Auch bei noch so wohlgesetzten Schritten war der Gang durch dieses wellenumspülte Reibgestein tödlich für die Haut. Als ich bei Jik ankam, waren wir beide rot verschmiert.

Wir blickten auf das Blut. Jik sagte:»Heiland«, und ich sagte:»O Gott«, und mir kam der Gedanke, daß der Allmächtige der Meinung sein könnte, wir hätten ihn in letzter Zeit reichlich oft angerufen.

Jik legte mir den Arm um die Taille, ich faßte ihn um die Schulter, und so stapften wir gemeinsam an Land. Ab und zu stürzten wir. Kamen keuchend wieder hoch. Erneuerten den Schulterschluß und liefen weiter.

Er ließ mich los, als wir auf festen Boden kamen. Ich setzte mich an den Straßenrand, die Füße zum Meer hin, und krümmte mich.

«Todd«, rief Sarah besorgt. Sie kam näher.»Todd!«Ihre Stimme klang ungläubig.»Lachst du etwa?«

«Klar. «Ich sah grinsend zu ihr hoch.»Warum denn nicht?«

Jiks Hemd war zerrissen und meines nur noch ein Fetzen. Wir zogen sie aus und wischten damit unsere Wunden, die immer noch hartnäckig bluteten. Nach Sarahs Gesichtsausdruck zu urteilen, mußte es irre aussehen.

«Ein wirklich idiotischer Badespaß«, meinte Jik.

«Geht unter die Haut.«

Er sah mir über die Schulter.»Dein Alice-Springs-Verband hat sich gelöst.«»Und die Nähte?«

«Die haben gehalten.«

«Hervorragend.«

«Ihr holt euch eine Lungenentzündung, wenn ihr da sitzen bleibt«, sagte Sarah.

Ich nahm die Reste der Trageschlinge ab. Alles in allem hatte sie mir gute Dienste geleistet. Der Pflasterverband für die Rippen saß zwar einigermaßen an seinem Platz, klebte aber kaum noch, weil er zu naß geworden war. Ich nahm ihn ab. Blieben noch die Pflaster an meinem Bein, und auch die hatten sich bei der Wasserschlacht gelöst. Ich sah es durch die Risse in meiner Hose.

«Verdammte Schinderei«, meinte Jik fröstelnd, während er das Wasser aus seinen Schuhen schüttete.

«Wir brauchen ein Telefon«, sagte ich, seinem Beispiel folgend.

«Meine Nerven«, sagte Sarah.»Was ihr braucht, ist ein heißes Bad, etwas zum Anziehen und einen Psychiater.«

«Wie seid ihr hergekommen?«fragte ich.

«Wieso bist du nicht tot?«fragte Jik.

«Ihr zuerst.«

«Als ich aus dem Laden kam, wo ich das Shampoo gekauft hatte«, erzählte Sarah,»sah ich Greene vorbeifahren. Ich wäre fast gestorben. Ich bin stehengeblieben und habe gehofft, daß er nicht zu mir hersieht, und das ging auch gut… Gleich danach bog der Wagen nach links ab… dabei sah ich, daß noch zwei Mann im Fond saßen… und dann bin ich gleich zu Jik und hab ihm das gesagt.«

Jik betupfte immer noch blutende Wunden.»Wir waren heilfroh, daß er sie nicht gesehen hatte. Als wir dann zurück ins Hotel kamen, warst du nicht da, und die Frau am Empfang meinte, du seist mit Freunden im Auto weggefahren… so einem Mann mit hängendem Schnurrbart.«

«Von wegen Freunde!«rief Sarah.

«Jedenfalls«, erzählte Jik weiter,»haben wir unsere Wut, Trauer, Zerknirschung und was nicht alles hinuntergeschluckt und uns auf die Socken gemacht, um deine Leiche zu suchen.«

«Jik«, fuhr Sarah auf.

