30 Die Heilung

Etwas stieß gegen den Schild, den Nynaeve zwischen Logain und der Wahren Quelle befestigt hatte, und baute sich auf, bis sich der Schild zu biegen begann und das Gewebe fast bis zum Bersten erbebte. Sie ließ Saidar süß und bis an den Rand des Schmerzes durch sich hindurchfließen und die Macht durch jede Faser in den Geist, in den Schild lenken. »Geh, Elayne!« Es kümmerte sie nicht im geringsten, ob es gequält klang.

Elayne — das Licht möge auf sie scheinen — verschwendete keine Zeit mit Fragen. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und war im Handumdrehen verschwunden.

Logain hatte keinen Muskel bewegt. Sein Blick hielt Nynaeves Blick fest. Seine Augen schienen zu strahlen. Licht, wie groß er war. Sie streckte die Hand nach ihrem Gürtelmesser aus, erkannte, wie lächerlich diese Geste war — er konnte es ihr wahrscheinlich ohne die geringste Anstrengung abnehmen, denn seine Schultern schienen plötzlich so breit, wie sie groß war —, und richtete einen Teil ihres Gewebes als Fesseln in die Luft, die ihn an Armen und Beinen genau dort festhielten, wo er saß. Er war immer noch groß, aber er wirkte plötzlich normaler und vollkommen kontrollierbar. Erst da kam es ihr in den Sinn, daß sie die Kraft des Schildes geschwächt hatte. Aber sie konnte keinesfalls weiterhin die Macht lenken. Die ... die pure Freude am Leben, die Saidar bedeutete, war in ihr bereits so stark, daß sie fast weinte. Er lächelte sie an.

Einer der Behüter streckte den Kopf zur Tür herein, ein dunkelhaariger Mann mit kühner Nase und einer tiefen, weißen Narbe am hageren Kiefer. »Stimmt etwas nicht? Die andere Aufgenommene lief davon, als hätte sie sich auf ein Nadelkissen gesetzt.«

»Es ist alles unter Kontrolle«, belehrte sie ihn kühl. So kühl, wie es ihr möglich war. Niemand brauchte es zu wissen — niemand! —, bevor sie nicht mit Sheriam hatte sprechen können, um die Frau auf ihre Seite zu ziehen. »Elayne war gerade etwas eingefallen, was sie vergessen hatte.« Das klang albern. »Ihr könnt gehen. Ich bin beschäftigt.«

Tervail — das war sein Name. Tervail Dura, Beonin zugeschworen. Und was, unter dem Licht, kümmerte sie sein Name? Tervail grinste sie verzerrt an und verbeugte sich spöttisch, bevor er ging. Behüter ließen es Aufgenommenen selten durchgehen, wenn sie sich mit Aes Sedai beschäftigten.

Es kostete sie erhebliche Mühe, sich nicht über die Lippen zu lecken. Sie betrachtete Logain. Er wirkte äußerlich ruhig, als wenn sich nichts geändert hätte.

»Das ist nicht nötig, Nynaeve. Glaubt Ihr, ich würde beschließen, ein Dorf anzugreifen, in dem sich Hunderte von Aes Sedai befinden? Sie würden mich in Stücke hacken, bevor ich auch nur zwei Schritte getan hätte.«

»Seid still«, sagte sie mechanisch. Sie griff hinter sich nach einem Stuhl und setzte sich hin, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Licht, was hielt Sheriam auf? Sheriam mußte begreifen, daß es ein Versehen gewesen war. Sie mußte es! Der Zorn auf sich selbst war das einzige, was es ihr weiterhin erlaubte, die Macht zu lenken. Wie hatte sie so sorglos, solch ein blinder Dummkopf sein können?

»Fürchtet nichts«, sagte Logain. »Ich werde mich jetzt nicht gegen sie wenden. Ihre Erfolge entsprechen meinen Plänen, ob sie es wissen oder nicht. Die Rote Ajah ist erledigt. In einem Jahr wird keine Aes Sedai mehr zuzugeben wagen, daß sie eine Rote ist.«

»Ich sagte, seid still!« fauchte sie. »Denkt Ihr, ich würde Euch glauben, daß Ihr nur die Roten haßt?«

»Wißt Ihr, ich bin einmal einem Mann begegnet, der mehr Schwierigkeiten verursachen wird, als ich es jemals getan habe. Vielleicht war er der Wiedergeborene Drache. Ich weiß es nicht. Das war, als sie mich durch Caemlyn führten, nachdem ich gefangengenommen wurde. Er war weit weg, aber ich sah ein ... ein Leuchten, und ich wußte, daß er die Welt erschüttern würde. Obwohl ich gefangen war, konnte ich nicht umhin zu lachen.«

Sie verrückte einen kleinen Teil der Luft, die ihn festhielt, und zwang sie als Knebel zwischen seine Kiefer. Er senkte in düsterem Zorn die Augenbrauen, obwohl dieser Ausdruck sofort wieder wich. Es kümmerte sie nicht. Sie hatte ihn jetzt geknebelt. Zumindest... Er hatte sich überhaupt nicht zu wehren versucht, aber das kam vielleicht daher, daß er vom ersten Augenblick an gewußt hatte, daß sie ihn nur fesseln würde. Vielleicht. Aber wie stark hatte er versucht, ihren Schild zu durchbrechen? Dieser Stoß, der sich eigentlich nicht langsam, aber sicherlich auch nicht schnell aufgebaut hatte. Fast wie ein Mann, der lange ungenutzte Muskeln streckte und gegen etwas stieß, was er nicht bewegen, sondern woran er nur jene Muskeln wieder spüren wollte. Der Gedanke ließ ihren Magen erstarren.

Die Haut um Logains Augen kräuselte sich vor Belustigung, obwohl er alles erkannt hatte, was ihr durch den Kopf gegangen war. Das erzürnte sie. Er saß mit töricht offenstehendem Mund da, gefesselt und abgeschirmt, und war doch der Ruhigere. Wie hatte sie eine solche Närrin sein können? Sie war noch nicht zur Aes Sedai geeignet, nicht wenn ihre Blockade in diesem Augenblick bröckelte. Sie war noch nicht geeignet, allein hinausgelassen zu werden. Sie mußten Birgitte sagen, sie solle sich versichere daß sie nicht mit dem Gesicht in den Staub fiel, wenn sie die Straße überquerte.

Es geschah nicht absichtlich, aber sich selbst auszuschelten, hielt ihren Zorn leichter am Schwelen, bis die Tür aufgerissen wurde. Aber es war nicht Elayne.

Sheriam folgte Romanda, zusammen mit Myrelle und Morvrin, in den Raum. Dicht dahinter kamen Takima, Lelaine und Janya, Delana, Bharatine und Beonin und noch weitere hinzu, drängten alle herein, bis der Raum voller Frauen war. Nynaeve konnte durch die Tür noch weitere sehen, die nicht mehr hineingelangen konnten. Diejenigen, die jedoch in dem Raum waren, betrachteten sie und ihr Gewebe so angespannt, daß sie schwer schlucken mußte und all ihr schöner Zorn wich. Und damit natürlich auch ihr Schild und die Logain bindenden Fesseln.

Bevor Nynaeve jemanden bitten konnte, ihn erneut abzuschirmen, pflanzte sich Nisao vor ihr auf. Obwohl sie klein war, gelang es ihr, scheinbar über Nynaeve aufzuragen. »Was ist mit all dem Unsinn, daß Ihr ihn geheilt hättet?«

»Sie hat behauptet, das getan zu haben?« Es gelang Logain tatsächlich, überrascht zu klingen.

Varilin drängte sich neben Nisao. Die schlanke, rothaarige Graue ragte tatsächlich über Nynaeve auf, weil sie genauso groß war wie Logain. »Das habe ich befürchtet, seit alle anfingen, sie wegen ihrer Entdeckungen zu verhätscheln. Sobald sie aufhörten, endete auch das Verhätscheln, und sie stellt blitzschnell irgendeine wilde Behauptung auf, um es zurückzuerlangen.«

»Das kommt, weil wir sie zuviel Zeit mit Siuan und Leane haben verbringen lassen«, sagte Romanda fest. »Und mit diesem Burschen. Man hätte sie lehren sollen, daß es Dinge gibt, die man nicht heilen kann, und damit basta!«

»Aber ich habe es getan!« widersprach Nynaeve.

»Ich habe es getan! Bitte schirmt ihn ab. Bitte, Ihr müßt es tun!« Die vor ihr stehenden Aes Sedai wandten sich zu Logain um und ließen gerade genug Raum zwischen sich, daß auch sie ihn sehen konnte. Er begegnete all diesen Blicken mit ausdruckslosem Gesicht. Er zuckte sogar die Achseln!

»Ich denke, wir könnten ihn wenigstens solange abschirmen, bis wir vollkommen sicher sind«, schlug Sheriam vor. Romanda nickte, und ein Schild in ausreichender Stärke wurde errichtet, das einen Riesen hätte halten können, während Saidar fast jede Frau im Raum umhüllte. Romanda stellte wieder ein wenig Ordnung her, indem sie energisch sechs Frauen benannte, die noch einen kleineren, aber angemessenen Schild aufrechterhalten sollten.

