40 Drei Frauen

Ihr müßt mir helfen, ihnen Verstand einzutrichtern«, sagte Mat um seine Pfeife herum. »Thom, hört Ihr mir zu?«

Sie saßen im spärlichen Schatten eines zweistöckigen Gebäudes auf umgedrehten Fässern und rauchten ihre Pfeifen. Der schlaksige alte Feuerwerker schien mehr daran interessiert, den Brief zu betrachten, den Rand ihm gesandt hatte. Jetzt steckte er ihn mit dem noch ungebrochenen Baum-und-Krone-Siegel in die Manteltasche. Das Raunen von Stimmen und das Quietschen von Achsen von der Straße am Ende der Gasse schienen weit entfernt. Schweiß tropfte von ihren Gesichtern. Zumindest um eines mußte er sich im Moment nicht kümmern. Mat hatte, als er die Kleine Burg verließ, festgestellt, daß eine Gruppe Aes Sedai Aviendha irgendwohin verschleppt hatten. Sie würde nicht so bald jemanden mit dem Messer durchbohren.

Thom nahm die Pfeife aus dem Mund. Es war eine langstielige Pfeife, die über und über mit Eichenblättern und Eicheln beschnitzt war. »Ich habe einmal versucht, eine Frau zu retten, Mat. Laritha war eine knospende Rose und in einem Dorf, in dem ich meine Reise für einige Tage unterbrach, mit einem finsteren Rohling von Stiefelmacher verheiratet. Ein Rohling. Er schrie sie an, wenn das Essen nicht dann fertig war, wenn er sich zu Tisch setzen wollte, und schlug sie, wenn er sah, daß sie mehr als zwei Worte mit einem anderen Mann wechselte.«

»Thom, was, um alles in der Welt, hat das damit zu tun, daß wir diesen törichten Frauen Verstand eintrichtern müssen?«

»Hör einfach zu, Junge. Es war in dem Dorf allgemein bekannt, wie er sie behandelte, aber Laritha hat es mir auch selbst erzählt, während sie unentwegt jammerte, wie sehr sie wünschte, daß jemand sie retten würde. Ich hatte Gold und eine vornehme Kutsche, einen Kutscher und einen Diener bei mir. Ich war jung und sah gut aus.« Thom rieb mit den Knöcheln über seinen weißen Schnurrbart und seufzte. Es war schwer zu glauben, daß dieses ledrige Gesicht jemals gut ausgesehen hatte. Mat blinzelte. Eine Kutsche? Wann hatte ein Feuerwerker jemals eine Kutsche besessen? »Mat, die Lage der Frau zerriß mir das Herz. Und ich will nicht leugnen, daß ich sie auch mochte. Wie ich bereits sagte — ich war jung. Ich dachte, ich sei verliebt und ein Held aus den Geschichten. Also bot ich ihr eines Tages, als wir unter einem blühenden Apfelbaum —weit außer Reichweite des Hauses des Stiefelmachers — saßen, an, sie fortzubringen. Ich würde ihr ein Dienstmädchen und ein eigenes Haus geben und sie mit Liedern und Versen umwerben. Als sie schließlich verstand, trat sie mir so fest vors Knie, daß ich einen Monat lang hinkte, und schlug mich außerdem noch.«

»Anscheinend treten sie alle gern«, murrte Mat, während er sein Gewicht auf dem Faß verlagerte. »Sie hat Euch vermutlich nicht geglaubt, und wer könnte es ihr vorwerfen?«

»Oh, sie hat mir geglaubt. Aber sie war wütend, daß ich dachte, sie würde ihren geliebten Ehemann jemals verlassen. Ihr Wort: geliebt. Sie lief zu dem Mann zurück, so schnell ihre Füße sie trugen, und ich hatte die Wahl, ihn entweder zu töten oder in meine Kutsche zu springen. Ich mußte fast alles zurücklassen, was mir gehörte. Vermutlich lebt sie immer noch mit ihm zusammen. Sie wird die Geldbörse fest verschlossen halten und ihm den Kopf mit was auch immer bereitliegt einschlagen, wann immer er auf ein Bier in einem Gasthaus haltmacht. Wie sie es schon immer getan hat, wie ich später, nach einigen heimlichen Erkundigungen, erfuhr.« Er steckte sich die Pfeife wieder zwischen die Zähne, als hätte er seinen Standpunkt ausreichend verdeutlicht.

