9 Pläne

Habt Ihr diese Feuerwerker nach Amador bringen lassen?« Viele wären zusammengezuckt, hätten sie solch harte Töne von Pedron Niall zu hören bekommen, nicht aber der Mann, der nun auf der eingelegten goldenen Sonnenscheibe vor Nialls schlichtem Stuhl mit hoher Lehne stand. Er strahlte Selbstvertrauen und Gelassenheit aus. Niall fuhr fort: »Es gibt einen Grund dafür, warum ich zweitausend Kinder des Lichts die Grenze zu Tarabon bewachen lasse, Omerna. Tarabon steht unter Quarantäne. Niemandem ist der Grenzübertritt gestattet! Wenn es nach mir ginge, dürfte nicht einmal ein Sperling herüberfliegen.«

Omerna bot den Anblick eines Offiziers, wie er bei den Kindern des Lichts sein sollte: hochgewachsen und respekteinflößend, ein kühnes, furchtloses Gesicht, ein kräftiges Kinn und weißes, welliges Haar an den Schläfen. Seine dunklen Augen schienen gewohnt zu sein, auch das schlimmste Schlachtfeld unbeeindruckt zu mustern und zu beurteilen. Im Augenblick jedoch schienen sie tiefe Nachdenklichkeit auszudrücken. Der weiß- und goldgeschmückte Wappenrock eines Lordhauptmanns, Gesalbter des Lichts, stand ihm gut.

»Kommandierender Lordhauptmann, sie wünschen, hier ein Gildehaus zu errichten.« Selbst seine tiefe, einschmeichelnde Stimme paßte zu seiner Erscheinung. »Die Feuerwerker reisen überallhin. Es dürfte nicht schwer sein, Agenten unter ihnen zu finden. Agenten, die in jedem Ort, in jedem Herrenhaus, in jedem Herrscherpalast willkommen wären.« Angeblich war Abdel Omerna ein eher niedrigstehendes Mitglied des Rats der Gesalbten. In Wirklichkeit war er der Leiter der Spionageabteilung der Kinder des Lichts. Nicht offiziell, aber de facto. »Überlegt einmal.«

Niall allerdings glaubte, die Gilde der Feuerwerker bestehe ausschließlich aus Leuten aus Tarabon, und Tarabon war mit Chaos, Wahnsinn und Anarchie infiziert. Diese Leute konnte er nicht auf Amadicia loslassen. Wenn er schon damit warten mußte, diesen Seuchenherd auszubrennen, dann konnte er ihn doch wenigstens isolieren. »Sie werden behandelt wie jeder andere, der die Grenze unerlaubt überschreitet, Omerna. Sie werden streng bewacht, ihnen ist nicht gestattet, mit irgend jemandem zu reden, und sie werden unverzüglich aus Amadicia abgeschoben.«

»Wenn ich widersprechen darf, mein kommandierender Lordhauptmann, aber ihre Dienste sind die Gerüchte wert, die sie hier vielleicht verbreiten. Sie bleiben gewöhnlich unter sich. Und ganz abgesehen von ihrem Nutzen für mein Agentennetz würde es ein beachtliches Prestige bringen, ein Gildehaus der Feuerwerker in Amador zu haben. Es wäre im Augenblick sowieso das einzige. Das Gildehaus in Cairhien wurde aufgegeben, und ich bin überzeugt, das trifft auch für jenes in Tanchico zu.«

Prestige! Niall rieb sich das linke Auge, um ein unfreiwilliges Zucken des Augenlids zu unterdrücken. Es hatte keinen Zweck, zornig auf Omernas Worte zu reagieren, aber die Zurückhaltung kostete ihn Mühe. Die Morgenhitze brachte sein Temperament langsam, aber sicher zum Überkochen. »Sie bleiben allerdings unter sich, Omerna. Sie wohnen mit den anderen ihrer Gilde zusammen, reisen gemeinsam mit ihnen und sprechen nicht mit anderen. Habt Ihr vor, Eure Agenten Mitglieder der Feuerwerker heiraten zu lassen? Sie heiraten kaum jemals außerhalb der Gilde, und es gibt keine Möglichkeit Feuerwerker zu werden, wenn man nicht in die Gilde hineingeboren wurde.«

»Ach so. Na ja, sicher läßt sich da ein Weg finden.« Nichts konnte diese Fassade von Selbstbewußtsein und Gelassenheit zum Abbröckeln bringen.

»Es wird so gemacht, wie ich gesagt habe, Omerna.« Der Mann öffnete doch tatsachlich schon wieder den Mund, aber Niall kam ihm gereizt zuvor: »Wie ich befohlen habe, Omerna! Ich will nichts mehr davon hören! Welche Neuigkeiten habt Ihr heute sonst noch für mich? Welche wichtige Neuigkeiten? Das ist Eure Aufgabe. Nicht, für Ailron Feuerwerke vorzubereiten.«

Omerna zögerte, wollte offensichtlich noch einmal für seine kostbaren Feuerwerker plädieren, aber schließlich sagte er nur bedeutungsschwanger: »Die Berichte über die Drachenverschworenen in Altara sind mehr als bloße Gerüchte, wie es scheint. Und vielleicht befinden sie sich auch schon in Murandy. Der Befall ist noch gering, wird aber wachsen. Ein harter Schlag zu dieser Zeit könnte sie und die Aes Sedai in Salidar gleichzeitig...«

»Bestimmt Ihr jetzt die Strategie der Kinder? Sammelt Informationen, aber überlaßt mir deren Gebrauch. Was habt Ihr sonst noch für mich?«

Der Mann reagierte auf den Themenwechsel mit einer gelassenen Verbeugung. Omerna beherrschte sich ausgezeichnet; das war vielleicht seine größte Stärke. »Ich habe gute Nachrichten. Mattin Stepaneos ist bereit, sich Euch anzuschließen. Er zögert noch, das bekanntzumachen, aber meine Leute in Illian berichten, daß er diesen Schritt bald unternehmen wird. Sie sagen, er sei begierig darauf.«

»Das wäre ja bemerkenswert erfreulich«, sagte Niall trocken. Bemerkenswert allerdings. Unter den Flaggen und Wimpeln in den Nischen des Raumes hing Mattin Stepaneos Flagge mit den Drei Leoparden in Silber auf Schwarz gleich neben der Königlichen Standarte Illians, den neun mit Goldfäden auf grüne Seide gestickten Bienen. Während der ›Unruhen‹ hatte sich der illianer König von Illian schließlich durchgesetzt, zumindest was den von ihm erzwungenen Vertrag betraf, mit dem die Grenze zwischen Amadicia und Altara wieder auf den ursprünglichen Verlauf festgeschrieben wurde; aber Niall bezweifelte, daß der Mann jemals vergessen würde, wie er trotz der günstigeren Ausgangsstellung und der Überzahl an Soldaten bei Soremaine geschlagen und gefangengenommen worden war. Hätten die ›Getreuen‹ Illians nicht solange standgehalten, daß der Rest des Heeres Mails Falle entkommen konnte, wäre Altara jetzt ein Lehen der Kinder des Lichts, und höchstwahrscheinlich Murandy und vielleicht sogar Illian ebenfalls. Schlimmer noch, Martin Stepaneos hatte eine Hexe aus Tar Valon zur Ratgeberin, auch wenn er diese Tatsache leugnete und sie verborgen hielt. Niall hatte ihm eine Verhandlungsdelegation geschickt, weil er nicht wagte, eine Möglichkeit auszulassen, aber wenn Mattin Stepaneos sich ihm freiwillig anschlösse, wäre das wirklich bemerkenswert. »Fahrt fort. Und faßt Euch kurz. Ich habe einen harten Arbeitstag vor mir, und Euren schriftlichen Bericht kann ich noch später durchlesen.« Trotz dieser Anweisungen gab Omerna lang und breit alles wieder, und das mit seiner klangvollen und so überzeugend klingenden Stimme. Al'Thor hatte seinen Machtbereich in Andor kaum über Caemlyn hinaus ausgedehnt. Sein blitzschnell und verheerend durchgeführter Angriffszug war nun endlich ins Stocken gekommen — und Omerna befleißigte sich hinzuzufügen, er habe das vorausgesagt. Es war nicht sehr wahrscheinlich, daß sich die Grenzlande so bald den Kindern anschließen würden, um gegen den falschen Drachen ins Feld zu ziehen. Einige Lords in Schienar, Arafel und Kandor nützten die Ruhe in der Fäule dazu aus, sich gegen ihre Herrscher zu erheben, und die Königin von Saldaea hatte sich aufs Land zurückgezogen, weil sie laut Omerna dasselbe in ihrem Land befürchtete. Seine Agenten seien aber fleißig bei der Arbeit, und man würde die Herrscher der Grenzlande schon in die Reihe bringen, wenn einmal diese kleineren Unruhen zerschlagen waren. Auf der anderen Seite seien die Herrscher von Murandy, Altara und Ghealdan bereit, sich den Kindern anzuschließen, wenn sie auch im Augenblick noch zweideutig einherreden müßten, um die Hexen von Tar Valon zu beruhigen. Alliandre von Ghealdan wußte, daß ihr Thron wackelte, und genauso sei ihr klar, wie sie die Kinder benötigte, damit sie nicht ebenso plötzlich gestürzt würde wie ihre Vorgänger. Tylin von Altara und Roedran von Murandy hofften, die Unterstützung der Kinder würde aus ihnen mehr machen als bloße Galionsfiguren. Ganz offensichtlich glaubte der Mann, Niall habe diese Länder schon in der Tasche.

