11 Lehrende und Lernende

Kaum war Rand aus der Tür, als Verin langgezogen ausatmete. Sie hatte die Luft angehalten. Einst hatte sie Siuan und Moiraine gegenüber betont, wie gefährlich er sei. Keine von beiden hatte auf sie gehört, und nun, nachdem wenig mehr als ein Jahr vorüber war, war Siuan einer Dämpfung unterzogen und möglicherweise tot, während Moiraine... Auf den Straßen hörte man pausenlos Gerüchte über den Aufenthalt des Wiedergeborenen Drachen im Königlichen Palast, das meiste davon völlig unglaublich, und von den glaubhaften erwähnte keines eine Aes Sedai. Moiraine hatte vielleicht geplant, ihn glauben zu machen, er habe Entscheidungsfreiheit und könne seinen eigenen Weg gehen, doch sie würde ihm nie gestatten, sich allzu weit von ihr zu entfernen, erst recht nicht jetzt, da er zu solcher Machtfülle aufgestiegen war. Nicht jetzt, da die Gefahr, die er darstellte, derart groß geworden war. Hatte Rand sie ebenfalls bestürmt, doch heftiger als gerade eben bei ihnen? Er war gealtert, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, und sein Gesicht zeigte die Härte vieler Kämpfe. Das Licht wußte, daß es wirklich genug Gründe dafür gab, aber konnte es nicht auch gleichzeitig an seinem Kampf um die geistige Gesundheit liegen?

Moiraine war tot, Siuan tot, die Weiße Burg gespalten, und Rand wahrscheinlich dem Wahnsinn nähe. Verin schnalzte gereizt mit der Zunge. Ging man Risiken ein, konnte es sein, daß die Rechnung dafür eingelöst werden mußte, wenn man es am wenigsten erwartete, und in einer Art, die man ebenfalls nicht erwartete. Beinahe siebzig Jahre aufwendiger Vorarbeiten auf ihrer Seite, und nun war das alles eines jungen Mannes wegen in Frage gestellt. Trotzdem; sie hatte zu lange gelebt, zuviel durchgemacht, um sich der Verzweiflung einfach hinzugeben.

Alles der Reihe nach; kümmere dich um die Dinge, die jetzt erledigt werden können, und mache dir nicht zu viele Gedanken über Sachen, die vielleicht niemals geschehen werden. Diese Lehre hatte sie in ihrem Leben Öfters befolgt, und sie hatte sich das zu Herzen genommen.

Das wichtigste war, zunächst einmal die jungen Frauen zu beruhigen. Sie drückten sich noch immer wie eine Herde von Schafen aneinander, weinten, klammerten sich fest und verbargen die Gesichter. Sie verstand das recht gut. Für sie war es nicht das erste Mal, daß sie einem Mann gegenübergestanden hatte, der die Macht gebrauchen konnte, und der noch dazu der Wiedergeborene Drache selbst war, und trotzdem hatte sie ein Gefühl im Magen, als befinde sie sich auf einem Schiff bei schwerem Seegang. Sie redete beruhigend auf die Mädchen ein, tätschelte hier eine Schulter, strich dort über das Haar und bemühte sich, ihre Stimme mütterlich klingen zu lassen. Ihnen erst einmal beizubringen, daß Rand weg war, was in den meisten Fällen auch bedeutete, daß sie die Augen wieder öffneten, tat viel dazu, sie einigermaßen zu beruhigen. Wenigstens hörte das Schluchzen auf. Aber Janacy verlangte andauernd mit durchdringender Stimme, man solle ihr erklären, daß Rand gelogen habe, daß alles ein Trick gewesen sei, während Bodewhin genauso schrill forderte, man solle ihren Bruder suchen und retten. Verin hätte auch viel dafür gegeben, zu wissen, wo sich Mat befand. Und Larine sprudelte heraus, sie sollten sofort Caemlyn verlassen, auf dem Fuße.

Verin zog eine der Serviererinnen zur Seite. Die Frau mit dem Durchschnittsgesicht war mindestens zwanzig Jahre älter als die Mädchen von den Zwei Flüssen, doch auch sie hatte die Augen weit aufgerissen, wischte sich mit dem Schürzenzipfel Tränen vom Gesicht und bebte noch immer. Nachdem sie die Frau nach ihrem Namen gefragt hatte, sagte Verin: »Bringt ihnen allen schönen, frisch gebrühten Tee, Azril, heiß und mit viel Honig, und kippt ein wenig Brandy hinein.« Sie musterte die jüngere Frau einen Moment lang nachdenklich und fügte dann hinzu: »Mehr als nur ein wenig. Ein ordentlicher Schuß für jede.« Das sollte helfen, ihre Nerven zu beruhigen. »Ihr und die anderen Bedienungen könnt Euch auch etwas einschenken.« Azril schniefte, blinzelte und wischte sich übers Gesicht, doch sie knickste, denn an ihre Pflichten erinnert zu werden, schien ihren Tränenfluß einzudämmen, wenn nicht gar ihre Angst.

»Bringt ihnen den Tee auf die Zimmer«, sagte Alanna, und Verin nickte zustimmend. Ein bißchen Schlaf würde Wunder bewirken. Sie waren erst vor wenigen Stunden aufgestanden, aber die Anstrengung der Reise und noch dazu der Brandy würden dafür sorgen, daß sie schlafen konnten.

Der Auftrag löste Proteste aus.

»Wir können uns nicht hier verstecken«, brachte Larine zwischen Schniefen und Schluckauf heraus. »Wir müssen jetzt weg! Jetzt! Er wird uns umbringen!«

Bodewhins Wangen glitzerten feucht, doch ihr Gesicht hatte einen entschlossenen Ausdruck angenommen. Diese für die Bewohner der Zwei Flüsse typische Sturheit würde noch mehr als eine der jungen Frauen in Schwierigkeiten bringen. »Wir müssen Mat finden. Wir können ihn nicht bei einem Mann lassen ... bei einem Mann, der... Das können wir nicht! Selbst wenn es Rand ist, können wir das nicht!«

»Ich will Caemlyn sehen«, quiekte Janacy, obwohl sie noch immer zitterte.