Mat kratzte sich am Kopf. »Ich verstehe nicht, was das hiermit zu tun hat.«

»Es bedeutet einfach, daß man nicht glauben soll, die ganze Geschichte zu kennen, wenn man erst einen Teil davon gehört hat. Weißt du, daß Elayne und Nynaeve in ungefähr einem Tag nach Ebou Dar aufbrechen werden? Juilin und ich sollen sie begleiten.«

»Ebou...« Mat konnte seine Pfeife gerade noch auffangen, bevor sie in das tote Laub fiel, das die Gasse bedeckte. Nalesean hatte irgend etwas über einen Besuch Ebou Dars erzählt, und selbst wenn man berücksichtigte, wie häufig er übertrieb, wenn es um Frauen ging, die er gekannt, und um Kämpfe, an denen er teilgenommen hatte, klang es nach einem rauhen Ort. Also glaubten sie, sie könnten Elayne von ihm fortbringen. »Thom, Ihr müßt mir helfen...«

»Wie?« wandte Thom ein. »Sie dem Stiefelmacher stehlen?« Er stieß eine blaue Rauchwolke aus. »Das werde ich nicht tun, Junge. Du kennst noch immer nicht die ganze Geschichte. Was empfindest du Egwene und Nynaeve gegenüber? Oder, wenn ich es mir recht überlege, nur Egwene gegenüber?«

Mat runzelte die Stirn und fragte sich, ob der Mann glaubte, er könnte alles verwirren, wenn er nur lange genug im Kreis herumginge. »Ich mag Egwene. Ich... Verdammt, Thom, sie ist Egwene. Das sagt schon genug. Darum versuche ich, ihren törichten Hals zu retten.«

»Sie vor dem Stiefelmacher zu retten, meinst du«, murmelte Thom, aber Mat sprach einfach weiter.

»Ihren und auch Elaynes Hals, und sogar Nynaeves — wenn ich mich davon abhalten kann, sie eigenhändig zu erwürgen. Licht! Ich will ihnen doch nur helfen. Außerdem wird Rand mir den Hals brechen, wenn Elayne etwas zustößt«

»Hast du jemals daran gedacht, ihnen bei dem zu helfen, was sie wollen, anstatt darauf zu beharren, was du willst? Wenn ich du wäre, würde ich Elayne auf ein Pferd setzen und nach Andor reiten. Aber sie hat anderes zu tun — ich glaube, sie muß es —, also werde ich in ihrer Nähe bleiben und Tag und Nacht befürchten, daß es jemandem gelingen könnte, sie zu töten, bevor ich es verhindern kann. Sie wird erst nach Caemlyn ziehen, wenn sie dazu bereit ist.« Er sog selbstzufrieden an seiner Pfeife, aber seine Stimme hatte am Ende ein wenig unsicher geklungen, als gefielen ihm seine Worte nicht so sehr, wie er vorgab.

»Mir scheint, als wollten sie sich Elaida ausliefern.« Also würde Thom dieses törichte Mädchen auf ein Pferd setzen? Ein Feuerwerker, der die Tochter-Erbin verschleppt, damit sie gekrönt wird! Thom hielt viel von sich.

»Du bist kein Narr, Mat«, sagte Thom ruhig. »Du weißt es besser. Egwene ... es ist schwer, sich dieses Kind als Amyrlin vorzustellen...« Mat brummte ärgerlich. Thom achtete nicht auf ihn. »...und doch glaube ich, daß sie genügend Rückgrat hat. Es ist zu früh, um sagen zu können, ob gewisse Dinge nur Zufall sind, aber ich fange an zu glauben, daß sie auch den Verstand dafür hat. Die Frage ist aber: Ist sie zäh genug? Wenn nicht, werden sie sie lebendig verspeisen — mit Rückgrat, Verstand und allem anderen.«

»Wer wird das tun? Elaida?«

»Oh, sie ohnehin. Wenn sie die Gelegenheit dazu bekommt. Sie ist ausreichend zäh. Aber die Aes Sedai, die sich hier aufhalten, sehen Egwene kaum als Aes Sedai an. Vielleicht als Amyrlin, aber nicht als Aes Sedai, wenn das auch schwer zu glauben ist.« Thom schüttelte den Kopf. »Ich verstehe es nicht, aber es stimmt. Das gleiche gilt für Elayne und Nynaeve. Sie versuchen, es für sich zu behalten, aber selbst Aes Sedai können nicht alles verbergen, wenn man sie genau beobachtet und seinen Verstand gebraucht.« Er zog erneut den Brief hervor, drehte ihn aber nur in den Händen, ohne ihn zu betrachten. »Egwene wandelt an einem Abgrund, Mat, und drei Gruppen hier in Salidar — ich bin mir sicher, daß es drei sind — könnten sie hinabstoßen, wenn sie nur einen falschen Schritt tut. Elayne wird ihr folgen, wenn das geschieht, und Nynaeve ebenfalls. Oder vielleicht werden sie die beiden zuerst hinabstoßen, damit sie Egwene mit hinabziehen.«

