Kapitel 11

Ich hatte einen Fensterplatz im hinteren Teil des Flugzeugs und betrachtete im ersten Abschnitt der Reise ebenso fasziniert wie auf dem Hinflug das menschenleere, urzeitliche Land, das sich unter uns erstreckte. Eine Wüste mit viel unterirdischem Wasser, das in großen Seen und zahlreichen Felsentümpeln zutage trat. Eine Wüste, deren sengender Staub jahrelang Samen konservieren konnte, um bei Regen dann wie ein Garten zu erblühen. Ein mörderisch heißes Terrain, unwirtlich, rauh und doch an manchen Stellen schön.

Glau, dachte ich. Sehr eindrucksvoll, aber zum Malen regte es mich nicht an.

Nach einiger Zeit nahm ich den abenteuerlichen Hut ab, legte ihn auf den leeren Platz neben mir und versuchte, es mir so bequem zu machen, wie es eben ging, denn wenn ich mich normal zurücklehnte, protestierte mein gebrochenes Schulterblatt. Dabei wäre ich von selbst gar nicht darauf gekommen, daß man sich das brechen konnte. Aber immerhin war ich aus ziemlicher Höhe auf extrem harten Boden gekracht.

Nun ja… ich schloß für ein Weilchen die Augen und wünschte mir, ich wäre nicht immer noch so zittrig.

Das Krankenhaus hatte ich mit der Einwilligung eines Arztes verlassen, der meinte, wenn ich gehen wolle, könne er mich zwar nicht halten, aber ein weiterer Tag Ruhe wäre besser für mich.

«Dann verpasse ich den Cup«, wandte ich ein.

«Sie sind ja verrückt.«

«Mag sein… aber könnten Sie es so einrichten, daß das Krankenhaus auf Anfrage sagt, es gehe mir >den Umständen entsprechend< oder >allmählich bessere, nur auf keinen Fall, daß ich schon weg bin?«

«Wozu denn das?«

«Die Schläger, die mich hier reingebracht haben, sollen lieber glauben, ich liege noch flach. Noch ein paar Tage, wenn’s geht. Bis ich über alle Berge bin.«

«Aber die vergreifen sich doch nicht noch mal an Ihnen.«

«Man weiß nie?«

Er zuckte die Achseln.»Heißt das, Sie sind nervös?«

«Könnte man sagen.«

«Okay. Es kann ja nichts schaden. Ein paar Tage also, wenn es Sie beruhigt.«

«Und ob mich das beruhigt«, sagte ich dankbar.

«Was haben Sie denn da?«Er wies auf Jiks Einkäufe, die noch auf dem Bett lagen.

«Das versteht mein Freund unter angemessener Reisebekleidung.«

«Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

«Er ist Maler«, sagte ich, als würde das jede Extravaganz erklären.

Eine Stunde später brachte mir der Arzt einen Schein zur Unterschrift, nachdem Jiks Kreditkarte wieder einmal den Rest erledigt hatte, und bekam bei meinem Anblick einen Lachanfall. Ich war mühsam in die Klamotten geschlüpft und probierte gerade den Hut an.

«Wollen Sie in dem Aufzug zum Flughafen?«fragte er ungläubig.

«Selbstverständlich.«

«Und wie?«

«Mit dem Taxi oder so.«

«Es ist besser, wenn ich Sie fahre«, meinte er seufzend.»Dann kann ich Sie wieder mit zurücknehmen, falls es Ihnen zu schlecht geht.«

Er fuhr vorsichtig, hatte aber auch seinen Spaß dabei.»Jemand, der sich traut, so herumzulaufen, braucht vor zwei

Schlägern keine Angst zu haben. «Er setzte mich direkt am Eingang zum Flughafen ab und fuhr lachend davon.

Sarahs Stimme riß mich aus den Gedanken.

«Todd?«

Ich schlug die Augen auf. Sie war nach hinten gekommen und stand neben mir auf dem Gang.

«Geht’s dir gut?«

«Mhm.«

Sie musterte mich besorgt und ging weiter zu den Toiletten. Als sie zurückkam, hatte ich meine Gedanken halbwegs sortiert und hielt sie mit einer Handbewegung auf.»Sarah… man ist euch zum Flughafen gefolgt. Sehr wahrscheinlich werdet ihr auch in Melbourne beschattet. Sag Jik, er soll ein Taxi nehmen, den Verfolger ausmachen, ihn abschütteln und mit einem anderen Taxi wieder zum Flughafen kommen, um den Mietwagen abzuholen. Okay?«

«Ist er… der Verfolger… hier im Flugzeug?«Sie war sichtlich beunruhigt.

