27 Geschenke

Während Egwene zu der großen Zeltstadt zurückkehrte, versuchte sie sich wieder zu sammeln, aber sie war sich nicht sicher, daß ihre Füße tatsächlich den Boden berührten. Nun, sie wußte, daß dem so war. Sie trugen ihren kleinen Teil zu den vom heißen Wind aufgewirbelten Staubwolken bei. Sie mußte husten und wünschte, die Weisen Frauen trügen Schleier. Ein um den Kopf gewickelter Schal erfüllte nicht den gleichen Zweck und vermittelte außerdem das Gefühl, man trüge ein Dampfzelt mit sich. Und doch meinte sie, auf Luft zu gehen. Ihre Gedanken schienen sich zu drehen, aber nicht durch die Hitze.

Zuerst hatte sie geglaubt, Gawyn würde sie nicht treffen, aber dann war er plötzlich einfach da, als sie durch die Menge schritt. Sie hatten den ganzen Morgen im Privatspeiseraum des Großen Mannes verbracht, Händchen gehalten und sich beim Tee unterhalten. Sie war vollkommen schamlos gewesen, hatte ihn geküßt, sobald sich die Tür geschlossen hatte und bevor er auch nur Anstalten gemacht hatte, sie zu küssen, und hatte einmal sogar auf seinen Knien gesessen, wenn auch nicht lange. Es erregte sie, an seine Träume zu denken und daran, sich vielleicht wieder in sie einzuschalten, an Dinge, die keine anständige Frau überhaupt denken sollte! Und schon gar keine unverheiratete Frau.

Sie sah sich hastig um. Die Zelte waren noch eine halbe Meile entfernt, und bis dahin war niemand in ihrer Nähe. Wenn jemand dort gewesen wäre, hätte er sie erröten sehen können. Als sie erkannte, daß sie hinter ihrem Schal einfältig grinste, verbannte sie diesen Ausdruck sofort. Licht, sie mußte sich beherrschen, das Gefühl von Gawyns starken Armen vergessen und sich daran erinnern, warum sie soviel Zeit im Großen Mann gehabt hatten.

Sie sah sich um, während sie die Menge durchschritt, suchte Gawyn und versuchte mit einigen Schwierigkeiten, unauffällig zu wirken. Sie wollte nicht, daß er glaubte, sie sei ungeduldig. Plötzlich beugte sich eine Frau zu ihr und flüsterte eindringlich: »Folgt mir zum Großen Mann.«

Sie zuckte zusammen. Sie konnte nicht anders. Sie brauchte einen Moment, um Gawyn zu erkennen. Er trug einen einfachen braunen Umhang und einen fadenscheinigen Staubmantel mit hochgezogener Kapuze, so daß sein Gesicht fast verborgen war. Er war nicht der einzige, der einen Umhang trug — alle außer den Aiel, die die Stadttore durchschritten, trugen einen Umhang —, aber nicht viele hatten sogar in dieser brütenden Hitze die Kapuze hochgezogen.

Sie ergriff fest seinen Ärmel, als er ihr vorangehen wollte. »Was läßt dich glauben, daß ich einfach mit dir in ein Gasthaus gehen würde, Gawyn Trakand?« fragte sie mit verengten Augen. Sie sprach jedoch leise. Ein Streit würde nur unnötige Aufmerksamkeit erregen. »Wir wollten spazierengehen. Du hältst zu vieles für selbstverständlich, wenn du auch nur einen Moment glaubst... «

Er flüsterte ihr mit verzogenem Gesicht eilig zu: »Die Frauen, mit denen ich gekommen bin, suchen jemanden. Jemanden wie dich. Sie sagten mir gegenüber sehr wenig, aber ich habe hier und da etwas belauscht, jetzt folge mir.« Er schritt die Straße hinab, ohne einen Blick zurückzuwerfen, so daß sie ihm nur noch mit einem unruhigen Gefühl im Bauch folgen konnte.

Die Erinnerung daran ließ sie innehalten. Der verbrannte Boden fühlte sich unter den Sohlen ihrer weichen Stiefel fast genauso heiß an wie die Pflastersteine in der Stadt. Gawyn hatte nicht viel mehr gewußt als das, was er ihr in diesem ersten Gespräch gesagt hatte. Er folgerte, daß sie nicht nach ihr suchen könnten, daß sie einfach mit ihrer Gabe, die Macht zu lenken, vorsichtig sein und soweit wie möglich außer Sicht bleiben sollte. Aber er hatte selbst nicht sehr überzeugt gewirkt, nicht solange er eine Verkleidung trug. Sie versagte es sich, Bemerkungen über seine Kleidung zu machen. Er war so besorgt, daß sie alle möglichen Schwierigkeiten bekommen könnte, wenn diese Aes Sedai sie fanden, daß er sie zu ihr führen würde, und war so wenig bereit, sie nicht mehr zu sehen, obwohl er es selbst vorschlug. Und er war so überzeugt davon, daß sie irgendwie nach Tar Valon und in die Burg zurückgelangen müßte oder daß sie ihren Frieden mit Coiren und den anderen machen und mit ihnen zurückkehren sollte. Licht, sie hätte ihm böse sein sollen, weil er besser als sie zu wissen glaubte, was das beste für sie war, aber aus irgendeinem Grund brachte es sie selbst jetzt noch dazu, nachsichtig zu lächeln. Aus irgendeinem Grund konnte sie in bezug auf ihn einfach nicht logisch denken, und er schien sich ständig in ihre Gedanken einzuschleichen.

Sie biß sich auf die Lippen, während sie sich auf das eigentliche Problem besann. Die Aes Sedai der Burg. Wenn sie sich nur dazu überwinden könnte, Gawyn zu fragen. Es hätte nichts damit zu tun, ihn zu betrügen, wenn sie ihm nur einige kleine Fragen stellte, über ihre Ajahs, wohin sie gingen, oder... Nein! Sie hatte es sich geschworen, und diesen Schwur zu brechen, würde ihn entehren. Keine Fragen. Nur das, was er freiwillig preisgab.

Was auch immer er sagte — sie hatte keinen Grund zu glauben, daß sie nach Egwene al'Vere suchten. Und keinen wirklichen Grund zu glauben, wie sie widerwillig zugab, daß sie es nicht taten — nur eine Menge Vermutungen und Hoffnungen. Nur weil ein Burgspion Egwene al'Vere in einer Aielfrau nicht erkannte, bedeutete das nicht, daß der Spion den Namen nicht schon gehört hätte, oder nicht von Egwene Sedai von den Grünen Ajah erfahren hätte. Sie zuckte zusammen. Von jetzt an würde sie in der Stadt äußerst vorsichtig sein müssen.

Sie hatte die äußeren Zelte erreicht. Das Lager erstreckte sich über Meilen und bedeckte die bewaldeten und unbewaldeten Hügel östlich der Stadt. Aiel gingen zwischen den niedrigen Zelten einher, aber nur eine Handvoll Gai'shain befanden sich in der Nähe. Keine der Weisen Frauen war zu sehen. Sie hatte ein ihnen gegebenes Versprechen gebrochen. Eigentlich ein Amys gegenüber ausgesprochenes, aber doch ihnen allen gemachtes Versprechen. Die Notwendigkeit erschien ihr zunehmend fragwürdiger, ihre Täuschung zu rechtfertigen.

»Kommt zu uns, Egwene«, rief die Stimme einer Frau. Egwene war selbst mit bedecktem Kopf nicht schwer auszumachen es sei denn, sie war von noch nicht vollkommen ausgewachsenen Mädchen umgeben. Surandha, Sorileas Lehrling, hatte ihren dunkelblonden Schöpf aus einem Zelt gestreckt und winkte ihr zu. »Die Weisen Frauen treffen sich alle bei den Zelten, und sie haben uns heute freigegeben. Den ganzen Tag.« Das war ein seltenes Ereignis, das auch Egwene nicht verpassen wollte.

Drinnen lagen Frauen auf Kissen ausgestreckt, lasen bei Öllampenlicht — der Zelteingang war gegen den Staub geschlossen, und somit drang auch kein Licht herein — oder nähten, strickten oder stickten. Zwei spielten ein Fadenspiel. Leise Unterhaltungen erfüllten das Zelt, und mehrere Frauen grüßten Egwene lächelnd. Sie waren nicht alle Lehrlinge —zwei Mütter und mehrere Erstschwestern waren zu Besuch gekommen —, und die älteren Frauen trugen genauso viel Schmuck wie jede der Weisen Frauen. Alle hatten ihre Blusen halb geöffnet und die Schals um ihre Taillen geschlungen, obwohl die eingeschlossene Hitze sie nicht zu stören schien.

Ein Gai'shain ging herum und goß Tee nach. Etwas an der Art, wie er sich bewegte, wies ihn als Handwerker aus, nicht als Algai'd'siswai. Er hatte noch immer ein hartes Gesicht, wenn es auch inzwischen vergleichsweise weicher geworden war, und legte ein freundliches Verhalten an den Tag, das ihm nicht mehr so schwerzufallen schien. Er trug eines dieser Stirnbänder, das ihn als Siswat'aman kennzeichnete. Keine der Frauen gönnte ihm einen zweiten Blick, obwohl Gai'shain nur Weiß tragen sollten.