Omerna schilderte die Lage innerhalb Amadicias sogar noch besser. Rekruten scharten sich in viel größerer Anzahl als früher um die Banner der Kinder. Eigentlich fiel das keineswegs in Omernas Zuständigkeit, aber er schmückte seine Berichte stets mit allen möglichen guten Nachrichten aus, die er auftreiben konnte. Der Prophet würde das Land nicht mehr lange unsicher machen. Im Augenblick beschäftige sich dieses Pack damit, im Norden Dörfer und herrschaftliche Güter zu plündern, doch bei vermehrtem Druck durch Ailrons Soldaten würden sie bestimmt nach Ghealdan zurückrennen. In den Gefängnissen sei nicht mehr viel Platz, weil man Schattenfreunde und Spione aus Tar Valon schneller festnahm, als man sie hängen konnte. Die Suche nach den Hexen aus Tar Valon hatte bisher nur in zwei Fällen zum Erfolg geführt, aber man hatte mehr als hundert Frauen verhört, und das sei ein sicheres Anzeichen für die Tüchtigkeit und Wachsamkeit der Patrouillen. Außerdem ließ der Flüchtlingsstrom aus Tarabon deutlich nach. Beweis genug, daß die Quarantänemaßnahmen immer wirksamer griffen. Diejenigen, die man aufgegriffen hatte, schob man, so schnell man sie zur Grenze schaffen konnte, wieder nach Tarabon ab. Letzteres berichtete er leicht verlegen und hastig, was angesichts seiner Dummheit in bezug auf die Feuerwerker auch kein Wunder war.

Niall hörte gerade so aufmerksam zu, um an den richtigen Stellen zu nicken. Omerna war ein fähiger Offizier gewesen, solange ihm jemand sagte, was er tun solle, aber in seiner augenblicklichen Position war diese Leichtgläubigkeit denn doch eine Zumutung. Er hatte von Morgases Tod berichtet, daß ihre Leiche gefunden und zweifelsfrei identifiziert worden sei, und diese Behauptung bis zu jenem Tag beibehalten, an dem er ihn Morgase gegenübergestellt hatte. Er hatte sich über ›Gerüchte‹ lustig gemacht, der Stein von Tear sei gefallen, und selbst heute noch leugnete er ab, die stärkste Festung der Welt könne von außen her erobert worden sein. Statt dessen bestand er darauf, es habe sich um Verrat gehandelt; ein Hochlord habe den Stein an al'Thor und Tar Valon verraten. Er bestand auch darauf, die Katastrophe bei Falme und die Unruhen in Tarabon und Arad Doman seien das Werk des Heeres von Artur Falkenflügel gewesen, das über das Aryth-Meer zurückgekehrt sei. Er war davon überzeugt, daß Siuan Sanche keineswegs abgesetzt und beseitigt worden sei. Al'Thor sei wahnsinnig und liege im Sterben. Tar Valon habe König Galldrian ermorden lassen, um absichtlich in Cairhien einen Bürgerkrieg auszulösen, und alle drei ›Tatsachen‹ hätten irgendwie mit diesen lächerlichen Gerüchten zu tun, die immer dazu passend angeblich von weit entfernten Orten stammten und in denen von Leuten die Rede war, die plötzlich in Flammen stünden, oder von Alptraumwesen, die von nirgendwoher erschienen und ganze Dörfer ausrotteten. Er sei sich noch nicht sicher, wie das alles zusammenhing, aber er arbeite an einer großartigen Theorie, die jeden Tag vollendet sein könnte, und diese Theorie werde dann alle die Intrigen der Hexen entlarven und Tar Valon in Nialls Hände liefern.

So war Omerna eben: entweder erfand er verwickelte Gründe für das Geschehene, oder er griff die auf der Straße aufgeschnappten Gerüchte auf und schluckte sie voll und ganz. Er verbrachte ganze Menge Zeit damit, Gerüchten nachzuspüren, sowohl in Herrenhäusern wie auch auf der Straße. Nicht nur, daß man ihn beobachtet hatte, wie er in Tavernen mit Jägern des Horns getrunken hatte, nein, es war ein schlecht gehütetes Geheimnis, daß er bereits riesige Summen verschleudert hatte, um nicht weniger als drei angebliche Hörner von Valere zu erwerben. Jedesmal hatte er das Ding aufs Land gebracht und tagelang darauf herumgepustet, bis selbst er zugeben mußte, daß keinerlei tote Helden der Legenden aus ihren Gräbern hergeritten waren. Trotzdem waren diese Fehlschläge keine Gewähr dafür, daß er nicht demnächst wieder eines in irgendeiner dunklen Gasse oder dem Hinterzimmer einer Taverne kaufen würde.

Man konnte es auf einen einfachen Nenner bringen: wo der Leiter eines Agentenrings selbst sein eigenes Gesicht im Spiegel in Frage stellen würde, da glaubte Omerna alles.

Schließlich war der Mann aber doch fertig, und Niall sagte: »Ich werde Eure Berichte mit der gebührenden Aufmerksamkeit studieren, Omerna. Ihr habt Eure Sache gut gemacht.« Wie der Kerl sich spreizte und seinen Waffenrock glattstrich! »Geht jetzt und schickt mir Balwer herein. Ich muß ihm einige Briefe diktieren.«

»Selbstverständlich, kommandierender Lordhauptmann. Ah.« Mitten in der Verbeugung runzelte Omerna die Stirn, faßte in die Tasche seiner weißen Unterjacke und zog eine kleine Knochenhülse heraus, die er Niall reichte. »Das ist heute morgen im Taubenschlag angekommen.« Drei dünne, rote Streifen zogen sich der Länge nach an der Hülse entlang, ein Zeichen dafür, daß sie Niall mit unbeschädigtem Wachssiegel überbracht werden mußte. Und der Mann hätte sie fast vergessen!

Omerna wartete. Zweifellos hoffte er, eine Andeutung zu erhalten, was die Hülse enthielt, doch Niall gab ihm einen Wink in Richtung der Tür. »Vergeßt Balwer nicht. Falls Mattin Stepaneos daran denkt, sich mir anzuschließen, muß ich ihm schreiben und sehen, ob ich nicht mit ein klein wenig Druck zu seiner richtigen Entscheidung beitragen kann.« Omerna hatte keine andere Wahl, als sich noch einmal zu verbeugen und zu gehen.

Als sich die Tür hinter dem Mann schloß, befühlte Niall zuerst nur die Hülse. Diese Sonderbotschaften brachten selten gute Nachrichten. Er erhob sich langsam, denn in letzter Zeit spürte er das Alter in den Knochen, und füllte einen schlichten Silberkelch mit Punsch; doch den ließ er dann auf dem Tisch stehen und öffnete statt dessen eine Mappe aus runenverziertem Leder. Sie enthielt ein einziges Blatt schweren Papiers, zerknittert und teilweise eingerissen, die Zeichnung eines Straßenkünstlers, der mit Farbkreiden zwei Männer dargestellt hatte, die in den Wolken miteinander kämpften. Der eine hatte ein Gesicht aus Feuer, der andere dunkles, rötlich schimmerndes Haar: al'Thor.