»Hier in Salidar«, wiederholte Mat vollkommen tonlos. Thom nickte ruhig, und Mat konnte nicht verhindern, daß seine Stimme lauter wurde. »Und Ihr wollt, daß ich sie hierlasse?«

»Ich will, daß du aufhörst zu glauben, du könntest sie dazu bringen, etwas zu tun. Sie haben bereits beschlossen, was sie tun werden, und du kannst es nicht ändern. Aber vielleicht — nur vielleicht — kannst du mir helfen, ihr Leben zu retten.«

Mat sprang auf. Er sah vor seinem geistigen Auge das Bild einer Frau mit einem Messer zwischen den Brüsten. Es war keine der geborgten Erinnerungen. Er trat gegen das Faß, auf dem er gesessen hatte, so daß es die Gasse hinunterrollte. Einem Feuerwerker helfen, ihr Leben zu retten? Eine schwache Erinnerung regte sich, eine Erinnerung an Basel Gill, einen Wirt in Caemlyn, der etwas über Thom gesagt hatte, aber sie war nur flüchtig und verschwand, sobald er sie festhalten wollte. »Von wem ist der Brief, Thom? Von einer weiteren Frau, die Ihr gerettet habt? Oder habt Ihr sie dort gelassen, wo sie ihr Leben verlieren konnte?«

»Ich habe sie dort gelassen«, sagte Thom leise. Er stand auf und ging wortlos davon.

Mat streckte halb die Hand aus, um ihn aufzuhalten, und wollte etwas sagen. Aber ihm fiel nichts ein. Verrückter alter Mann! Nein, er war nicht verrückt. Egwene war stur wie ein Maultier, und Nynaeve ließ sie fügsam wirken. Noch schlimmer —beide würden auf einen Baum klettern, um die Blitze besser sehen zu können. Und was Elayne betraf, so hatte die Adlige noch nie genug Verstand besessen, um aus dem Regen herauszutreten, und dann war sie empört, wenn sie naß wurde.

Er klopfte seine Pfeife aus, trat die Glut mit dem Stiefelabsatz aus, bevor das trockene Laub Feuer fangen konnte, hob seinen Hut vom Boden auf und hinkte auf die Straße hinaus. Er brauchte Informationen aus einer besseren Quelle als von einem Feuerwerker, der dadurch, daß er mit diesem anmaßenden jungen Ding von Tochter-Erbin herumlief, unter Größenwahn litt. Zu seiner Linken sah er Nynaeve aus der Kleinen Burg kommen und beobachtete sie, während sie sich ihren Weg zwischen von Ochsen oder Pferden gezogenen Karren hindurch bahnte. Sie konnte ihm sagen, was er wissen mußte. Wenn sie es wollte. Ein Schmerz durchzuckte seine Hüfte. Verdammt, sie schuldet mir einige Antworten.

In diesem Augenblick sah Nynaeve ihn und erstarrte sichtbar. Sie beobachtete einen Moment, wie er herankam, und eilte dann in entgegengesetzter Richtung davon. Sie versuchte ihm offensichtlich aus dem Weg zu gehen. Sie schaute zweimal über die Schulter, bevor Menschen und Karren sie verbargen.

Mat blieb stirnrunzelnd stehen und zog sich den Hut tief in die Stirn. Zuerst trat die Frau ihn ohne Grund, und jetzt wollte sie nicht mit ihm sprechen. Sie und Egwene wollten ihn schmoren lassen, bis er sanftmütig davontrottete, wenn sie ihn verwiesen. Nun, sie haben sich, verdammt noch mal, den Falschen für ihr Spiel ausgesucht!