Egwene band sich ihren Schal ebenfalls um die Taille und nahm dankbar das Wasser an, mit dem sie sich Gesicht und Hände waschen konnte. Dann öffnete sie ihre Bluse ein wenig und nahm auf einem mit Quasten versehenen Kissen zwischen Surandha und Estair, Aerons rothaariger Elevin, Platz. »Warum treffen sich die Weisen Frauen?« Aber in Gedanken war sie nicht bei den Weisen Frauen. Sie hatte nicht die Absicht, die Stadt zur Gänze zu meiden — sie hatte zugestimmt, jeden Morgen beim Großen Mann hereinzuschauen, um nachzusehen, ob Gawyn dort war, obwohl das einfältige Grinsen auf dem Gesicht der untersetzten Wirtin ihre Wangen zum Glühen brachte. Nur das Licht wußte, was diese Frau dachte! Aber sie würde sicher nicht mehr versuchen, in Lady Arilyns Gut zu lauschen. Nachdem sie Gawyn verlassen hatte, war sie noch einmal ausreichend nahe herangegangen, um spüren zu können, daß das Lenken der Macht im Inneren weiterging, aber dann war sie nach einem schnellen Blick um die Ecke gegangen. Allein schon so nahe zu sein, bewirkte das unbehagliche Gefühl, daß Nesune hinter ihr auftauchen würde. »Weiß jemand es?«

»Eure Schwestern natürlich«, antwortete Surandha lachend. Sie war eine hübsche Frau mit großen blauen Augen, die wunderschön war, wenn sie lachte. Sie war ungefähr fünf Jahre älter als Egwene, konnte die Macht genauso gut lenken wie viele Aes Sedai und wartete begierig darauf, eine eigene Feste zugewiesen zu bekommen. In der Zwischenzeit sprang sie natürlich, wenn Sorilea dachte: spring. »Was sonst würde sie aufrütteln, als hätten sie sich auf Segadestacheln gesetzt?«

»Wir sollten Sorilea hinschicken, um mit ihnen zu reden«, sagte Egwene, während sie einen grün gestreiften Teebecher von dem Gai'shain entgegennahm. Als Gawyn ihr erzählt hatte, daß seine Jünglinge in alle nicht von den Aes Sedai belegten Schlafräume gepfercht worden waren, und einige sogar in die Ställe, hatte er verraten, daß nicht einmal mehr Platz für ein weiteres Küchenmädchen war und daß die Aes Sedai auch keinen Platz schufen. Das waren gute Neuigkeiten. »Sorilea könnte jede beliebige Anzahl Aes Sedai aufrütteln.« Surandha warf lachend den Kopf zurück.

Estair lachte kaum, denn sie war mehr als nur ein wenig empört. Die schlanke junge Frau mit den ernsten grauen Augen benahm sich stets, als würde sie von einer Weisen Frau beobachtet. Egwene konnte sich gar nicht genug darüber wundern, daß Sorilea einen Lehrling hatte, die sehr humorvoll war, während Aeron, die freundlich und herzlich war und nie ein hartes Wort äußerte, einen Lehrling hatte, die es nach Gehorsamsregeln zu lechzen schien. »Ich glaube, es ist der Car'a'carn«, sagte Estair sehr ernst.

»Warum?« fragte Egwene abwesend. Sie würde die Stadt meiden müssen. Bis auf Gawyn natürlich. So ungern sie es vielleicht auch zugab — sie würde auf die Treffen mit ihm nur verzichten, wenn feststand, daß Nesune im Großen Mann wartete. Das bedeutete, daß sie zu ihren Übungen in all diesem Staub wieder um die Stadtmauern herumlaufen mußte. Dieser Morgen war eine Ausnahme gewesen, aber sie würde den Weisen Frauen keinen Vorwand liefern, ihre Rückkehr nach Tel'aran'rhiod zu verschieben. Heute abend würden sich die Aes Sedai aus Salidar allein treffen, aber in sieben Nächten würde sie dabeisein. »Was jetzt?«

»Habt Ihr es nicht gehört?« rief Surandha aus.

In zwei oder drei Tagen konnte sie sich Nynaeve und Elayne nähern oder wieder in ihren Träumen zu ihnen sprechen. Ihr blieb nur der Versuch, zu ihnen zu sprechen. Man konnte niemals vollkommen sicher sein, daß der andere wußte, daß man mehr als eine Traumgestalt war, nicht bevor sie es nicht gewohnt waren, sich auf diese Weise zu verständigen, was für Nynaeve und Elayne sicherlich nicht galt. Sie hatte erst einmal zuvor auf diese Weise zu ihnen gesprochen. Auf jeden Fall fühlte sie sich bei dem Gedanken, sich ihnen überhaupt zu nähern, ein wenig unbehaglich. Sie hatte beinahe einen weiteren unklaren Alptraum deswegen gehabt. Jedes Mal, wenn eine von ihnen etwas sagte, stolperten sie und fielen auf ihre Gesichter oder ließen einen Becher oder einen Teller fallen oder rissen eine Vase herunter, immer etwas, was durch den Aufprall zerschmetterte. Seit sie den Traum über Gawyn dahingehend richtig gedeutet hatte, daß er ihr Behüter sein würde, hatte sie sich bemüht, alle Träume zu deuten. Bisher ohne wirklichen Erfolg, aber sie war sicher, daß sie bedeutsam waren. Vielleicht sollte sie besser bis zum nächsten Treffen warten, um mit ihnen zu sprechen. Außerdem bestand immer die Möglichkeit, wieder in Gawyns Träume hineingezogen zu werden. Allein der Gedanke daran ließ sie erröten.

»Der Car'a'carn ist zurückgekehrt«, sagte Estair. »Er wird Eure Schwestern heute nachmittag treffen.«

Nachdem alle Gedanken an Gawyn und die Träume gewichen waren, blickte Egwene stirnrunzelnd in ihren Teebecher. Zweimal innerhalb von zehn Tagen. Es war ungewöhnlich für ihn, so bald zurückzukehren. Warum hatte er es getan? Hatte er irgendwie von den Aes Sedai der Burg erfahren? Wie? Und wie immer warfen auch seine Reisen Fragen auf. Wie machte er es?

»Wie macht er was?« fragte Estair, und Egwene blinzelte, überrascht darüber, ihren Gedanken laut ausgesprochen zu haben.

»Wie schafft er es, meinen Magen so leicht in Unruhe zu versetzen?«

Surandha schüttelte mitfühlend den Kopf, aber sie mußte auch grinsen. »Er ist ein Mann, Egwene.«

»Er ist der Car'a'carn«, sagte Estair nachdrücklich und sehr ehrerbietig. Egwene wäre überhaupt nicht überrascht gewesen, sie diesen albernen Stoffstreifen um ihren Kopf winden zu sehen.

Surandha gab Estair zu bedenken, wie sie jemals mit einem Festenhäuptling oder sogar einem Septimen oder Clanhäuptling zurechtkommen wollte, wenn sie nicht erkannte, daß ein Mann nicht aufhörte, ein Mann zu sein, nur weil er ein Anführer war, während Estair eigensinnig darauf beharrte, daß der Car'a'carn anders sei. Eine der älteren Frauen, Mera, die gekommen war, um ihre Tochter zu besuchen, beugte sich zu ihnen und sagte, daß man mit jedem Häuptling — egal ob Septimen- oder Clanhäuptling oder dem Car'a'carn —so umgehen mußte wie mit einem Ehemann, was Baerin zum Lachen brachte, die ebenfalls hier war, um eine Tochter zu besuchen. Sie bemerkte daraufhin, daß dies eine gute Möglichkeit wäre, eine Dachherrin dazu zu bringen, den Fehdehandschuh zu werfen. Baerin war vor ihrer Heirat eine Tochter des Speers gewesen, aber jedermann konnte jedem anderen außer einer Weisen Frau und einem Hufschmied den Krieg erklären. Bevor Mera noch zu Ende gesprochen hatte, stimmten ihr alle außer dem Gai'shain zu und überstimmten damit die arme Estair — der Car'a'carn war ein Häuptling unter Häuptlingen und nicht mehr; soviel war sicher. Man war sich aber auch uneins, ob es besser sei, sich einem Häuptling direkt oder durch seine Dachherrin zu nähern.

Egwene hörte kaum zu. Rand würde sicher nichts Törichtes tun. Er hatte in bezug auf Elaidas Brief starke Zweifel gehegt, doch glaubte er Alviarins Brief, der nicht nur herzlicher, sondern regelrecht schmeichlerisch war. Er glaubte, in der Burg Freunde und sogar Gefolgsleute zu haben. Sie glaubte das nicht. Drei Schwüre oder nicht — sie war davon überzeugt, daß sich Elaida und Alviarin diesen zweiten Brief mit dem ganzen lächerlichen Gerede von ›in seinem strahlenden Glanz knien‹ zusammen ausgedacht hatten. Das war eine List, um ihn in die Burg zu bekommen.

Egwene betrachtete kummervoll ihre Hände, seufzte und stellte ihren Becher ab. Er wurde von dem Gai'shain aufgehoben, bevor sie ihre Hand ganz fortgenommen hatte.