All seine Pläne, den falschen Drachen aufzuhalten, waren fehlgeschlagen, alle Hoffnungen, die Eroberungswelle des Mannes zu verlangsamen, ihn abzulenken, enttäuscht worden. Hatte er zu lange gewartet und al'Thor zu mächtig werden lassen? Falls ja, dann gab es nur einen Weg, den Mann schnell auszuschalten: das Messer im Dunklen, den Pfeil vom Dach... Wie lange konnte er es sich leisten zu warten? Sollte er riskieren, nicht länger zu warten? Überstürzte Eile konnte genauso zur Katastrophe führen wie zu langes Zögern.

»Mein Lord hat nach mir geschickt?«

Niall musterte den Mann, der so leise ins Zimmer getreten war. Seinem Aussehen nach schien es fast unmöglich, daß sich Balwer überhaupt bewegen konnte, ohne daß ein trockenes Rascheln von seinem Kommen kündete. Alles an ihm war schmal und verhärmt, die braune Jacke hing ihm von den knochigen Schultern herunter und seine Beine wirkten, als könnten sie unter seinem geringen Gewicht brechen. Er bewegte sich wie ein Vogel, der von Ast zu Ast hüpft. »Glaubt Ihr, das Horn von Valere wird tote Helden zurückrufen, um uns zu retten, Balwer?«

»Vielleicht, mein Lord«, sagte Balwer und faltete die Hände wichtigtuerisch, »Vielleicht auch nicht. Was mich betrifft, würde ich mich nicht darauf verlassen.«

Niall nickte. »Und glaubt Ihr auch. Mattin Stepaneos werde sich mir anschließen?«

»Wiederum: vielleicht. Er wird nicht als Leiche oder als Marionette enden wollen. Sein einziges Ziel ist, sich die Lorbeerkrone zu erhalten, und das Heer, das sich in Tear sammelt, dürfte ihn ganz schön ins Schwitzen bringen.« Balwer lächelte dünn; eigentlich preßte er nur die Lippen aufeinander. »Er hat offen darüber gesprochen, auf den Vorschlag meines Lords einzugehen, aber andererseits habe ich gerade erfahren, daß er in Verbindung mit der Weißen Burg steht. Anscheinend hat er sich zu irgend etwas bereit erklärt, doch ich weiß noch nicht, worum es geht.«

Die ganze Welt wußte, daß Abdel Omerna der Befehlshaber aller Spione der Kinder war. Ein solches Amt hätte natürlich geheim bleiben sollen, aber Stalljungen und Bettler zeigten schon auf der Straße auf ihn, wenn auch heimlich, damit der gefährlichste Mann in Amadicia sie nicht dabei erwischte. In Wahrheit diente dieser Narr Omerna nur zur Ablenkung, ein Dummkopf, der selbst nicht wußte, daß er in Wirklichkeit die Maske war, hinter der sich der wirkliche Meister aller Spione in der Festung des Lichts verbarg: Sebban Balwer, Nialls steifer, ausgetrockneter kleiner Sekretär mit dem mißbilligenden Zug um den Mund. Ein Mann, hinter dem niemand so etwas vermuten würde, und selbst wenn man ihn als den eigentlichen Amtsinhaber bezeichnete, würde es niemand glauben.

Wenn Omerna alles glaubte, so glaubte Balwer nichts. Vielleicht glaubte er noch nicht einmal an Schattenfreunde oder den Dunklen König. Falls Balwer irgend etwas im Sinn hatte, dann war es das Belauschen anderer. Er blickte ihnen vorzugsweise heimlich über die Schultern, lauschte ihrem Geflüster und grub ihre Geheimnisse aus. Natürlich hätte er jedem anderen Herrn genauso treu gedient wie Niall, aber das war auch gut so. Was Balwer erfuhr, war niemals von dem gefärbt, was er für die Wahrheit hielt oder was er sich wünschte. Da er nichts glaubte, war er um so besser imstande, die Wahrheit herauszufinden.

»Nichts anderes, als was ich aus Illian zu hören erwartete, Balwer, aber selbst er kann auf unsere Seite gebracht werden.« Das war auch notwendig. Es durfte einfach noch nicht zu spät sein. »Gibt es irgend etwas Neues aus den Grenzlanden?«

»Noch nicht, mein Lord. Aber Davram Bashere befindet sich in Caemlyn. Mit dreißigtausend Mann leichter Reiterei, wie meine Informanten behaupten, aber ich glaube, es sind nicht mehr als halb so viele. Er würde Saldaea nicht zu sehr schwächen, so ruhig es auch gerade in der Fäule zugeht, selbst wenn Tenobia das anordnete.«

Niall knurrte, und der Winkel seines linken Auges zuckte. Er fühlte nach der Zeichnung in der Mappe. Angeblich war es eine recht genaue Darstellung al'Thors.

Bashere in Caemlyn; das war ein guter Grund dafür, warum sich Tenobia vor seinem Abgesandten auf dem Lande verbarg.

Es gab keine guten Nachrichten aus den Grenzlanden, was auch Omerna glauben mochte. Die ›kleineren Unruhen‹, von denen Omerna berichtet hatte, waren tatsächlich unbedeutend, aber es drehte sich nicht um Rebellionen, wie der Mann glaubte. Überall an der Grenze der Fäule stritten die Menschen darüber, ob al'Thor nur ein weiterer falscher Drache sei oder der Wiedergeborene Drache selbst. Da die Leute dort nun einmal sehr heftig waren, arteten diese Streitigkeiten gelegentlich in Kämpfe aus, aber nur in einem geringen Umfang. Das hatte in Schienar angefangen, ungefähr zu der Zeit, als der Stein von Tear fiel. Und dies war wohl die Bestätigung dafür, daß die Hexen in diese Sache verwickelt waren. Wie das alles ausgehen würde, konnte Balwer im Moment auch nicht voraussagen.

Daß sich al'Thor nach wie vor auf Caemlyn beschränkte, war eines der wenigen Dinge, in denen Omerna recht hatte. Aber warum blieb er dort, wo er doch Bashere und die Aiel und die Hexen zur Verstärkung hatte? Nicht einmal Balwer hatte ihm diese Frage beantworten können. Doch welchen Grund das auch immer haben mochte, dem Licht sei Dank dafür! Sicher, die Banden des Propheten hatten sich eingeschlichen, um den Norden Amadicias zu plündern, aber sie schienen ihre Eroberungen lediglich halten zu wollen und töteten jeden, der sich weigerte, sich zum Propheten des Drachen zu bekennen. Andere wurden in die Flucht geschlagen.

Ailrons Soldaten hatten ihren Rückzug beendet, aber nur, weil der verfluchte Prophet seinen Vormarsch beendet hatte. Alliandre und die anderen, von denen Omerna überzeugt war, sie würden sich Niall anschließen, waren in Wirklichkeit noch unentschlossen und hielten seine Abgesandten mit durchsichtigen Ausreden hin. Er vermutete, sie hätten ebensowenig Ahnung, was sie tun sollten, wie er selbst.

An der Oberfläche schien sich im Augenblick alles für al'Thor günstig zu entwickeln, abgesehen von dem, was ihn in Caemlyn festhielt, aber Niall war schon immer am gefährlichsten gewesen, wenn er mit dem Rücken zur Wand stand.

Falls man den Gerüchten Glauben schenken konnte, leistete Carridin in Altara und Murandy gute Arbeit, wenn er auch nicht so schnell vorankam, wie es Niall lieb gewesen wäre. Die Zeit war ebenso sein Feind wie al'Thor oder die Weiße Burg. Vielleicht wurde es Zeit, Gerüchte über die ›Drachenverschworenen‹ in Andor zu verbreiten. Möglicherweise auch in Illian. Wenn allerdings das Heer, das sich in Tear sammelte, noch nicht ausreichte, um Mattin Stepaneos auf seine Seite zu bringen, würden Überfälle auf ein paar Bauernhöfe und Dörfer auch nicht viel bewirken. Die Stärke dieses Heeres erschreckte Niall; und sei es auch nur halb so stark wie Balwer berichtete, oder auch nur ein Viertel, würde es ihn immer noch erschrecken. So etwas hatte die Welt seit den Tagen Artur Falkenflügels nicht mehr erlebt. Es konnte auch geschehen, daß ein solches Heer die Menschen nicht dazu brachte, sich aus Angst Niall anzuschließen, sondern statt dessen unter dem Drachenbanner mitzumarschieren. Hätte er nur ein Jahr, ein halbes Jahr mehr Zeit, dann wollte er mit al'Thors gesamtem Heer aus Narren und Schurken und Aielwilden fertig werden.