Myrelle ergriff Nynaeves Arm. »Bitte verzeiht, Romanda, aber wir müssen Nynaeve allein sprechen.«

Sheriam ergriff Nynaeves anderen Arm. »Wir sollten es nicht zu lange aufschieben.«

Romanda nickte abwesend. Sie sah Logain stirnrunzelnd an. Die meisten der Aes Sedai taten es ihr nach. Niemand ging.

Sheriam und Myrelle zogen Nynaeve hoch und drängten sie zur Tür.

»Was tut Ihr?« fragte sie atemlos. »Wohin bringt Ihr mich?« Draußen drängten sie sich durch die Menge der Aes Sedai, von denen viele sie scharf oder sogar anklagend ansahen. Sie kamen auch an Elayne vorbei, die reumütig grinste. Nynaeve schaute über ihre Schulter, während die beiden Aes Sedai sie so schnell vorandrängten, daß sie beinahe stolperte. Nicht daß sie von Elayne Hilfe erwartet hätte, aber sie sah sie vielleicht zum letzten Mal. Beonin sagte etwas zu Elayne, die daraufhin eilig durch die Menge davonging. »Was habt Ihr mit mir vor?« jammerte Nynaeve.

»Wir könnten Euch den Rest Eures natürlichen Lebens Töpfe schrubben lassen«, sagte Sheriam leutselig.

Myrelle nickte. »Ihr könntet den ganzen Tag in den Küchen arbeiten.«

»Wie könnten Euch statt dessen auch jeden Tag auspeitschen lassen.«

»Eure Haut in Streifen abschälen lassen.«

»Euch in ein Faß einnageln und Euch durchs Zapfloch Nahrung zukommen lassen.«

»Nur Brei, wenn auch verdorbenen Brei.«

Nynaeve versagten die Knie. »Es war ein Versehen! Ich schwöre es! Ich wollte das nicht!«

Sheriam schüttelte sie fest, ohne ihren Schritt auch nur zu verlangsamen. »Seid keine Närrin, Kind. Ihr habt vielleicht gerade das Unmögliche getan.«

»Ihr glaubt mir? Ihr glaubt mir! Warum habt Ihr nichts gesagt, als Nisao und Varilin und... Warum habt Ihr nichts gesagt?«

»Ich sagte ›vielleicht‹, Kind.« Sheriams Stimme klang auf niederdrückende Weise unbeteiligt.

»Eine andere Möglichkeit ist«, sagte Myrelle, »daß Euer Gehirn vielleicht durch die Anstrengung angeschwollen ist.« Ihre mit Lidern versehenen Augen betrachteten Nynaeve. »Ihr wärt überrascht über die Anzahl der Aufgenommenen und sogar Novizinnen, die behaupten, sie hätten irgendein verlorenes Talent wiederentdeckt oder ein neues gefunden. Zu meiner Zeit als Novizin war eine Aufgenommene namens Echiko so davon überzeugt zu wissen, wie man fliegen könne, daß sie vom höchsten Punkt der Burg sprang.«

Nynaeve wandte ruckartig den Kopf und schaute von einer Frau zur anderen. Glaubten sie ihr oder nicht? Glaubten sie wirklich, ihr Geist wäre gebeugt worden? Was, unter dem Licht, werden sie mit mir tun? Sie versuchte, Worte zu finden, um sie zu überzeugen — sie log nicht und war nicht verrückt; sie hatte Logain geheilt —, aber ihr Mund formte noch tonlose Worte, als sie bereits in die Kleine Burg eilten.

Erst als sie den ehemaligen Privatspeiseraum betraten, ein langer Raum, in dem jetzt ein schmaler Tisch mit Stühlen vor einer Wand stand, erkannte Nynaeve, daß ihnen viele Menschen gefolgt waren. Mehr als ein Dutzend Aes Sedai folgten ihnen auf den Fersen in den Raum. Nisao kreuzte ihre Arme fest unter den Brüsten, und Dagdara reckte das Kinn empor, als wollte sie durch eine Mauer gehen. Shanelle und Therva und... Alle Mitglieder der Gelben Ajah, außer Sheriam und Myrelle. Der Tisch ließ den Raum wie einen Verhandlungsraum wirken, und die Reihe grimmiger Gesichter ließ ebenfalls an eine Verhandlung denken. Nynaeve schluckte schwer.

Sheriam und Myrelle ließen sie stehen und traten zum Tisch hinüber, um sich leise zu beraten. Als sie sich wieder umwandten, waren ihre Mienen unlesbar.

»Ihr behauptet, Logain geheilt zu haben.« In Sheriams Stimme klang eine Spur Verachtung mit. »Ihr behauptet, einen gedämpften Mann geheilt zu haben.«

»Ihr müßt mir glauben«, beharrte Nynaeve. »Ihr sagtet, Ihr würdet mir glauben.« Sie zuckte zurück, als etwas Unsichtbares hart über ihre Hüften schlug.

»Erinnert Euch, Aufgenommene«, sagte Sheriam kalt. »Habt Ihr diese Behauptung aufgestellt?«

Nynaeve starrte die Frau an. Sheriam war die Verrückte, die ihre Meinung ständig änderte. Dennoch sagte sie respektvoll: »Ja, Aes Sedai.« Dagdara schnaubte, was wie reißendes Segeltuch klang.

Sheriam beendete mit einer Geste das Murmeln unter den Gelben, »Und Ihr habt es versehentlich getan, wie Ihr sagtet. Wenn das stimmt, besteht vermutlich keine Aussicht, es zu beweisen, indem Ihr es erneut tut«

»Wie könnte sie?« fragte Myrelle anscheinend belustigt. Belustigt! »Wenn sie blind dort hineingestolpert ist — wie sollte sie es dann wiederholen können? Aber das wäre unwichtig, wenn sie es zunächst tatsächlich vollbracht hätte.«

»Antwortet mir!« fauchte Sheriam, und die unsichtbare Peitsche schlug erneut zu. Dieses Mal gelang es Nynaeve, nicht zurückzuzucken. »Besteht auch nur die geringste Chance, daß Ihr Euch an irgend etwas von dem erinnert, was Ihr getan habt?«

»Ich erinnere mich, Aes Sedai«, sagte sie mürrisch und erwartete den nächsten Schlag. Er kam nicht, aber sie konnte um Sheriam jetzt das Leuchten Saidars sehen. Das Leuchten schien bedrohlich.

Ein unbedeutender Tumult an der Tür, und Carlinya und Beonin drangen durch die Reihen der Gelben Schwestern, wobei eine Siuan und die andere Leane vor sich herschob. »Sie wollten nicht mitkommen«, verkündete Beonin verärgert. »Ist es zu glauben, daß sie uns weismachen wollten, sie wären beschäftigt?« Leanes Gesicht gab genauso wenig preis wie die Gesichter aller Aes Sedai, aber Siuan schoß zornige Blicke auf jedermann ab — besonders auf Nynaeve.

Schließlich verstand Nynaeve. Letztendlich fügte sich alles zusammen. Die Anwesenheit der Gelben Schwestern. Daß Sheriam und Myrelle ihr zunächst geglaubt hatten, dann wieder nicht und sie dann bedrohten und anfuhren. Das geschah alles absichtlich, um sie ausreichend zornig zu machen, ihr Heilen bei Siuan und Leane anzuwenden, um sich den Gelben gegenüber zu beweisen. Nein. Ihren Gesichtern nach zu urteilen wollten sie sie nur scheitern sehen. Sie gab sich keine Mühe, den festen Zug an ihrem Zopf zu verbergen. Tatsächlich tat sie es noch einmal, falls jemand das erste Mal nicht bemerkt hätte. Sie wollte ihnen allen ins Gesicht schlagen. Sie wollte ihnen eine Kräutermischung verabreichen, deren Geruch allein ausreichen würde, daß sie sich auf den Boden setzten und wie kleine Kinder weinten. Sie wollte ihnen allen das Haar ausreißen und sie damit erwürgen, damit...

»Muß ich mir diesen Unsinn gefallen lassen?« grollte Siuan. »Auf mich wartet wichtige Arbeit, aber auch wenn es nur darum ginge, Fische auszunehmen, wäre das immer noch...«

»Haltet den Mund«, unterbrach Nynaeve sie gereizt.

Ein Schritt, und sie ergriff mit beiden Händen Siuans Kopf, als wollte sie der Frau den Hals brechen. Sie hatte diesen Unsinn geglaubt, sogar die Geschichte mit dem Faß! Sie hatten sie wie eine Marionette gelenkt!

Saidar erfüllte sie, und sie lenkte die Macht so, wie sie es bei Logain getan hatte, vermischte alle Fünf Mächte. Dieses Mal wußte sie, wonach sie suchte: das fast nicht vorhandene Gefühl von etwas Abgeschnittenem. Geist und Feuer, um die Öffnung zu heilen, und...