Er grinste.»Wer von uns hat denn geheult?«

«Halt den Mund.«

«Sarah hatte dich in Greenes Wagen zwar nicht gesehen, aber wir dachten, du liegst vielleicht verschnürt wie ein Sack Kartoffeln im Kofferraum oder so, und da haben wir die Straßenkarte rausgeholt, Gas gegeben und die Verfolgung aufgenommen. Wir sind wie Greene links abgebogen, und auf einmal ging es endlos den Berg hoch.«

Ich betrachtete unsere zahlreichen Kratzer und Abschürfungen.

«Es wird besser sein, wir besorgen etwas zum Desinfizieren.«

«Am besten für ein Vollbad.«

«Gute Idee.«

Seine Zähne klapperten mit meinen um die Wette.

«Gehen wir aus dem Wind«, sagte ich.»Wir können auch im Auto bluten.«

Steif stiegen wir ein. Ein Glück, daß die Sitze Kunststoffbezüge hätten, meinte Sarah. Jik setzte sich automatisch wieder ans Steuer.

«Meilenweit sind wir gefahren«, sagte er.»Und dabei fast verrückt geworden. Das ging über den Berg und auf dieser Seite wieder runter. Unten zieht sich die Straße in weitem Bogen nach links, und auf der Karte sahen wir, daß sie über etliche Buchten dem Lauf der Küste folgt und schließlich wieder in Wellington herauskommt.«

Er ließ den Wagen an, wendete und fuhr los. Ein nicht alltäglicher Chauffeur mit seiner klatschnassen Hose und dem nackten Oberkörper, auf dem sich noch perlende Blutstropfen bildeten. Der Bart forsch wie immer.

«Wir sind erst da lang«, sagte Sarah.»Aber da gab’s kilometerweit nur zerklüftete Felsen und Meer.«

«Diese Felsen werde ich malen«, sagte Jik.

Sarah blickte von ihm zu mir. Ihr war die Entschlossenheit in seinen Worten nicht entgangen. Die goldene Zeit näherte sich dem Ende.

«Nach einer Weile haben wir gewendet«, erzählte Jik.»An der Abzweigung nach hier hieß es: >Keine Durchfahrtc, also haben wir es damit probiert. Kein Todd weit und breit. Hier haben wir dann angehalten, und Sarah ist raus und hat angefangen, sich die Augen auszuweinen.«

«Du warst auch nicht gerade fröhlich«, sagte sie.

«Hm. «Er lächelte.»Jedenfalls habe ich ein paar Steine herumgetreten und überlegt, wie es weitergehen soll, und da lagen die Patronenhülsen.«

«Die was?«

«Am Straßenrand. Dicht beieinander. Vielleicht aus so einem Revolver mit Auswerferstern, der alle Hülsen gleichzeitig zurückschiebt.«

«Als wir die sahen«, sagte Sarah,»dachten wir…«

«Die hätten von jemand sein können, der auf Seevögel ballert«, sagte ich.»Und ich finde, wir sollten zurückfahren und sie uns holen.«

«Ist das dein Ernst?«fragte Jik.

«Ja.«

Wir hielten an, wendeten und folgten unseren Reifenspuren.

«Niemand schießt mit einem Revolver auf Seevögel«, sagte er.»Dann schon eher auf Nichtskönner, die lahme Gäule malen.«

Der Steinbruch kam wieder in Sicht. Jik hielt davor an, und schon sprang Sarah aus dem Wagen und sagte, wir sollten sitzen bleiben, sie würde die Hülsen holen gehen.

«Haben sie wirklich auf dich geschossen?«fragte Jik.

«Greene. Aber getroffen hat er nicht.«»Halbe Sache. «Er rutschte auf seinem Sitz und zuckte zusammen.»Wahrscheinlich sind sie über den Berg zurück, als wir die andere Strecke nach dir abgesucht haben. «Er warf einen Blick auf Sarah, die am Straßenrand suchte.»Haben sie die Liste kassiert?«

«Die habe ich ins Meer geworfen. «Ich lächelte schief.»Ich wollte sie ihnen nicht einfach brav in die Hand drücken… und es war auch eine gute Ablenkung. Sie konnten noch eine Seite rausfischen und sehen, daß sie ihr Ziel erreicht hatten.«

«Muß ja ergötzlich gewesen sein.«

«Zum Totlachen.«

Sarah fand die Hülsen, hob sie auf und kam rasch zurück.»Alles klar… ich tu sie in meine Handtasche. «Sie stieg neben Jik ein.»Und jetzt?«

«Telefonieren«, sagte ich.