Natürlich war keineswegs alles verloren. Nichts war jemals verloren, solange man am Leben war. Tarabon und Arad Doman waren für al'Thor und die Hexen genauso wertlos wie für ihn, zwei Schlangengruben, und nur ein Narr würde die Hand dort hineinstecken, bevor sich die Schlangen nicht gegenseitig umgebracht hatten. Falls Saldaea für ihn verloren war, was er im Augenblick noch keineswegs als sicher annahm, dann schwankten Schienar und Arafel und Kandor noch immer, und ein kleiner Stoß konnte sie aus dem Gleichgewicht bringen. Falls Mattin Stepaneos zwei Pferde gleichzeitig reiten wollte, und das hatte ihm immer schon gefallen, mußte man ihn eben zwingen, sich für das richtige zu entscheiden. Altara und Murandy würde man schon auf die richtige Seite schubsen, während Andor sich ohnehin gegen seine Hand zur Wehr setzen würde, ob er nun der Meinung war, es sei am besten, ihnen Carridins Peitsche zu spüren zu geben, oder nicht. In Tear hatten Balwers Agenten Tedosian und Estanda dazu bewegt, sich Darlin anzuschließen und aus dem vorher gezeigten Trotz eine wirkliche Rebellion zu machen, und der Mann war sicher, in Cairhien und in Andor das gleiche anzetteln zu können. Noch ein Monat oder höchstens zwei, dann war Eamon Valda von Tar Valon zurück. Niall wäre auch ohne Valda ausgekommen, aber so hatte er die große Mehrheit der Streitkräfte der Kinder an einem Fleck versammelt und konnte sie einsetzen, wo sie am meisten auszurichten imstande waren.

Ja, eine ganze Menge sprach durchaus für ihn. Nichts Bestimmtes vielleicht, aber es hatte sich doch einiges herauskristallisiert. Zeit war alles, was er benötigte.

Ihm wurde bewußt, daß er nach wie vor die Hülse in der Hand hielt. So brach er das Wachssiegel mit einem Daumennagel auf und holte vorsichtig die dünne Papierrolle aus dem Inneren hervor.

Balwer sagte nichts dazu und preßte lediglich die Lippen erneut aufeinander, doch diesmal war es nicht als Lächeln gemeint. Mit Omerna kam er zurecht, da er den Mann als den Narren kannte, der er nun einmal war, und weil er es ohnehin vorzog, selbst im verborgenen zu arbeiten; aber es paßte ihm nicht, wenn Niall Berichte erhielt, die er nicht zuvor gesehen hatte, und das von Männern, die er nicht kannte.

Eine winzige Kritzelschrift bedeckte den Zettel, und zwar in einem Code geschrieben, den nur wenige kannten und außer Niall niemand hier in Amador. Ihm fiel es genauso leicht, das zu lesen, wie seine eigene Handschrift. Das Zeichen am Ende allerdings ließ ihn doch die Augen aufreißen, ebenso wie der Inhalt. Varadin war einer der besten unter seinen persönlichen Agenten, oder war es gewesen, ein Teppichhändler, der ihm bereits während der ›Unruhen‹ gute Dienste geleistet hatte, als er seine Waren in Altara, Murandy und Illian verkauft hatte. Was er dabei verdient hatte, ermöglichte es ihm, sich als reicher Händler in Tanchico niederzulassen, wo er regelmäßig kostbare Teppiche und Weine an die Paläste des Königs und des Panarchen lieferte und den meisten Adligen des Hofstaats, und immer hielt er dort die Augen und Ohren weit offen. Niall hatte geglaubt, er sei längst bei dem Aufruhr in Tanchio ums Leben gekommen. Nun erhielt er die erste Nachricht von dem Mann seit einem Jahr. Dem Inhalt seiner Botschaft nach zu urteilen, wäre Varadin allerdings besser bereits ein Jahr lang tot gewesen. In der krakeligen Schrift eines Mannes am Rande des Irrsinns faselte er wilde Dinge von Männern, die auf fremdartigen Kreaturen ritten, von fliegenden Geschöpfen, von Aes Sedai an der Leine und von der Hailene. In der Alten Sprache bedeutete das soviel wie ›Vorfahren‹, aber Varadin bemühte sich nicht einmal, zu erklären, wieso er sich davor fürchtete oder was das alles eigentlich bedeuten sollte. Offensichtlich hatte das Gehirn des Mannes darunter gelitten, daß er zusehen mußte, wie sein Land um ihn herum im Chaos versank.

Verärgert zerknüllte Niall den Zettel und warf ihn weg. »Zuerst muß ich mir Omernas idiotische Berichte anhören, und nun dies. Was habt Ihr noch für mich, Balwer?« Bashere! Die Lage könnte sich sehr unangenehm entwickeln, wenn Bashere al'Thors Heer führte. Der Mann hatte sich seinen Ruf ehrlich verdient. Ein Dolch im Schatten für ihn?

Balwers Blick lag unbeirrt auf Nialls Gesicht, aber Niall war klar, daß dieses winzige Papierknäuel auf dem Boden in den Händen des Mannes landen würde, wenn er es nicht verbrannte. »Vier Dinge, die von Bedeutung sein könnten, mein Lord. Das letzte zuerst: Die Gerüchte über die Treffen von Abgesandten der Ogier-Stedding entsprechen der Wahrheit. Für Ogier scheinen sie sich entschieden hastig zu verhalten.« Natürlich sagte er nicht, worüber die Ogier miteinander berieten, denn es war genauso unmöglich, einen Menschen in einen Ogierstumpf zu bringen, wie einen Ogier als Spion zu gewinnen. Es wäre leichter, die Sonne dazu zu bringen, bei Nacht aufzugehen. »Außerdem befindet sich eine außergewöhnliche Anzahl von Schiffen des Meervolks in den Hafenstädten im Süden. Sie nehmen keine Ladung an Bord und sie segeln auch nicht weiter.«

»Worauf warten sie?«

Einen Moment lang spannten sich Balwers Lippen, als habe ein unsichtbarer Marionettenspieler die Drähte angezogen. »Ich weiß es noch nicht, mein Lord.« Balwer hatte es noch nie gepaßt, zugeben zu müssen, daß er irgendwelche menschlichen Geheimnisse nicht herausbekommen konnte. Doch wenn man versuchte, mehr als nur die Vorgänge an der Oberfläche bei den Atha'an Miere herauszufinden, war das, als wolle man von der Gilde der Feuerwerker erfahren, wie man Feuerwerkskörper anfertigt. Vergebliche Liebesmüh. Wenigstens würden die Ogier irgendwann bekanntmachen, was sie auf ihren Zusammenkünften beschlossen hatten.

»Fahrt fort.«

»Die weniger wichtige Neuigkeit ist dafür ... eigenartig, mein Lord. Es gibt verläßliche Berichte, daß al'Thor in Caemlyn, in Tear und in Cairhien gesehen wurde, manchmal sogar am gleichen Tag.«

»Verläßlich? Verläßlicher Wahnsinn! Die Hexen verfügen wahrscheinlich über zwei oder drei Männer, die wie al'Thor aussehen, jedenfalls ähnlich genug, um jeden zu täuschen, der ihn nicht kennt. Das würde eine Menge erklären.«

»Vielleicht, mein Lord. Aber meine Informanten sind verläßlich.«

Niall klappte die Ledermappe zu und verbarg auf diese Weise al'Thors Gesicht. »Und die interessanteste Neuigkeit?«

»Sie stammt aus zwei Quellen in Altara — zuverlässigen Quellen, mein Lord — und sie besagt, daß die Hexen in Salidar behaupten, die Roten Ajah hätten Logain dazu gebracht, den falschen Drachen zu spielen. Sie hätten ihn beinahe selbst erschaffen. Sie haben Logain in Salidar —oder einen Mann, von dem sie behaupten, er sei Logain —und führen ihn Adligen vor, die sie dorthin bringen. Ich habe keinen Beweis, aber ich vermute, sie erzählen allen Herrschern, mit denen sie Verbindung aufnehmen, die gleiche Geschichte.«

Mit gerunzelter Stirn betrachtete Niall die Flaggen in den Nischen des Raums. Es waren die Banner von Feinden aus beinahe jedem Land. Niemand hatte ihn je zum zweiten Mal besiegt und nur wenige überhaupt einmal. Jetzt waren die Flaggen alle gezeichnet vom Alter. Wie er. Doch er war noch nicht zu alt, um nicht dafür zu sorgen, daß zu Ende geführt wurde, was er begonnen hatte. Jede Flagge war in einer blutigen Schlacht errungen worden, wo man nie wußte, was außerhalb des eigenen Sichtbereichs geschah, wo der sichere Sieg genauso kurzlebig sein konnte wie die Niederlage. Die schlimmste Schlacht, die er je ausgefochten hatte — als die Heere mitten in der Nacht in der Nähe von Moisen aneinandergeraten waren, während der Zeit der ›Unruhen‹ —, war klar wie ein schöner Sommertag verlaufen, wenn man sie mit der verglich, in der er sich jetzt befand.