»Ich muß gehen«, sagte sie zu den beiden Lehrlingen. »Mir ist eingefallen, daß mir noch etwas zu tun bleibt.« Surandha und Estair machten viel Aufhebens darum, daß sie mit ihr gehen wollten — nun, mehr als Aufhebens; wenn Aiel etwas bekundeten, dann meinten sie es auch —, aber sie wurden durch ihr Gespräch aufgehalten und widersprachen daher nicht, als Egwene darauf bestand, daß sie bleiben sollten. Sie wickelte sich den Schal wieder um den Kopf und ließ die lauter werdenden Stimmen hinter sich zurück — Mera erklärte Estair sehr bestimmt, daß sie zwar letztendlich eine Weise Frau werden könnte, bis dahin aber auf eine Frau hören sollte, die ohne die Hilfe einer Schwester-Frau einen Ehemann versorgt und drei Töchter und zwei Söhne großgezogen hatte — und tauchte wieder in den windverwehten Staub.

In der Stadt versuchte sie, durch die bevölkerten Straßen zu schleichen, ohne den Eindruck zu erwecken, daß sie schlich, und bemühte sich zudem, überallhin zu blicken, während sie nur auf ihren Weg zu achten schien. Die Möglichkeit, Nesune über den Weg zu laufen, war gering, aber... Vor ihr traten zwei Frauen in schlichten Kleidern mit sauberen Schürzen beiseite, um aneinander vorbeizugelangen, aber beide bewegten sich in die gleiche Richtung, so daß sie mit den Nasen aneinandergerieten. Sie murmelten Entschuldigungen und traten erneut zur Seite. In dieselbe Richtung. Weitere Entschuldigungen, und wie im Tanz gerieten sie erneut aneinander. Als Egwene an ihnen vorüberging, traten sie noch immer in vollkommenem Einklang von einer Seite zur anderen, während sich ihre Gesichter zu röten begannen und ihre Entschuldigungen hinter zusammengepreßten Lippen verschluckt wurden. Sie wußte nicht, wie lange das noch weitergehen sollte. Es war hilfreich, sich daran zu erinnern, daß Rand in der Stadt war. Licht, wenn er in der Nähe war, wäre es durchaus möglich, daß sie allen sechs Aes Sedai auf einmal in dem Moment begegnen würde, wenn der Wind ihr den Schal vom Kopf riß und drei Leute ihren Namen riefen und sie eine Aes Sedai nannten. Wenn er in der Nähe war, wäre es durchaus möglich, daß sie Elaida in die Arme lief.

Sie eilte weiter, während ihre Furcht davor, in eine seiner Wirtshausstreitigkeiten verwickelt zu werden, zunahm und sie sich besorgt umsah. Glücklicherweise veranlaßte eine von Unruhe ergriffene Aiel mit verhülltem Gesicht — was wußten sie schon von dem Unterschied zwischen einem Schal und einem Schleier? —die Leute dazu, ihr aus dem Weg zu gehen, was ihr die Möglichkeit verschaffte, schnell voranzukommen, aber sie atmete erst beruhigt durch, als sie durch einen schmalen Dienstboteneingang auf der Rückseite in den Sonnenpalast gelangt war.

Durchdringender Küchengeruch hing in dem schmalen Gang, und livrierte Männer und Frauen eilten hin und her. Andere, die sich mit Hemdsärmeln oder flatternden Schürzen Luft zufächelten, sahen sie erstaunt an. Wahrscheinlich kam niemand außer den Dienern den Küchen jemals so nahe. Sicherlich keine Aiel. Sie sahen sie an, als erwarteten sie, daß sie einen Speer unter ihren Röcken hervorziehen würde.

Sie deutete auf einen kleinen, rundlichen Mann, der sich mit einem Taschentuch den Nacken abwischte. »Wißt Ihr, wo sich Rand al'Thor befindet?«

Er erschrak und sah seinen schnell enteilenden Begleitern augenrollend nach, denn er wäre ihnen gern gefolgt. »Der Lord Drache, hm ... Herrin? In seinen Räumen? Vermutlich.« Er trat zur Seite und verbeugte sich. »Wenn die Herrin ... hm ... wenn Ihr verzeiht, ich muß zurück zu meinen...«

»Ihr werdet mich hinbringen«, sagte sie fest. Sie würde dieses Mal nicht umherirren.

Ein letzter augenrollender Blick, ein schnell unterdrücktes Seufzen, ein eiliger, erschreckter Blick, um festzustellen, ob er gegen etwas verstoßen hatte, und er hastete davon, um seinen Umhang zu holen. Er war im Gewirr der Palastgänge sehr brauchbar, wie er so dahineilte und ihr bei jeder Kehre mit einer Verbeugung den Weg wies, aber als er schließlich mit einer weiteren Verbeugung auf hohe, mit vergoldeten aufgehenden Sonnen versehene und von einer Tochter des Speers und einem Aielmann bewachte Türen zeigte, verspürte sie plötzlich Verachtung, als sie ihn entließ. Sie konnte nicht verstehen warum. Er tat nur das, wofür er bezahlt wurde.

Der Aielmann stand auf, als sie näher kam, ein sehr großer Mann mittleren Alters mit breiter Brust und breiten Schultern und kalten grauen Augen. Egwene kannte ihn nicht, und er wollte sie eindeutig abweisen. Glücklicherweise kannte sie die Tochter des Speers.

»Laß sie eintreten, Marie«, sagte Somara grinsend. »Dies ist Amys' und Bairs und Melaines Lehrling, der einzige Lehrling, den ich kenne, die drei Weisen Frauen dient. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, haben sie sie eiligst mit einer gewichtigen Nachricht zu Rand al'Thor geschickt.«

»Eiligst?« Maries Kichern ließ weder sein Gesicht noch seine Augen freundlicher wirken. »Anscheinend eher im Kriechgang.« Er bezog wieder Posten.

Egwene mußte nicht fragen, was er meinte. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Gürteltasche und wischte sich hastig übers Gesicht. Niemand konnte einen ernst nehmen, wenn man staubig war, und Rand mußte zuhören. »Aber es geht wirklich um eine wichtige Nachricht, Somara. Ich hoffe, er ist allein. Die Aes Sedai sind noch nicht gekommen?« Das Taschentuch war grau geworden, und sie steckte es seufzend wieder ein.

Somara schüttelte den Kopf. »Es dauert noch einige Zeit, bis sie kommen sollen. Werdet Ihr ihm sagen, daß er vorsichtig sein soll? Ich will gegenüber Euren Schwestern nicht respektlos sein, aber er wird nicht achtgeben. Er ist eigensinnig.«

»Ich werde es ihm sagen.« Egwene konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Sie hatte Somara schon früher so reden hören — mit der Art übertriebenem Stolz, den eine Mutter vielleicht für einen zu abenteuerlustigen zehnjährigen Jungen empfand — und auch einige andere Töchter des Speers. Es mußte eine Art Aielscherz sein, und obwohl sie ihn nicht verstand, war ihr doch alles recht, was ihn davon abhielt, zu übermütig zu werden. »Ich werde ihm auch sagen, daß er sich die Ohren waschen soll.« Somara nickte sogar noch, bevor sie sich wieder fing. Egwene atmete tief durch. »Somara, meine Schwestern brauchen nicht zu erfahren, daß ich hier bin.« Marie sah sie neugierig an, wenn er nicht gerade jeden Diener beobachtete, der den Gang betrat. Sie mußte vorsichtig sein. »Wir stehen uns nicht nahe, Somara. Man könnte in Wahrheit sagen, daß wir soweit auseinander sind, wie Schwestern nur sein können.«

»Die schlechteste Beziehung herrscht zwischen Erst-Schwestern«, sagte Somara nickend. »Geht hinein.

Sie werden Euren Namen nicht von mir hören, und wenn Marie plaudert, werde ich ihm einen Knoten in die Zunge binden.« Marie, der mindestens doppelt so groß und schwer wie Somara war, lächelte, ohne sie anzusehen.

Die Angewohnheit der Töchter des Speers, sie hineinzuschicken, ohne sie anzumelden, hatte sie in der Vergangenheit in Verlegenheit gebracht, aber dieses Mal saß Rand nicht in der Badewanne. Die Räume hatten offensichtlich dem König gehört, und der Vorraum war eher ein Miniatur-Thronsaal, natürlich nur im Vergleich zum eigentlichen Thronsaal. Die wogenden Strahlen einer goldenen Sonne, eine ganze Spanne im Durchmesser, die in den glatten Steinboden eingelassen waren, waren die einzigen sichtbaren Rundungen. Hohe Spiegel in schlichten Rahmen säumten die Wände unter breiten, geraden Goldstreifen, und der tiefe Sims war aus goldenen Dreiecken gefertigt, die sich wie Schuppen überlappten. Schwere, goldverzierte Stühle zu beiden Seiten der aufgehenden Sonne bildeten sich gegenüberliegende Linien, die so starr wie ihre hohen Rückenlehnen wirkten. Rand saß auf einem vergoldeten Stuhl, dessen Rückenlehne doppelt so hoch war und der auf einem kleinen Podest stand, das ebenfalls goldverziert war. Er saß in einem goldbestickten Seidenumhang da, hielt die geschnitzte Seanchan-Speerspitze in der Armbeuge und runzelte finster die Stirn. Er wirkte wie ein König, genauer gesagt, wie ein König, der einen Mord zu begehen gedenkt.

Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. »Somara sagt, du solltest dir die Ohren waschen, junger Mann«, sagte sie, und sein Kopf fuhr hoch.

Überraschung und eine Spur von Zorn wichen schnell. Er trat grinsend vom Podest herab und warf die Speerspitze auf den Sessel. »Was, unter dem Licht, hast du getan?« Er durchschritt den Raum, nahm sie bei den Schultern und wandte ihr Gesicht dem nächstgelegenen Spiegel zu.

Sie zuckte ungewollt zusammen. Sie bot einen schönen Anblick. Der Staub war durch ihren Schal gedrungen —nein; Schmutz, der sich mit Schweiß verbunden hatte —, und hatte Striemen auf ihren Wangen und Flecken auf ihrer Stirn hinterlassen, wo sie ihn fortzureiben versucht hatte.

»Ich werde Somara nach ein wenig Wasser schicken«, sagte er trocken. »Vielleicht wird sie denken, es sei für meine Ohren gedacht.« Dieses Grinsen war unerträglich!

»Das ist nicht nötig«, belehrte sie ihn mit soviel Würde, wie sie aufbringen konnte. Sie wollte nicht, daß er dabei zusah, wie sie sich wusch. Sie zog ihr bereits angeschmutztes Taschenruch hervor und versuchte hastig, den schlimmsten Schmutz zu beseitigen. »Du triffst bald Coiren und die anderen. Ich maß dich doch nicht warnen, daß sie gefährlich sind?«

»Ich glaube, du hast es gerade getan. Sie kommen nicht alle. Ich sagte, nicht mehr als drei, so daß sie auch nur drei herschicken.« Er neigte im Spiegel den Kopf, als höre er zu, und er nickte, während seine Stimme zu einem Murmeln verblaßte. »Ja, ich kann mit dreien fertig werden, wenn sie nicht zu mächtig sind.« Er bemerkte plötzlich, daß sie ihn ansah. »Natürlich könnte ich in Schwierigkeiten geraten, wenn eine von ihnen eine Moghedien mit Perücke oder eine Semirhage ist.«

»Rand, du mußt dies ernst nehmen.« Das Taschentuch bewirkte nicht viel. Äußerst widerwillig spie sie darauf. Es gab einfach keine würdige Art, auf ein Taschentuch zu speien. »Ich weiß, wie stark du bist, aber sie sind Aes Sedai. Du kannst dich nicht so verhalten, als wären sie Frauen vom Lande. Selbst wenn du glaubst, daß Alviarin sich zu deinen Füßen hinknien wird, und alle ihre Freundinnen mit ihr, wurde sie doch von Elaida gesandt. Du darfst nicht glauben, daß sie etwas anderes beabsichtigt, als dich zu gängeln. Du solltest sie schlicht und einfach fortschicken.«

»Und deinem verborgenen Freund vertrauen?« fragte er sanft. Viel zu sanft.

Sie konnte ihr Gesicht nicht sauber bekommen. Jetzt konnte sie jedoch nicht mehr um Wasser bitten, nicht nachdem sie sein Angebot abgelehnt hatte. »Du weißt, daß du Elaida nicht trauen kannst«, sagte sie vorsichtig, wobei sie sich ihm zuwandte. Da sie sich an das erinnerte, was beim letzten Mal geschehen war, verspürte sie nicht einmal den Wunsch, die Aes Sedai in Salidar zu erwähnen. »Du weißt es.«

»Ich traue keiner Aes Sedai. Sie...«, ein Zögern lag in seiner Stimme, als wollte er ein anderes Wort benutzen, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, welches. »...werden mich benutzen wollen, und ich werde sie zu benutzen versuchen. Ein hübscher Kreislauf, findest du nicht?« Wenn sie jemals die Möglichkeit erwogen hatte, daß er in die Nähe der Salidar Aes Sedai gelassen würde, belehrte sein Blick sie eines Besseren, so hart, so kalt, daß sie innerlich erschauderte.

Wenn er vielleicht ausreichend zornig wäre, wenn er sich heftig genug mit Coiren stritte, daß die Abordnung mit leeren Händen zur Burg zurückkehren würde, allein... »Wenn du ihn hübsch nennst, ist er es vermutlich. Du bist der Wiedergeborene Drache. Nun, da du dies durchzuführen beabsichtigst, könntest du es ebensogut richtig machen. Erinnere dich einfach daran, daß sie Aes Sedai sind. Selbst ein König hört Aes Sedai mit Respekt zu, auch wenn er ihnen nicht zustimmt, und er würde sofort nach Tar Valon aufbrechen, wenn er dorthin berufen würde. Selbst die Hohen Herren von Tear würden es tun, oder auch Pedron Niall.« Der törichte Mann grinste sie erneut an — oder zeigte zumindest die Zähne. Sein übriges Gesicht war vollkommen ausdruckslos. »Ich hoffe, du bist vorsichtig. Ich versuche dir nur zu helfen.« Wenn auch nicht auf die Art, wie er es glaubte. »Wenn du sie benutzen willst, darfst du sie nicht wie nasse Katzen erzürnen. Der Wiedergeborene Drache wird sie mit dem Phantasieumhang, dem Thron und dem törichten Szepter nicht mehr beeindrucken als mich.« Sie warf einen verächtlichen Blick auf die mit Quasten versehene Speerspitze. Licht, dieses Ding verursachte ihr eine Gänsehaut!

»Sie werden nicht auf die Knie sinken, wenn sie dich sehen, und es wird dich nicht umbringen, wenn sie es nicht tun. Es wird dich auch nicht umbringen, höflich zu sein. Beuge dein eigensinniges Haupt. Es ist nicht erniedrigend, angemessene Ehrerbietung und ein wenig Bescheidenheit an den Tag zu legen.«

»Angemessene Ehrerbietung...«, sagte er nachdenklich. Dann schüttelte er seufzend den Kopf und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Ich kann mit einer Aes Sedai vermutlich nicht genauso sprechen wie mit einem Lord, der hinter meinem Rücken Ränke schmiedet. Das ist ein guter Rat, Egwene. Ich werde es versuchen. Ich werde so bescheiden wie eine Maus sein.«

Sie wollte nicht gehetzt wirken und rieb erneut mit dem Taschentuch über ihr Gesicht, um ihr Augenrollen zu verbergen. Sie war sich nicht ganz sicher, ob ihre Augen hervorstanden, glaubte aber, es müsse der Fall sein. Ihr ganzes Leben lang hatte er, immer wenn sie erklärt hatte, daß das Recht ein besserer Weg war, sein Kinn vorgestreckt und darauf bestanden, daß sie ging! Warum mußte er jetzt zuhören?

Wendete sich etwas zum Guten, so wie die Dinge standen? Zumindest konnte es ihm nicht weh tun, ein wenig Respekt zu zeigen. Selbst wenn sie Elaida folgten, regte sie der Gedanke daran, daß jemand den Aes Sedai gegenüber Ungehörigkeit an den Tag legen könnte, wirklich auf. Nur daß sie wollte, daß er ungehörig wäre, daß er so hochmütig wäre wie eh und je. Es hatte keinen Sinn, das zu leugnen, nicht jetzt. Er war nicht dumm. Nur ärgerlich.

»War das alles, weshalb du gekommen bist?« fragte er.

Sie konnte noch nicht gehen. Vielleicht bestand noch eine Möglichkeit, die Dinge ins rechte Licht zu rücken oder zumindest sicherzustellen, daß er nicht töricht genug war, nach Tar Valon zu gehen. »Weißt du, daß sich eine Herrin der Wogen des Meervolks auf einem Schiff auf dem Fluß befindet? Auf der Gischt.« Dies war ein ebenso gutes Thema wie jedes andere. »Sie ist gekommen, um dich zu sprechen, und ich habe gehört, daß sie bereits ungeduldig wird.« Diese Neuigkeit stammte von Gawyn. Erian hatte sich hinausrudern lassen, um zu ergründen, was das Meervolk so weit im Landesinneren wollte, aber ihr wurde die Erlaubnis verweigert, an Bord zu gehen. Sie war in einer Stimmung zurückgekehrt, die man bei jeder anderen Frau, die keine Aes Sedai war, als peitschenschwingenden Zorn bezeichnet hätte. Egwene hegte mehr als nur Vermutungen, warum sie hier waren, aber das würde sie Rand nicht sagen. Er sollte erst einmal Menschen begegnen, bei denen er nicht erwartete, daß sie sich vor ihm duckten.

»Die Atha'an Miere sind anscheinend überall.« Rand setzte sich auf einen der Stühle. Er wirkte aus irgendeinem Grund belustigt, aber sie hätte schwören können, daß es nichts mit dem Meervolk zu tun hatte. »Berelain sagt, ich sollte diese Harine din Togara Zwei Winde treffen, aber wenn ihr Temperament dem entspricht, wie Berelain es beschreibt, kann sie warten. Ich habe im Moment genug zornige Frauen um mich.«

Das war beinahe eine Eröffnung. »Ich kann gar nicht verstehen, warum. Du hast stets eine solch gewinnende Art.« Sie wünschte sich augenblicklich, sie könnte diese Worte zurücknehmen. Sie bestärkten nur, was sie ihn nicht tun sehen wollte.