«So vielleicht?«Sie musterte mich.»Weißt du eigentlich…«Sie unterbrach sich.»Also gut. Ich kaufe euch beiden im nächsten Laden ein Hemd. «Sie schluckte.»Und ich will jetzt nicht hören, >hoffentlich ist es kein Lebensmittelladen<.«

«Hoffentlich ist es kein Lebensmittelladen«, sagte Jik.

Wir fuhren wieder los und hielten uns an der Kreuzung links, um über den Berg zurückzufahren, denn der andere Weg war viermal so weit.

In einem großen Dorf auf der Höhe gab es einen Laden, der vom Hammer bis zur Haarnadel alles verkaufte. Auch Lebensmittel. Auch, so erfuhren wir, Hemden. Sarah schnitt Jik ein Gesicht und verschwand im Innern.

Ich zog das marineblaue T-Shirt, das sie mir mitbrachte, über und ging auf wackligen Beinen mit Sarahs Geldbörse zum Telefon.

«Vermittlung… welche Hotels haben Telex?«

Sie nannte mir drei, darunter das Townhouse. Ich dankte ihr und legte auf.

Ich rief im Townhouse an. Erinnerte mich so gerade noch, daß mein Name Peel war.

«Aber Mr. Peel…«, sagte die Empfangsdame verwirrt.»Ihr Freund… der mit dem Schnurrbart, nicht der mit dem Bart… er hat vor einer halben Stunde Ihre Rechnung bezahlt und Ihre Sachen abgeholt… Nein, üblich ist das nicht, aber er hatte ja Ihr Schreiben dabei, mit der Bitte, ihm Ihren Zimmerschlüssel auszuhändigen… Tut mir leid, daß Sie das nicht geschrieben haben, wußte ich nicht… Ja, er hat alles mitgenommen, das Zimmer wird jetzt gerade saubergemacht…«

«Hören Sie«, sagte ich,»können Sie für mich ein Fernschreiben aufgeben? Setzen Sie es meinem Freund, ehm… Mr. Andrews auf die Rechnung.«

Sie sagte, das werde sie tun. Ich diktierte ihr den Wortlaut. Sie wiederholte ihn und meinte, das Telex sei schon unterwegs.

«Wegen der Antwort rufe ich gleich noch mal an«, sagte ich.

Sarah hatte uns auch Jeans und Socken gekauft. Jik fuhr zu einem weniger öffentlichen Ort außerhalb, und wir zogen uns um. Nicht das Eleganteste, aber es verdeckte die Blessuren.

«Wohin jetzt?«fragte er.»Zur Intensivstation?«

«Zurück zum Telefon.«

«Allmächtiger Himmel.«

Er fuhr zurück, und ich rief im Townhouse an. Die Empfangsdame sagte, die Antwort sei da, und las sie mir vor.»Rufen Sie bitte sofort als R-Gespräch unter folgender Nummer an… «Sie ließ mich die Nummer wiederholen, nachdem sie sie zweimal vorgelesen hatte.»Genau.«

Ich dankte ihr.

«Kein Problem«, sagte sie.»Tut mir leid wegen Ihrer Sachen.«

Ich rief das Fernamt an und gab die Nummer durch. Das sei ein Vorranggespräch, hieß es. Die Verbindung sei in zehn Minuten hergestellt. Man werde mich zurückrufen.

Das Telefon hing an der Wand einer Kabine in der Gemischtwarenhandlung. Keine Sitzgelegenheit. Was hätte ich dafür gegeben!

Die zehn Minuten zogen sich lange hin. Neuneinhalb, um genau zu sein.