Vanin und die anderen standen vor einem Stall neben einem Steingebäude, das sicherlich einmal ein Gasthaus gewesen war. Jetzt strömten Aes Sedai dort hinein und hinaus. Pips und die anderen Pferde waren festgebunden, und Vanin und die beiden Kundschafter, die gefangengenommen worden waren, kauerten an der Wand. Mär und Ladwin waren so verschieden, wie Männer nur sein konnten. Der eine war groß und schlaksig und hatte ein rauhes Gesicht, der andere war klein, stämmig und sanftmütig, aber beide wirkten sehr verwirrt, als Mat herankam. Sie waren noch nicht darüber hinweggekommen, wie leicht sie gefangengenommen worden waren. Die beiden Unterführer standen steif auf, während sie noch immer die Banner fest an die Stäbe drückten, als wäre das jetzt wichtig. Sie wirkten äußerst wachsam. Eine Schlacht war eine Sache, aber alle diese Aes Sedai waren eine ganz andere Sache. Im Kampf hatte ein Mann eine Chance. Zwei Behüter beobachteten sie. Nicht offensichtlich, sondern über den Stallhof hinweg. Sie hatten sich diesen Standort in der prallen Sonne nicht nur ausgesucht, um sich zu unterhalten.

Mat streichelte Pips' Nase und kontrollierte dann die Augen des Pferdes. Ein Bursche in einer Lederweste trat aus dem Stall und schob eine Mistkarre die Straße hinauf. Vanin trat herüber, um Pips ebenfalls in die Augen zu sehen. Ohne ihn anzuschauen, fragte Mat: »Könntet Ihr die Horde erreichen?«

»Vielleicht.« Vanin runzelte die Stirn und hob eines von Pips Augenlidern an. »Mit ein wenig Glück vielleicht. Aber ich hasse es, mein Pferd zurückzulassen.«

Mat nickte und betrachtete Pips' Auge noch genauer. »Sagt Talmanes, daß ich Stillhalten befehle. Ich bleibe vielleicht noch einige Tage hier und will keinerlei blutigen Rettungsversuch erleben. Kommt danach möglichst wieder hierher. Ohne gesehen zu werden, wenn es Euch gelingt.«

Vanin spie in den Staub unter Pips. »Wenn sich ein Mann mit Aes Sedai einläßt, zäumt er sich selbst auf und legt sich den Sattel auf den Rücken. Ich werde zurückkommen, wenn ich kann.« Er schritt kopfschüttelnd in die Menge davon, ein beleibter, runzliger Mann mit rollendem Gang, dem niemand zutrauen würde, daß er sich anschleichen könnte.

Einer der Unterführer räusperte sich zögernd und trat dann näher heran. »Mein Lord, ist alles...? Hattet Ihr es so geplant, mein Lord?«

»Vollkommen, Verdin«, sagte Mat und tätschelte Pips. Er stak mit dem Kopf zuerst im Sack, und die Schnur war zugezogen. Er hatte Rand versprochen, Elayne sicher nach Caemlyn zu bringen, und konnte daher nicht ohne sie gehen. Und er konnte auch nicht gehen und Elayne ihren Kopf auf den Hackblock legen lassen. Vielleicht — Licht, wie das schmerzte! —könnte es sein, daß er Thoms Rat annehmen müßte zu versuchen, die verdammten Köpfe dieser verdammten Frauen auf ihren Schultern zu belassen, indem er ihnen half, diesen verrückten, unmöglichen Plan tatsächlich durchzuführen. Und nebenbei noch zu versuchen, auch seinen eigenen Hals zu retten. Und dazu gehörte nicht, Aviendha von Elaynes Kehle fernzuhalten. Nun, er konnte zumindest in der Nähe sein, um sie fortzubringen, wenn alles zusammenbrach. Das war ein geringer Trost. »Alles ist einfach verdammt gut.«

Elayne erwartete, Aviendha im Aufenthaltsraum oder vielleicht auch draußen vorzufinden, aber sie mußte genau zuhören, um herauszufinden, warum sie an beiden Orten nicht war. Es gab zwei Gesprächsthemen bei den anderen Aes Sedai, und alle sprachen durcheinander, während Papiere unbeachtet auf den Tischen lagen. Mat war das Hauptgesprächsthema. Sogar die Dienerinnen und Novizinnen, die geschäftig im Aufenthaltsraum umherliefen, hielten in ihren Botengängen inne, um aufgeregt über ihn zu sprechen. Er war Ta'veren. War es ratsam, einen Ta'veren in Salidar bleiben zu lassen? War er wirklich in der Burg gewesen und hatte man ihm tatsächlich erlaubt, einfach wieder zu gehen? Stimmte es, daß er das Heer der Drachenverschworenen befehligte? Würde er für die Greueltaten, von denen sie gehört hatten, eingesperrt werden? Stimmte es, daß er aus demselben Dorf stammte wie der Wiedergeborene Drache und die Amyrlin? Es gab im Zusammenhang mit dem Wiedergeborenen Drachen Gerüchte über zwei Ta'veren. Wer war der zweite, und wo war er zu finden? Vielleicht wußte Mat Cauthon es. Es gab anscheinend genauso viele Meinungen wie Menschen, die sie äußern konnten.