«Nein. Er hat von Alice aus telefoniert.«

«Gut.«

Sie ging wieder nach vorn. Die Maschine landete in Adelaide. Reisende stiegen aus und ein, und weiter ging es mit dem einstündigen Flug nach Melbourne. Auf halber Strecke kam Jik nach hinten, um das gewisse Örtchen aufzusuchen.

Auch er blieb auf dem Rückweg zu seinem Platz kurz bei mir stehen.

«Hier sind die Autoschlüssel«, sagte er.»Setz dich rein und warte auf uns. So kannst du schlecht ins Hilton, und allein umziehen kannst du dich auch nicht.«

«Klar kann ich.«

«Still. Ich schüttle die etwaigen Verfolger ab und komme wieder. Du wartest.«

Er ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich steckte die Schlüssel in meine Jeans und sann über das Wahre und Gute im Leben nach, um mir die Zeit zu vertreiben.

Bei der Landung hielt ich mich weit hinter Jik und Sarah. In dieser ehrwürdigen Handelsstadt stieß mein Aufzug auf wesentlich mehr Unverständnis, aber das kümmerte mich kein bißchen. Erschöpfung und Sorge sind das beste Mittel gegen peinliche Verlegenheit.

Jik und Sarah gingen mit ihrem Handgepäck schnurstracks zum Ausgang und zum Taxistand. Am Abend vor dem Cup wimmelte es auf dem Flughafen von frisch angekommenen Besuchern, aber ich sah nur einen einzigen, der sich ausschließlich für meine davoneilenden Freunde interessierte.

Ich mußte lächeln. Jung und wieselflink schlängelte er sich durch die Menge und stieß eine Frau mit Kind aus dem Weg, um das Taxi hinter Jik zu ergattern. Wahrscheinlich hatten sie ihn geschickt, weil er Jik vom Sehen kannte. Er hatte ihm im Arts Centre Terpentin in die Augen geschüttet.

Soll uns recht sein, dachte ich. Der Junge war nicht der Hellste, also würde Jik ihn relativ leicht abschütteln können. Ich latschte noch eine Zeitlang herum, als wüßte ich nichts mit mir anzufangen, doch da ich niemand Verdächtigen mehr entdecken konnte, wagte ich mich schließlich hinaus auf den Parkplatz.

Der Abend war kalt nach Alice Springs. Ich schloß den Wagen auf, setzte mich nach hinten, nahm den Gipfelstürmerhut ab und wartete auf Jik.

Sie blieben fast zwei Stunden fort, und in der langen Zeit wurde mir das Sitzen so beschwerlich, daß ich anfing, vor mich hin zu schimpfen.

«Entschuldige«, sagte Sarah atemlos, als sie die Wagentür öffnete und sich auf den Vordersitz fallen ließ.

«Es war verdammt schwer, den kleinen Mistkerl loszuwerden«, sagte Jik, der sich zu mir nach hinten setzte.»Alles in Ordnung?«

«Mir ist kalt, ich habe Hunger und bin schlecht gelaunt.«

«Wenn’s weiter nichts ist«, meinte er vergnügt.»Wie eine Klette hat der an uns geklebt. Der Junge aus dem Arts Centre.«

«Ja, ich habe ihn gesehen.«

«Wir sind zum Victoria Royal gefahren und wollten auf der anderen Seite gleich wieder raus und mit dem nächsten Taxi weiter, aber weil er uns nachkam, sind wir in die Bar und haben was getrunken, während er am Bücherstand in der Halle herumhing.«

«Er sollte nach Möglichkeit nicht merken, daß wir ihn entdeckt hatten«, sagte Sarah.»Also haben wir umdisponiert, sind raus und haben ein Taxi zum Naughty Ninety genommen, dem einzigen wirklich lauten Freß-, Tanz- und Nachtlokal in Melbourne.«

«Da war es gestopft voll«, sagte Jik.»Ich mußte zehn Dollar für einen Tisch hinblättern. Für unseren Zweck aber ideal. Lauter dunkle Winkel und psychedelisches Geflimmer. Wir haben was zu trinken bestellt, uns die Speisekarte angesehen, dann sind wir aufs Parkett und haben getanzt.«

«Er stand immer noch im Eingang Schlange für einen Tisch. Wir haben uns durch den Notausgang hinter den Toiletten verdrückt. Da hatten wir beim Reinkommen unsere Taschen verstaut und brauchten sie nur zu holen.«

«Ich glaube, er hat nicht gemerkt, daß wir ihn bewußt abgehängt haben«, sagte Jik.»Da ist ein Riesenandrang heute.«

«Prima.«

Mit Jiks Hilfe verwandelte ich mich vom Alice-SpringsTouristen in einen turfbegeisterten Besucher des Melbourne Cup. Dann fuhr er uns zum Hilton, stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab, und wir betraten die Hotelhalle, als wären wir nie fort gewesen.