Nun mischte sich auch der Rest in die Debatte ein. Eine Handvoll unterstützten trotz aller Angst mit leicht zittrigen Stimmen Janacys Wunsch, die Mehrheit verlangte jedoch leidenschaftlich die sofortige Abreise. Eine der jungen Frauen aus Wachhügel, ein großes, hübsches Mädchen namens Elle mit recht hellen Haaren für die Zwei Flüsse, begann wieder aus voller Kehle zu heulen.

Verin mußte sich zurückhalten, um nicht der ganzen Bande Ohrfeigen zu verpassen. Den Jüngsten konnte sie natürlich keinen Vorwurf machen, aber Larine und Elle und die anderen, die bereits ihr Haar zu Zöpfen geflochten trugen, waren doch angeblich schon Frauen. Die meisten waren nicht einmal berührt worden, und die Gefahr war längst vorbei. Andererseits waren sie alle müde. Rands Besuch war wie ein Schock gekommen, und höchstwahrscheinlich würden sie so etwas in der nahen Zukunft noch oft erleben, also beherrschte sie sich.

Alanna beherrschte sich dagegen nicht. Selbst unter den Grünen war sie als reines Quecksilber verrufen, und in letzter Zeit war es mit ihrem Temperament noch schlimmer geworden, »Ihr begebt Euch jetzt sofort auf Eure Zimmer«, sagte sie kühl, doch nur ihre Stimme strahlte diese Kühle aus. Verin seufzte, als die andere Aes Sedai ein Trugbild aus Luft und Feuer verwob. Überall im Raum wurde nach Luft geschnappt, und die weit aufgerissenen Augen quollen noch zusätzlich heraus. Eigentlich war das überflüssig, doch die guten Manieren verboten es Verin, öffentlich einer anderen Schwester ins Handwerk zu pfuschen, und zudem empfand sie es als Erleichterung, daß Elles Heulen mit einem Mal abbrach. Auch ihre eigenen Nerven lagen blank. Natürlich konnten diese unausgebildeten jungen Frauen die Stränge der Macht nicht sehen. Ihnen mußte es erscheinen, als wachse Alanna bei jedem Wort. Auch ihre Stimme schwoll mit an, obwohl der Tonfall der gleiche blieb, und nun dröhnte sie, wie es ihrer augenblicklichen Größe entsprach: »Ihr werdet alle Novizinnen werden, und die erste Lektion, die eine Novizin zu lernen hat, ist die, einer Aes Sedai zu gehorchen. Augenblicklich. Ohne Euch zu beklagen oder Ausflüchte zu gebrauchen.« Alanna stand unverändert mitten im Schankraum — für Verin zumindest — aber der Kopf des Trugbilds berührte die Deckenbalken. »Jetzt rennt! Wer sich nicht in seinem Zimmer befindet, wenn ich bis fünf gezählt habe, wird das bis zum Tag seines Todes bereuen. Eins. Zwei...« Bevor sie zur Drei kam, gab es ein irres, quiekendes Gedränge am Fuß der Treppe ganz hinten im Raum. Es war ein Wunder, daß keine niedergetrampelt wurde.

Alanna mußte gar nicht erst über die Vier hinauszählen. Als die letzten der Mädchen von den Zwei Flüssen nach oben verschwanden, ließ sie Saidar fahren; das Trugbild verschwand, und sie nickte kurz und befriedigt. Verin nahm an, jetzt müsse man sogar beachtliche Überredungskünste aufwenden, um eine von ihnen dazu zu bringen, auch nur einen Blick aus ihrem Zimmer zu werfen. Vielleicht war das auch gut so. Bei der Lage der Dinge wollte sie nicht, daß sich eine hinausschlich, um Caemlyn zu erkunden.

Selbstverständlich hatte Alanna auch darüber hinaus noch Wirkung hinterlassen. Es war notwendig, die Serviererinnen unter den Tischen hervorzulocken, wo sie sich versteckt hatten, und einer Frau, die beim Versuch, bis zur Küche zu kriechen, zusammengeklappt war, mußten sie wieder auf die Beine helfen. Sie gaben keinen Laut von sich und zitterten lediglich wie Blätter im Sturm. Verin mußte jede erst ein wenig anschubsen, damit sie sich in Bewegung setzten, und ihren Befehl in bezug auf den Brandy wiederholte sie dreimal, bis Azril aufhörte, sie anzustarren, als wachse ihr ein zweiter Kopf aus den Schultern. Dem Wirt war die Kinnlade fast bis auf die Brust heruntergeklappt, und die Augen fielen ihm beinahe aus dem Kopf. Verin sah zu Tomas hinüber und deutete auf den wankenden Mann.

Tomas warf ihr einen sarkastischen Blick zu — das tat er immer, wenn sie ihn irgendwelche niederen Arbeiten erledigen ließ, doch er stellte ihre Befehle nur selten in Frage —, dann legte er einen Arm um Meister Dilhams Schultern und schlug in jovialem Tonfall vor, gemeinsam ein paar Krüge seines besten Weines zu leeren. Ein guter Mann, dieser Tomas, und er konnte ganz überraschende Dinge vollbringen. Ihvon hatte sich hingesetzt, an eine Wand gelehnt und die Beine auf einen Tisch gelegt. Er brachte es fertig, gleichzeitig den Eingang von der Straße her und auch Alanna im Auge zu behalten. Alanna beobachtete er mit äußerster Vorsicht. Er behandelte sie noch fürsorglicher, seit Owein, ihr anderer Behüter, im Gebiet der Zwei Flüsse ums Leben gekommen war, und klugerweise auch mehr als nur vorsichtig, was ihre Launen betraf, auch wenn sie diese meist besser im Griff hatte als heute. Alanna selbst zeigte kein Interesse daran, das Durcheinander mit den anderen zu bereinigen, das sie angerichtet hatte. Sie stand in der Mitte des Schankraums, hatte die Arme verschränkt und blickte ins Leere. Jedem anderen als einer Aes Sedai mußte sie wie die Gestalt gewordene Würde vorkommen. Verin jedoch kam Alanna wie eine Frau vor, die kurz vor einem Wutausbruch stand.