Einen Moment starrte Siuan nur ausdruckslos vor sich hin. Dann umhüllte sie das Leuchten Saidars. Keuchen erfüllte den Raum. Siuan beugte sich langsam vor und küßte Nynaeve auf beide Wangen. Eine Träne rann ihr Gesicht hinab, dann eine weitere, und plötzlich weinte Siuan richtig, umfaßte sich und zitterte. Die schimmernde Aura um sie herum schwand. Sheriam nahm sie tröstend in die Arme. Sheriam wirkte, als wollte auch sie weinen.

Alle anderen im Raum sahen Nynaeve an. Die durch all die Gemütsruhe der Aes Sedai hindurchschimmernde Bestürzung und auch die Verärgerung waren recht befriedigend. Shanelles Augen, hellblau in einem hübschen dunklen Gesicht, schienen ihr fast aus dem Kopf zu fallen. Nisaos Mund stand offen, bis sie merkte, daß Nynaeve sie ansah, und ihn ruckartig schloß.

»Was hat Euch auf den Gedanken gebracht, Feuer zu benutzen?« fragte Dagdara mit einer erstickten Stimme, die für solch eine große Frau entschieden zu hoch klang. »Und Erde? Ihr habt Erde gebraucht. Heilen ist Geist, Wasser und Luft.« Diese Worte öffneten die Schleusentore, und Fragen drangen aus jeder Kehle, aber im Grunde waren alles die gleichen Fragen, die nur jeweils anders gestellt wurden.

»Ich weiß nicht warum«, erwiderte Nynaeve, als sie einmal zu Wort kam. »Es schien einfach richtig. Ich habe fast immer alles benutzt.« Was eine Reihe von Warnungen auslöste. Heilen war Geist, Wasser und Luft. Es war gefährlich, mit dem Heilen zu experimentieren. Ein Fehler konnte nicht nur einen selbst, sondern auch den Patienten töten. Sie erwiderte nichts, und die Warnungen erstarben schnell und wurden von reumütigen Blicken abgelöst. Sie hatte niemanden getötet, und sie hatte geheilt, was sie für unheilbar erklärt hatten.

Leane zeigte ein fast schmerzlich anrührendes, hoffnungsvolles Lächeln. Nynaeve näherte sich ihr mit einem Lächeln ihrerseits und verbarg so die schwelende Verärgerung in sich. Die Gelbe Ajah und all ihr berühmtes Wissen über das Heilen, das auf Knien zu erbitten sie bereit gewesen war! Sie wußte mehr über das Heilen als jede einzelne von ihnen! »Schaut jetzt genau hin. Ihr werdet nicht so bald wieder eine Gelegenheit bekommen zu sehen, wie es geschieht.«

Sie spürte die Verbindung deutlich, während sie die Macht lenkte, obwohl sie immer noch nicht hätte sagen können, womit sie sich verband. Es fühlte sich anders an als bei Logain — so war es auch bei Siuan gewesen —, aber sie sagte sich fortwährend, daß Männer und Frauen einfach anders waren. Licht, ich habe Glück, daß es bei ihnen genauso gut wirkt wie bei Logain! Dieser Gedanke brachte eine Reihe unbequemer Überlegungen auf. Was wäre, wenn einige Dinge bei Männern anders geheilt werden mußten als bei Frauen? Vielleicht wußte sie doch nicht so viel mehr als die Gelben.

Leane reagierte anders als Siuan. Keine Tränen. Sie umarmte Saidar, lächelte selig und ließ es dann wieder los, obwohl das Lächeln blieb. Dann schlang sie ihre Arme um Nynaeve, drückte sie, bis ihre Rippen zu brechen drohten, und flüsterte immer wieder: »Danke, danke, danke.«

Aus den Reihen der Gelben wurde Murmeln hörbar, und Nynaeve hielt sich bereit, sich in deren Glückwünschen zu sonnen. Sie würde ihre Entschuldigungen gnädig annehmen. Dann hörte sie, was sie sagten.

»...hat Feuer und Erde gebraucht, als wollte sie ein Loch durch Felsen bohren.« Das kam von Dagdara.

»Eine sanftere Berührung wäre besser gewesen«, stimmte Shanelle ihr zu.

»...erkenne, wo Feuer bei Herzkrankheiten nützlich sein könnte«, sagte Therva, während sie mit dem Finger an ihre lange Nase tippte. Beldemaine, eine rundliche Arafellin mit Silberglocken im Haar, nickte nachdenklich.

»...wenn die Erde so mit Luft verbunden wäre, versteht Ihr... «

»...in Wasser verwobenes Feuer...«

»...mit dem Wasser vermischte Erde...«

Nynaeve sperrte den Mund auf. Sie hatten sie vollkommen vergessen. Sie dachten, sie könnten das, was sie ihnen gerade gezeigt hatte, besser tun als sie!

Myrelle tätschelte ihren Arm. »Ihr habt es sehr gut gemacht«, murmelte sie, »Macht Euch keine Sorgen. Sie werden Euch später ausgiebig loben. Im Moment sind sie noch ein wenig verwirrt.«

Nynaeve räusperte sich laut, aber keine der Gelben schien es zu bemerken. »Ich hoffe, das bedeutet wenigstens, daß ich keine Töpfe mehr schrubben muß.«

Sheriam wandte mit verblüfftem Gesichtsausdruck ruckartig den Kopf. »Warum, Kind, wie kommt Ihr darauf?« Sie hatte noch immer einen Arm um Siuan gelegt, die mit einem Spitzentaschentuch verwirrt ihre Augen abtupfte. »Wenn jedermann jede beliebige Regel brechen könnte und der Bestrafung dadurch entgehen könnte, indem er im Ausgleich etwas Gutes tut, wäre die Welt ein Chaos.«

Nynaeve seufzte tief. Sie hätte es wissen müssen.

Nisao verließ die Reihen der Gelben, räusperte sich und warf Nynaeve im Vorbeigehen einen Blick zu, den man nur als anklagend bezeichnen konnte. »Dies bedeutet vermutlich, daß wir Logain erneut einer Dämpfung unterziehen müssen.« Sie klang, als wollte sie das Geschehene leugnen.

Köpfe nickten, und Carlinya sprach mit einer Stimme, die den Raum wie ein Eiszapfen durchbohrte.

»Können wir das?« Aller Augen wandten sich ihr zu, aber sie fuhr ruhig und kühl fort. »Können wir, moralisch gesehen, erwägen, einen Mann zu unterstützen, der die Macht lenken kann, ein Mann, der andere Männer zu versammeln versucht, die dies ebenfalls tun können, während wir gleichzeitig so weitermachen wie zuvor, indem wir jene einer Dämpfung unterziehen, die wir finden? Welche Wirkung wird es auf ihn haben, wenn er lernt? So schmerzlich es angesichts der Lage vielleicht ist, wird er uns von der Burg und, was noch wichtiger ist, von Elaida und der Roten Ajah abgetrennt sehen. Wenn wir auch nur einen Mann einer Dämpfung unterziehen, könnten wir dieses Unterscheidungsmerkmal verlieren und damit jede Aussicht, ihn vor Elaida unter Kontrolle zu bekommen.«

Schweigen erfüllte den Raum, als sie geendet hatte. Aes Sedai wechselten besorgte Blicke, und die Nynaeve zugewandten ließen Nisaos Blicke geradezu löblich wirken. Schwestern waren bei der Gefangennahme Logains gestorben, und selbst wenn er wieder sicher abgeschirmt war, hatte sie ihnen die Aufgabe auferlegt, sich erneut mit ihm zu beschäftigen — sowie eine noch schlimmere Aufgabe.

»Ich denke, Ihr solltet gehen«, sagte Sheriam leise.

Nynaeve wollte nicht streiten. Sie vollführte eilig, aber sorgfältig einen Hofknicks und tat ihr Bestes, nicht davonzulaufen.

Draußen erhob sich Elayne von der Steintreppe. »Es tut mir leid, Nynaeve«, sagte sie und strich über ihren Rock. »Ich war so aufgeregt, daß ich Sheriam gegenüber mit allem herausgeplatzt bin, bevor ich erkannte, daß auch Romanda und Delana dort waren.«

»Das macht nichts«, sagte Nynaeve niedergeschlagen und trat auf die bevölkerte Straße. »Es wäre früher oder später ohnehin herausgekommen.« Aber es war dennoch einfach nicht fair. Ich habe etwas getan, wovon sie behauptet haben, daß es nicht getan werden könnte, und ich muß trotzdem noch Töpfe schrubben! »Elayne, es kümmert mich nicht, was du gesagt hast. Wir müssen gehen. Carlinya sprach davon, Rand ›unter Kontrolle‹ zu bekommen. Sie sind auch nicht besser als Elaida. Thom oder Juilin werden uns Pferde besorgen, und Birgitte muß sich um sich selbst kümmern.«

»Ich fürchte, dazu ist es schon zu spät«, sagte Elayne niedergeschlagen. »Die Nachricht macht bereits die Runde.«

Larissa Lyndel und Zenare Ghodar schössen wie Falken aus unterschiedlichen Richtungen auf Nynaeve zu. Larissa war eine grobknochige Frau, deren Unansehnlichkeit die Alterslosigkeit der Aes Sedai fast überwog. Zenare war ein wenig rundlich und ausreichend stolz für zwei Königinnen, aber beide machten eifrige und erwartungsvolle Gesichter. Sie gehörten der Gelben Ajah an, obwohl sie beide nicht im Raum gewesen waren, als sie Siuan und Leane geheilt hatte.