Niemand achtete auf uns. Alles fieberte dem Rennen entgegen. Leute in Abendkleidung kamen aus dem Ballsaal und unterhielten sich noch angeregt in kleineren Gruppen, bevor sie nach Hause fuhren. Andere kamen vom auswärts genossenen Dinner zurück und bestellten noch einen Schlummertrunk. Die Favoriten des nächsten Tages wurden eifrig erörtert.

Jik holte unsere Zimmerschlüssel an der Rezeption.

«Keine Nachricht«, sagte er.»Und man scheint uns nicht vermißt zu haben.«

«Auch gut.«

«Todd«, sagte Sarah.»Jik und ich lassen uns noch was zu essen kommen. Hast du auch Lust?«

Ich nickte. Wir fuhren mit dem Lift nach oben, gingen auf ihr Zimmer und aßen in vereinter Müdigkeit still zu Abend.

«Gute Nacht«, sagte ich, als ich schließlich aufstand, um zu gehen.»Und vielen Dank für alles.«

«Bedank dich morgen«, sagte Sarah.

Die Nacht verging. Auch sie verging.

Am Morgen rasierte ich mich einhändig nach sparsamster Katzenwäsche, und Jik, der darauf bestanden hatte, kam, um mir beim Anziehen zu helfen. Ich öffnete ihm in Unterhose und Bademantel und mußte seine Bemerkungen über mich ergehen lassen, als ich letzteren ablegte.

«Allmächtiger Gott, gibt es überhaupt eine Stelle an dir, die nicht blau oder zugepflastert ist?«

«Ich hätte auch aufs Gesicht fallen können.«

Er riß die Augen auf.

«Hilf mir, den Verband zu wechseln«, sagte ich.

«Da geh ich nicht dran.«

«Komm schon, Jik. Nimm mir die Binden ab. Darunter juckt es wie verrückt, und ich weiß schon nicht mehr, wie meine linke Hand aussieht.«

Unter gotteslästerlichen Flüchen dröselte er den im Krankenhaus von Alice Springs fachmännisch angelegten Verband auf. Der Deckverband bestand aus starken, mit Klammern befestigten Leinenbinden, die meinen linken Ellbogen abstützten und den ganzen Arm so fixierten, daß die Hand mit den Fingerspitzen zur rechten Schulter quer über dem Brustkorb lag. Ein Kreppverband unter den Leinenbinden hielt den Arm in Stellung. Dazu kam ein straffer Kummerbund aus Heftpflaster, der vermutlich die gebrochenen Rippen stützen sollte. Und direkt unter dem Schulterblatt ein großflächiger Wundverband, den Jik an einer Ecke anhob, um mir freundlich mitzuteilen, daß dort die Kunststopfer gewirkt hätten.

«Da ist fast ein ganzer Hautlappen abgerissen. Die mußten vier Nähte legen. Sieht aus wie ein Bahnknotenpunkt.«

«Deck wieder zu.«

«Hab ich, Partner, keine Sorge.«

Es gab noch drei solche Verbände, zwei an meinem linken Oberschenkel und einen etwas kleineren unter dem Knie; alle waren mit Pflaster befestigt und mit Binden umwickelt. Wir ließen die Finger davon.

«Was der Patient nicht weiß, macht ihn nicht heiß«, sagte Jik.»Sonst noch einen Wunsch?«

«Bind mir den Arm los.«

«Dann fällst du auseinander.«

«Riskier’s.«

Er lachte und befreite mich wieder von einer Reihe Klammern und Knoten. Versuchsweise streckte ich den Arm. Die chronischen Schmerzen in ihm wurden akut, sonst passierte wenig.

«Das war nicht so gut«, stellte Jik fest.

«Eigentlich tun da vor allem die Muskeln weh. Die waren ja die ganze Zeit eingezwängt.«

«Und jetzt?«

Wir tüftelten eine relativ einfache neue Schlinge aus, die meinem Ellbogen Halt gab, ohne deshalb gleich eine Zwangsjacke zu sein. Ich konnte jederzeit die Hand und, wenn ich wollte, auch den ganzen Arm herausziehen. Als wir fertig waren, hatten wir ein Häufchen Binden und Klammern übrig.