Verin berührte ihren Arm. »Wir müssen uns unterhalten.« Alanna sah sie mit einem undurchschaubaren Blick an und glitt dann wortlos in Richtung des privaten Speisezimmers.

Hinter sich hörte Verin Meister Dilham mit zittriger Stimme sagen: »Glaubt Ihr, ich kann damit werben, daß der Wiedergeborene Drache Gast in meiner Schenke war? Er war schließlich da.« Einen kurzen Moment lächelte sie. Er würde also darüber hinwegkommen. Ihr Lächeln verflog jedoch, als sie die Tür hinter sich und Alanna schloß. Nun waren sie unter vier Augen.

Alanna tigerte bereits in dem kleinen Raum umher. Die Seide ihres Hosenrocks verursachte beim Ausschreiten ein Geräusch, als gleite ein Schwert aus der Scheide. Nun strömte ihre Miene keinerlei Würde mehr aus. »Die Frechheit dieses Mannes! Diese unglaubliche Frechheit! Uns hier einzusperren! Unsere Bewegungsfreiheit einzuschränken!«

Verin beobachtete sie ein paar Augenblicke lang, bevor sie etwas dazu sagte. Sie hatte zehn Jahre lang gebraucht, um über Balinors Tod hinwegzukommen und Ihvon an sich zu binden. Alanna war aufgewühlt gewesen, seit Owein gestorben war, und sie hatte alles viel zu lange nur in sich hineingefressen. Die paar Mal, die sie sich seit der Abreise von den Zwei Flüssen heimlich ausgeweint hatte, waren bei weitem nicht ausreichend gewesen. »Ich denke schon, daß er uns mit Wachen am Tor von der Innenstadt fernhalten kann, aber in Caemlyn festhalten kann er uns nicht.«

Das brachte ihr den vernichtenden Blick ein, den sie erwartet hatte. Sie könnten ohne große Schwierigkeiten abreisen — soviel Rand auch dazugelernt haben mochte, war die Wahrscheinlichkeit doch gering, daß er auf die Technik der Wachgewebe gestoßen war — aber das würde bedeuten, daß sie die Mädchen von den Zwei Flüssen zurücklassen müßten. Keine Aes Sedai hatte einen solchen Schatz wie den in den Zwei Flüssen gefunden, seit... Verin konnte sich gar nicht vorstellen, wie lange das her sein mußte. Möglicherweise nicht mehr seit den Trollockriegen. Sogar junge Frauen von achtzehn Jahren — und da hatten sie die Grenze gesetzt — fanden es oftmals unerträglich, die Einschränkungen auf sich zu nehmen, die eine Novizin erdulden mußte, doch härten sie diese Grenze auch nur um fünf Jahre hinausgeschoben, wären es bestimmt doppelt so viele geworden, wenn nicht mehr. Bei fünf dieser Mädchen — fünf! — war das Talent angeboren, Mats Schwester und Elle und die junge Janacy eingeschlossen, und sie würden irgendwann die Macht benützen, ob man es ihnen nun beibrachte oder nicht, und dann würden sie auch sehr stark werden. Sie und Alanna hatten alle diese Talente aufgespürt, und zwei weitere hatten sie noch zurückgelassen, um sie in einem Jahr abzuholen, wenn sie alt genug waren, um von zu Hause wegzugehen. Das war ohne weiteres möglich, denn die angeborenen Fähigkeiten zeigten sich für gewöhnlich erst, wenn die Mädchen etwa fünfzehn waren. Doch die anderen gaben bereits zu höchsten Erwartungen Anlaß, und zwar alle von ihnen. Die Zwei Flüsse stellten in dieser Hinsicht die reinste Goldader dar.

Jetzt, da sie die Aufmerksamkeit der anderen Frau erregt hatte, wechselte Verin das Thema. Sie hatte gewiß nicht die Absicht, diese jungen Frauen im Stich zu lassen. Genausowenig beabsichtigte sie, sich noch einmal weiter von Rand zu entfernen als unbedingt notwendig. »Glaubst du, daß er recht hat hinsichtlich der Rebellen?«

Alannas Hände verkrampften sich einen Augenblick lang in ihren Rock. »Die bloße Möglichkeit stößt mich ab! Sind wir wirklich so tief gesunken...?« Sie ließ die Worte verklingen, die ohnehin so hoffnungslos geklungen hatten. Die Schultern hingen ihr herunter. Tränen standen ihr in den Augen, und sie konnte sie nur mit Mühe zurückhalten.

Nun, da der Zorn der anderen Frau verraucht war, mußte ihr Verin einige Fragen stellen, bevor die Erregung zurückkehrte. »Besteht irgendeine Aussicht, daß deine Metzgersfrau dir mehr darüber berichten kann, was sich in Tar Valon abgespielt hat, falls du ein wenig nachbohrst?« Die Frau war keine private Agentin Alannas, sondern eine der Grünen Ajah, auf die sie nur gestoßen waren, weil sie über ihrer Ladentür eine Art von geheimem Notsignal aufgehängt hatte. Nicht, daß Alanna Verin darüber aufgeklärt hätte, welcher Art dieses Signal gewesen war — das versteht sich von selbst. Verin hätte ihr auch kein Geheimzeichen der Braunen verraten.

»Nein. Sie weiß nicht mehr als die Botschaft, die sie mir übermittelte, und dabei hatte sie vor Angst einen so trockenen Mund, daß sie die Worte kaum herausbrachte. Alle loyalen Aes Sedai sollen zur Burg zurückkehren. Alles wird ihnen vergeben.« Zumindest dem Sinn nach war das alles gewesen. Zorn blitzte kurz in Alannas Augen auf, doch nur einen Augenblick lang und nicht so stark wie zuvor. »Wenn nicht all diese Gerüchte wären, hätte ich dich niemals wissen lassen, wer sie ist.« Das und ihre aufgewühlten Gefühle. Wenigstens hatte sie mit dem Herumtigern aufgehört.