Er runzelte die Stirn und schien sie überhaupt nicht gehört zu haben. »Egwene, ich weiß, daß du Berelain nicht magst, aber es ist doch nicht darüber hinausgegangen? Ich meine, du nimmst deine Beschäftigung mit den Aiel so ernst, daß ich mir vorstellen könnte, daß du sie zum Speerkampf herausforderst. Sie war wegen etwas besorgt, aber sie wollte nicht sagen, weshalb.«

Wahrscheinlich hatte die Frau einen Mann gefunden, der ihr die Stirn bot. Das würde genügen, um Berelains Welt bis auf die Grundfesten zu erschüttern. »Ich habe seit dem Stein von Tear kein Dutzend Worte mit ihr gewechselt. Rand, du glaubst doch nicht... «

Eine der Türen öffnete sich gerade weit genug, um Somara in den Raum einzulassen, die sie dann schnell wieder hinter sich schloß. »Die Aes Sedai sind hier, Car'a'carn.«

Rand wandte den Kopf mit versteinertem Gesicht zur Tür. »Sie sollten erst...! Sie wollen mich sicher unvorbereitet antreffen. Sie werden lernen müssen, wer hier die Regeln aufstellt.«

In diesem Moment kümmerte es Egwene nicht, ob sie ihn in einem ungünstigen Augenblick erwischen wollten. Alle Gedanken an Berelain schwanden.

Somara vollführte eine kleine, an Mitleid erinnernde Geste. Sie kümmerte es ebenfalls nicht. Rand konnte die Aes Sedai daran hindern, Egwene zu ergreifen, wenn sie ihn darum bäte. Sie mußte von jetzt an nur in seiner Nähe bleiben, damit sie sie nicht abschirmen und sie, sobald sie sich auf der Straße blicken ließ, fortdrängen konnten. Sie mußte nur darum bitten, sich unter seinen Schutz stellen zu dürfen. Die Wahl zwischen dieser Entscheidung und der Möglichkeit, in einem Sack in die Burg zurückbefördert zu werden, war so unerfreulich, daß ihr Magen schmerzte. Einerseits würde sie niemals eine Aes Sedai werden, wenn sie sich hinter ihm versteckte, und andererseits ließ sie der Gedanke daran, sich überhaupt runter jemandem zu verstecken, die Zähne zusammenbeißen. Aber sie waren hier, unmittelbar vor der Tür, und innerhalb einer Stunde könnte sie vielleicht in jenem Sack stecken, oder doch so gut wie. Sie atmete tief durch, konnte ihre Nerven aber nicht beruhigen.

»Rand, gibt es noch einen anderen Ausgang? Wenn nicht, werde ich mich in einem der anderen Räume verstecken. Sie dürfen nicht wissen, daß ich hier bin. Rand? Rand! Hörst du mir zu?«

Er sprach, aber bestimmt nicht mit ihr. »Du bist da«, flüsterte er heiser. »Es wäre ein zu großer Zufall, wenn du jetzt daran dächtest.« Er blickte zornig und vielleicht auch ängstlich ins Leere. »Verdammt, antworte mir! Ich weiß, daß du da bist!«

Egwene leckte sich die Lippen, bevor sie es verhindern konnte. Somara sah ihn zwar mit einem Blick an, den man als liebevolle mütterliche Besorgnis hätte beschreiben können, aber Egwenes Magen stülpte sich langsam um. Er konnte doch nicht so plötzlich verrückt geworden sein. Das konnte nicht geschehen sein. Aber er hatte anscheinend irgendeiner verborgenen Stimme gelauscht und dann vielleicht auch zu ihr gesprochen.

Sie erinnerte sich nicht, den Zwischenraum überbrückt zu haben, aber ihre Hand lag plötzlich auf seiner Stirn, Nynaeve sagte immer, man solle zuerst überprüfen, ob jemand Fieber habe, obwohl das kaum etwas nützen würde... Wenn sie nur mehr als nur einen Bruchteil vom Heilen verstünde. Aber das würde auch nichts nützen. Nicht wenn er... »Rand, bist du...? Geht es dir gut?«

Er kam zu sich, wich vor ihrer Hand zurück und sah sie mißtrauisch an. Im nächsten Moment sprang er auf, ergriff ihren Arm und zog sie so schnell durch den Raum, daß sie bei dem Versuch, ihm zu folgen, fast über ihre Röcke gestolpert wäre. »Bleib genau dort stehen«, befahl er barsch, platzierte sie neben dem Podest und ging zurück.

Sie rieb sich so heftig den Arm, daß es ihm nicht entgehen konnte, und wollte ihm folgen. Männer erkannten niemals, wie stark sie waren. Selbst Gawyn erkannte es nicht immer, obwohl es ihr bei ihm wirklich nichts ausmachte. »Was glaubst du...«

»Rühr dich nicht!« In angewidertem Tonfall fügte er hinzu: »Verdammt sei er, es scheint Wellen zu schlagen, wenn du dich bewegst. Ich werde es am Boden befestigen, damit du nicht aufspringen kannst. Ich weiß nicht, wie groß ich es gestalten kann, und jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, es herauszufinden.« Somaras Mund stand offen, aber sie schloß ihn hastig wieder.

Was wollte er am Boden befestigen? Worüber redete er...? Sie verstand so plötzlich, daß sie sich zu fragen vergaß, wer dieser ›er‹ war. Rand hatte Saidin um sie herumgewoben. Ihre Augen weiteten sich. Sie atmete zu schnell, aber sie konnte nicht damit aufhören. Wie nahe war es? Ihre Vernunft sagte ihr, daß der Makel aus nichts heraussickern könnte, was immer er durch das Lenken der Macht bewerkstelligen würde. Er hatte sie schon früher mit Saidin berührt, aber der Gedanke daran machte es allenfalls noch schlimmer. Sie zog unbewußt die Schultern zusammen und hielt ihre Röcke dicht vor sich.

»Was...? Was hast du getan?« Sie war sehr stolz auf ihre Stimme, die vielleicht ein wenig unsicher war, aber keinesfalls dem Schreien ähnelte, nach dem ihr zumute war.

»Schau in den Spiegel dort«, sagte er und lachte laut auf.

Sie gehorchte mürrisch — und keuchte. Dort in dem Spiegel sah sie den goldverzierten Stuhl auf dem Podest. Und ein Teil des restlichen Raumes. Aber nicht sie. »Ich bin ... unsichtbar«, hauchte sie. Einmal hatte Moiraine sie alle hinter einem Schirm aus Saidar verborgen, aber wie hatte er es gelernt?

»Das ist viel besser, als sich unter meinem Bett zu verstecken«, höhnte er. Als hätte sie daran jemals gedacht! »Ich möchte, daß du erkennst, wie ehrerbietig ich sein kann. Und außerdem«, sagte er mit jetzt ernsterer Stimme, »fällt dir vielleicht etwas auf, was mir entgeht. Vielleicht wärst du sogar bereit, es mir anschließend zu berichten.« Er sprang mit einem bellenden Lachen auf das Podest, hob die mit Quasten versehene Speerspitze auf und nahm seinen Platz ein. »Schickt sie herein, Somara. Die Abordnung der Weißen Burg soll sich dem Wiedergeborenen Drachen nähern.« Sein verzerrtes Lächeln ließ Egwene sich fast genauso unbehaglich fühlen wie die Nähe des verwobenen Saidin. Wie nahe war das verdammte Zeug?

Somara verschwand, und nach kurzer Zeit öffneten sich die Türen weit.

Eine rundliche, stattliche Frau, die nur Coiren sein konnte, ging der Gruppe voraus, in ein dunkelblaues Gewand gekleidet, gefolgt von Nesune in einem einfachen braunen Wollgewand und einer Aes Sedai mit rabenschwarzem Haar und in einem grünen Seidengewand, eine hübsche, rundgesichtige Frau mit einem prallen, fordernden Mund. Egwene wünschte, die Aes Sedai würden immer die Farben ihrer Ajah tragen — Weiße taten dies zumindest —, denn sie glaubte nicht, daß diese Frau, was immer sie war, eine Grüne war — nicht bei den harten Blicken, die sie Rand von ihrem ersten Schritt in den Raum an zuwarf. Kalte Gelassenheit konnte ihre Verachtung kaum verbergen — vielleicht nur jemandem gegenüber, der nicht an Aes Sedai gewöhnt war. Würde Rand es bemerken? Vielleicht nicht. Er konzentrierte sich anscheinend auf Coiren, deren Miene vollkommen unlesbar war. Nesune registrierte natürlich alles, richtete ihre vogelähnlichen Augen blitzschnell hierhin und dorthin.