«Alles bestens«, sagte ich.

Um halb elf trafen wir uns unten in der Halle.

Eine hektische Atmosphäre der Vorfreude herrschte unter den Rennsportfreunden um uns herum. Sie tranken schon mal auf ihre zu erwartenden Gewinne. Das Hotel hatte am Eingang zum Gesellschaftsraum einen richtiggehenden Sektbrunnen aufgestellt, und Jik befand leuchtenden Auges, das dürfe man sich nicht entgehen lassen.

«Kostenlos«, sagte er ehrfürchtig, nahm ein Glas und hielt es unter die üppig sprudelnde, luftdruckgespeiste Fontäne, die in feinen goldenen Strömen niederfiel.»Gar nicht übel«, fügte er nach einem ersten Schluck hinzu. Er hob das Glas.»Auf die Kunst. Gott schenke ihrer Seele Frieden.«

«Das Leben ist kurz. Die Kunst ist lang«, sagte ich.

«Das gefällt mir aber gar nicht«, meinte Sarah und sah mich unsicher an.

«Alfred Munnings’ Lieblingsspruch. Und keine Sorge, meine Liebe, der ist über achtzig geworden.«

«Hoffen wir, daß du das auch schaffst.«

Wir stießen darauf an. Sie trug ein cremefarbenes Kleid mit Goldknöpfen: elegant, maßgeschneidert, etwas streng. Ein Hauch Militär für den Tag an der Front.

«Denkt dran«, sagte ich.»Wenn ihr jemand seht, der nach Wexford oder Greene aussieht, laßt euch auch von ihnen sehen.«

«Zeig mir noch mal ihren Steckbrief«, sagte sie.

Ich zog das kleine Skizzenbuch hervor und gab es ihr, obwohl sie es tags zuvor beim Abendessen schon ausgiebig studiert hatte.

«Wenn die noch so aussehen, erkenne ich sie vielleicht«, meinte sie seufzend.»Gib’s mir doch mit. «Und sie steckte es in ihre Handtasche.

Jik lachte.»Das muß man Todd lassen, porträtieren kann er. Mit der Phantasie hapert’s eben. Er kann nur malen, was er sieht. «Sein Tonfall war herabsetzend wie eh und je.

«Findest du es nicht furchtbar, Todd, wie Jik immer über deine Arbeit herzieht?«

Ich grinste.»Ich weiß ganz genau, was er davon hält.«

«Falls es dich beruhigt«, wandte sich Jik an seine Frau,»er war der Star unseres Jahrgangs. Die Kunstschule ist natürlich kein Maßstab.«

«Ihr seid beide verrückt.«

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Wir tranken unseren Sekt aus und stellten die Gläser ab.

«Wette einen Sieger für mich«, meinte ich zu Sarah und küßte sie auf die Wange.

«Und wenn dich dein Glück verläßt?«

Ich grinste.»Setz auf die elf.«

Ihre Augen waren umschattet, ihr Blick besorgt. Jiks Bart stand im Schlechtwetterwinkel ab, ganz auf Stürme eingestellt.

«Ab mit euch«, sagte ich vergnügt.»Bis später.«

Ich schaute ihnen durch die Tür nach und wünschte, wir hätten alle drei einfach ganz normal zum Melbourne Cup gehen können. Die bevorstehende Plackerei hätte ich mir gern erspart. Ich fragte mich, ob auch andere manchmal vor selbstgestellten Aufgaben zurückscheuten und sich wünschten, nie auf die Idee gekommen zu sein. Der Anfang war sicher immer das schwerste. Hatte man die ersten Schritte getan, war man festgelegt. Solange aber noch Zeit blieb, es sich anders zu

überlegen, auszusteigen, alles abzublasen, war die Versuchung, einen Rückzieher zu machen, gewaltig.

Wozu den Everest besteigen, wenn man unten in der Sonne liegen konnte?

Seufzend ging ich zur Kasse am Empfang und wechselte ein Bündel Reiseschecks in Bargeld um. Maisie hatte mit ihrer Großzügigkeit Weitblick bewiesen. Wenn ich nach Hause kam, würde nicht mehr viel übrig sein.