»Ich weiß«, sagte Verin und setzte sich an den Tisch. »Ich werde die Vertraulichkeit auch respektieren. Aber gib es zu: Diese Botschaft bestätigt die Gerüchte. Die Burg ist gespalten. Höchstwahrscheinlich gibt es wirklich irgendwo Rebellen. Die Frage ist nur: Wie verhalten wir uns jetzt?«

Alanna blickte sie an, als sei sie verrückt geworden. Kein Wunder. Siuan mußte vom Burgsaal abgesetzt worden sein, ganz den Gesetzen der Burg entsprechend. Schon die bloße Vorstellung, sich gegen die Burg zu wenden, war undenkbar. Aber auch der Gedanke, daß die Burg in sich gespalten sei, war unvorstellbar gewesen.

»Wenn du jetzt keine Antwort darauf findest, denke einfach darüber nach. Und auch über folgendes: Siuan Sanche hatte einen großen Anteil daran, daß wir den jungen al'Thor gefunden haben.« Alanna Öffnete den Mund — höchstwahrscheinlich, um Verin zu fragen, woher sie das wisse und ob auch sie Teil dieses Plans gewesen sei — doch Verin ließ ihr keine Möglichkeit dazu. »Man müßte schon geistig zurückgeblieben sein, um nicht zu merken, daß dieser Plan zumindest teilweise zu ihrem Sturz geführt hat. Zufälle dieses Ausmaßes gibt es nicht. Also überlege dir, wie Elaida wohl Rand sieht. Denke daran, daß sie eine Rote war. Und bevor du nachdenkst, beantworte mir erst einmal eine Frage: Was hattest du vor, als du ihn als Behüter an dich gebunden hast?«

Diese Frage hätte Alanna nicht überraschen sollen, tat es aber doch. Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich. Bevor sie antwortete, zupfte sie noch ihren Rock zurecht. »Es war einfach logisch, wo er doch schon vor uns stand. Man hätte das schon lange machen sollen. Du konntest wohl nicht — oder wolltest du nicht?« Wie die meisten Grünen amüsierte sie sich über die Weigerung der Mitglieder anderer Ajahs, mehr als einen Behüter pro Schwester zuzulassen. Was die Grünen von den Roten hielten, die gar keine hatten, sagten sie lieber nicht laut. »Man hätte sie alle bei der ersten Gelegenheit binden sollen. Sie sind viel zu wichtig, um frei herumzulaufen, und er mehr als alle anderen.« Mit einem Mal liefen ihre Wangen rot an. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis sie ihre Gefühle wieder im Griff hatte.

Verin wußte, was hinter dem Erröten steckte. Alanna hatte etwas zu freimütig geplaudert. Sie hatten Perrin schließlich wochenlang vor der Nase gehabt, als sie in den Zwei Flüssen junge Frauen auf das Talent überprüften, doch was das betraf, ihn als Behüter zu binden, hatte sich Alanna ausgeschwiegen. Der Grund lag in einer hitzig ausgesprochenen Drohung Failes —außerhalb Perrins Hörweite selbstverständlich: Falls Alanna so etwas mache, werde sie die Zwei Flüsse nicht mehr lebend verlassen. Hätte Faile mehr über die Verbindung zwischen Aes Sedai und Behüter gewußt, wäre die Drohung wirkungslos geblieben, aber vor allem ihre Ahnungslosigkeit hatte Alanna zurückgehalten. Wahrscheinlich war es der schlechte Zustand ihrer Nerven gewesen, der zu ihrer Handlungsweise geführt hatte —Rand nicht nur an sich zu binden, sondern das auch noch gegen seinen Willen. So etwas war seit Hunderten von Jahren nicht mehr vorgekommen.

Tja, dachte Verin trocken, ich habe in meinem Leben auch so manches ungeschriebene Gesetz übertreten. »Logisch?« fragte sie und lächelte, um ihren Worten den Biß zu nehmen. »Du klingst wie eine Weiße. Na ja. Jetzt hast du ihn am Hals. Was wirst du nun mit ihm machen? Bedenke, wie er uns behandelt hat. Das erinnert mich an eine Bettkantengeschichte aus meiner Kindheit. Da ging es um eine Frau, die einem Löwen Sattel und Zaumzeug angelegt hat. Sie hat den Ritt sehr genossen, aber dann wurde ihr klar, daß sie weder absteigen noch schlafen durfte.«

Schaudernd rieb sich Alanna die Arme. »Ich kann noch immer nicht glauben, daß er so stark ist. Hätten wir uns nur früher verknüpft. Und ich versuchte doch... Ich habe es nicht geschafft... Er ist so stark!«

Verin konnte gerade noch ein Schaudern unterdrücken. Sie hätten sich gar nicht früher verknüpfen können, außer Alanna meinte damit, sie hätten sich verknüpfen sollen, bevor sie ihn als Behüter an sich band. Verin war sich des möglichen Resultats nicht sicher. Auf jeden Fall hatte es in letzter Zeit eine ganze Reihe äußerst besorgniserregender Erlebnisse gegeben, angefangen mit ihrer Entdeckung, daß sie ihn nicht von der Wahren Quelle abschneiden konnten, bis hin zu der beinahe verächtlich erscheinenden Leichtigkeit, mit der er sie abgeschirmt hatte, wobei er ihre Nabelschnüre zu Saidar wie dünne Fäden zerrissen hatte. Bei beiden zugleich. Bemerkenswert. Wie viele würde man benötigen, um ihn abzuschirmen und zu fesseln? Alle dreizehn? Das war wohl nur eine Tradition, aber bei ihm mochte es zur Notwendigkeit werden. Wie auch immer, dieses Problem mußten sie ein andermal lösen. »Und dann ist da noch die Sache mit seiner Amnestie.«

Alannas Augen weiteten sich. »Das glaubst du doch sicher nicht! Bei jedem falschen Drachen gab es Gerüchte, er versammle Männer um sich, die mit der Macht umgehen können, aber die stimmten genausowenig. Sie wollten Macht an sich reißen und sie nicht mit anderen Männern teilen!«

»Er ist aber kein falscher Drache«, sagte Verin leise, »und das ändert alles. Wenn ein Gerücht stimmt, dann kann auch an einem anderen etwas dran sein, und die Amnestie war doch in aller Munde, seit wir Weißbrücke verließen.«

»Selbst wenn es stimmt, hat sich vielleicht niemand gemeldet. Kein anständiger Mann will etwas mit der Macht zu tun haben. Wenn mehr als eine Handvoll das jemals wünschte, hätten wir jede Woche einen falschen Drachen gehabt.«

»Er ist ein Ta'veren, Alanna. Er zieht das an, was er benötigt.«

Alannas Kiefer bewegte sich, und ihre Hände auf dem Tisch hatte sie nun zu Fäusten geballt. Die Knöchel färbten sich vor Verkrampfung weiß. Jedes bißchen der sonst so typischen Beherrschung einer Aes Sedai war verflogen, und sie zitterte sichtlich. »Wir können nicht zulassen... Männer, die die Macht benützen und auf die Welt losgelassen werden? Falls das stimmt, müssen wir es verhindern!« Sie war nahe daran, wieder aufzuspringen, und ihre Augen blitzten.