Egwene war in diesem Moment sehr froh über den Umhang, den er für sie gewoben hatte. Sie wollte sich gerade mit dem Taschentuch, das sie noch immer in der Hand hielt, das Gesicht abtupfen und erstarrte dann. Er hatte gesagt, er würde es am Boden befestigen. Hatte er es getan? Licht, sie könnte plötzlich ungeschützt dastehen. Aber Nesunes Blick glitt über sie hinweg, ohne innezuhalten. Schweiß lief Egwenes Gesicht hinab. Er floß in Strömen. Verdammt sei der Mann! Sie wäre vollkommen damit zufrieden gewesen, sich unter seinem Bett zu verstecken.

Hinter den Aes Sedai betraten ein volles Dutzend weitere Frauen den Raum, die mit einfachen, rauhen Leinenstaubmänteln bekleidet waren. Die meisten waren stämmig und mühten sich mit dem Gewicht zweier durchaus nicht kleiner Kisten, deren polierte Messingbeschläge mit der Flamme von Tar Valon versehen waren. Die Dienerinnen stellten die Kisten mit hörbaren Seufzern der Erleichterung ab, bearbeiteten verstohlen ihre Arme und streckten die Rücken, während die Türen hinter ihnen zufielen und Coiren und die anderen beiden Aes Sedai in vollkommenem Gleichklang in einen, wenn auch nicht sehr riefen, Hofknicks versanken.

Rand hatte sich aus seinem Stuhl erhoben, noch bevor sie sich wieder aufrichteten. Das Leuchten Saidars umgab alle drei Aes Sedai. Sie hatten sich miteinander verbunden. Egwene versuchte sich einzuprägen, was sie davon bemerkt hatte, wie sie es getan hatten. Trotz des Leuchtens erschütterte nichts ihre äußere Ruhe, als Rand an ihnen vorbei auf die Dienerinnen zuging und nacheinander ihre Gesichter betrachtete.

Was wollte er...? Natürlich, er wollte sich versichern, daß keine von ihnen das alterslose Gesicht einer Aes Sedai hatte. Egwene schüttelte den Kopf und erstarrte dann erneut. Er war ein Narr, wenn er glaubte, daß das genügte. Die meisten besaßen ein zu hohes Alter — sie waren, nach gewöhnlichen Maßstäben, nicht alle alt, aber man konnte ihnen ein Alter zuweisen —, aber zwei der Dienerinnen waren jung genug, daß sie erst seit kurzem Aes Sedai sein könnten. Sie waren es nicht —Egwene konnte das Talent nur bei den drei Aes Sedai spüren, und sie war ihnen ausreichend nahe —, aber das konnte er sicherlich nicht allein durch Augenschein feststellen.

Er berührte das Kinn einer stämmigen jungen Frau und sah ihr lächelnd in die Augen. »Habt keine Angst«, sagte er sanft. Sie schwankte, als wollte sie in Ohnmacht fallen. Rand wandte sich seufzend auf dem Absatz um. Er sah die Aes Sedai nicht an, während er erneut an ihnen vorüberging. »Ihr werdet in meiner Gegenwart nicht die Macht lenken«, sagte er fest. »Laßt sie fahren.« Ein nachdenklicher Ausdruck überzog kurzzeitig Nesunes Gesicht, aber die beiden anderen beobachteten ruhig, wie Rand seinen Platz wieder einnahm. Er rieb sich den Arm — Egwene war dabeigewesen, als er dieses Kribbeln zum ersten Mal verspürt hatte — und sprach dann mit härterer Stimme weiter. »Ich sagte, Ihr werdet in meiner Gegenwart nicht die Macht lenken — oder Saidar auch nur aufnehmen.«

Egwene betete einen langen Moment still. Was würde er tun, wenn sie die Quelle weiterhin berührten? Versuchen, sie davon zu trennen? Eine Frau von Saidar zu trennen, wenn sie es erst berührt hatte, war weitaus schwerer, als sie vorher davon abzuschirmen. Sie war nicht sicher, ob er mit drei Frauen fertig würde, die fest miteinander verbunden waren. Schlimmer noch — was würden sie tun, wenn er überhaupt etwas versuchte? Das Leuchten verschwand, und sie konnte nur mühsam einen Seufzer der Erleichterung unterdrücken. Was auch immer er getan hatte, machte sie zwar unsichtbar, aber offensichtlich nicht unhörbar.

»Schon viel besser.« Rands Lächeln schloß sie alle ein, erreichte aber nicht seine Augen. »Wir sollten noch einmal beginnen. Ihr seid ehrenwerte Gäste, die gerade erst eingetreten sind.«

Sie verstanden natürlich. Rand war keiner Vermutung gefolgt. Coiren spannte sich leicht an, und die Augen der Frau mit dem rabenschwarzen Haar weiteten sich jetzt. Nesune nickte nur vor sich hin und merkte sich auch dies. Egwene hoffte verzweifelt daß er Vorsicht walten lassen würde. Nesune würde nichts entgehen.

Coiren sammelte sich sichtbar mühsam, glättete ihr Gewand und hätte beinahe den Schal gerichtet, den sie gar nicht trug. »Ich habe die Ehre«, verkündete sie klangvoll, »Coiren Saeldain Aes Sedai zu sein, Botschafterin der Weißen Burg und Abgesandte von Elaida do Avriny a'Roihan, der Wächterin des Siegels, der Flamme von Tar Valon und des Amyrlinsitzes.« Eine etwas weniger überladene Vorstellung, wenn auch mit den vollen Ehrentiteln der Aes Sedai, erfolgte von den anderen beiden. Die Frau mit den harten Augen war Galina Casban.

»Ich bin Rand al'Thor.« Die Einfachheit seiner Vorstellung bildete einen starken Kontrast dazu. Sie hatten den Wiedergeborenen Drachen nicht erwähnt, und er erwähnte ihn auch nicht, aber daß er den Titel ausließ, schien zu bewirken, daß er leise geflüstert im Raum umherschwebte.

Coiren atmete tief durch und hob den Kopf, als hörte sie das Flüstern. »Wir überbringen dem Wiedergeborenen Drachen eine huldvolle Einladung. Der Amyrlinsitz ist sich vollkommen bewußt, daß Zeichen gesetzt und Prophezeiungen erfüllt wurden, die...« Ihre tiefe, volltönende Stimme gelangte schnell zu dem Punkt, daß Rand sie »in aller ihm zustehenden Ehre« zur Weißen Burg begleiten sollte und daß ihm Elaida, wenn er die Einladung annahm, nicht nur den Schutz der Burg gewähren würde, sondern daß er auch ihr Ansehen und ihren Einfluß hinter sich wissen würde. Weitere blumige Worte entströmten ihrem Mund, bis sie endete. »...und als Zeichen dafür sendet der Amyrlinsitz dieses bescheidene Geschenk.«

Sie wandte sich den Kisten zu, hob den Kopf und zögerte dann mit leicht verzerrtem Gesicht. Sie mußte zweimal ein Zeichen geben, bevor die Dienerinnen verstanden und die messingbeschlagenen Deckel öffneten. Anscheinend hatten sie sie mit Saidar aufspringen lassen wollen. Die Kisten waren mit Lederbeuteln gefüllt. Eine weitere, schärfere Geste, und die Dienerinnen banden die Beutel auf.

Egwene schluckte schwer. Kein Wunder, daß die Frauen Mühe gehabt hatten! Aus den geöffneten Beuteln ergossen sich Goldmünzen aller Größen, funkelnde Ringe, glitzernde Halsketten und ungefaßte Edelsteine. Selbst wenn sich darunter auch wertloses Zeug befand, war dies schon ein Vermögen.

Rand lehnte sich auf seinem thronähnlichen Sessel zurück und betrachtete die Kisten lächelnd. Die Aes Sedai beobachteten ihn mit gelassenen Gesichtern, und doch glaubte Egwene in Coirens Augen eine Andeutung von Zufriedenheit und um Galinas Lippen etwas stärkere Verachtung zu erkennen. Nesune ... Nesune bedeutete die wahre Gefahr.

Die Deckel schlugen jäh zu, ohne daß eine Hand sie berührt hätte, und die Dienerinnen sprangen zurück, ohne ihre erschreckten Schreie zu dämpfen. Die Aes Sedai erstarrten, und Egwene betete inbrünstig. Sie wollte, daß er sich hochmütig und ein wenig anmaßend zeigte, aber nur so weit, daß sie aufmerksam blieben, nicht daß sie zu dem Beschluß genötigt wurden, ihn augenblicklich zähmen zu wollen.

Plötzlich erkannte sie, daß er bisher mitnichten ein Verhalten an den Tag gelegt hatte, das an die ›Bescheidenheit einer Maus‹ erinnerte. Er hatte niemals die Absicht gehabt. Rand hatte mit ihr gespielt! Hätte sie nicht zu große Angst gehabt, daß ihre Knie ihr nicht gehorchen würden, wäre sie hinübergegangen und hätte ihn geohrfeigt.

»Eine große Menge Gold«, sagte Rand. Er schien entspannt, und sein Lächeln nahm jetzt sein ganzes Gesicht ein. »Das kann ich immer gebrauchen.« Egwene blinzelte. Er klang fast habgierig!