Es klingelte, und ich nahm den Hörer ab.

«Ihr Gespräch nach England…«

Die Wunder der Technik. Um den halben Erdball, und ich unterhielt mich mit Inspektor Frost, als sei er nebenan. Elf Uhr dreißig in Wellington, dreiundzwanzig Uhr dreißig in Shropshire.

«Ihr Brief ist heute angekommen, Sir«, sagte er.»Und wir sind gleich in Aktion getreten.«

«Lassen Sie den Sir weg. Ich bin an Todd gewöhnt.«

«In Ordnung. Wir haben also die Polizei in Melbourne per Fernschreiben benachrichtigt und uns die Liste der englischen Kunden vorgenommen. Was sich da abzeichnet, ist unglaublich. Alle aus der Liste Gestrichenen, die wir überprüft haben, sind Opfer von Einbruchsdiebstählen. Wir informieren jetzt die Polizei auch in den anderen betroffenen Ländern. Allerdings ist die Liste, die Sie uns geschickt haben, eine Fotokopie. Haben Sie das Original?«

«Nein… die Liste ist weitgehend zerstört worden. Spielt das eine Rolle?«

«Eigentlich nicht. Können Sie uns sagen, wie sie in Ihren Besitz gelangt ist?«

«Ehm… sagen wir mal, ich hatte sie einfach.«

Ein trockenes Lachen reiste zwölftausend Meilen weit.

«Auch gut. Und was ist so dringend, daß Sie mich vom Schlafengehen abhalten?«

«Sind Sie zu Hause?«fragte ich zerknirscht.

«Im Dienst zufällig. Schießen Sie los.«

«Zweierlei… Das zweite ist, ich kann Ihnen bei den Katalognummern auf die Sprünge helfen. Aber vorher…«Ich erzählte ihm, daß Wexford und Greene in Wellington waren und daß sie mein Gepäck gestohlen hatten.»Sie haben meinen Paß, meine Reiseschecks und einen Koffer mit meinen Malsachen.«

«Den habe ich bei Ihrem Cousin gesehen«, warf er ein.

«Stimmt. Und es kann sein, daß sie eine oder zwei Seiten von der Liste haben…«

«Sagen Sie das noch mal.«

Ich sagte es noch einmal.»Sie ist ins Meer geflogen, aber ich weiß, daß Wexford zumindest eine Seite herausgefischt hat. Also… ich nehme an, sie fliegen heute noch nach Melbourne zurück, vielleicht noch heute vormittag, und wenn sie dort landen, könnten sie durchaus das eine oder andere Interessante bei sich haben…«

«Ich kann den Zoll einschalten«, sagte er.»Aber warum hätten sie so leichtsinnig sein sollen, Ihre Sachen zu stehlen?«

«Die wissen nicht, daß ich es weiß«, erwiderte ich.»Ich glaube, sie halten mich für tot.«

«Guter Gott. Wieso?«

«Sie haben auf mich geschossen. Können Sie mit Patronenhülsen etwas anfangen? Eine Kugel habe ich zum Glück nicht eingefangen, aber sechs Hülsen hätte ich für Sie.«

«Wäre nicht schlecht…«Ihm schienen die Worte zu fehlen.»Was ist mit den Katalognummern?«

«In der kleineren Liste… haben Sie die?«

«Ja, sie liegt vor mir.«

«Gut. Der erste Buchstabe steht für die Stadt, in der das Bild verkauft wurde; M für Melbourne, S für Sydney, W für Wellington. Der zweite Buchstabe bezeichnet den Maler — M gleich Munnings, H gleich Herring und R, glaube ich, gleich Raoul Millais. Das K steht für Kopie. Alle Bilder auf der kleinen Liste sind Kopien. Alle auf der großen sind Originale. Haben Sie das?«

«Ja. Weiter.«

«Die Zahlen sind laufende Nummern. Sie hatten vierundfünfzig Kopien verkauft, als ich, ehm… in den Besitz der Liste kam. Das nachgestellte R steht für Renbo. Das ist Harley Renbo, der Abmaler in Alice Springs. Von dem ich Ihnen voriges Mal erzählt habe.«

«Ich weiß«, sagte er.