»Bevor wir eine Entscheidung treffen, was im Hinblick darauf zu tun ist«, sagte Verin gelassen, »müssen wir erst in Erfahrung bringen, wo er sie untergebracht hat. Der Königliche Palast erscheint mir am wahrscheinlichsten, aber es mag schwierig sein, das herauszufinden, wenn uns die Innenstadt versperrt ist. Also schlage ich folgendes vor...« Alanna beugte sich aufmerksam vor.

Es gab eine ganze Menge zu planen, aber das meiste hatte bis später Zeit. Etliche Fragen mußten beantwortet werden; später. War Moiraine tot, und falls ja, wie war sie ums Leben gekommen? Gab es die Rebellen, und welche Haltung sollten Verin und Alanna ihnen gegenüber einnehmen? Sollten sie versuchen, Rand Elaida auszuliefern oder diesen Rebellen? Wo befanden sie sich? Das Wissen darum wäre wertvoll, ganz gleich, wie die anderen Antworten ausfallen würden. Wie sollten sie diese so leicht zerreißbare Leine benützen, an die Alanna Rand gelegt hatte? Sollte eine von ihnen oder auch beide versuchen, den Platz Moiraines einzunehmen? Zum ersten Mal, seit Alanna ihren Schmerz über Oweins Tod so deutlich an die Oberfläche hatte treten lassen, war Verin froh darüber, daß sie sich so lange zurückgehalten hatte, daß sie sich jetzt kaum noch beherrschen konnte und damit auch so leicht zu beeinflussen war. Jetzt würde sich Alanna eher ihrer Führung anvertrauen, und Verin wußte sehr genau, wie die Antworten auf einige der im Raum liegenden Fragen aussehen würden. Sie glaubte nicht, daß diese Antworten Alanna gefallen würden. Am besten, wenn sie nichts davon erfuhr, bis es ohnehin zu spät war, um etwas daran zu ändern.

Rand ritt im Galopp zum Palast, so schnell, daß er selbst die rennenden Aiel hinter sich zurückließ. Er beachtete ihre Rufe nicht, und auch nicht die wütend geschwungenen Fäuste der Menschen, die gerade noch vor Jeade'ens Hufen zur Seite springen konnten. Hinter sich ließ er umgekippte Sänften und Kutschen zurück, deren Räder sich in denen von Marktkarren verkeilt hatten. Bashere und seine Soldaten aus Saldaea konnten auf ihren kleineren Pferden kaum mithalten. Er wußte selbst nicht, warum er sich so beeilte. Die Neuigkeiten, die er mitbrachte, waren nicht derart dringlich.

Doch als das Zittern seiner Arme und Beine langsam nachließ, wurde ihm immer deutlicher bewußt, daß er nach wie vor Alannas Gegenwart spürte. Er konnte sie fühlen. Es war, als sei sie in seinen Kopf hineingekrochen und habe es sich dort bequem gemacht. Wenn er sie auf diese Art fühlte, konnte sie seine Anwesenheit dann auch spüren? Was sonst eigentlich? Was sonst? Er mußte ihr entkommen.

Stolz, gackerte Lews Therin in seinem Hinterkopf, und ausnahmsweise einmal bemühte sich Rand nicht, die Stimme zu unterdrücken.

Er hatte ein anderes Ziel als den Palast im Sinn, aber beim Schnellen Reisen mußte man den Ort, den man verließ, noch besser kennen als den, zu dem man reisen wollte. Am Südstall warf er einem Stallburschen mit Lederweste die Zügel seines Hengstes zu und rannte los. Seine langen Beine ließen ihn schnell einen Vorsprung vor den Männern aus Saldaea gewinnen. In den Gängen stierten die Diener überrascht hinter ihm her, und ihre Knickse und Verbeugungen erstarrten, als er an ihnen vorüberhetzte. Im Großen Saal griff er nach Saidin, öffnete ein Loch in der Luft und sprang beinahe hindurch auf die kleine Lichtung in der Nähe des Bauernhofs. Dort ließ er die Wahre Quelle wieder los.

Er atmete langgezogen aus und sank auf dem Teppich abgestorbener Blätter auf die Knie. Die Hitze unter dem Dach aus kahlen Ästen prügelte auf ihn ein. Er hatte schon vor einer ganzen Weile die notwendige Konzentration verloren, um die Hitze von sich abgleiten zu lassen. Er spürte immer noch ihre Gegenwart, doch hier war es schwächer, falls man das sichere Gefühl, sie befände sich genau in dieser Richtung, als schwächer bezeichnen wollte. Er hätte mit geschlossenen Augen in ihre Richtung deuten können.

Einen Moment lang ergriff er erneut Saidin, diesen tosenden Strom aus Feuer und Eis und säuerlichem Matsch. Er hielt ein Schwert in Händen, ein Schwert, aus Feuer geschmiedet, aus dem Feuer der Macht. Ein Reiher stach dunkel von der rotglühenden, leicht gekrümmten Klinge ab. Er konnte sich nicht erinnern, bewußt daran gedacht zu haben, Feuer, und doch fühlte sich das lange Griffstück kühl und fest an. Das Nichts spielte dabei keine Rolle, und auch die Macht änderte nichts daran. Alanna befand sich immer noch dort, lag gemütlich zusammengerollt in einem Winkel seines Hirns und beobachtete ihn.