Coiren erwiderte sein Lächeln und bot jetzt entschieden ein Bild gesetzter Selbstzufriedenheit. »Der Amyrlinsitz ist natürlich in höchstem Maße großzügig. Wenn Ihr die Weiße Burg erreicht habt...«

»Wenn ich dorthin gehe«, unterbrach Rand sie, als dächte er laut. »Ja, ich freue mich auf den Tag, an dem ich in der Burg sein werde.« Er beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Drachenszepter in der Hand. »Es wird allerdings noch eine Weile dauern. Ich muß zunächst noch hier in Andor und anderswo Verpflichtungen erfüllen.«

Coiren preßte kurzzeitig die Lippen zusammen, aber ihre Stimme blieb genauso glatt und geschmeidig wie zuvor. »Wir haben sicherlich keine Einwände dagegen, einige Tage zu rasten, bevor wir die Rückreise nach Tar Valon antreten. Darf ich in der Zwischenzeit vorschlagen, daß eine von uns verfügbar bleibt, um Euch zu beraten, wenn Ihr Rat benötigt? Wir haben natürlich von Moiraines unglückseligem Ableben gehört. Ich kann nicht selbst bleiben, aber Nesune oder Galina würden es nur zu gern tun.«

Rand betrachtete die beiden Genannten stirnrunzelnd, und Egwene hielt den Atem an. Er schien erneut etwas zuzuhören oder auf etwas zu lauschen. Nesune betrachtete ihn als Reaktion genauso offen wie er sie. Galinas Finger strichen unbewußt ihre Röcke glatt.

»Nein«, sagte er schließlich und setzte sich zurück, die Hände auf die Armlehnen gestützt. Der Sessel wirkte dadurch mehr denn je wie ein Thron. »Es ist vielleicht nicht sicher. Ich möchte nicht, daß eine von Euch versehentlich einen Speer in die Rippen bekommt.« Coiren öffnete den Mund, aber er fuhr fort. »Um Eurer eigenen Sicherheit willen sollte keine von Euch ohne Erlaubnis näher als eine Meile an mich herankommen. Am besten bleibt Ihr, ohne anderweitige Erlaubnis, auch ebenso weit vom Palast entfernt. Ihr werdet es erfahren, wenn ich bereit bin, mit Euch zu gehen. Das verspreche ich.« Er erhob sich unvermittelt. Er stand so hoch aufragend auf dem Podest, daß die Aes Sedai den Hals recken mußten, und es war offensichtlich, daß ihnen dies genauso wenig gefiel wie seine Einschränkungen. Drei Versteinerte starrten zu ihm hoch. »Ihr könnt jetzt in Euer Quartier zurückkehren. Je schneller ich mich um gewisse Dinge kümmern kann, desto eher kann ich zur Burg ziehen. Ich werde Euch benachrichtigen, wann ich Euch wieder treffen kann.«

Sie waren über diese plötzliche Entlassung nicht erfreut. Aes Sedai bestimmten, wann eine Audienz beendet war, und doch konnten sie jetzt kaum etwas anderes tun als einen knappen Hofknicks zu vollführen, wobei ihre Verärgerung fast durch ihre zur Schau gestellten Gelassenheit hindurchbrach.

Als sie sich zum Gehen wandten, sprach Rand wie beiläufig erneut. »Ich vergaß zu fragen, wie es Alviarin geht.«

»Es geht ihr gut.« Galinas Mund blieb einen Moment offenstehen, und ihre Augen weiteten sich. Sie schien darüber erschrocken zu sein, daß sie gesprochen hatte.

Coiren zögerte, ob sie die Gelegenheit ergreifen und noch mehr sagen sollte, aber Rand wartete bereits ungeduldig. Als sie fort waren, trat er von dem Podest herab, wog die Speerspitze in der Hand und betrachtete die Türen, die sich hinter den Aes Sedai geschlossen hatten.

Egwene trat sofort zu ihm. »Welches Spiel spielst du, Rand al'Thor?« Sie hatte bereits ein halbes Dutzend Schritte zurückgelegt, bevor sie durch einen Blick auf ihr Spiegelbild in den Spiegeln erkannte, daß sie geradewegs durch sein Saidin-Gewebe hindurchgeschritten war. Zumindest hatte sie es nicht bemerkt, als es sie berührte. »Nun?«

»Galina gehört zu Alviarin«, sagte er nachdenklich. »Sie ist eine von Alviarins Freundinnen. Darauf könnte ich wetten.«

Sie stellte sich vor ihn hin. »Und du würdest dein Geld verlieren. Galina ist eine Rote, oder ich habe noch niemals zuvor eine Rote gesehen.«

»Weil sie mich nicht mag?« Jetzt sah er sie an, und sie wünschte fast, er würde es nicht tun. »Weil sie Angst vor mir hat?« Er verzog weder das Gesicht noch funkelte er sie an, noch wirkte sein Gesicht besonders hart, und doch schien sein Blick Dinge auszudrücken, von denen sie nichts wußte. Sie haßte das. Dann lächelte er so plötzlich, daß sie blinzeln mußte. »Egwene, erwartest du von mir zu glauben, daß du einer Frau ihre Ajah am Gesicht ansehen könntest?«

»Nein, aber... «

»Wie dem auch sei, sogar Rote werden mir letztendlich vielleicht folgen. Sie kennen die Prophezeiungen genauso gut wie jeder andere. ›Die makellose Burg zerbricht und beugt sich dem vergessenen Zeichen.‹ Davor wurde eine weiße Burg beschrieben, und was sonst könnte ›die makellose Burg‹ sein? Und das vergessene Zeichen? Mein Banner, Egwene, mit dem uralten Symbol der Aes Sedai.«

»Verdammt sollst du sein, Rand al'Thor!« Der Fluch drang unbeholfener hervor, als sie es sich gewünscht hätte. Sie war nicht daran gewöhnt, solche Dinge zu äußern. »Das Licht soll dich verbrennen! Du kannst doch nicht wirklich daran denken, mit ihnen zu gehen. Das kannst du nicht tun!«

Er lächelte belustigt. Belustigt! »Habe ich nicht getan, was du wolltest? Was du mir geraten hast und was du wolltest?«

Sie preßte empört die Lippen zusammen. Es war schon schlimm genug, daß er es wußte, aber es ihr auch noch ins Gesicht zu sagen, war sehr taktlos. »Rand, bitte hör mir zu. Elaida...«

»Die Frage ist jetzt, wie wir dich zu den Zelten zurückbringen können, ohne daß sie erfahren, daß du hier warst. Sie haben vermutlich Augen-und-Ohren im Palast.«

»Rand, du mußt...!«

»Wie wäre es, wenn du in einen jener großen Wäschekörbe stiegst? Ich kann ihn von zwei Töchtern des Speers tragen lassen.«

Sie hätte beinahe ergeben die Hände gehoben. Er war genauso bestrebt, sie loszuwerden, wie er die Aes Sedai hatte loswerden wollen. »Meine eigenen Füße werden durchaus genügen, vielen Dank.« Ein Wäschekorb, also wirklich! »Ich brauchte mir keine Sorgen mehr zu machen, wenn du mir sagen würdest, wie du von Caemlyn hierhergelangst, wann immer du willst.« Sie verstand nicht, warum die Frage verletzen sollte, und doch tat sie es. »Ich weiß, daß du es mich nicht lehren kannst, aber wenn du mir sagtest, wie, könnte ich vielleicht herausfinden, wie man es mit Saidar tun könnte.«

Anstatt des Scherzes auf ihre Kosten, den sie halbwegs erwartet hatte, nahm er die Enden ihres Schals in beide Hände. »Das Muster«, sagte er. »Caemlyn«, ein Finger auf seiner Linken hielt den Stoff auf, »und Cairhien.« Ein Finger der anderen Hand schuf ebenfalls eine Öffnung, und er führte die beiden Öffnungen zusammen. »Ich habe das Muster gebeugt und eine Öffnung von einem zum anderen geschaffen. Ich weiß nicht, wo hindurch ich gebohrt habe, aber es existiert kein Zwischenraum zwischen einem Ende der Öffnung und dem anderen.« Er ließ ihren Schal los. »Hilft dir das?«

Sie kaute auf ihren Lippen und betrachtete stirnrunzelnd und verärgert den Schal. Es half ihr überhaupt nicht. Allein der Gedanke daran, eine Öffnung in das Muster zu zwingen, verursachte ihr Übelkeit. Sie hatte gehofft, es wäre etwas wie das, was sie in bezug auf Tel'aran'rhiod herausgefunden hatte. Es war natürlich nicht so, daß sie es jemals benutzen wollte, aber sie hatte all jene Zeit zur Verfügung gehabt, und die Weisen Frauen nörgelten ständig über die Aes Sedai und fragten, wie man körperlich in die Welt der Träume eintrat. Sie dachte, man könnte es nur dadurch erreichen, daß man eine Ähnlichkeit zwischen der wirklichen Welt und ihrer Reflexion in der Welt der Träume schuf — der Begriff Ähnlichkeit schien die einzige Möglichkeit, es zu beschreiben. Dadurch sollte ein Ort geschaffen werden, an dem man einfach überwechseln könnte. Wenn Rands Methode zu reisen auch nur annähernd ähnlich gewesen wäre, hätte sie es gern versucht, aber so ... Saidar tat, was man wollte, solange man sich daran erinnerte, daß es unendlich viel stärker als man selbst war und sanft geführt werden mußte. Wenn man versuchte, das Falsche zu erzwingen, war man tot oder verbrannt, bevor man auch nur schreien konnte.