Hatte er sich geirrt? War die Burg wirklich auseinandergebrochen? Irgendeine Auseinandersetzung zwischen den Ajahs? Ging es um Al'Thor? Wenn die Hexen untereinander um die Vorherrschaft kämpften, würden viele der Kinder des Lichts Carridins Lösung unterstützen, nämlich in Salidar zuzuschlagen und so viele Hexen wie möglich zu vernichten. Männer, die sich einbildeten, wenn sie an morgen dachten, dann dächten sie voraus, aber an die nächste Woche oder den nächsten Monat oder gar das nächste Jahr dachten sie nicht. Valda beispielsweise. Vielleicht war es ganz gut, daß er Amador noch nicht erreicht hatte. Und zum anderen Rhadam Asunawa, der Hochinquisitor der Zweifler. Valda wollte immer gleich mit der Axt dreinschlagen, auch wenn ein Dolch für die zu erledigende Aufgabe besser geeignet war. Asunawa hätte am liebsten gesehen, daß man jede Frau schon vorgestern aufgehängt hätte, die auch nur eine Nacht in der Weißen Burg verbrachte. Jedes Buch, in dem die Aes Sedai oder die Eine Macht erwähnt wurde, sollte verbrannt werden. Selbst diese Bezeichnungen wollte er verbieten lassen. Asunawa dachte nie an etwas anderes als diese Ziele, und es war ihm einerlei, welchen Preis ihr Erreichen fordern würde. Niall hatte zu hart gearbeitet, zuviel aufs Spiel gesetzt, um zu gestatten, daß dies in den Augen der Welt zu einer reinen Auseinandersetzung zwischen den Kindern und der Burg wurde.

In Wirklichkeit spielte es keine Rolle, ob er sich irrte oder nicht. Und wenn er sich irrte, konnte das sogar zu einem Vorteil gereichen. Vielleicht war es sogar besser, als jetzt recht zu haben. Mit ein bißchen Glück mochte es sein, daß er der Weißen Burg unheilbaren Schaden zufügte und die Hexen so gegeneinander aufbrachte, daß man sie anschließend leicht zu Staub zermalmen konnte. Dann würde auch al'Thor ins Wanken kommen, wobei er aber immer noch als Bedrohung galt und man ihn so zum Köder machen konnte. Und er konnte sich eng an die Wahrheit halten. Ziemlich eng jedenfalls.

Ohne den Blick von den Flaggen zu wenden, sagte er: »Die Spaltung in der Burg ist durchaus im Bereich des Möglichen. Die Schwarzen Ajah haben sich erhoben, die Sieger halten die Burg, und die Verlierer wurden vertrieben und lecken in Salidar ihre Wunden.« Er sah Balwer an und hätte fast gelächelt. Eines der Kinder hätte widersprochen, es gebe keine Schwarzen Ajah, oder die Hexen seien sowieso alles Schattenfreunde. Selbst der unerfahrenste Rekrut hätte das erwidert. Balwer blickte ihn lediglich an, und das keineswegs so, als habe er eine Blasphemie an allem, wofür die Kinder standen, begangen. »Wir müssen lediglich entscheiden, ob nun die Schwarzen Ajah gewonnen oder verloren haben. Ich glaube, sie haben gewonnen. Die meisten Leute werden diejenigen als die echten Aes Sedai betrachten, die die Weiße Burg beherrschen. Laßt sie die wirklichen Aes Sedai für Mitglieder der Schwarzen Ajah halten. Al'Thor ist ein Geschöpf der Burg, ein Vasall der Schwarzen Ajah.« Er hob seinen Weinkelch vom Tisch und nippte daran. Es half auch nicht gegen die Hitze. »Vielleicht kann ich irgendwie einen Grund dafür finden, daß ich bisher nicht gegen Salidar vorgegangen bin.« Seine Abgesandten hatten verbreitet, er sei nicht gegen Salidar vorgegangen, weil er die Bedrohung durch al'Thor so ernst nahm; er sei gewillt, die Hexen auch an der Schwelle Amadicias zusammenkommen zu lassen, anstatt sich von der Gefahr durch den falschen Drachen ablenken zu lassen. »Die Frauen dort, nach all diesen Jahren das Chaos ... weil die Schwarzen Ajah überall zu finden sind, und endlich von dem Bösen abgestoßen, in das sie verwickelt waren...« Sein Erfindungsreichtum versagte — sie zählten schließlich alle zu den Schattenfreunden und konnten wohl kaum von etwas Bösem abgestoßen werden — doch einen Augenblick später nahm Balwer den Faden auf.

»Vielleicht haben sie sich entschlossen, meinen Lord um Gnade anzuflehen und ihn sogar um seinen Schutz zu bitten. Die Verlierer in einem Machtkampf, schwächer als ihre Feinde und voller Angst, ganz unterdrückt zu werden... Ein Mann, der von einer Klippe in den sicheren Tod stürzt, wird die Hand auch dem ärgsten Gegner hinstrecken. Vielleicht...« Balwer legte nachdenklich einen knochigen Finger auf die Lippen. »Womöglich sind sie bereit, für ihre Sünden Buße zu tun und ihre Zugehörigkeit zu den Aes Sedai zu widerrufen?«

Niall sah ihn mit großen Augen an. Er vermutete, gerade die Sünden der Hexen von Tar Valon gehörten zu den Dingen, an die Balwer nicht glaubte. »Das ist absurd«, sagte er kalt. »Diese Art von Aussagen erwarte ich eher von Omerna.«

Die Miene seines Sekretärs blieb so steif und unergründlich wie immer, aber er begann, die Hände zu ringen, wie er es zu tun pflegte, wenn er beleidigt war. »Was mein Lord von Omerna zu hören erwartet. Aber genau diese Reden werden dort geführt, wo er die Leute belauscht, nämlich auf den Straßen und wo die Adligen beim Wein miteinander klatschen. Dort lacht man niemals über etwas so Absurdes. Im Gegenteil, man hört zu. Was zu absurd ist, wird gerade geglaubt, weil es eben zu absurd ist, um erlogen zu sein.«

»Wie wollt Ihr ihnen das beibringen? Ich werde doch kein Gerücht in die Welt setzen, daß die Kinder mit den Hexen zusammenarbeiten!«

»Es wäre lediglich ein Gerücht, mein Lord.« Nialls Blick wurde härter, und Balwer spreizte die Hände.

»Wie mein Lord wünscht. Jedesmal, wenn es weitererzählt wird, schmückt man ein solches Gerücht aus. Also hat eine ganz einfache Geschichte die besten Chancen, wenigstens im Kern erhalten zu bleiben. Ich schlage vier Gerüchte vor, mein Lord, nicht nur eines. Das erste: Die Spaltung der Burg wurde durch einen Aufstand der Schwarzen Ajah hervorgerufen. Das zweite:

Die Schwarzen Ajah haben gewonnen und beherrschen die Burg. Das dritte: Die Aes Sedai in Salidar, von den Ereignissen aufgeschreckt und abgestoßen, widerrufen ihre Eide als Aes Sedai. Und das vierte: Sie haben sich an Euch gewandt und um Eure Gnade und Euren Schutz gebeten. Für die meisten Leute wird es so aussehen, ab bestätige ein Gerücht das andere.« Balwer zupfte an seinen Ärmchen und lächelte selbstzufrieden.