Elayne erwartete zwei Fragen zu hören, aber sie hörte sie nicht: Was wollte Mat in Salidar, und wie hatte Rand wissen können, wohin er ihn schicken mußte? Niemand stellte diese Fragen, aber hier richtete eine Aes Sedai plötzlich ihre Stola, als friere sie oder erschrak, wenn sie bemerkte, daß jemand sie angesprochen hatte, und dort starrte eine Dienerin ins Leere, bevor sie zitternd zu sich kam, oder eine Novizin warf den Schwestern ängstliche Blicke zu. Mat war nicht die Katze zwischen den Tauben, aber es kam dem sehr nahe. Die bloße Tatsache, daß Rand wußte, wo sie sich befanden, schien zu genügen, ihnen eine Gänsehaut zu verursachen.

Die Schwestern sprachen auch über Aviendha und das nicht nur, um das Thema zu wechseln. Es geschah nicht jeden Tag, daß eine Wilde einfach auf ihren eigenen zwei Beinen erschien, besonders eine mit solch bemerkenswerter Kraft, die noch dazu eine Aiel war. Letzteres faszinierte die Schwestern wirklich.

Keine Aiel war jemals in der Burg ausgebildet worden, und nur wenige Aes Sedai hatten jemals die Aiel-Wüste betreten.

Eine einzige Frage genügte, um zu erfahren, wo sie gefangengehalten wurde. Nicht wirklich gefangengehalten, aber Elayne wußte, wie Aes Sedai sein konnten, wenn sie wollten, daß eine Frau Novizin wurde.

»Sie wird bei Einbruch der Nacht Weiß tragen«, sagte Akatrin zuversichtlich. Sie war eine schlanke Braune, die bei jedem Wort nachdrücklich nickte. Die beiden bei ihr stehenden Schwestern nickten ebenso nachdrücklich.

Elayne eilte mit leisem Tsking auf die Straße hinaus. Vor sich konnte sie Nynaeve förmlich laufen und so häufig über die Schulter blicken sehen, daß sie Menschen umrannte. Elayne dachte daran, sie einzuholen — sie hätte nichts gegen Gesellschaft einzuwenden —, aber sie hatte keine Lust, in dieser Hitze zu laufen, ob sie nun Konzentration besaß oder nicht, und das schien die einzige Möglichkeit. Dennoch raffte sie leicht die Röcke und beeilte sich.

Bevor sie auch nur fünfzig Schritte getan hatte, spürte sie Birgitte näher kommen, drehte sich um und sah sie die Straße hinablaufen. Areina war bei ihr, aber sie blieb ein kleines Stück weiter stehen und kreuzte mit einem Stirnrunzeln die Arme. Die Frau war eine unmögliche kleine, bedauernswerte Person, die ihre Meinung darüber, daß Elayne jetzt wirklich eine Aes Sedai war, sicherlich nicht geändert hatte.

»Ich dachte, Ihr solltet es wissen«, sagte Birgitte ruhig. »Ich habe gerade gehört, daß Vandene und Adeleas ebenfalls mitkommen, wenn wir nach Ebou Dar ziehen.«

»Ich verstehe«, murmelte Elayne. Vielleicht würde das Paar Merilille aus irgendeinem Grund begleiten, obwohl bereits drei Aes Sedai an Tyrins Hof waren, oder vielleicht hatten sie in Ebou Dar eine eigene Mission zu erfüllen. Sie glaubte beides nicht. Areina hatte ihre feste Meinung, und der Saal ebenfalls. Elayne und Nynaeve sollten von zwei wahren Aes Sedai als Anstandsdamen begleitet werden. »Sie begreift tatsächlich, daß sie nicht gehen wird.«

Birgitte schaute in die Richtung, in die Elayne blickte, zu Areina, und zuckte die Achseln. »Sie begreift es. Sie ist nicht glücklich darüber. Ich selbst kann es kaum erwarten aufzubrechen.«