»Ich möchte Euch den ganzen Vorgang Schritt für Schritt durchführen sehen, Nynaeve«, sagte Larissa und ergriff ihren Arm.

»Nynaeve«, sagte Zenare, während sie ihren anderen Arm ergriff, »ich wette, daß ich hundert Dinge finden kann, an die Ihr niemals gedacht habt, wenn Ihr das Gewebe oft genug wiederholt.«

Salita Toranes, Tairenerin und fast so dunkel wie eine Angehörige des Meervolks, schien aus dem Nichts zu kommen. »Wie ich sehe, sind mir andere schon zuvorgekommen. Nun, verbrenne meine Seele, wenn ich mich anstellen werde.«

»Ich war zuerst hier, Salita«, sagte Zenare bestimmt und ergriff Nynaeves Arm fester.

»Ich war zuerst hier«, widersprach Larissa und griff ebenfalls fester zu.

Nynaeve warf Elayne einen Blick reinen Entsetzens zu und bekam Mitleid und ein Achselzucken als Antwort. Das hatte Elayne mit ihrer Bemerkung gemeint, es sei schon zu spät. Sie würde nach dieser Geschichte keinen wachen Moment mehr für sich haben.

»...wütend?« sagte Zenare gerade. »Ich weiß auf Anhieb fünfzig Arten, sie wütend genug zu machen, um Felsen zu sprengen.«

»Ich weiß hundert Arten«, erwiderte Larissa. »Ich beabsichtige, ihre Blockade zu lösen, und wenn es das letzte ist, was ich tue.«

Magla Daronos bahnte sich gewaltsam ihren Weg zu der Gruppe. Sie wirkte, als führe sie ein Schwert oder einen Schmiedehammer. »Du willst sie nur lösen, Larissa? Ha! Ich weiß mehrere Arten, sie ihr ganz zu nehmen.«

Nynaeve hätte am liebsten geschrien.

Siuan gelang es nur mühsam, Saidar nicht zu umarmen und festzuhalten, aber sie dachte, sie würde sonst vielleicht wieder weinen. Das hätte keinen Sinn. Außerdem würde es den Frauen im Aufenthaltsraum gegenüber wie die Zurschaustellung einer törichten Novizin erscheinen. Jeder Ausdruck der Verwunderung und Freude, jedes herzliche Willkommen, als wäre sie jahrelang fort gewesen, war Balsam für ihre Seele, besonders von jenen, die schon ihre Freunde gewesen waren, bevor sie Amyrlin wurde, bevor die Zeit und die Pflichten sie auseinanderrissen. Lelaine und Delana schlangen ihre Arme um sie wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. Moiraine war die einzige, die ihr noch nahestand.

die einzige neben Leane, die sie als Freundin behalten hatte, nachdem sie die Stola umgelegt hatte, und die Pflichten hatten dabei geholfen, sie zusammenzuhalten.

»Es tut gut, dich wiederzuhaben«, lachte Lelaine.

»Sehr gut«, murmelte Delana herzlich.

Siuan lachte und mußte sich gleichzeitig Tränen von den Wangen wischen. Licht, was war mit ihr los? Sie hatte selbst als Kind nicht so schnell geweint!

Vielleicht war es einfach die Freude darüber, Saidar wiedererlangt zu haben, und wegen all der Herzlichkeit um sie herum. Das Licht wußte, daß das alles zusammengenommen genügte, um jedermann aus der Fassung zu bringen. Sie hatte niemals zu träumen gewagt, daß dieser Tag kommen würde, und jetzt, da er gekommen war, hatte sie gegen keine dieser Frauen mehr etwas einzuwenden, nicht wegen ihrer früheren abweisenden Kälte und nicht wegen ihres Beharrens darauf, daß sie sich auf ihren Platz besinnen sollte. Die Linie zwischen Aes Sedai und anderen war eindeutig — sie hatte darauf bestanden, bevor sie einer Dämpfung unterzogen wurde —, und sie wußte, wie sie zu ihrem eigenen Nutzen und dem Nutzen jener, die noch immer die Macht lenken konnten mit, gedämpften Frauen umgehen mußte. Wie sie mit ihnen hatte umgehen müssen. Wie seltsam es war, daß das niemals wieder so sein würde.

Aus den Augenwinkeln sah sie Gareth Bryne die Stufen seitlich des Raumes herauftrotten. »Entschuldigt mich einen Moment«, sagte sie und eilte ihm nach.

Aber sie mußte alle zwei Schritte stehenbleiben, um auf dem ganzen Weg zur Treppe Glückwünsche entgegenzunehmen, wodurch sie ihn nicht erreichte, bis er bereits einen Gang im zweiten Stock hinablief. Sie eilte voran und pflanzte sich vor ihm auf. Sein überwiegend graues Haar war windzerzaust und sein kantiges Gesicht und der abgetragene Ledermantel staubig. Er wirkte zuverlässig wie ein Fels.

Er hob ein Bündel Papiere hoch, sagte: »Ich muß dies abliefern, Siuan«, und versuchte, um sie herumzugehen.

Sie stellte sich ihm erneut in den Weg. »Ich wurde geheilt. Ich kann die Macht wieder lenken›«

Er nickte. Er nickte nur! »Ich habe Gerüchte darüber gehört. Das bedeutet vermutlich, daß du meine Hemden von jetzt an durch das Lenken der Macht säubern wirst. Vielleicht werden sie dann wirklich sauber. Ich habe es bereits bedauert, Min so einfach gehen gelassen zu haben.«

Siuan sah ihn an. Der Mann war kein Narr. Warum gab er vor, nicht zu verstehen? »Ich bin wieder eine Aes Sedai. Erwartest du wirklich von einer Aes Sedai, daß sie deine Hemden wäscht?«

Nur um es ihm noch besser zu verdeutlichen, umarmte sie Saidar — dieses lange vermißte Wohlgefühl war so wunderbar, daß sie erschauderte — hüllte ihn in Stränge aus Luft und hob ihn an. Versuchte ihn anzuheben. Sie versuchte es keuchend stärker, bis das Wohlgefühl sie wie mit tausend Haken stach. Seine Stiefel hoben sich keinen Millimeter vom Boden.

Das war unmöglich. Die eigentlich einfache Handlung, etwas hochzuheben, war zugegebenermaßen eines der schwierigsten Dinge beim Lenken der Macht, aber sie hatte bereits ihr dreifaches Körpergewicht anheben können.

»Soll mich das beeindrucken oder erschrecken?« fragte Bryne ruhig. »Sheriam und ihre Freunde haben ihr Wort gegeben, der Saal hat sein Wort gegeben, und, was noch wichtiger ist, du hast dein Wort gegeben, Siuan. Ich würde dich selbst dann nicht entkommen lassen, wenn du wieder die Amyrlin wärst. Jetzt mach rückgängig, was immer du getan hast, oder ich werde dich, wenn ich mich selbst daraus befreit habe, auf den Kopf stellen und dich wegen deines kindischen Verhaltens schütteln. Du bist sehr selten kindisch, also brauchst du nicht zu denken, daß ich dich jetzt damit anfangen lasse.«

Benommen ließ sie die Quelle los. Nicht wegen seiner Drohung — er war dessen fähig; er hatte es schon früher getan, aber es war dennoch nicht deshalb — und nicht aus Entsetzen darüber, daß sie ihn nicht hatte anheben können. Tränen schienen wie ein Springbrunnen in ihr aufzuwallen. Sie hoffte, daß das Loslassen Saidars sie aufhalten würde. Einige Tränen liefen dennoch ihre Wangen hinab, wie fest sie auch blinzelte.

Gareth umschloß ihr Gesicht mit beiden Händen, bevor sie auch nur bemerkte, daß er sich bewegt hatte. »Licht, Frau, erzähl mir nicht, daß ich dich erschreckt habe. Ich habe geglaubt, du würdest nicht einmal Angst bekommen, wenn du in eine Löwengrube fielst.«

»Ich bin nicht erschreckt«, sagte sie steif. Gut, sie konnte noch immer lügen. Tränen, die sich innerlich aufbauten.

»Wir müssen einen Weg finden, dem anderen nicht ständig an die Kehle zu gehen«, sagte er leise.

»Es gibt keinen Grund, warum wir einen Weg für etwas finden müßten.« Sie kamen. Sie kamen. Oh, Licht, sie durfte es ihn nicht sehen lassen. »Laß mich einfach allein. Bitte, geh einfach.« Verwunderlicherweise zögerte er nur einen Moment, bevor er ihrer Aufforderung nachkam.