»Sehr gut, Balwer. Macht es so.« Niall nahm einen kräftigen Zug von seinem Wein. Die Hitze ließ ihn sein Alter spüren, seine Knochen erschienen ihm spröde. Aber er mochte lange genug leben, um zu sehen, wie der falsche Drache gestürzt und die Welt vereinigt würde, um gemeinsam in Tarmon Gai'don zu gehen. Und sollte er auch nicht mehr leben und sie selbst in die Letzte Schlacht führen, würde ihm das Licht doch wenigstens soviel gewähren. »Ich will, daß man Elayne Trakand und ihren Bruder Gawyn findet und nach Amador bringt. Sorgt dafür. Ihr dürft mich jetzt verlassen.«

Balwer zögerte jedoch. »Mein Lord weiß, daß ich niemals ein bestimmtes Vorgehen vorschlage.«

»Aber jetzt wollt Ihr das tun? Also sprecht.«

»Übt Druck auf Morgase aus, mein Lord. Mehr als ein Monat ist vergangen, und sie überlegt sich immer noch den Vorschlag meines Lords. Sie...«

»Genug, Balwer.« Niall seufzte. Manchmal wünschte er sich, Balwer stamme nicht aus Amadicia, sondern aus Cairhien und habe dort schon mit der Muttermilch das Spiel der Häuser in sich aufgenommen. »Morgases Wohlergehen hängt von Tag zu Tag mehr von mir ab, was immer sie selbst auch glaubt. Ich hätte es lieber gesehen, wenn sie mein Angebot sofort angenommen hätte, dann hätte ich Andor noch heute gegen al'Thor in den Kampf schicken können, und ein starkes Heer der Kinder hätte sie unterstützt. Aber jeder Tag, den sie als mein Gast hier verbringt, bindet sie noch fester an mich. Schließlich wird ihr klar werden, daß sie mit mir verbündet ist, weil die Welt genau das glaubt, und sie ist so in mein Netz verwickelt, daß sie sich nicht mehr daraus befreien kann. Und dann kann niemand jemals behaupten, ich hätte sie zu etwas gezwungen, Balwer. Das ist wichtig. Es ist immer schwieriger, sich aus einem Bündnis zu lösen, von dem alle glauben, man sei es freiwillig eingegangen, als aus einem, zu dem man gezwungen wurde. Hirnlose Eile führt nur in den Untergang, Balwer.«

»Wie mein Lord meinen.«

Niall entließ ihn mit einer kurzen Handbewegung, und der Mann verbeugte sich im Hinausgehen. Balwer verstand nichts. Morgase war eine geschickte Gegnerin in diesem Spiel Übte er zuviel Druck aus, würde sie sich gegen ihn wenden und sich wehren, ganz gleich, welche Folgen ihr drohten. War der Druck aber gerade richtig, würde sie den Gegner bekämpfen, den sie vor sich sah, und die Falle gar nicht bemerken, die er um sie herum aufbaute, bis es zu spät war. Die Zeit lastete auf ihm, all die Jahre seines Lebens, all die Monate, die er so verzweifelt benötigte, aber er würde seine Pläne nicht durch unnötige Hast selbst zu Fall bringen.

Der herabstoßende Falke schlug die große Ente in einer Wolke von Federn. Dann trennten sich die beiden Vögel wieder, und die Ente fiel schwerfällig hinab. Der Falke blieb fast in der Luft stehen und stieß dann erneut auf die fallende Beute herab, packte sie mit den Klauen. Das Gewicht der Ente hing schwer an ihm —nein, ihr; es war ein Falkenweibchen — aber sie flatterte rasch auf die Menschen zu, die unter ihr warteten.

Morgase fragte sich, ob sie dem Falken ähnlich sei: zu stolz und zu zielstrebig, um zu erkennen, daß sie sich an einer Beute festklammerte, die zu schwer war für ihre Schwingen. Sie bemühte sich, ihre Hände in den festen Handschuhen ein wenig von den Zügeln zu lösen, die sie verkrampft festhielt. Ihr breitkrempiger Hut mit den langen weißen Federn bot ihr ein wenig Schutz vor der unbarmherzigen Sonne, aber auf ihrem Gesicht stand trotzdem der Schweiß. In ihrem grünseidenen und goldbestickten Reitkleid wirkte sie nicht wie eine Gefangene.

Die langgezogene Weide mit dem vertrockneten braunen Gras war von Berittenen und anderen zu Fuß bevölkert. Eine Gruppe Musikanten in weißumsäumten blauen Wappenröcken mit Flöten, Zithern und Trommeln spielte eine beschwingte Melodie, die zu diesem Nachmittag und dem eisgekühlten Wein paßte. Ein Dutzend Falkner in langen, kunstvoll gearbeiteten Lederwesten über den bauschigen weißen Hemden streichelten die Falken mit den Häubchen auf den Köpfen, die sie auf den schweren Handschuhen trugen, oder sie pafften an kurzstieligen Pfeifen und bliesen ganze Wolken blauen Rauchs ihren Vögeln zu. Bunt gekleidete Diener gingen mit schwerbeladenen Tabletts herum und boten Obst an und Wein in Goldpokalen. Dazu kamen eine Reihe von Männern in schimmernden Rüstungen, die die Weide in geringem Abstand vor den meist kahlen Bäumen umstanden. Alles natürlich, um Morgase und ihrem ›Hofstaat‹ zu helfen und sie bei ihrer Beizjagd zu ›beschützen‹.

Nun ja, so lautete eben die offizielle Begründung, obwohl sich die Leute des Propheten gute zweihundert Meilen im Norden befanden und sich so nahe bei Amador bestimmt keine Räuber blicken ließen. Und trotz der Frauen, die sich auf ihren Stuten und Wallachen um sie scharten, angetan mit bunten Reitkleidern und breitkrempigen Hüten mit farbigen Federn, das Haar zu langen Locken gebrannt, wie es am Hof Amadicias gerade Mode war, bestand Morgases Gefolge in Wirklichkeit nur aus zwei Männern: Basel Gill, der sich plump und ungeschickt auf seinem Roß zur Seite verdrückt hatte und dessen Lederwams mit den aufgenähten Metallscheiben sich um seinen Bauch über dem rotseidenen Rock spannte, den sie ihm besorgt hatte, damit die Diener nicht besser aussahen als er, und Paitr Conel, der in seiner rotweißen Pagenuniform noch deplazierter wirkte und noch immer genauso nervös war wie damals, als sie ihm eröffnet hatte, er werde in ihrem Gefolge mitkommen. Die Frauen waren Adlige aus Ailrons Hofstaat, ›Freiwillige‹, die Morgase als Hofdamen dienen sollten. Der arme Meister Gill fühlte nach seinem Schwert und beäugte die Weißmantel- Wächter mit trostlosem Blick. Denn sie waren Wächter, obwohl sie gewöhnlich ihre weißen Umhänge nicht angelegt hatten, wenn sie mit Morgase aus der Festung des Lichts ritten. Wenn sie zu weit wegritt oder zu lange ausbleiben wollte, kam ihr Kommandant, ein junger Mann namens Norowhin mit harten Augen, der es nicht leiden konnte, etwas anderes als einen Weißmantel darzustellen, und ›schlug vor‹, sie sollten nach Amador zurückkehren, weil die Hitze zu stark werde oder weil plötzlich ein Gerücht aufgetaucht war, Banditen hielten sich in der Gegend auf. Man konnte sich nicht mit fünfzig Mann herumstreiten und dabei die Würde bewahren. Beim ersten Mal hätte Norowhin ihr fast die Zügel aus der Hand gerissen. Das war der Grund dafür, warum sie sich auf diesen Ritten niemals von Tallanvor begleiten ließ. Dieser junge Narr würde ihre Ehre und ihre Rechte noch verteidigen, und wenn er hundert Mann gegen sich härte. So verbrachte er seine freie Zeit damit, mit dem Schwert zu üben, als erwarte er, ihr den Weg in die Freiheit damit bahnen zu müssen.