Elayne zögerte nur einen Moment. Sie hatte versprochen, die Geheimnisse zu bewahren, was ihr nicht gefiel, aber sie hatte nicht versprochen, die andere Frau nicht weiterhin davon zu überzeugen zu wollen, daß es nicht nötig und sinnlos war, »Birgitte, Egwene... «

»Nein!«

»Warum nicht?« Elayne hatte Birgitte noch nicht lange als Behüterin, als sie beschloß, daß sie Rand, wenn sie sich mit ihm verbände, irgendwie das Versprechen abringen könnte zu tun, was ihm gesagt wurde, zumindest wenn es wichtig war. In letzter Zeit hatte sie sich auf andere Maßnahmen verlegt. Er würde ihre Fragen beantworten müssen. Birgitte antwortete, wenn sie es wollte, wich aus, wenn sie es wollte, und nahm manchmal einfach einen sturen Gesichtsausdruck an, wie sie es auch jetzt tat. »Sagt mir, warum nicht, und wenn es ein guter Grund ist, werde ich niemals wieder fragen.«

Zunächst sah Birgitte sie nur finster an, aber dann nahm sie Elaynes Arm und drängte sie fast zum Eingang einer Gasse. Niemand der Vorübergehenden gewährte ihnen einen zweiten Blick, und Areina blieb, wo sie war, wenn ihr Gesicht auch düsterer wirkte als zuvor, aber Birgitte sah sich dennoch vorsichtig um und sprach im Flüsterton. »Wann immer mich das Rad herausschleuderte, wurde ich geboren, lebte und starb, ohne jemals zu wissen, daß ich an das Rad gebunden war. Ich wußte es nur zwischendrin, in Tel'aran'rhiod. Manchmal wurde ich bekannt, sogar berühmt, aber ich war wie alle anderen, niemand aus einer Legende. Dieses Mal wurde ich herausgerissen, nicht herausgeschleudert. Da ich zum ersten Mal in Fleisch und Blut bin, weiß ich, wer ich bin. Und zum ersten Mal werden es auch andere Menschen erkennen. Thom und Juilin erkennen es. Sie sagen nichts, aber ich bin mir sicher. Sie sehen mich nicht auf die gleiche Weise an wie andere Menschen. Wenn ich sagte, ich würde einen Glasberg erklimmen und mit bloßen Händen einen Riesen töten wollen, würden sie mich nur fragen, ob ich unterwegs Hilfe brauchte, und nicht erwarten, daß dem so wäre.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Elayne zögernd, und Birgitte seufzte und ließ den Kopf hängen.

»Ich weiß nicht, ob ich dem gerecht werden kann. In anderen Leben tat ich, was ich tun mußte, was richtig zu sein schien, was für Maerion oder Joana oder jede andere Frau genügte. Jetzt bin ich Birgitte aus den Geschichten. Jedermann, der das weiß, wird Erwartungen haben. Ich fühle mich wie ein Federtänzer, der in eine Geheimversammlung der Tovan gerät.«

Elayne fragte nicht nach. Wenn Birgitte Dinge aus früheren Leben erwähnte, waren Erklärungen meist verwirrender als Unwissenheit. »Das ist Unsinn«, erwiderte sie bestimmt und umfaßte die Arme der anderen Frau. »Ich weiß es, und ich erwarte sicherlich nicht von Euch, daß Ihr irgendwelche Riesen tötet. Egwene auch nicht. Und sie weiß es ebenfalls.«

»Solange ich es nicht eingestehe«, murmelte Birgitte, »ist es, als wüßte sie es nicht. Macht Euch nicht die Mühe, mir zu sagen, daß es Unsinn ist. Ich weiß, daß es das ist, aber das ändert nichts.«

»Was ist dann damit? Sie ist die Amyrlin, und ihr seid eine Behüterin. Sie verdient Euer Vertrauen, Birgitte. Sie braucht es.«

»Seid Ihr immer noch nicht mit ihr fertig?« fragte Areina aus einem Schritt Entfernung. »Wenn Ihr schon fortgeht und mich zurücklaßt, könntet Ihr mir wenigstens beim Bogenschießen helfen, wie Ihr es gesagt habt.«

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Birgitte ruhig zu Elayne. Dann wandte sie sich zu Areina um und ergriff weit oben ihren Zopf. »Wir werden über das Bogenschießen sprechen«, sagte sie, während sie Areina zur Straße schob, »aber zunächst werden wir über Manieren sprechen.«

Elayne schüttelte den Kopf, erinnerte sich plötzlich Aviendhas und eilte davon. Das Haus war nicht weit entfernt.