Als sie schließlich Stiefelgeräusche hinter sich hörte, konnte sie gerade noch um die Ecke in den Quergang fliehen, bevor der Damm brach und sie auf die Knie sank und jämmerlich weinte. Sie wußte jetzt, was es war. Alric, ihr Behüter. Ihr verstorbener Behüter, der ermordet wurde, als Elaida sie absetzte. Sie konnte lügen — die Drei Eide waren noch unwirksam —, aber ein Teil ihres Bundes mit Alric, eines Bundes von Fleisch zu Fleisch und von Geist zu Geist, war wieder zum Leben erweckt worden. Der Schmerz über seinen Tod, der zunächst durch das Entsetzen über das, was Elaida beabsichtigt hatte, verdeckt worden war —dieser Schmerz füllte sie jetzt vollkommen aus. Weinend an der Wand kauernd, war sie nur froh, daß Gareth dies nicht sah. Ich habe keine Zeit, mich zu verlieben, verdammt sei er!

Der Gedanke wirkte wie ein Eimer kaltes Wasser ins Gesicht. Der Schmerz blieb, aber die Tränen versiegten, und sie stand mühsam auf. Liebe? Das war genauso unmöglich wie ... wie... Ihr fiel nichts ein, was ausreichend unmöglich gewesen wäre. Der Mann war unmöglich!

Plötzlich bemerkte sie, daß Leane keine zwei Schritte entfernt stand und sie beobachtete. Siuan versuchte, sich schnell die Tränen vom Gesicht zu wischen, gab es dann aber auf. Auf Leanes Gesicht war nur Mitgefühl erkennbar. »Wie hast du Anjens ... Tod verkraftet, Leane?« Das war fünfzehn Jahre her.

»Ich habe geweint«, sagte Leane. »Einen Monat lang habe ich mich am Tage beherrscht und nachts weinend und zitternd zusammengerollt auf meinem Bett gelegen, nachdem ich die Laken in Stücke gerissen hatte. Drei weitere Monate lang mußte ich häufig ohne Vorwarnung weinen. Mehr als ein Jahr verging, bevor es nicht mehr weh tat. Darum habe ich mich niemals wieder mit jemand anderem verbunden. Ich glaube nicht, daß ich das noch einmal durchstehen würde. Aber es geht vorbei, Siuan.« Irgendwie gelang es ihr, halbwegs zu lächeln. »Inzwischen könnte ich, glaube ich, mit zwei oder drei, wenn nicht sogar vier Behütern zurechtkommen.«

Siuan nickte. Sie konnte nachts weinen. Und bezüglich des verdammten Gareth Bryne... Es gab kein ›bezüglich‹. Es gab es nicht! »Glaubst du, sie sind fertig?« Sie hatten unten nur wenige Momente Zeit gehabt zu reden. Dieser Haken mußte schnell gesetzt werden, sonst würde er niemals gesetzt.

»Vielleicht. Ich hatte nicht viel Zeit. Und ich mußte vorsichtig sein.« Leane hielt inne. »Bist du sicher, daß du das durchziehen willst, Siuan? Es verändert alles, wofür wir gearbeitet haben, ohne den geringsten Nutzen... Ich bin nicht mehr so stark, wie ich einmal war, Siuan, und du auch nicht. Die meisten Frauen hier können die Macht inzwischen besser lenken als wir beide. Licht, ich glaube, sogar einige der Aufgenommenen können es, ganz zu schweigen von Elayne oder Nynaeve.«

»Ich weiß«, sagte Siuan. Sie mußten es wagen. Der ursprüngliche Plan war nur eine Notlösung gewesen, weil sie keine Aes Sedai mehr gewesen war. Aber jetzt war sie wieder eine Aes Sedai und war nur mit einer kaum wahrnehmbaren Beugung des Burggesetzes abgesetzt worden. Wenn sie wieder eine Aes Sedai war — war sie dann nicht auch wieder die Amyrlin?

Sie straffte die Schultern und ging hinunter, um sich mit dem Saal auseinanderzusetzen.

Elayne lag auf ihrem Bett, unterdrückte ein Gähnen und rieb weiterhin die Creme in die Haut ihrer Hände ein, die Leane ihr gegeben hatte. Sie schien zu wirken. Zumindest fühlte sich die Haut jetzt wieder weicher an. Ein nächtlicher Windhauch fuhr durch das Fenster und ließ die einzelne Kerze flackern. Wenn die Brise überhaupt Wirkung zeigte, dann erhitzte sie den Raum nur noch mehr.

Nynaeve stolperte herein, schlug die Tür zu, warf sich quer über ihr Bett und sah Elayne an. »Magla ist die verachtungswürdigste, hassenswerteste, gemeinste Frau der ganzen Welt«, murmelte sie. »Nein, Larissa ist es. Nein, es ist Romanda.«

»Vermutlich haben sie dich ausreichend verärgert, daß du die Macht lenken kannst.« Nynaeve brummte mit entsprechendem Gesichtsausdruck, und Elayne fuhr eilig fort. »Vor wie vielen hast du es vorgeführt? Ich hatte dich schon lange erwartet. Ich habe beim Essen nach dir Ausschau gehalten, konnte dich aber nicht finden.«

»Ich hatte nur ein Brötchen zum Essen«, murmelte Nynaeve. »Ein Brötchen! Ich habe es vor ihnen allen vorgeführt, vor jeder einzelnen Gelben in Salidar. Nur daß sie damit nicht zufrieden sind. Sie wollen mich noch einmal nacheinander sehen. Sie stellen gerade einen Zeitplan auf. Larissa sieht mich morgen früh —vor dem Frühstück! — und Zenare gleich danach, dann... Sie haben darüber geredet, wie sie mich wütend machen können, als wäre ich nicht dagewesen!« Sie hob den Kopf von der Decke und wirkte erschüttert. »Elayne, sie wetteifern darum, wer meine Blockade als erste lösen wird. Sie sind wie Jungen, die am Festtag ein eingefettetes Schwein fangen wollen, und ich bin das Schwein!«

Elayne reichte ihr gähnend den Tiegel mit der Handcreme, und kurz darauf rollte sich Nynaeve herum und begann sich einzucremen. Das dauerte einige Zeit.

»Es tut mir leid, daß ich vor Tagen nicht deinem Vorschlag gefolgt bin, Nynaeve. Wir hätten Masken wie Moghediens weben und einfach an allen vorbeispazieren können.« Nynaeve hielt in ihrer Bewegung inne. »Was ist los, Nynaeve?«

»Ich habe niemals daran gedacht. Ich habe niemals auch nur daran gedacht!«

»Nein? Du hast es immerhin zuerst gelernt.«

»Ich habe versucht, nicht einmal darüber nachzudenken, was wir den Schwestern nicht sagen konnten.« Nynaeves Stimme klang tonlos wie Eis und fast ebenso kalt. »Und jetzt ist es zu spät. Ich wäre zu müde, um die Macht zu lenken, selbst wenn du mein Haar in Brand stecken würdest, und wenn es nach ihrem Willen geht, werde ich für immer zu müde sein. Der einzige Grund, warum sie mich heute abend haben gehen lassen, war, daß ich Saidar nicht finden konnte, selbst als Nisao...« Sie erschauderte; dann bewegte sie ihre Hände erneut und massierte die Creme weiterhin ein.

Elayne ließ langsam den Atem ausströmen. Beinahe wäre sie ins Fettnäpfchen getreten. Sie war müde.

Wenn man zugab, daß man sich geirrt hatte, fühlte sich der andere immer besser, aber sie hatte nicht erwähnen wollen, Saidar als Maske zu benutzen. Sie hatte von Anfang an befürchtet daß Nynaeve es tun würde. Hier konnten sie zumindest ein Auge auf das haben, was die Salidar-Aes Sedai vorhatten, und Rand durch Egwene gegebenenfalls eine Nachricht zukommen lassen, wenn sie nach Tel'aran'rhiod zurückkehrte. Im schlimmsten Fall hätten sie vielleicht durch Siuan und Leane ein wenig Einfluß.

Als sei der Gedanke ein Ruf gewesen, öffnete sich die Tür, und genau jene Frauen traten ein. Leane trug ein Holztablett mit Brot und einer Schale Suppe, einem roten Tonbecher und einem weiß glasierten Krug. Sogar ein Zweiglein mit grünen Blättern in einer kleinen blauen Vase befand sich darauf. »Siuan und ich dachten, Ihr wärt vielleicht hungrig, Nynaeve. Ich hörte, daß die Gelben Euch hart bedrängt haben.«

Elayne war sich nicht sicher, ob sie aufstehen sollte oder nicht. Es waren nur Siuan und Leane, aber sie waren wieder Aes Sedai. Sie glaubte es zumindest. Die beiden beendeten ihre Überlegung, indem sie sich hinsetzten: Siuan auf das Fußende von Elaynes Bett und Leane auf Nynaeves. Nynaeve betrachtete sie beide mißtrauisch, bevor sie sich aufsetzte, sich mit dem Rücken an die Wand lehnte und das Tablett auf die Knie nahm.