Mit einem bitteren Auflachen ließ er die Macht wieder fahren und kniete einfach da. Er hatte sich so sicher gefühlt. Nur zwei Aes Sedai. Selbstverständlich konnte er mit ihnen fertig werden; er hatte auch Egwene und Elayne zusammen im Schach gehalten. Was könnten sie ihm schon antun? Ihm wurde bewußt, daß er immer noch lachte. Er schien nicht in der Lage zu sein, damit aufzuhören. Na ja, es war wirklich komisch. Sein törichter Stolz. Übersteigertes Selbstvertrauen. Das hatte ihn schon früher in Schwierigkeiten gebracht, und nicht nur ihn selbst. Er war so sicher gewesen, daß er im Verbund mit den Hundert Gefährten den Stollen fest verschließen könne...

Dürre Blätter raschelten, als er sich zum Aufstehen zwang. »Das war ich nicht!« sagte er heiser. »Das war nicht ich! Raus aus meinem Kopf! Das gilt für Euch alle: raus aus meinem Kopf!« Lews Therins Stimme murmelte undeutlich und fern. Alanna wartete schweigend und geduldig in seinem Hinterkopf. Die Stimme schien sich vor ihr zu fürchten.

Rand klopfte sich den Schmutz von den Knien seiner Hose. Er würde sich nicht so einfach in sein Schicksal ergeben. Traue keiner Aes Sedai — das würde er von nun an beherzigen. Ein Mann ohne Vertrauen ist so gut wie tot, kicherte Lews Therin. Er würde nicht nachgeben.

Nichts hatte sich hier an dem Bauernhof verändert. Nichts, und doch alles. Wohnhaus und Scheune waren die gleichen, genau wie die Hühner und Ziegen und Kühe. Sora Grady beobachtete seine Ankunft mit kalter und nichtssagender Miene von einem Fenster aus. Sie war nun die einzige Frau hier; all die anderen Ehefrauen und Freundinnen waren mit den Männern fortgezogen, die Taims Prüfungen nicht bestanden hatten. Taim befand sich mit seinen Schülern auf einer Fläche aus hartgebackenem roten Ton, aus dem nur wenige Unkräuter sprossen, hinter der Scheune. Mit allen sieben. Abgesehen von Soras Mann Jur waren nur noch Damer Flinn, Eben Hopwil und Fedwin Morr aus jener ersten Gruppe Übriggeblieben. Die anderen waren neu und wirkten beinahe ebenso jung wie Fedwin und Eben.

Außer dem weißhaarigen Damer saßen die Schüler in einer Reihe und hatten Rand die Rücken zugewandt.

Damer stand vor ihnen und hatte angestrengt die Stirn gerunzelt. Er blickte einen kopfgroßen Steinbrocken an, der ungefähr dreißig Schritt entfernt lag.

»Jetzt«, sagte Taim, und Rand spürte, wie Damer nach Saidin griff und ungeschickt Feuer und Erde miteinander verwob.

Der Stein explodierte, und Damer und die anderen Schüler warfen sich zu Boden, um den umherfliegenden Splittern zu entgehen. Taim nicht; Steinbrocken prallten an dem Schild aus Luft ab, den er im letzten Augenblick um sich gelegt hatte. Damer hob vorsichtig den Kopf und wischte sich das Blut von einem kleinen Schnitt unter seinem linken Auge. Rand verzog den Mund. Er hatte Glück gehabt, daß ihn keiner der umherfliegenden Steinsplitter getroffen hatte. Er blickte zurück zum Wohnhaus. Sora befand sich immer noch am Fenster und war offensichtlich unverletzt. Und sie sah ihn immer noch an. Die Hühner hatten ihr Scharren kaum unterbrochen. Sie schienen bereits an so etwas gewöhnt zu sein.

»Vielleicht werdet ihr euch beim nächsten Mal an meine Worte erinnern«, sagte Taim gelassen und löste sein Gewebe auf. »Schirmt euch ab, wenn ihr zuschlagt, sonst bringt ihr euch womöglich selbst um.« Er sah zu Rand herüber, als habe er die ganze Zeit über gewußt, daß er sich dort befand. »Macht weiter«, befahl er dann seinen Schülern und schritt auf Rand zu. Heute schien sein Gesicht mit der gekrümmten Raubvogelnase einen grausamen Zug aufzuweisen.

Als sich Damer wieder in die Reihe setzte, stand Eben mit dem fleckigen Gesicht auf und zupfte sich nervös an einem großen Ohr, während er das Element Luft benützte, um einen weiteren Steinbrocken von einem Stapel an der Seite zu heben und herüberschweben zu lassen. Sein Gewebe schwankte, und er ließ den Stein fallen, bevor er ihn beim zweiten Versuch an den vorgesehenen Platz legte.

»Kann man sie ohne Gefahr sich selbst überlassen?« fragte Rand, als Taim vor ihm stand.

Der zweite Stein explodierte wie der erste, aber diesmal hatte alle Schüler eine Abschirmung um sich gewoben. Taim ebenfalls, und zwar eine, die sowohl ihn wie auch Rand schützte. Wortlos griff Rand wieder nach Saidin und wob seinen eigenen Schild, wobei er den Taims nach außen hin wegschob. Taims verzog den Mund in dem schwachen Anflug eines Lächelns.

»Ihr sagtet, ich solle Druck machen, mein Lord Drache, also mache ich Druck. Ich lasse sie alles mit Hilfe der Macht bewerkstelligen, selbst die Alltagsarbeiten, alles. Der neueste Ankömmling hat gestern abend seine erste warme Mahlzeit bekommen. Wenn sie ihr Essen nicht selbst mit Hilfe der Macht aufwärmen, müssen sie eben kalt essen. In den meisten Fällen dauert alles immer noch doppelt so lange wie mit der Hand, aber sie erlernen den Gebrauch der Macht so schnell es nur geht, glaubt mir. Natürlich sind es noch nicht besonders viele.«

Rand beachtete die unausgesprochene Frage nicht und blickte sich um. »Wo steckt Haslin? Hoffentlich ist er nicht wieder betrunken? Ich hatte Euch doch befohlen, daß er nur am Abend etwas Wein bekommt.« Henre Haslin war Schwertmeister in der Königlichen Garde gewesen und hatte die Rekruten ausgebildet. Rahvin hatte die Gardisten ausgetauscht und jeden weggeschickt, der Morgase die Treue hielt, oder sie einfach nach Cairhien beorderte, um sie im Bürgerkrieg loszuwerden. Haslin war zu alt gewesen, um ihn noch einmal auf Kriegszug zu schicken, und so hatte man ihn ausgezahlt und hinausgeworfen. Als sich die Nachricht von Morgases Tod in Caenmlyn herumgesprochen hatte, war er in den Weinkrug gekrochen, wie man hier sagte. Doch er glaubte, Rahvin — den er als Gaebril kannte — habe Morgase getötet, nicht Rand, und er war immer noch in der Lage, Rekruten auszubilden. Wenn er gerade nüchtern war.