Sie brauchte einen Moment, um Aviendha wiederzuerkennen. Elayne war ihren Anblick im Cadin'sor gewöhnt, das dunkle, rötliche Haar kurz geschnitten, und nicht in Rock und Bluse und Stola, das Haar bis über die Schultern gewachsen und mit einem gefalteten Tuch nach hinten genommen. Sie schien zumindest auf den ersten Blick nicht in Schwierigkeiten zu sein. Sie saß eher unbeholfen auf einem Stuhl —Aiel waren nicht an Stühle gewöhnt — und schien mit fünf Schwestern in einem Kreis im Wohnraum sitzend gemütlich Tee zu trinken. Häuser, die Aes Sedai schützten, besaßen Wohnräume, obwohl Elayne und Nynaeve noch immer in ihrem beengten kleinen Raum hausten. Auf den zweiten Blick sah man jedoch, daß Aviendha die Aes Sedai über den Rand ihrer Teetasse hinweg gehetzt ansah. Für einen dritten Blick blieb keine Zeit. Aviendha sprang beim Eintreten Elaynes auf und ließ ihre Tasse auf den sauber gefegten Boden fallen. Elayne hatte außer im Stein von Tear erst wenige Aiel gesehen, aber sie wußte, daß sie ihre Empfindungen verbargen, was Aviendha normalerweise auch ausgezeichnet gelang. Nur jetzt war blanke Qual auf ihrem Gesicht erkennbar.

»Es tut mir leid«, sagte Elayne an den ganzen Raum gewandt, »aber ich muß sie Euch eine Weile entführen. Vielleicht könnt Ihr später mit ihr sprechen.«

Mehrere der Schwestern hielten nur mühsam ihren Widerspruch zurück, obwohl es keinen hätte geben sollen. Sie war, bis auf Aviendha, eindeutig bei weitem die Stärkste in diesem Raum, und keine der Aes Sedai war eine Sitzende oder gehörte zu Sheriams Konzil. Sie war sehr froh, daß Myrelle nicht anwesend war, die in diesem Haus lebte. Elayne hatte die Grüne Ajah erwählt und war angenommen worden, ohne zu wissen, daß Myrelle das Oberhaupt der Grünen Ajah in Salidar war. Myrelle, die noch keine fünfzehn Jahre Aes Sedai war. Aus Gesprächen wußte Elayne, daß es in Salidar Grüne gab, welche die Stola schon mindestens fünfzig Jahre lang trugen, obwohl keine davon ein graues Haar besaß. Wäre Myrelle hiergewesen, hätte Elaynes ganze Kraft nichts gezählt, wenn das Oberhaupt ihrer Ajah Aviendha hätte hierbehalten wollen. Aber jetzt öffnete nur Shana, eine glotzäugige Weiße, die Elayne an einen Fisch erinnerte, den Mund ein Stück weiter, schloß ihn aber dann wieder, wenn auch eher störrisch, als Elayne sie mit hochgezogener Augenbraue ansah.

Die fünf machten äußerst verkniffene Gesichter, aber Elayne ignorierte die Anspannung. »Danke«, sagte sie mit einem Lächeln, nach dem ihr nicht zumute war.

Aviendha schlang sich ein dunkles Bündel über den Rücken, zögerte aber dann, bis Elayne sie tatsächlich aufforderte mitzukommen. Auf der Straße sagte Elayne: »Ich entschuldige mich hierfür. Ich werde dafür sorgen, daß es nicht wieder geschieht.« Sie war sich sicher, daß ihr das gelingen würde. Oder Egwene. »Ich fürchte, es gibt nicht viele Orte, an denen man ungestört reden kann. In meinem Raum ist es zu dieser Tageszeit sehr heiß. Wir könnten uns einen schattigen Platz suchen oder einen Tee nehmen, wenn sie Euch noch nicht damit übersättigt haben.«

»Euer Zimmer.« Es wurde eigentlich nicht barsch geäußert, aber Aviendha wollte eindeutig nicht reden, noch nicht. Sie sprang jäh auf einen vorüberfahrenden, mit Brennholz beladenen Karren zu und riß einen Ast heraus, der länger als ihr Arm und dicker als ihr Daumen war. Dann trat sie wieder zu Elayne und begann den Zweig mit ihrem Gürtelmesser abzuschälen. Die scharfe Klinge beseitigte kleinere Ästchen mühelos. Ihr gequälter Gesichtsausdruck war gewichen. Sie schien jetzt entschlossen.