»Ich habe gerüchteweise gehört, daß Ihr Euch an den Saal gewandt habt, Siuan«, sagte Elayne vorsichtig. »Hätten wir einen Hofknicks vollführen sollen?«

»Haltet Ihr uns für Aes Sedai, Mädchen? Das sind wir. Sie haben sich gezankt wie Fischweiber am Sonntag, aber sie haben zumindest soviel gewährt.« Siuan wechselte Blicke mit Leane, und Siuans Wangen röteten sich leicht. Elayne vermutete, daß sie niemals lernen würde, was nicht gewährt worden war.

»Myrelle war so freundlich, mich aufzusuchen und es mich wissen zu lassen«, sagte Leane in das kurzzeitige Schweigen hinein. »Ich glaube, ich werde die Grüne Ajah erwählen.«

Nynaeve verschluckte sich und mußte husten. »Was meint Ihr damit? Kann man die Ajah wechseln?«

»Nein, das kann man nicht«, belehrte Siuan sie. »Aber der Saal hat beschlossen, daß wir, obwohl wir eine Weile keine Aes Sedai waren, jetzt dennoch wieder Aes Sedai sind. Und da sie darauf beharren zu glauben, dieser Unsinn sei berechtigt gewesen, gingen alle unsere Bindungen, unsere Arbeit und unsere Titel verloren.« Ihre Stimme klang verzerrt. »Morgen frage ich die Blauen, ob sie mich zurückhaben wollen. Ich habe noch niemals von einer Ajah gehört, die jemanden fallenließ — wenn Ihr von Aufgenommenen erhoben werdet, werdet Ihr an die richtige Ajah herangeführt, ob Ihr es merkt oder nicht —, aber so, wie sich die Dinge entwickeln, wäre ich nicht sehr überrascht, wenn sie mir die Tür vor der Nase zuschlügen.«

»Wie entwickeln sich die Dinge denn?« fragte Elayne. Etwas stimmte nicht. Siuan bedrängte jemanden, stichelte, verdrehte ihm den Arm, aber sie brachte ihm keine Suppe, setzte sich nicht auf sein Bett und plauderte mit ihm wie eine Freundin. »Ich dachte, alles verliefe so gut, wie es zu erwarten gewesen war.« Nynaeve sah sie gleichzeitig ungläubig und verstört an. Nun, Nynaeve sollte wissen, was sie meinte.

Siuan wandte sich zu ihr um, aber sie schloß auch Nynaeve in ihren Blick mit ein. »Ich ging zu Logains Haus. Sechs Schwestern halten seinen Schild aufrecht, genauso wie zu dem Zeitpunkt, als er gefangengenommen wurde. Er versuchte, sich zu befreien, als er herausfand, daß wir von seiner Heilung wußten, und sie sagten, wenn nur fünf den Schild aufrechterhalten hätten, wäre es ihm vielleicht gelungen. Also ist er so stark wie eh und je, oder zumindest stark genug, daß es keinen Unterschied macht. Ich bin es nicht. Und Siuan auch nicht. Ich möchte, daß Ihr es erneut versucht, Nynaeve.«

»Ich wußte es!« Nynaeve warf ihren Löffel auf das Tablett. »Ich wußte, daß Ihr einen Grund hierfür hattet! Nun, ich bin zu müde, um die Macht zu lenken, und es wäre auch nicht wichtig, wenn ich es nicht wäre. Ihr könnt nicht heilen, was bereits geheilt wurde. Geht und nehmt Eure scheußliche Suppe mit Euch!« Nur noch weniger als die Hälfte der › scheußlichen Suppe‹ war übriggeblieben, und es war eine große Schale gewesen.

»Ich weiß, daß es nicht funktionieren wird!« fauchte Siuan. »Heute morgen erkannte ich, daß Gedämpftes nicht geheilt werden kann!«

»Einen Moment, Siuan«, sagte Leane. »Nynaeve, erkennt Ihr, was wir aufs Spiel setzen, wenn wir hier zusammenkommen? Dies ist kein Raum in einem Gang, in dem Euer Bogenschützen-Freund Wache steht. Überall in diesem Haus sind Frauen, die Augen zum Sehen und Zungen zum Sprechen haben. Wenn herauskommt, daß Siuan und ich mit allen gespielt haben — selbst wenn es erst in zehn Jahren passiert —, dann befänden wir uns sehr wahrscheinlich immer noch auf einem Bauernhof und würden Kohl züchten, wenn unser Haar schon weiß geworden ist. Wir sind wegen dem gekommen, was Ihr für uns getan habt. Um neu anzufangen.«

»Warum seid Ihr nicht zu einer der Gelben gegangen?« fragte Elayne. »Die meisten von ihnen wissen inzwischen genauso viel darüber wie Nynaeve.« Nynaeve schaute entrüstet um ihren Löffel herum. Scheußliche Suppe?

Siuan und Leane wechselten Blicke, und schließlich sagte Siuan widerwillig: »Wenn wir zu einer Schwester gehen, wird es früher oder später jeder erfahren. Wenn Nynaeve es tut, wird vielleicht jeder, der uns heute einschätzen konnte, glauben, er habe sich geirrt. Vermutlich sind alle Schwestern gleich, und es gab Amyrlins, die die Macht kaum ausreichend lenken konnten, um sich die Stola zu verdienen. Aber von Amyrlins — die außerdem dem Brauch nach die Vorsitzenden der Ajahs sind — wird erwartet, einer anderen, die die Macht besser beherrscht als sie, den Weg freizumachen.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Elayne. Sie lernte eine Menge durch dieses Gespräch. Die Hierarchie machte Sinn, aber sie vermutete, daß dies eines der Dinge war, die man erst lernte, wenn man tatsächlich eine Aes Sedai war. Sie hatte auf die eine oder andere Art genügend Hinweise aufgeschnappt, um vermuten zu können, daß die Ausbildung auf vielerlei Arten erst begann, wenn man die Stola umlegte. »Wenn Nynaeve Euch erneut heilen kann, dann seid Ihr stärker.«

Leane schüttelte den Kopf. »Niemand ist jemals zuvor vom Dämpfen geheilt worden. Vielleicht werden es die anderen betrachten, als wäre es, sagen wir, eine Angelegenheit für Wilde. Dadurch steht man ein wenig niedriger als durch seine Kraft. Vielleicht zählt es etwas, schwächer gewesen zu sein. Wenn Nynaeve uns beim ersten Mal nicht ganz heilen konnte, wird sie uns vielleicht nur zu zwei Dritteln oder zur Hälfte wieder zu dem verhelfen, was wir waren. Sogar das wäre noch besser als der augenblickliche Zustand, aber dennoch wären die meisten hier immer noch genauso stark, und einige sogar noch stärker.« Elayne sah sie verwirrter an denn je. Nynaeve wirkte, als habe man sie geschlagen.

»Alles hängt damit zusammen«, erklärte Siuan, »wer schneller lernt und wer die wenigste Zeit als Novizin und Aufgenommene verbringt. Es gibt alle möglichen Abstufungen. Man kann nicht genau sagen, wie stark jemand ist. Zwei Frauen können gleich stark scheinen, aber die einzige Möglichkeit, es sicher zu wissen, wäre ein Duell, und, das Licht sei gesegnet, da stehen wir drüber. Wenn Nynaeve uns nicht wieder zu unserer vollständigen Kraft verhelfen kann, riskieren wir, auf recht niedrigem Rang stehenzubleiben.«

Leane nahm das Thema erneut auf. »Die Hierarchie soll nichts anderes als das alltägliche Leben regeln, aber sie regelt mehr. Dem Rat einer Höherrangigen wird mehr Gewicht beigemessen als dem einer niedriger Stehenden. Das war unwichtig, solange wir gedämpft waren. Wir hatten überhaupt keinen Rang. Sie werteten unsere Worte allein nach unserem Verdienst. Jetzt wird es nicht mehr so sein.«

»Ich verstehe«, sagte Elayne leise. Kein Wunder, daß die Menschen glaubten, die Aes Sed'ai hätten das Spiel der Häuser erfunden! Sie hatten Daes Dae'mar einfach wirken lassen.

»Es tut gut zu wissen, daß Ihr jemandem durch das Heilen mehr Probleme verschafft habt als mir«, brummte Nynaeve. Sie blickte in ihre Schale, seufzte und wischte sie dann mit dem letzten Stück Brot aus.