»Ich habe ihn weggeschickt«, sagte Taim. »Wozu sind Schwerter schon gut?« Ein weiterer Steinbrocken explodierte. »Ich ersteche mich jedesmal fast selber, und vermißt habe ich das bestimmt niemals. Jetzt haben sie die Macht.«

Töte ihn! Töte ihn! hallte Lews Therins Stimme durch die Blase des Nichts. Rand stampfte die Glut des Echos aus, aber den Zorn konnte er nicht so leicht beseitigen, der sich mit einem Mal wie eine Hülle um die Leere gelegt hatte, die ihn umgab. Das Nichts ließ seine Stimme völlig gefühllos erklingen: »Sucht ihn, Taim, und holt ihn zurück. Sagt ihm, Ihr hättet Eure Meinung geändert. Sagt das auch den Schülern. Erklärt ihnen, was Ihr wollt, aber ich will ihn hier sehen und ihnen jeden Tag Unterricht erteilen lassen. Sie müssen ein Teil unserer Welt bleiben und sich nicht außerhalb stellen. Was sollen sie denn machen, wenn sie die Macht nicht benützen können? Als Euch die Aes Sedai abgeschirmt hatten, hättet Ihr immer noch entkommen können, wärt Ihr in der Lage gewesen, ein Schwert zu gebrauchen oder mit Euren bloßen Händen zu kämpfen.«

»Ich bin ihnen entkommen. Hier bin ich.‹‹ »Einige Eurer Anhänger haben Euch befreit, wie ich hörte, sonst wärt Ihr in Tar Valon gelandet und genau wie Logain einer Dämpfung unterzogen worden. Diese Männer werden keine Anhänger gewinnen. Sucht Haslin.«

Der andere Mann verbeugte sich verbindlich. »Wie mein Lord Drache befiehlt. Ist mein Lord Drache aus diesem Grund gekommen? Haslin und Schwerter?« Eine schwache Andeutung von Verachtung lag in seiner Stimme, doch das ignorierte Rand.

»Es befinden sich Aes Sedai in Caemlyn. Es wird keine Ausfüge in die Stadt mehr geben — weder für Euch noch für die Schüler. Das Licht allein mag wissen, was geschieht, wenn einer von ihnen einer Aes Sedai begegnet und diese erkennt, was er ist.« Oder auch umgekehrt denn mit Sicherheit würde er sie erkennen. Möglicherweise würde er vor Schreck wegrennen oder zuschlagen, und beides würde ihn für sie wiederum kenntlich machen. Beides würde ihm zum Verhängnis werden. Rand hegte keine Zweifel, daß Verin und Alanna jeden der Schüler leicht wie ein Kind fesseln und abschirmen konnten.

Taim zuckte die Achseln. »Es ist für sie auch jetzt bereits machbar, mit dem Kopf einer Aes Sedai dasselbe anzustellen wie mit einem solchen Stein. Das Gewebe ist lediglich ein bißchen anders.« Er blickte sich um und erhob die Stimme: »Konzentriert Euch, Adley. Konzentriert Euch!« Der schlaksige Bursche —er schien nur aus Armen und Beinen zu bestehen —, der vor den anderen Schülern stand, fuhr zusammen und verlor den Kontakt mit Saidin. Dann griff er ungeschickt wieder nach der Quelle. Ein weiterer Stein explodierte, als Taim sich wieder Rand zuwandte. »Und was das betrifft, kann ich sie auch selbst ... beseitigen, falls Ihr das nicht fertigbringt.«

»Wenn ich ihren Tod wünschte, hätte ich sie getötet« Er glaubte, das fertigbringen zu können, falls sie versuchten, ihn zu töten oder einer Dämpfung zu unterziehen. Er hoffte es jedenfalls. Aber würden sie so etwas noch versuchen, nachdem ihn Alanne als Behüter an sich gebunden hatte? Das war etwas, was er Taim nicht sagen würde. Auch ohne auf Lews Therins Gemurmel zu hören, vertraute er dem Mann nicht in genügendem Maße, um ihm irgendeine Schwäche zu enthüllen, die er genausogut verbergen konnte. Licht, was habe ich Alanna gegen mich in die Hand gegeben? »Wenn die Zeit kommt, Aes Sedai zu töten, werde ich es Euch wissen lassen. Bis dahin wird sie niemand auch nur anschreien, außer, sie versucht, ihm den Kopf abzureißen. Ihr werdet Euch alle von jeglicher Aes Sedai so fern halten wie nur möglich. Ich wünsche keine peinlichen Vorfälle und nichts, was sie gegen mich aufbringen könnte.«

»Glaubt Ihr, daß sie nicht sowieso schon aufgebracht sind?« murmelte Taim. Wiederum beachtete Rand seine Worte nicht. Diesmal allerdings, weil er die Antwort selbst nicht kannte.