«Wexford und Greene haben die letzten Tage damit verbracht, in Neuseeland herumzukurven; wenn wir also Glück haben, sind sie noch nicht dazu gekommen, belastendes Material in der Melbourner Galerie zu vernichten. Mit einem Durchsuchungsbefehl könnte die Polizei dort allerhand zutage fördern.«

«Die Polizei Melbourne geht davon aus, daß nach dem Verschwinden der Liste alles sonstwie Verdächtige vorsorglich vernichtet worden ist.«

«Sie könnte sich irren. Wexford und Greene wissen nicht, daß ich die Liste fotokopiert und Ihnen zugeschickt habe. Sie glauben, die Liste und ich, wir treiben irgendwo aufs weite Meer hinaus.«

«Ich gebe Melbourne Bescheid.«

«Außerdem gibt es noch eine Galerie hier in Wellington und eine Herring-Kopie, die sie an jemand in Auckland verkauft haben…«

«Du liebe Zeit…«

Ich nannte ihm die Ruapehu-Adresse und wies ihn auf Norman Updike hin.

«Auf der großen Liste taucht auch immer wieder ein B auf, also existiert wahrscheinlich noch eine Filiale. Ich tippe auf Brisbane. Und jetzt könnte es auch wieder eine in Sydney geben. Ich glaube, die Galerie im Vorort haben sie dichtgemacht, weil sie zu weit vom Schuß lag.«

«Halt«, sagte er.

«Entschuldigung«, sagte ich.»Aber diese Organisation ist wie ein Pilz. Sie verzweigt sich unbemerkt und schießt überall aus dem Boden.«

«Ich habe nur halt gesagt, damit ich das Tonband umdrehen kann. Fahren Sie fort.«

«Ach so. «Ich mußte beinah lachen.»Tja… haben Sie von Donald Antwort auf meine Fragen bekommen?«

«Haben wir.«

«Ohne ihn zu drängen?«

«Sie können beruhigt sein«, meinte er trocken.»Wir haben uns genauestens an Ihre Vorgabe gehalten. Mr. Stuarts Antwort auf die erste Frage war: >Ja, natürliche, auf die zweite: >Nein, wie käme ich dazu?<, und auf die dritte: >Ja.<«

«War er ganz sicher?«

«Vollkommen. «Er räusperte sich.»Es scheint, als ob ihn nichts berührt. Nichts interessiert. Aber er war sicher.«

«Wie geht es ihm?«fragte ich.

«Er verbringt seine Tage damit, sich ein Bild seiner Frau anzuschauen. Immer wenn wir zu ihm kommen, sehen wir durchs Fenster, wie der Mann davorsitzt.«

«Ist er noch… gesund?«

«Das kann ich nicht beurteilen.«

«Sie könnten ihn zumindest wissen lassen, daß er nicht mehr in Verdacht steht, für den Einbruch und für Reginas Tod verantwortlich zu sein.«

«Das müssen meine Vorgesetzten entscheiden«, sagte er.

«Dann treten Sie sie mal«, erwiderte ich.»Oder ist die Polizei scharf darauf, in einem schlechten Licht zu stehen?«

«Sie haben uns immerhin um Hilfe gebeten«, sagte er bissig.

Und euch eure Arbeit abgenommen, dachte ich. Ich sprach es nicht aus. Das Schweigen sagte genug.

«Nun ja…«Seine Stimme hatte etwas Entschuldigendes.»Um unsere Mithilfe. «Er schwieg.»Wo sind Sie jetzt? Wenn ich Melbourne benachrichtigt habe, muß ich Sie vielleicht noch mal sprechen.«

«In der Telefonzelle eines Dorfladens oberhalb von Wellington.«

«Und wo wollen Sie hin?«

«Ich bleibe hier erst mal. Wexford und Greene treiben sich noch in der Stadt herum, und ich will ihnen nicht aus Versehen unter die Augen kommen.«

«Dann geben Sie mir bitte die Nummer.«

Ich las sie vom Apparat ab.