»Rand, bist du sicher, daß es keinen Sinn ergibt, Dinge auf die gleiche Art zu tun ... oder...?« Sie wußte nicht, wie sie es ausdrücken sollte, aber er hatte ohnehin bereits den Kopf geschüttelt, bevor sie abgebrochen hatte.

»Das klingt, als würde man das Gewebe des Musters ändern. Ich denke, es würde mich zerreißen, wenn ich es auch nur versuchte. Ich habe eine Öffnung gebohrt.« Er bohrte einen Finger in ihre Richtung, um es ihr zu verdeutlichen.

Nun, es hatte keinen Zweck, das weiterzuverfolgen. Sie rückte verärgert ihren Schal zurecht. »Rand, wegen dieser Meerleute. Ich weiß nicht mehr, als ich gelesen habe...« Sie wußte doch mehr darüber, aber sie würde es ihm noch immer nicht sagen, »Aber es muß etwas Wichtiges sein, wenn sie einen solch weiten Weg zurücklegen, um dich zu sehen.«

»Licht«, murmelte er abwesend, »du springst herum wie ein Tropfen Wasser auf einem heißen Backblech. Ich werde sie empfangen, wenn ich Zeit habe.« Er rieb sich einen Moment über die Stirn, und seine Augen schienen blind. Er blinzelte und sah sie dann wieder an. »Beabsichtigst du zu bleiben, bis sie zurückkommen?« Er wollte sie wirklich loswerden.

Sie hielt an der Tür inne, aber er durchschritt bereits den Raum, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und sprach mit sich selbst. Leise, aber sie konnte einige Worte verstehen, »Wo verbirgst du dich, verdammter Kerl? Ich weiß, daß du da bist!«

Sie verließ schaudernd den Raum. Wenn er wirklich wahnsinnig wurde, konnte man es nicht ändern. Das Rad wob, wie das Rad es wünschte, und sein Gewebe mußte angenommen werden.

Als sie erkannte, daß sie die über den Gang eilenden Diener daraufhin betrachtete, ob sie vielleicht Aes Sedai-Spione sein könnten, blieb sie stehen. Das Rad wob, wie das Rad es wünschte. Sie nickte Somara zu, straffte die Schultern und bemühte sich, auf ihrem Weg zum nächstgelegenen Dienstboteneingang nicht zu rennen.

Es wurde nur wenig gesprochen, als Arilyns beste Kutsche vom Sonnenpalast fortschwankte, gefolgt von dem Wagen, der die Kisten beinhaltet hatte, und jetzt nur noch die Dienerinnen und den Kutscher beförderte. In der Kutsche legte Nesune nachdenklich die Finger an die Lippen. Ein beeindruckender junger Mann. Ein faszinierendes Studienobjekt. Ihr Fuß berührte eine der Musterkisten unter dem Sitz. Sie fuhr niemals irgendwohin, ohne die passenden Musterkisten dabeizuhaben. Man sollte denken, die Welt wäre schon vor langer Zeit aufgezeichnet worden, und doch hatte sie, seit sie Tar Valon verlassen hatten, schon fünfzig Pflanzen und zweimal so viele Insekten gesammelt, sowie die Knochen eines Fuchses, von drei Arten Lerchen und nicht weniger als fünf Arten Erdhörnchen, die, wie sie sicher wußte, nirgendwo verzeichnet waren.

»Ich wußte gar nicht, daß Ihr mit Alviarin befreundet seid«, sagte Coiren nach einer Weile.

Galina schnaubte. »Ich muß nicht mit ihr befreundet sein, um zu wissen, daß es ihr gutging, als wir aufbrachen.« Nesune fragte sich, ob sich die Frau bewußt war, daß sie schmollte. Vielleicht lag es nur an der Form der Lippen, aber man mußte mit seinem Gesicht zu leben lernen. »Glaubt Ihr, daß er es wahrhaftig wußte?« fuhr Galina fort. »Daß wir... Es ist unmöglich. Er kann es nur vermutet haben.«

Nesune spitzte die Ohren, obwohl sie sich weiterhin an die Lippen tippte. Das war eindeutig der Versuch, das Thema zu wechseln, und außerdem ein Zeichen dafür, daß Galina nervös war. Sie hatten alle so lange geschwiegen, weil niemand al'Thor erwähnen wollte, und doch schien kein anderes Thema möglich. Warum wollte Galina nicht über Alviarin sprechen? Die beiden waren sicherlich nicht befreundet. Es kam nur selten vor, daß eine Rote außerhalb ihrer Ajah Freunde hatte. Nesune wies der Frage im Geiste einen besonderen Platz zu.

»Wenn er es nur vermutet hätte, könnte er auf dem Jahrmarkt sein Vermögen machen.« Coiren war keine Närrin. Jenseits aller Vernunft hochtrabend, aber niemals eine Närrin. »Wie lächerlich es auch scheinen mag — wir müssen dennoch annehmen, daß er Saidar bei einer Frau spüren kann.«

»Das könnte sich als verhängnisvoll erweisen«, murmelte Galina. »Nein. Das kann nicht sein. Er kann es nur vermutet haben. Jeder Mann, der die Macht zu lenken vermag, sollte annehmen, daß wir Saidar willkommen heißen.«

Das Schmollen der Frau ärgerte Nesune. Diese ganze Reise ärgerte sie. Sie wäre glücklicher gewesen, sich dieser Aufgabe anzuschließen, wenn sie darum gebeten worden wäre, aber Jesse Bilal hatte sie nicht gebeten. Jesse hatte sie praktisch eigenhändig aufs Pferd gesetzt. Wie auch immer es in anderen Ajahs gehandhabt werden mochte — ein solches Verhalten wurde von der Vorsitzenden des Rates der Braunen nicht erwartet. Das Schlimmste war jedoch, daß Nesunes Begleiterinnen so auf den jungen Rand al'Thor ausgerichtet waren, daß sie allem anderen gegenüber blind geworden zu sein schienen.

»Habt Ihr irgendeine Ahnung, wer die Schwester war, die an unserem Gespräch teilhatte?« sann sie laut.

Vielleicht war es keine Schwester — drei Aielfrauen tauchten zufällig auf, als sie in die Königliche Bibliothek ging, und zwei davon konnten die Macht lenken —, aber sie wollte ihre Reaktionen sehen. Sie wurde nicht enttäuscht, oder, eher gesagt, sie wurde doch enttäuscht. Coiren setzte sich nur aufrechter hin, aber Galina starrte sie an. Es fiel Nesune schwer, nicht zu seufzen. Sie waren wirklich blind. Sie waren nur wenige Schritte von einer Frau entfernt gewesen, die die Macht lenken konnte, und sie hatten sie nicht gespürt, weil sie die Frau nicht sehen konnten.

»Ich weiß nicht, wie sie verborgen wurde«, fuhr Nesune fort, »aber es wird interessant sein, das herauszubekommen.« Es mußte sein Werk gewesen sein. Sie hätten jedes Saidar-Gewebe gesehen. Sie fragten nicht, ob sie sicher war. Sie wußten, daß sie eine Vermutung stets begründen konnte.

»Das ist die Bestätigung, daß Moiraine lebt.« Galina setzte sich mit grimmigem Lächeln zurück. »Wir werden vermutlich Beldeine darauf ansetzen, sie zu finden. Dann packen wir sie und sperren sie gefesselt im Kellergeschoß ein. In der Folge wird sie von al'Thor ferngehalten, und wir können sie mit ihm nach Tar Valon bringen. Ich bezweifle, daß er es auch nur bemerken wird, solange wir genügend Gold vor seiner Nase glitzern lassen.«

Coiren schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Wir haben jetzt keine größere Bestätigung als zuvor, nicht was Moiraine betrifft. Vielleicht war es diese geheimnisvolle Grüne. Ich stimme zu, daß wir herausfinden müssen, wer sie ist, aber alles weitere müssen wir sorgfältig überdenken. Ich werde nicht alles aufs Spiel setzen, was wir so ausgiebig geplant haben. Wir müssen uns der Tatsache bewußt sein, daß al'Thor mit dieser Schwester verbunden ist — wer auch immer sie sein mag — und daß seine Bitte um Zeit vielleicht nur ein Vorwand ist. Glücklicherweise haben wir Zeit.« Galina nickte, wenn auch nur widerwillig. Sie würde eher heiraten und sich auf einem Bauernhof niederlassen, als ihre Plane zu gefährden.

Nesune gestattete sich ein leises Seufzen. Abgesehen von der Prahlerei war Coirens einziger wahrer Fehler, daß sie stets das Offensichtliche anführte. Sie hatte einen klaren Verstand, wenn sie ihn einmal benutzte. Und sie hatten wirklich Zeit. Ihr Fuß berührte erneut eine der Musterkisten. Wie auch immer sich die Ereignisse wenden würden — das Schriftstück, das sie al'Thor zu schicken gedachte, würde der Höhepunkt ihres Lebens werden.

Загрузка...