Überraschend streichelte ihr eine plötzliche Brise über das Gesicht, und sie bemerkte erst jetzt, daß Laurain sich aus dem Sattel gebeugt hatte und ihr mit einem weißen Spitzenfächer Luft zufächelte. Laurain war eine schlanke junge Frau mit dunklen Augen, die ein wenig zu nahe beieinander standen. Außerdem trug sie ständig ein gekünsteltes Lächeln zur Schau. »Es muß so wundervoll für Ihre Majestät sein, zu erfahren, daß Euer Sohn sich den Kindern des Lichts angeschlossen hat. Und daß er so schnell im Rang aufgestiegen ist!«

»Das sollte nicht weiter überraschen«, sagte Altalin und fächelte ihrem runden Gesicht Luft zu. »Der Sohn Ihrer Majestät steigt selbstverständlich schnell auf, so wie die Sonne in ihrer Pracht.« Sie genoß das beifällige Murmeln einiger der anderen Frauen ob ihres mühseligen Bonmots.

Morgase behielt mit Mühe eine ruhige Miene bei. Nialls Nachricht, die er ihr bei einem seiner unangekündigten Besuche gestern abend überbracht hatte, hatte sie denn doch überrascht. Galad als Weißmantel! Wenigstens befand er sich in Sicherheit, wie Niall gesagt hatte. Aber er sei nicht in der Lage, sie zu besuchen, denn die Pflichten eines Kindes des Lichts hielten ihn davon ab. Doch ganz sicher würde er zu ihrer Eskorte gehören, wenn sie an der Spitze eines Heeres der Kinder nach Andor zurückkehrte.

Nein, Galad war nicht sicherer als Elayne oder Gawyn. Vielleicht sogar noch weniger. Das Licht gebe, daß sich Elayne in der Burg in Sicherheit befinde. Das Licht gebe, daß Gawyn am Leben sei. Niall behauptete, er wisse nicht, wo sich Gawyn aufhalte; jedenfalls sei er nicht in Tar Valon. Galad war das Messer an ihrer Kehle. Niall wäre niemals plump genug, um das auch nur anzudeuten, aber ein einfacher Befehl seinerseits konnte Galad an einen Ort schicken, an dem er mit Sicherheit ums Leben käme. Der einzige Umstand, der in seinem Fall einen Schutz darstellte, war Nialls Meinung, ihr liege nicht soviel an ihm wie an Elayne und Gawyn.

»Es freut mich für ihn, wenn es das ist, was er will«, sagte sie in gleichgültigem Plauderton zu ihnen. »Aber er ist Taringails Sohn und nicht meiner. Die Hochzeit mit Taringail war eine politische Angelegenheit, müßt Ihr wissen. Seltsam, er ist nun schon solange tot, daß ich mich kaum an sein Gesicht erinnern kann. Galad kann tun und lassen, was er will. Gawyn wird Erster Prinz des Schwertes, wenn Elayne mir auf dem Löwenthron nachfolgt.« Sie winkte einem Diener ab, der ihr einen Weinpokal auf einem Tablett anbot. »Niall hätte uns wenigstens mit einem anständigen Wein versorgen können.« Eine Welle ängstlichen Geschnatters antwortete ihr. Sie war halbwegs erfolgreich darin gewesen, diese Frauen etwas enger an sie zu binden. Trotzdem nahmen sie natürlich eine mögliche Herausforderung Pedron Nialls ernst, denn so etwas konnte Folgen haben. Morgase nutzte aber jede Gelegenheit, in ihrer Gegenwart solche Dinge zu sagen. Das überzeugte sie von ihrem Mut, was wiederum wichtig werden konnte, wollte sie wenigstens eine gewisse Loyalität in ihnen erwecken. Und noch wichtiger, zumindest für ihr Selbstwertgefühl: es half, die Illusion aufrechtzuerhalten, daß sie nicht Nialls Gefangene sei.

»Wie ich hörte, zeigt Rand al'Thor den Löwenthron vor wie eine Jagdtrophäe.« Das war Marande, eine hübsche Frau mit herzförmigem Gesicht, etwas älter als die anderen. Als Schwester des Hochsitzes des Hauses Algoran war sie selbst recht einflußreich, vielleicht sogar mächtig genug, um Ailron zu widerstehen, aber nicht Niall. Die anderen ließen ihre Pferde zur Seite ausweichen, damit sie auf ihrem braunen Wallach näher zu Morgase reiten konnte. Es stand überhaupt nicht zur Debatte, ihre Loyalität oder gar Freundschaft zu gewinnen.

»Das habe ich auch gehört«, antwortete Morgase unbekümmert. »Es ist gefährlich, einen Löwen zu jagen, und beim Löwenthron trifft das noch mehr zu. Besonders bei einem Mann. Er tötet stets die Männer, die ihn erringen wollen.«

Marande lächelte. »Ich hörte auch, daß er Männern hohe Ämter verleiht, die mit der Macht umgehen können.«

Das rief unter den anderen Frauen unsichere Blicke hervor und ein besorgtes Gemurmel. Eine der jüngeren Frauen, Marewin, zierlich und fast noch ein Mädchen, wankte auf ihrem glücklicherweise vorn und hinten hochgezogenen Sattel, als sei sie einer Ohnmacht nahe. Die Nachricht von al'Thors Amnestie hatte furchterregende Geschichten hervorgerufen, nur Gerüchte natürlich, wie Morgase mit aller Macht hoffte. Das Licht gebe, daß es sich bei alledem nur um Gerüchte handle: Männer, die mit der Macht umgehen konnten und sich nun in Caemlyn versammelten, den Königlichen Palast unsicher machten und die Stadt in Angst und Schrecken versetzten...

»Ihr vernehmt eine ganze Menge«, sagte Morgase. »Verbringt Ihr eure ganze Zeit damit, an Türritzen zu lauschen?«

Marandes Lächeln verstärkte sich. Sie war nicht in der Lage gewesen, dem Druck, eine von Morgases Hofdamen zu spielen, zu widerstehen, aber sie war auch stolz genug, um ihr Mißvergnügen eindeutig und ohne jede Furcht kundzutun. Sie war wie ein Dorn, der tief in ihrem Fuß steckte, ein Herausziehen war nicht möglich, und bei jedem Schritt spürte sie einen scharfen Stich. »Ich habe durch das Vergnügen, Ihrer Majestät zu dienen, nur wenig Zeit zum Lauschen übrig, doch ich bemühe mich, alle nur möglichen Neuigkeiten aus Andor aufzuschnappen, damit ich mich mit Ihrer Majestät darüber unterhalten kann. Wie ich höre, trifft der falsche Drache täglich mit den Adligen Andors zusammen. Mit Lady Arymilla und Lady Naean, Lord Jarin und Lord Lir und anderen ihrer Freunde.«

Einer der Falkner hob einen schlanken, grauen Vogel mit schwarzen Schwingen und einer Haube über dem Kopf zu Morgase hoch. Silberglöckchen an den Halteriemen des Falken bimmelten leise, als der Vogel sein Gewicht auf dem Handschuh des Falkners verlagerte.

»Ich danke Euch, aber für heute habe ich genug von der Jagd«, sagte Morgase zu ihm, dann erhob sie die Stimme: »Meister Gill, ruft die Eskorte zusammen. Ich kehre in die Stadt zurück.«

Gill fuhr zusammen. Er wußte recht gut, daß er nur dazu da war, um hinter ihr herzureiten, aber nun begann er damit, zu winken und den Weißmänteln Befehle zuzurufen, als glaube er im Ernst, sie würden ihm gehorchen. Was sie selbst betraf, ließ Morgase ihre schwarze Stute auf dem Fuß wenden. Natürlich ließ sie das Tier nicht schneller als im versammelten Schritt weitergehen. Norowhin wäre wie der Blitz zugegen gewesen, hätte er die Möglichkeit ins Auge gefaßt, sie wolle entkommen.

Aber auch so galoppierten die Weißmäntel — ganz ohne ihre gewohnten weißen Umhänge — heran und bildeten eine Eskorte, bevor die Stute auch nur zehn Schritte zurückgelegt hatte, und noch vor Erreichen des Rains um die Weide war Norowhin an ihrer Seite, ein Dutzend Männer voraus und der Rest nicht weit hinter ihm. Die Diener und Musiker und Falkner ließen sie zurück. Sie sollten alles zusammenpacken und ihnen dann folgen, so schnell es ihnen möglich war.