«Ich möchte möglichst bald nach Hause«, sagte ich.»Können Sie in der Paßfrage was für mich tun?«

«Da müssen Sie sich ans Konsulat wenden.«

Tausend Dank, dachte ich müde. Ich hängte ein und kehrte mit wackligen Beinen zum Auto zurück.

«Wißt ihr was«, sagte ich, als ich mich auf den Rücksitz fallen ließ,»ich könnte jetzt einen doppelten Hamburger und eine Flasche Brandy vertragen.«

Wir saßen zwei Stunden lang im Auto.

Der Laden führte weder Spirituosen noch warmes Essen. Sarah kaufte eine Schachtel Kekse. Die aßen wir.

«Wir können nicht den ganzen Tag hierbleiben«, platzte sie nach einem längeren, düsteren Schweigen heraus.

Ich hielt es für möglich, daß Wexford jetzt mit Mordabsichten hinter ihr und Jik her war, aber es hätte sie wohl kaum gefreut, das zu hören.

«Hier kann uns nichts passieren«, sagte ich.

«Außer, daß wir langsam an Blutvergiftung eingehen«, stimmte Jik bei.

«Ich habe meine Pillen im Hilton gelassen«, sagte Sarah.

Jik starrte sie an.»Was hat denn das damit zu tun?«

«Nichts. Ich dachte nur, du solltest es wissen.«

«Die Pille?«fragte ich.

«Ja.«

«Heiland«, sagte Jik.

Ein Lieferwagen tuckerte den Berg hinauf und hielt vor dem Laden. Ein Mann im Overall öffnete die Hecktür, zog ein großes, beladenes Backblech hervor und trug es hinein.

«Essen«, sagte ich hoffnungsvoll.

Sarah ging nachschauen. Jik nutzte die Gelegenheit, sein T-Shirt von den heilenden Schrammen zu lösen, was ich lieber bleiben ließ.

«Nachher kriegst du die Sachen nicht mehr runter«, sagte Jik mit schmerzverzogenem Gesicht.

«Ich weiche sie ab.«

«Im Meer hat man die Schrammen und das alles gar nicht so gespürt.«

«Nein.«

«Jetzt geht das erst richtig los, hm?«

«Mhm.«

Er warf mir einen Blick zu.»Warum schreist du eigentlich nicht?«

«Zu mühsam. Und du?«

Er grinste.»Ich schreie in Farbe.«

Sarah kam mit frischen Krapfen und einigen Dosen Cola zurück. Wir machten uns darüber her, und endlich fühlte ich mich besser.

Nach einer weiteren halben Stunde erschien der Ladenbesitzer am Eingang und rief und winkte.

«Anruf für Sie…«

Steifbeinig ging ich zum Telefon. Es war Frost, klar und deutlich.

«Wexford, Greene und Snell haben einen Flug nach Melbourne gebucht. Man wird sie dort am Flughafen empfangen…«

«Wer ist Snell?«fragte ich.

«Woher soll ich das wissen? Er reist mit den beiden anderen.«

Der Schrank, dachte ich.

«Nun hören Sie zu«, sagte Frost.»Die Leitung zwischen uns und Melbourne ist heiß gelaufen, und die dortige Polizei erbittet Ihre Mitarbeit, damit sie den Sack zubinden kann… «Lange Ausführungen folgten. Zum Schluß fragte er:»Sind Sie dabei?«

Ich bin müde, dachte ich. Ramponiert und gerädert. Ich habe die Nase gestrichen voll.

«Na schön.«

Jetzt konnte ich es ebensogut auch zu Ende bringen.

«Die Polizei in Melbourne läßt zur Sicherheit noch mal fragen, ob die drei Munnings-Kopien, die Sie… ehm, aus der Galerie haben, wirklich noch dort sind, wo Sie gesagt haben.«

«Ja.«

«Okay. Also… alles Gute.«

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