Siuans Gesicht verdüsterte sich, aber sie hielt ihre Stimme ruhig. »Wie Ihr sicherlich erkennt, haben wir uns vollkommen offenbart. Und das nicht, um Euch davon zu überzeugen, erneut zu heilen. Ihr habt mir mein ... Leben zurückgegeben. So einfach ist das. Ich hatte mir eingeredet, ich sei nicht tot, aber verglichen hiermit schien es sicherlich so. Also fangen wir mit Leane neu an. Als Freunde, wenn Ihr mich als Freundin ansehen wollt. Und wenn nicht, dann als Mannschaftskameraden im selben Boot.«

»Als Freunde«, sagte Elayne. »Freunde klingt für mich weitaus besser.« Leane lächelte sie an, aber sie und Siuan beobachteten Nynaeve noch immer.

Nynaeve schaute von einer zur anderen. »Elayne durfte eine Frage stellen, also sollte ich ebenfalls etwas fragen dürfen. Was haben Sheriam und die anderen gestern abend von den Weisen Frauen erfahren? Sagt nicht, daß Ihr es nicht wißt, Siuan. Soweit ich weiß, wißt Ihr immer schon eine Stunde später sehr genau, was sie denken.«

Siuan reckte das Kinn vor. Diese tiefblauen Augen wollten einschüchtern. Plötzlich schrie sie auf und beugte sich herab, um sich den Knöchel zu reiben.

»Erzähl es ihnen«, sagte Leane, während sie ihren Fuß zurückzog. »Sonst werde ich es tun. Alles, Siuan.«

Siuan sah Leane an und richtete sich dann hoch auf, bis Elayne glaubte, sie würde zerplatzen, aber dann fiel ihr Blick auf Nynaeve, und sie sank wieder in sich zusammen. Die Worte drangen wie gezwungen hervor, aber sie wurden dennoch ausgesprochen. »Die Abordnung Elaidas hat Cairhien erreicht. Rand begegnete ihr, aber er scheint nur mit ihnen spielen zu wollen. Wir sollten hoffen, daß er weiß, was er tut. Sheriam und die anderen bilden sich etwas darauf ein, daß es ihnen zum ersten Mal gelungen ist, sich bei den Weisen Frauen nicht zum Narren zu machen. Egwene wird am nächsten Treffen teilnehmen.« Aus irgendeinem Grund schien sie letzteres am widerwilligsten hervorgebracht zu haben.

Nynaeve strahlte und setzte sich auf. »Egwene? Oh, das ist wundervoll! Also haben sie sich wirklich einmal nicht zum Narren gemacht. Ich habe mich schon halbwegs gefragt, warum sie nicht hier waren, um uns zu einer weiteren Lektion davonzuzerren.« Sie blinzelte Siuan zu, und es wirkte freundlich. »Ein Boot, sagtet Ihr? Wer ist der Kapitän?«

»Das bin ich, Ihr elende kleine...« Leane räusperte sich, und Siuan atmete tief durch. »Also Mannschaftskameraden, mit gleichen Rechten. Aber jemand muß steuern«, fügte sie hinzu, als Nynaeve lächelte, »und das werde ich sein.«

»In Ordnung«, sagte Nynaeve nach längerem Nachdenken. Dann zögerte sie erneut, spielte mit ihrem Löffel und sagte dann mit so beiläufiger Stimme, daß Elayne am liebsten ergeben gen Himmel geblickt hätte: »Besteht irgendeine Möglichkeit, daß Ihr mich — uns — aus den Küchen herausholen könntet?« Ihre Gesichter wirkten nicht älter als Nynaeves, aber sie waren schon lange Aes Sedai, und ihre Augen erinnerten sich an diesen Aes Sedai-Blick. Nynaeve begegnete diesem Blick fester, als Elayne es ihr zugetraut hätte — sie war nur leicht unsicher —, aber Letztendlich kam ihr gemurmeltes »Vermutlich nicht« kaum überraschend.

»Wir müssen gehen«, sagte Siuan und stand auf. »Leane hat beim Preis für die Entdeckung untertrieben. Wir wären die ersten Aes Sedai, die öffentlich gehäutet würden, und ich war bereits die einzige Erste, die ich sein wollte.«

Zu Elaynes Überraschung beugte sich Leane herab, umarmte sie und flüsterte: »Freunde.« Elayne erwiderte die Umarmung und das Wort herzlich.

Leane umarmte auch Nynaeve und murmelte etwas, was Elayne nicht hören konnte, und dann tat es Siuan ihr mit einem »Danke« nach, das schroff und widerwillig klang.

Zumindest klang es für sie so, aber als sie fort waren, sagte Nynaeve: »Sie hätte beinahe geweint, Elayne. Vielleicht hat sie das alles wirklich ernst gemeint. Ich sollte vermutlich versuchen, netter zu ihr zu sein.« Sie stieß einen Seufzer aus, der dann zu einem unterdrückten Gähnen wurde. »Besonders seit sie wieder eine Aes Sedai ist.« Und mit diesen Worten schlief sie ein, das Tablett noch immer auf den Knien.

Elayne mußte ebenfalls hinter vorgehaltener Hand gähnen, stand auf, räumte alles ordentlich auf und stellte das Tablett unter Nynaeves Bett. Es dauerte eine Weile, Nynaeve die Kleider auszuziehen und sie bequemer ins Bett zu legen, aber selbst das weckte sie nicht auf. Elayne lag noch lange wach; nachdem sie die Kerze gelöscht und sich in ihre Kissen gekuschelt hatte, starrte sie in die Dunkelheit und dachte nach. Rand versuchte, mit den von Elaida gesandten Aes Sedai zu verhandeln? Sie würden ihn bei lebendigem Leib verschlingen. Sie wünschte fast, sie hätte Nynaeves Vorschlag annehmen können, wenn er Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Sie konnte ihn an allen von ihnen errichteten Fallen vorbeiführen, dessen war sie sich sicher — Thom hatte das, was ihre Mutter ihr beigebracht hatte, noch erheblich vertieft —, und er würde ihr zuhören. Außerdem würde sie ihn auf diese Weise binden. Sie hatte immerhin nicht gewartet, bis sie die Stola trug, um sich mit Birgitte zu binden. Warum sollte sie also bei Rand darauf warten?

Sie regte sich und kuschelte sich tiefer in die Kissen. Er mußte warten. Er war in Caemlyn, nicht in Salidar. Warte, Siuan hatte gesagt, er sei in Cairhien. Wie...? Sie war zu müde. Der Gedanke wich. Siuan verbarg noch immer etwas — dessen war sie sich ebenfalls sicher.

Der Schlaf kam und mit ihm ein Traum, von einem Boot, in dessen Bug Leane saß und mit einem Mann scherzte, dessen Gesicht jedes Mal, wenn Elayne ihn ansah, anders aussah. Im Heck kämpften Siuan und Nynaeve und versuchten beide, in eine andere Richtung zu steuern —, bis Elayne aufstand und das Kommando übernahm. Hatte ein Kapitän Geheimnisse, war das ein ausreichender Grund für eine Meuterei, wenn es sein mußte.

Siuan und Leane kehrten am Morgen zurück, bevor Nynaeve auch nur die Augen geöffnet hatte, was mehr als ausreichend war, sie genug zu erzürnen, daß sie die Macht lenken konnte. Aber es nützte dennoch nichts. Was bereits geheilt war, konnte nicht erneut geheilt werden.

»Ich werde tun, was ich kann, Siuan«, sagte Delana, beugte sich vor und tätschelte den Arm der anderen Frau. Sie waren allein im Raum, und die Teebecher auf einem kleinen Tisch zwischen ihren Sesseln standen unberührt.

Siuan seufzte und wirkte mutlos, obwohl Delana nicht wußte, was sie nach ihrem Ausbruch vor dem Saal erwartet hatte. Das frühe Morgenlicht drang durch die Fenster, und sie dachte an das Frühstück, das sie noch nicht gehabt hatte, aber dies war Siuan. Die Situation war beunruhigend, und Delana mochte es nicht, beunruhigt zu werden. Sie hatte sich auferlegt, im Gesicht dieser Frau nicht ihre alte Freundin zu sehen — es war nicht schwer, da sie der Siuan Sanche, an die Delana sich erinnerte, zu keiner Zeit mehr ähnlich sah. Sie wiederzusehen, eine junge und hübsche Siuan, war nur der erste Schock. Der zweite kam, als Siuan vor Sonnenaufgang auf ihrer Schwelle erschienen war und um Hilfe gebeten hatte. Siuan bat eigentlich niemals um Hilfe. Doch dann kam der allergrößte Schock, derjenige, der jedes Mal aufgefrischt wurde, wenn sie Siuan sah, da die al'Meara-Frau ein unmögliches Wunder bewirkt hatte. Sie war stärker als Siuan, viel stärker — die Waage war fast zur anderen Seite ausgeschlagen. Siuan hatte die Führung übernommen, als sie Novizinnen waren, noch bevor sie Aufgenommene wurden. Dennoch war sie Siuan, und sie war aufgebracht; soweit sich Delana erinnerte, war das noch niemals zuvor der Fall gewesen. Siuan war vielleicht schon einmal aufgebracht gewesen, aber sie hätte es niemals gezeigt. Es bekümmerte sie, daß sie nicht mehr für die Frau tun konnte, die mit ihr Honigplätzchen stibitzt und mehr als einmal die Schuld für Streiche auf sich genommen hatte, die sie beide angestellt hatten.