Gill und Paitr nahmen ihre Plätze gleich hinter ihr ein, und die Hofdamen folgten ihnen. Marande trug ihr Lächeln nun wie ein Zeichen des Triumphs zur Schau. Allerdings hatten ein paar der anderen die Stirnen mißbilligend gerunzelt. Nicht zu deutlich natürlich, denn auch wenn die Frau sich Niall beugen mußte, besaß sie doch genug Macht in Amadicia, um sie Vorsicht walten zu lassen, aber immerhin bemühten sich die meisten, ihre unerwünschte Aufgabe dennoch gut zu erfüllen. Der größere Teil hätte wahrscheinlich sogar Morgase freiwillig und gern gedient, aber sie wohnten nur äußerst ungern in der Festung des Lichts.

Morgase hätte gelächelt, wäre sie sicher gewesen, daß Marande es nicht sehen könnte. Der einzige Grund, warum sie nicht schon vor Wochen darauf bestanden hatte, die Frau wegzuschicken, war deren loses Mundwerk gewesen. Marande genoß es, bei ihr zu sticheln, wie sehr Andor doch ihrem Zugriff entglitten sei, aber die Namen, die sie zu diesem Zweck ausgewählt hatte, waren Balsam auf Morgases Seele. Alles Männer und Frauen, die sich während der Auseinandersetzung um die Thronfolge gegen sie gestellt hatten, alles Speichellecker Gaebrils. Von ihnen erwartete sie genau das und nicht mehr. Hätte Marande andere erwähnt, wäre das Ergebnis ganz anders ausgefallen. Lord Pelivar oder Abelle oder Luan, Lady Arathelle oder Ellorien oder Aemlyn und andere. Die waren aber bei Marandes Sticheleien niemals aufgetaucht, und ganz gewiß hätte die Frau ihre Namen erwähnt, wäre aus Andor auch nur der Hauch irgendeines Gerüchts über sie aufgetaucht. Solange Marande sie nicht nannte, bestand wenigstens noch Hoffnung, daß sie noch keinen Kniefall vor al'Thor getan hatten. Sie hatten damals Morgases Anspruch auf den Thron von Anfang an unterstützt, und wenn es das Licht wollte, würden sie auch jetzt noch dazu stehen.

Fast kahle Wälder teilten sich über einer Straße aus steinhart verbackenem Lehm, und auf dieser ritten sie südwärts nach Amador weiter. Waldstreifen wechselten sich ab mit Gestrüpp und ummauerten, brachliegenden Feldern. Das eine oder andere Steingebäude mit Strohdach und einer Scheune dahinter stand ein wenig von der Straße entfernt. Viele Leute benützten die Straße, und so stand beständig eine Staubwolke darüber, Morgase band sich ein seidenes Taschentuch vor das Gesicht, obwohl die Leute schnell zur Seite rannten, nachdem sie ihre Truppe bewaffneter und gerüsteter Männer gesichtet hatten. Manche eilten sogar unter die Bäume oder sprangen über die Mäuerchen und rannten querfeldein weiter. Die Weißmäntel beachteten sie nicht, und es erschienen auch keine Bauern, die den querfeldein Rennenden wütend hinterhergeschrien oder die Fäuste geschüttelt hätten. Einige der Höfe wirkten verlassen, da nicht einmal Hühner oder andere Tiere zu sehen waren.

Unter der Menschenmenge auf der Straße sah man hier einen Ochsenkarren, dort einen Mann, der einige Schafe einhertrieb, ein Stück weiter eine junge Frau mit einer Herde Gänse. Diese Menschen waren ganz offensichtlich Einheimische. Manche hatten sich ein Bündel oder eine Mappe am Tragriemen über die Schulter gehängt, doch die meisten kamen mit leeren Händen und wirkten, als hätten sie keine Ahnung, wohin sie eigentlich gingen. Menschen dieser Art waren immer häufiger anzutreffen, wenn Morgase gestattet worden war, Amador zu verlassen, und es spielte keine Rolle dabei, in welche Richtung sie ritt.

Morgase rückte das Taschentuch über ihrer Nase zurecht und beäugte Norowhin von der Seite her. Er war ungefähr so alt und so groß wie Tallanvor, aber da endete die Ähnlichkeit auch schon. Sein rotes Gesicht unter dem glänzenden, kegelförmigen Helm schälte sich gerade nach gewaltigem Sonnenbrand, und eine Schönheit war er auch nicht gerade. Seine schlaksige Gestalt und die hervorstehende Nase ließen sie an eine Spitzhacke denken. Jedesmal, wenn sie die Festung des Lichts verließ, führte er ihre ›Eskorte‹, und jedesmal bemühte sie sich, ihn endlich einmal in ein Gespräch zu verwickeln. Weißmantel oder nicht, jeder Fingerbreit, um den sie ihn von der Rolle ihres Gefängniswärters abbringen konnte, wäre ein Erfolg. »Fliehen diese Menschen vor dem Propheten, Norowhin?« Das konnte nicht für alle zutreffen, denn genauso viele wanderten nach Norden wie nach Süden.

»Nein«, sagte er knapp, ohne sie auch nur anzusehen. Seine Blicke suchten die Straßenseiten ab, als erwarte er jeden Moment eine bewaffnete Truppe, die sie retten sollte.

Das war unglücklicherweise die gleiche Art von Antwort, die sie jedesmal von ihm erhielt. Doch sie war hartnäckig. »Wer sind sie? Sicher keine Taraboner. Ihr leistet gute Arbeit, wenn Ihr sie immer in Bewegung haltet.« Sie hatte beobachtet, wie eine größere Gruppe von Tarabonern, ungefähr fünfzig Leute, Männer, Frauen und Kinder, schmutzig und vor Erschöpfung stolpernd, von berittenen Weißmänteln wie Vieh weitergetrieben worden war. Nur das bittere Wissen darum, daß sie völlig machtlos war, hatte sie dazu in die Lage versetzt, ihren Mund zu halten. »Amadicia ist ein reiches Land. Selbst diese Dürre kann nicht so viele in nur wenigen Monaten von ihrem Land vertrieben haben.«

In Norowhins Gesicht arbeitete es. »Nein«, sagte er schließlich. »Sie fliehen vor dem falschen Drachen.«

»Aber wieso? Er befindet sich Hunderte von Meilen von Amadicia entfernt.«

Wieder wurde ein innerer Kampf auf dem sonnenverbrannten Gesicht des Mannes deutlich. Entweder rang er um Worte, oder er wollte nichts sagen. »Sie glauben, er sei der echte Wiedergeborene Drache«, sagte er endlich, und es klang angewidert. »Sie sagen, er habe alle Bande zerrissen, wie es geweissagt wurde.

Männer verlassen ihren Dienst bei ihren Lords, Lehrlinge rennen ihren Meistern weg ... Ehemänner verlassen ihre Familien, und Frauen ihre Männer. Es ist wie eine Seuche, die vom Wind weitergetragen wird, und dieser Wind weht von dem falschen Drachen her.«

Morgases Blick fiel auf einen jungen Mann und eine Frau, die sich eng umschlungen in den Armen hielten und zusahen, wie ihre Gesellschaft vorbeiritt. Schweißspuren zogen sich durch den Schmutz auf ihren Gesichtern, und der Staub lag dicht auf ihrer schlichten Kleidung. Sie wirkten hungrig. Ihre Wangen waren eingefallen und ihre Augen viel zu groß. Konnte dasselbe auch in Andor geschehen? Hatte Rand al'Thor Andor das gleiche angetan? Wenn ja, dann wird er dafür bezahlen. Die Schwierigkeit lag darin, daß die Heilung nicht noch schlimmer werden sollte als die Krankheit. Andor zu erlösen, und wenn es nur von diesem Schicksal war, und es dann den Weißmänteln übergeben...

Sie versuchte, die Unterhaltung in Gang zu halten, aber nachdem er mehr Worte herausgebracht hatte, als er je zuvor auf einmal an sie gerichtet hatte, flüchtete sich Norowhin in einsilbige Äußerungen. Es spielte keine Rolle. Wenn sie diese Mauer einmal durchbrochen hatte, konnte sie es auch wieder tun.

Sie wandte sich im Sattel um und sah wieder nach dem jungen Mann und der Frau, doch sie waren durch die Weißmantelsoldaten verdeckt. Auch das spielte keine Rolle. Ihre Gesichter würden ihr in Erinnerung bleiben, genau wie ihr Versprechen.

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