Vier Stunden Wartezeit. Ich verbrachte sie oben in meinem Zimmer und beruhigte meine Nerven damit, daß ich die Aussicht aus meinem Fenster zeichnete. Schwarze Wolken bedeckten noch wie Spinnweben den Himmel, besonders in Richtung Flemington und Rennbahn. Hoffentlich blieb es während des Cups trocken.

Eine halbe Stunde vor dem offiziellen Beginn des Wettbewerbs verließ ich zu Fuß das Hilton und ging gemächlich zur Swanston Street in der Haupteinkaufszone. Die Geschäfte waren natürlich alle geschlossen. Am Tag des Melbourne Cup ruhte die Arbeit im ganzen Land.

Ich hatte meinen linken Arm aus der Schlinge genommen und ihn vorsichtig durch die Ärmel von Hemd und Jacke geschoben. Ein Mann, der die Jacke wie ein Einarmiger über der Schulter trug, fiel zu sehr auf. Wenn ich den Daumen in den Hosenbund einhakte, bekam der Arm Halt genug.

Die Swanston Street war lange nicht so belebt wie sonst. Zwar schritten die Leute immer noch in dem mordsmäßigen Tempo aus, das mir für die Fußgänger in Melbourne typisch zu sein schien, aber sie waren zu Dutzenden, nicht mehr zu Tausenden unterwegs. In den Straßenbahnen waren mehr Plätze frei als besetzt. Die Autofahrer schienen eher damit beschäftigt, den richtigen Radiosender zu finden, als auf die Straße zu achten. Eine Viertelstunde noch bis zu dem Rennen, für das Australien einmal im Jahr alles liegen- und stehenließ.

Jik kam pünktlich mit dem grauen Mietwagen die Swanston Street herauf und bog an der Ecke, wo ich wartete, elegant in die Nebenstraße ein. Er hielt vor Yarra River Fine Arts, stieg aus, öffnete den Kofferraum und zog einen braunen Arbeitskittel über, wie Lagerverwalter ihn tragen.

Ich ging unauffällig zu ihm hinüber. Er holte ein kleines Radio hervor, schaltete es an und setzte es aufs Autodach. Mit blecherner Stimme stellte der Reporter die Pferde vor, die soeben in Flemington im Führring paradierten.

«Tag«, empfing mich Jik nüchtern.»Alles klar?«Ich nickte und ging zum Eingang der Galerie. Drückte gegen die Tür, doch sie war abgeschlossen. Jik tauchte im Kofferraum nach weiteren Früchten seines zweiten Einkaufsbummels in Alice Springs.

«Handschuhe«, sagte er, reichte mir ein Paar und zog auch selbst welche an. Weiße Handschuhe mit geripptem Bund, viel zu neu und auffällig. Ich strich mit meinen über die Kotflügel von Jiks Wagen, er warf mir einen Blick zu und tat es mir nach.

«Handgriffe und Kraftkleber.«

Er reichte mir die Griffe. Es waren einfache, verchromte Handgriffe zum Anschrauben, mit abgeflachten Enden. Stabile Griffe, die man mit der ganzen Hand fassen konnte. Ich hielt den ersten hoch, und Jik bestrich die Enden mit dem Kleber. Wo wir sie brauchten, ließen sich die Griffe nicht anschrauben. Wir mußten sie festkleben.

«Jetzt der andere. Kannst du den mit links halten?«

Ich nickte. Jik strich den Griff ein. Einige Leute gingen vorbei, ohne auf uns zu achten. Parken war hier nicht erlaubt, aber niemand wies uns darauf hin.

Wir gingen über den Gehsteig zur Galerie. Ihre Fassade war keine durchgehende gerade Linie, rechts war der Eingang etwas zurückgesetzt. Zwischen dem Schaufenster und der Glastür befand sich ein Fenster im rechten Winkel zur Straße.

An diese Scheibe drückten wir, oder drückte vielmehr Jik, etwas über Hüfthöhe die Handgriffe an. Nach einem Weilchen kontrollierte er, und sie saßen fest. Wir kehrten zum Wagen zurück.

Der eine oder andere Passant, der noch vorbeikam, spitzte die Ohren beim Anblick des Radios auf dem Dach und lächelte als stiller Teilhaber am großen Volksfest. Die Straßen leerten sich zusehends, je näher die Stunde Null rückte.

«… Vinery trägt die Farben von Mr. Hudson Taylor aus Adelaide und dürfte eine gute Außenseiterchance haben. Vierter im Caulfield Cup und davor Zweiter im Randwick hinter Brain-Teaser, der danach ja Afternoon Tea schlug…«

«Hör jetzt nicht dem verdammten Rennen zu!«sagte Jik scharf.