»Und ich will nicht, daß jemand stirbt oder einer Dämpfung unterzogen wird, weil sein Kopf zu geschwollen ist für seine Mütze. Bringt ihnen das auf jeden Fall bei. Ich mache Euch verantwortlich dafür.«

»Wie Ihr wünscht«, sagte Taim und zuckte erneut die Achseln. »Früher oder später werden welche von ihnen sterben, außer Ihr habt vor, sie für immer und ewig hier einzusperren. Doch selbst dann werden möglicherweise ein paar sterben. Das ist kaum zu vermeiden, wenn ich das Tempo der erforderlichen Lernprozesse nicht gewaltig verlangsame. Ihr müßtet sie auch nicht so treiben, wenn Ihr mich statt dessen auf die Suche schicken würdet.«

Da war es schon wieder. Rand musterte die Schüler. Ein verschwitzter Jüngling mit blaßblonden Haaren hatte große Schwierigkeiten, den Stein in die richtige Lage zu bringen. Immer wieder entglitt ihm Saidin, und so hüpfte der Stein in kurzen Sprüngen über den Boden. In ein paar Stunden würde der Planwagen vom Palast ankommen, in dem die neuen Bewerber saßen, die seit gestern eingetroffen waren. Vier waren es diesmal. Manchmal waren es auch nur drei oder gar zwei, obwohl sich die Anzahl in letzter Zeit erhöht hatte. Achtzehn, seit er vor sieben Tagen Taim hier hergebracht hatte, aber nur drei von ihnen besaßen das Talent um den Gebrauch der Macht zu erlernen. Taim behauptete, das sei eine stattliche Anzahl, wenn man einrechnete, daß sie nur einfach nach Caemlyn zogen, um es eben zu versuchen. Er hatte auch bereits mehrmals darauf hingewiesen, daß sie — sollte es so bleiben — in etwa sechs Jahren die gleiche Stärke erreichen würden wie die Weiße Burg. Rand allerdings mußte nicht erst daran erinnert werden, daß sie keine sechs Jahre Zeit hatten. Und er hatte nicht einmal Zeit, um sie etwas langsamer üben zu lassen.

»Wie würdet Ihr das angehen?«

»Ich würde Wegetore benützen.« Taim hatte das auf Anhieb aufgeschnappt. Er lernte bei allem, was ihm Rand zeigte, sehr schnell. »Ich kann zwei oder sogar drei Dörfer pro Tag besuchen. Zu Anfang wäre es einfacher, in die Dörfer zu gehen und nicht in die Städte. Ich würde Flinn den Unterricht anvertrauen. Trotz seiner gelegentlichen Unbeholfenheit, wie Ihr bemerkt habt, ist er von allem am weitesten fortgeschritten. Grady oder Hopwil oder Morr nähme ich mit. Ihr müßtet uns lediglich ein paar anständige Pferde besorgen. Die Mähre, die unsere Karren zieht, reicht dafür nicht ganz aus.«

»Aber was habt Ihr tatsächlich vor? Einfach hineinreiten und verkünden, daß Ihr Männer sucht, die mit der Macht umgehen können? Dann müßt Ihr schon Glück haben, wenn die Dorfbewohner nicht versuchen, Euch aufzuhängen.«

»Da kann ich wohl doch etwas subtiler vorgehen«, erwiderte Taim trocken. »Ich behaupte einfach, daß ich Männer für den Wiedergeborenen Drachen anwerbe.«

Etwas subtiler? Nicht viel jedenfalls. »Das sollte die Leute eigentlich davon abhalten, mir an die Kehle zu gehen, weil sie sich fürchten, und mir lange genug Zeit lassen, um alle zusammenzuholen, die dazu gewillt sind. Und alle jene werden abgeschreckt, die nicht bereit sind, Euch zu unterstützen. Ich nehme nicht an, daß Ihr Männer ausbilden wollt, die sich bei der ersten Gelegenheit gegen Euch wenden.« Er zog fragend eine Augenbraue hoch, wartete aber nicht auf die überflüssige Antwort. »Sobald ich sie in sicherer Entfernung vom Dorf habe, kann ich sie durch ein Tor hierherbringen. Ein paar geraten vielleicht in Panik, aber es sollte nicht zu schwierig sein, sie wieder zu beruhigen. Sobald sie sich einverstanden erklärt haben, einem Mann zu folgen, der die Macht benutzen kann, können sie kaum etwas dagegen einwenden, wenn ich sie ebenfalls daraufhin überprüfe. Diejenigen, die nicht bestehen, schicke ich nach Caemlyn weiter. Es wird Zeit, daß Ihr ein eigenes Heer aufstellt und Euch nicht nur auf andere verlaßt. Bashere könnte schließlich seine Meinung ändern. Das würde er auf jeden Fall, sollte Königin Tenobia ihm das befehlen. Und wer weiß schon, was diese sogenannten Aiel unternehmen werden?« Diesmal legte er eine Pause ein, doch Rand hielt den Mund. Er hatte ebenfalls schon an ähnliches gedacht, wenn auch sicher nicht über die Aiel, doch das mußte Taim nicht wissen. Nach einem Moment fuhr der Mann fort, als habe er das Thema niemals auch nur erwähnt. »Ich möchte Euch eine Wette anbieten. Den Einsatz bestimmt Ihr. Am ersten Tag, den ich mit der Suche verbringe, werde ich genauso viele Männer mit dem Talent finden, wie in einem ganzen Monat auf eigene Faust nach Caemlyn kommen. Sobald Flinn und ein paar der anderen soweit sind, daß sie auch ohne mich hinausgehen und weitersuchen können...« Er spreizte die Hände. »Ich werde für Euch in weniger als einem einzigen Jahr die gleiche Anzahl zusammenbekommen, wie sie der Weißen Burg zur Verfügung steht. Und jeder Mann ist eine Waffe.«

Rand zögerte. Taim losziehen zu lassen, war sicherlich ein Risiko. Der Mann war zu unbeherrscht. Was würde er tun, wenn er auf einer seiner Rekrutierungstouren auf eine Aes Sedai stieß? Möglich, daß er Wort halten und sie am Leben lassen würde, aber was, wenn sie herausbekam, wer er war? Und was, wenn sie ihn abschirmte und gefangennahm? Einen solchen Verlust konnte sich Rand nicht leisten. Er konnte nicht selbst Schüler ausbilden und auch noch nebenher alles andere erledigen, was er zu tun hatte. Sechs Jahre, um es der Burg gleichzutun. Falls die Aes Sedai diesen Ort nicht zuerst entdeckten und ihn mitsamt den Schülern vernichteten, bevor sie weit genug ausgebildet waren, um sich selbst zu verteidigen. Oder aber weniger als ein Jahr. Schließlich ruckte er. Lews Therins Stimme klang wie ein wahnwitziges Toben in großer Entfernung. »Ihr bekommt Eure Pferde.«

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