»Siuan, ich kann zumindest soviel tun. Romanda wäre überglücklich, wenn sie den Traum-Ter'angreal in die Obhut des Saals geben könnte. Sie hat nicht genügend Sitzende bei sich, es zu bewerkstelligen, aber wenn Sheriam glaubt, daß sie es tun wird, wenn sie glaubt, du hättest deinen Einfluß bei Lelaine und mir geltend gemacht, um dem Einhalt zu gebieten, dann kann sie es dir nicht verweigern. Ich weiß, daß Lelaine zustimmen wird. Aber ich kann mir nicht vorstellen, weshalb du diese Aielfrauen treffen willst. Romanda lächelt wie eine Katze im Buttertopf und beobachtet, wie Sheriam nach einem jener Treffen wütend umherstapft. Mit deinem Zorn wirst du wahrscheinlich etwas verderben.« Welche Veränderung. Früher hätte sie niemals auch nur daran gedacht, Siuans Stimmung zu erwähnen. Jetzt erwähnte sie sie, ohne nachzudenken.

Siuans niedergeschlagener Gesichtsausdruck wurde zu einem Lächeln. »Ich hatte gehofft, daß du etwas dergleichen tun würdest. Ich werde mit Lelaine sprechen. Und mit Janya. Ich glaube, Janya wird uns helfen. Du mußt sicherstellen, daß Romanda es jedoch nicht wirklich tut. Nach dem wenigen zu urteilen, was ich weiß, hat Sheriam zumindest annähernd einen Weg gefunden, mit diesen Aiel zurechtzukommen. Ich fürchte, Romanda würde von vorn beginnen müssen. Natürlich ist das für den Saal vielleicht nicht wichtig, aber ich würde ihnen lieber nicht zum ersten Mal begegnen, wenn jemand sie an den Haken bekommt.«

Delana lächelte innerlich, während sie Siuan zur Vordertreppe begleitete und sie umarmte. Ja, es wäre sehr wichtig für den Saal, die Weisen Frauen friedlich gestimmt zu halten, obwohl sie das nicht wissen konnte. Sie beobachtete, wie Siuan die Straße hinabeilte, bevor sie wieder hineinging. Es schien, daß sie diejenige sein würde, die jetzt Schutz gewähren mußte. Sie hoffte, daß es ihr genauso gut gelänge wie ihrer Freundin.

Der Tee war noch warm, und sie beschloß, Miesa, ihre Dienerin, nach Gebäck und Obst zu schicken, aber als jemand schüchtern an die Tür klopfte, war es nicht Miesa, sondern Lucilde, eine der Novizinnen, die sie von der Burg mitgebracht hatten.

Das schlaksige Mädchen vollführte nervös einen Hofknicks, aber Lucilde war stets nervös. »Delana Sedai? Heute morgen ist eine Frau angekommen, und Anaiya Sedai sagte, ich sollte sie zu Euch bringen? Ihr Name ist Halima Saranov? Sie sagt, sie kennt Euch?«

Delana öffnete den Mund, um zu sagen, daß sie niemals von einer Halima Saranov gehört hatte, als eine Frau im Eingang erschien. Delana starrte sie ungewollt an. Es gelang der Frau, gleichzeitig schlank und üppig zu wirken. Sie trug ein dunkelgrünes Reitgewand, das lächerlich tief ausgeschnitten war. Das lange, glänzend schwarze Haar umrahmte ein Gesicht mit grünen Augen, das wahrscheinlich jeden Mann, der es erblickte, den Mund aufsperren ließ. Aber das war nicht der Grund, warum Delana sie anstarrte. Die Frau hielt ihre Hände an den Seiten, aber die Daumen fest zwischen Zeige- und Mittelfinger gesteckt. Delana hatte dies niemals bei einer Frau zu sehen erwartet, die nicht die Stola trug, und diese Halima Saranov konnte nicht einmal die Macht lenken. Sie war ihr nahe genug, um das sicher sagen zu können.

»Ja«, sagte Delana, »es scheint mir, daß ich mich an sie erinnern kann. Laßt uns allein, Lucilde. Und, Kind, versucht Euch in Erinnerung zu rufen, daß nicht jeder Satz eine Frage ist.« Lucilde knickste so schnell und tief, daß sie fast hinfiel. Unter anderen Umständen hätte Delana geseufzt. Sie hatte noch nie gut mit Novizinnen umgehen können, obwohl sie nicht verstehen konnte, warum das so war.

Noch bevor die Novizin den Raum ganz verlassen hatte, schritt Halima energisch zu dem Sessel, den Siuan zuvor innegehabt hatte, und setzte sich ohne Aufforderung hin. Sie nahm einen der unberührten Becher auf, schlug die Beine übereinander und trank, während sie Delana über den Rand des Bechers hinweg ansah.

Delana fixierte sie mit hartem Blick. »Wer glaubt Ihr zu sein, Frau? Wie hoch auch immer Ihr zu stehen glaubt — niemand steht höher als die Aes Sedai. Und wo habt Ihr dieses Zeichen gelernt?« Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben verfehlte ihr Blick seine Wirkung.

Halima lächelte sie spöttisch an. »Glaubt Ihr wirklich, die Geheimnisse der ... sagen wir, dunkleren Ajah seien wirklich so geheim? Und was Euren Rang angeht, so wißt Ihr genau, daß Ihr auch beflissentlich gehorchen würdet, wenn ein Bettler die richtigen Zeichen vollführte. Ich war einige Zeit in Begleitung einer Cabriana Mecandes, einer Blauen Schwester.

Unglücklicherweise starb Cabriana an den Folgen eines Sturzes von ihrem Pferd, und ihr Behüter weigerte sich danach, sein Bett zu verlassen oder zu essen. Er starb ebenfalls.« Halima lächelte, als wollte sie fragen, ob Delana ihr folgen könne. »Cabriana und ich sprachen viel miteinander, bevor sie starb, und sie erzählte mir von Salidar. Sie erzählte mir auch einige andere Dinge, die sie über die Pläne der Weißen Burg für Euch hier erfahren hatte. Und für den Wiedergeborenen Drachen.« Sie lächelte erneut, weiße Zähne blitzten kurz auf, und dann wandte sie sich wieder ihrem Tee zu.

Delana war noch niemals eine Frau gewesen, die leicht aufgab. Sie hatte Könige gezwungen, Frieden zu schließen, wenn sie Krieg wollten, und Königinnen am Genick zur Unterzeichnung von Verträgen geschleift, die unterzeichnet werden mußten. Es stimmte schon, sie hätte jedem Bettler gehorcht, wenn er das richtige Zeichen gemacht und die richtigen Dinge gesagt hätte, aber Halimas Hände hatten sie als Schwarze Ajah ausgewiesen, die sie eindeutig nicht war. Vielleicht dachte die Frau, das sei die einzige Möglichkeit, Delana dazu zu bringen, sie anzuerkennen, und vielleicht wollte sie auch mit ihrem verbotenen Wissen prahlen. Delana mochte diese Halima nicht. »Und ich soll vermutlich sicherstellen, daß der Saal Euch glaubt«, sagte sie schroff. »Das sollte nicht weiter schwierig sein, solange Ihr genug über Cabriana wißt, um Eure Geschichte zu stützen. Dort kann ich Euch nicht helfen. Ich bin ihr nicht öfter als zwei Mal begegnet. Es besteht vermutlich nicht die Möglichkeit, daß sie erscheinen könnte, um Eure Geschichte zu widerlegen?«

»Nein, überhaupt keine Möglichkeit.« Wieder dieses schnelle, spöttische Lächeln. »Und ich könnte Cabrianas Leben hersagen. Ich weiß Dinge, die sie schon selbst vergessen hatte.«

Delana nickte daraufhin nur. Eine Schwester töten zu müssen, war stets eine bedauerliche Angelegenheit, aber was sein mußte, mußte sein. »Dann sehe ich überhaupt kein Problem. Der Saal wird Euch als Gast willkommen heißen, und ich kann sicherstellen, daß sie zuhören werden.«

»Die Rolle eines Gastes ist eigentlich nicht das, was ich im Sinn hatte. Ich denke eher an etwas Dauerhafteres. Eure Schriftführerin oder, noch besser, Eure Begleiterin. Ich muß sicherstellen, daß Euer Saal sorgfältig geführt wird. Über diese Geschichte mit Cabrianas Neuigkeiten hinaus werde ich hin und wieder Anweisungen für Euch haben.«

»Jetzt hört Ihr mir einmal zu! Ich...«

Halima unterbrach sie, indem sie ihre Stimme erhob. »Mir wurde gesagt, ich sollte Euch gegenüber einen Namen erwähnen. Einen Namen, den ich manchmal benutze. Aran'gar.«

Delana setzte sich schwerfällig hin. Dieser Name war in ihren Träumen erwähnt worden. Zum ersten Mal seit Jahren hatte Delana Mosalaine Angst.

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