«Entschuldige.«

«Können wir?«

«Ja.«

Wir gingen wieder zum Eingang der Galerie, Jik mit einem Glasschneider bewaffnet, wie man ihn unter anderem zum Einrahmen von Bildern verwendet. Ohne sich nach etwaigen Zeugen umzusehen, setzte er die Diamantschneide an und führte sie unter kräftigem Druck am Rand der Scheibe entlang. Ich stand hinter ihm, um ihn gegen neugierige Blicke abzuschirmen.

«Halt den rechten Griff«, sagte er, als er die letzte der vier Seiten, von links unten nach links oben, in Angriff nahm.

Ich trat nach rechts und faßte den Griff. Die wenigen verbliebenen Passanten schenkten uns keine Beachtung.

«Wenn sie kommt«, sagte Jik,»laß sie bloß nicht fallen.«

«Nein.«

«Stell das Knie dagegen. Sachte, um Gottes willen.«

Ich tat, wie mir geheißen, und er führte den langen vierten Schnitt zu Ende.

«Vorsichtig drücken.«

Ich drückte vorsichtig. Auch Jik stemmte sein Knie gegen das Glas. Mit der Linken hielt er den verchromten Griff, mit der rechten Handfläche klopfte er jetzt gegen den oberen Rand der schweren Scheibe.

Jik hatte zu seiner Zeit viel Glas geschnitten, wenn auch nicht ganz unter denselben Umständen. Die große, flache Scheibe brach unter unserem Druck gleichmäßig entlang der Schnittstelle und löste sich fast ohne einen Splitter. Ihr Gewicht drückte plötzlich auf den Griff in meiner rechten Hand, und Jik stützte das lose Glas mit Händen, Knie und Flüchen.

«Halt bloß fest.«

«Ja.«

Die starken Schwingungen, die durch das Herausbrechen entstanden waren, ließen nach, und Jik übernahm den rechten Griff. Scheinbar mühelos drehte er die schwere Scheibe so, daß sie sich wie eine Tür öffnete. Er stieg durch den Spalt, hob die Scheibe an beiden Griffen an, trug sie ein paar Schritte und lehnte sie gegen die Wand rechts neben dem üblicherweise benutzten Eingang.

Er kam wieder heraus, und wir gingen zum Wagen. Von dort, knapp drei Meter entfernt, konnte man nicht sehen, daß die Galerie nicht mehr unzugänglich war. Jetzt kam ohnehin kaum noch jemand vorbei.

«… Die meisten Jockeys sind jetzt aufgesessen, und bald werden die Pferde hinaus auf die Bahn gehen…«

Ich nahm das Radio vom Dach. Jik tauschte den Glasschneider gegen Metallsäge, Hammer und Meißel, schloß den Kofferraum, und wir traten durch den unorthodoxen Eingang, als müßte das so sein. Gauner verraten sich ja oft nur dadurch, daß sie heimlich tun. Wer auftritt, als hätte er das Recht auf seiner Seite, macht sich weniger verdächtig.

Eigentlich wäre es am besten gewesen, wir hätten jetzt die richtige Tür aufbekommen, aber das erwies sich sofort als unmöglich. Sie hatte zwei gediegene Schlösser und wir keine Schlüssel.

«Die Treppe ist hinten«, sagte ich.

«Geh vor.«

Wir durchquerten den feudal mit grünem Teppich ausgelegten Raum. Wo die Treppe nach unten ging, fanden wir eine Batterie von Lichtschaltern und knipsten die Beleuchtung im Basement an, machten oben aber kein Licht.

Bange Minuten. Jetzt brauchte nur ein Polizist daherzukommen und sich daran zu stören, daß der Wagen im Parkverbot stand, und Cassavetes und Todd wanderten ins Gefängnis.

«…kommen jetzt die Pferde aufs Geläuf, vorneweg Foursquare, er schwitzt und möchte Jockey Ted Nestor zeigen, wer der Chef ist…«

Wir waren im Basement. Ich wollte ins Büro, aber Jik eilte zum anderen Ende des Flurs.

«Bleib hier«, rief ich.»Wenn sich das Stahlgitter schließt…«

«Reg dich ab«, sagte Jik.»Ich weiß ja Bescheid. «Er blieb vor dem Eingang zum letzten Raum stehen. Schaute hinein. Kam dann rasch wieder.

«Okay. Die Munnings sind noch alle da. Drei Stück. Aber du wirst staunen, was dazugekommen ist. Sieh es dir mal an, bis dahin habe ich die Tür hier offen.«

«… galoppieren auf, ringsum steigt die Erregung…«

Gespannt lief ich den Gang hinunter, blieb in sicherem Abstand vor dem Munningsraum stehen, um weder einen Alarm noch den Mechanismus für das Fallgitter auszulösen, und sah hinein. Die drei Bilder hingen noch an ihrem Platz. Doch über das nächste Bild in der Reihe konnte ich, wie Jik gesagt hatte, nur staunen. Ein Fuchs mit lauschend erhobenem Kopf. Im Hintergrund ein Herrenhaus. Der Raoul Millais, den wir in Alice Springs gesehen hatten.

Ich kehrte zu Jik zurück, der mit Hammer und Meißel das Schloß an der Bürotür besiegt hatte.

«Und?«fragte er.»Original oder Fälschung?«

«Aus der Entfernung schwer zu sagen. Es sieht aber echt aus.«

Er nickte. Wir betraten das Büro und machten uns an die Arbeit.

«…auch Derriby und Special Bet kommen jetzt zum Start, und alle gehen im Kreis, während die Gurte kontrolliert werden…«

Ich stellte das Radio auf Wexfords Schreibtisch, wo es sich ausnahm wie ein Stundenglas und an die ablaufende Zeit gemahnte.

Für den Schreibtisch brauchte Jik sein Werkzeug nicht, da die Schubladen unverschlossen waren. Nur einer der Aktenschränke war abgesperrt. Jik sorgte mit Kraft und Sachverstand dafür, daß er es nicht lange blieb.

Unterdessen sah ich die Schreibtischladen durch. Kataloge, Schreibpapier, nicht viel mehr.

Der aufgebrochene Aktenschrank aber war eine Fundgrube.

Zuerst merkte ich das gar nicht. Die Akten sahen wie ganz normale Geschäftsunterlagen aus.

«… ist sehr entspannt aufgaloppiert und in Topform für dieses Hundertzehntausend-Dollar-Rennen… «

An den Wänden des Büros hingen etliche gerahmte Bilder, aber noch mehr standen hinter- und nebeneinander auf dem Fußboden. Jik sah sie im Eiltempo durch, fast als wäre es ein Ständer mit Schallplatten.

«… Helfer führen nun die Pferde in die Startboxen, und wie ich sehe, macht Vinery Mätzchen…«

Die Hälfte der Akten im oberen Fach enthielt offenbar Versicherungsunterlagen dieser oder jener Art. Briefe, Policen, Neubewertungen und Sicherheiten. Das Ganze war etwas schwierig, weil ich nicht genau wußte, wonach ich suchte.

«Herrgott«, sagte Jik.

«Was ist?«

«Sieh dir das mal an.«

«…mehr als hunderttausend Zuschauer wollen sehen, wer von den dreiundzwanzig Startern heute hier über die dreitausendzweihundert Meter gewinnt…«

Jik war am Ende der Reihe angelangt und betrachtete das vorderste von drei ungerahmten Bildern, die lose mit Schnur zusammengebunden waren. Ich blickte ihm über die Schulter. Jeder Strich ein Munnings. Und» Alfred Munnings «stand auch klar und deutlich in der unteren rechten Ecke. Das Bild zeigte vier Pferde mit ihren Jockeys beim Galopp auf der Rennbahn, und die Farbe war noch nicht trocken.

«Was ist auf den anderen?«fragte ich.

Jik riß die Schnur ab. Auf den beiden anderen Bildern war genau das gleiche.

«Grundgütiger«, sagte Jik ehrfürchtig.

«… Vinery trägt nur einundfünfzig Kilo, und da er eine gute Startposition hat, ist nicht auszuschließen…«

«Such weiter«, sagte ich und kehrte zu den Akten zurück.

Namen. Daten. Orte. Ich schüttelte gereizt den Kopf. Wir brauchten mehr als diese Munningskopien, und ich konnte nichts entdecken.

«Heiland!«sagte Jik.

Er schaute eine sechzig mal neunzig Zentimeter große Grafikmappe durch, wie Galerien sie zur Aufbewahrung von Drucken verwenden.

«… nur Derriby ist noch nicht im Startstand…«

Die Grafikmappe hatte zwischen dem Schreibtisch und der Wand gestanden. Jik stand da wie festgenagelt.

Überseekundschaft. Mein Blick glitt über die Aufschrift hinweg und kehrte noch einmal zurück. Überseekundschaft. Ich schlug den Hefter auf. Namenslisten, nach Ländern geordnet. Seitenweise Namen und Adressen.

England. Eine lange Liste. Nicht alphabetisch. Zu lang, um sie in der knappen Zeit ganz zu lesen.

Ziemlich viele Namen waren durchgestrichen.

«Sie sind gestartet! Das ist der Augenblick, auf den wir alle gewartet haben, und Special Bet führt…«

«Sieh mal her«, sagte Jik.

Donald Stuart. Donald Stuart, durchgestrichen. Shropshire, England. Durchgestrichen.

Ich hörte fast auf zu atmen.

«… zum ersten Mal an der Tribüne vorbei geht Special Bet vor Foursquare, es folgen Newshound, Derriby, Wonderbug, Vinery… «

«Schau doch mal«, wiederholte Jik eindringlich.

«Nimm es mit«, sagte ich.»In drei Minuten ist das Rennen vorbei, und Melbourne kommt wieder zu sich.«

«Aber — «

«Wir nehmen’s mit«, entschied ich.»Und die drei Kopien auch.«

«… Special Bet immer noch in Führung, dicht dahinter Newshound, dann Wonderbug… «

Ich klappte die Aktenablage zu.

«Leg den Hefter hier in die Grafikmappe und laß uns verschwinden.«

Ich nahm das Radio und Jiks Werkzeug, da er mit den drei losen Gemälden und der Riesengrafikmappe hinreichend bepackt war.

«… am Maribyrnong River auf der Gegenseite ist Special Bet immer noch vorn, Vinery jetzt Zweiter…«

Wir gingen die Treppe hinauf. Schalteten das Licht aus. Spähten hinaus zum Wagen.

Einsam und verlassen stand er an seinem Platz. Kein Polizist zu sehen. Alle Welt interessierte sich nur für das Rennen.

Jik rief leise den Erlöser an.

«… aber im Schlußbogen fällt Special Bet zurück, und eingangs der Zielgeraden führt Derriby vor Newshound…«

Wir gingen festen Schrittes durch die Galerie.

Die erregte Stimme des Reporters übertönte das tobende Publikum.

«…Vinery an dritter Position mit Wonder bug, und außen kommt sehr, sehr schnell Ringwood…«

Auf der Straße tat sich nichts. Ich stieg als erster durch unser Loch im Glas und atmete mächtig auf, als ich draußen vor dem geplünderten Bienenstock stand. Jik brachte den kostbaren Honig zum Wagen und verstaute ihn im Kofferraum. Dann nahm er mir das Werkzeug ab und legte es dazu.

«Können wir?«

Ich nickte mit trockenem Mund. Wir setzten uns ganz normal ins Auto. Der Reporter konnte sich nur noch brüllend verständlich machen.

«… als Erster im Ziel ist Ringwood mit einer Länge vor Wonderbug, Dritter wird Newshound, dann Derriby, dann Vinery… «

Der Jubel hallte im Wagen nach, als Jik den Motor startete und losfuhr.

«… könnte ein Rekord sein. Hören Sie nur diesen Jubel Hier noch einmal das Ergebnis. Der Ausgang des Melbourne Cup. Im Geld sind… Erster: Ringwood, Besitzer Mr. Robert Khami… Zweiter: Wonderbug…«

«Puh«, meinte Jik, reckte den Bart vor und bleckte grinsend die Zähne.»Das war nicht übel für den Anfang. Vielleicht sollten wir uns irgendwann als Dokumentenklauer in der Politik verdingen. «Er lachte grimmig in sich hinein.

«Der Markt ist überlaufen«, sagte ich und grinste selber breit.

Wir schwelgten beide in dem Hochgefühl, das sich einstellt, wenn eine brenzlige Situation heil überstanden ist.»Sachte«, sagte ich.»Wir haben noch viel vor uns.«

Er fuhr mich zum Hilton, parkte und brachte die Bilder und den Aktenhefter auf mein Zimmer. Wie beim Segeln ging das alles bei ihm Schlag auf Schlag, ohne unnötigen Aufwand, denn er wollte möglichst wieder bei Sarah auf der Rennbahn sein, bevor seine Abwesenheit bemerkt wurde.

«Wir kommen so schnell es geht wieder her«, versprach er und winkte kurz mit der Hand.

Zwei Sekunden nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, klopfte es.

Ich öffnete. Jik stand vor mir.

«Eines sollte ich noch wissen«, sagte er,»wer hat den Cup gewonnen?«

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