Elayne sah sie von der Seite an, während sie weitergingen. Sie konnte nicht glauben, daß Aviendha ihr schaden wollte, was auch immer dieser tölpelhafte Mat Cauthon sagte. Aber andererseits... Sie wußte nur wenig von Ji'e'toh. Aviendha hatte es ihr teilweise erklärt, als sie zusammen im Stein gewesen waren. Vielleicht hatte Rand etwas gesagt oder getan. Vielleicht zwang dieses verwirrende Labyrinth aus Ehre und Verpflichtung Aviendha zu... Es schien nicht möglich. Aber vielleicht...

Als sie ihr Zimmer erreichten, beschloß sie, das Thema zuerst anzusprechen. Sie stellte sich der anderen Frau gegenüber — umarmte Saidar ganz bewußt nicht —und sagte: »Mat behauptet, Ihr wärt hierhergekommen, um mich zu töten.«

Aviendha blinzelte. »Feuchtländer verstehen immer alles falsch«, sagte sie verwundert. Sie legte den Stock auf das Fußende von Nynaeves Bett und legte das Gürtelmesser sorgfältig daneben. »Meine Nächstschwester Egwene bat mich, Rand al'Thor für Euch zu bewachen, was ich zu tun versprach.« Bündel und Stola wurden auf den Boden neben der Tür gelegt. »Ich habe ihr gegenüber Toh, aber Euch gegenüber ein noch größeres.« Sie schnürte ihre Bluse auf, zog sie über den Kopf und öffnete ihr Hemd dann bis über die Taille herunter. »Ich liebe Rand al'Thor, und ich habe es mir einmal erlaubt, mit ihm zu schlafen. Ich habe Toh, und ich bitte Euch darum, mir zu helfen, dem gegenüberzutreten.« Sie wandte Elayne den Rücken und kniete sich auf den wenigen verbliebenen Raum. »Ihr könnt den Stock oder das Messer benutzen, wie Ihr wollt. Ich habe Toh, und Ihr habt die Wahl.« Sie reckte das Kinn und streckte den Nacken. Ihre Augen waren geschlossen. »Was immer Ihr erwählt — ich werde es annehmen.«

Elayne glaubte, ihr würden die Knie versagen. Min hatte gesagt, die dritte Frau wäre gefährlich, aber Aviendha? Warte! Sie sagte, sie... Mit Rand! Ihre Hand zuckte zu dem Messer auf dem Bett, und sie kreuzte schnell die Arme und hielt ihre Hände gefangen. »Steht auf. Und zieht Eure Bluse wieder an. Ich werde Euch nicht schlagen...« Nur ein paar Mal?

Sie kreuzte ihre Arme noch stärker, um die Hände an ihrem Platz zu halten. »...und ich werde sicherlich dieses Messer nicht anrühren. Bitte steckt es fort.« Sie hätte es der anderen Frau gereicht, aber sie wußte nicht, ob es in dem Moment geraten gewesen wäre, eine Waffe zu berühren. »Ihr habt mir gegenüber kein Toh.« Es klang wie eine Phrase. »Ich liebe Rand, aber es kümmert mich nicht, daß Ihr ihn auch liebt.« Die Lüge verbrannte ihr die Zunge. Aviendha hatte wirklich mit ihm geschlafen?

Aviendha wandte sich auf Knien stirnrunzelnd um, »Ich bin nicht sicher, daß ich Euch verstanden habe. Wollt Ihr damit vorschlagen, daß wir ihn uns teilen sollen? Elayne, ich glaube, wir sind Freunde, aber wir müssen wie Erst-Schwestern sein, wenn wir SchwesterFrauen sein wollen. Es wird Zeit brauchen herauszufinden, ob wir das sein können.«

Elayne merkte, daß ihr Mund offenstand, und sie schloß ihn rasch wieder.

»Das stimmt vermutlich«, sagte sie tonlos. Min sagte stets, sie würden ihn sich teilen, aber sicherlich nicht auf diese Art! Allein der Gedanke daran war ungehörig! »Es ist ein wenig komplizierter, als Ihr wissen könnt. Es gibt noch eine dritte Frau, die ihn liebt.«

Aviendha sprang auf. »Wie heißt sie?« Ihre grünen Augen blitzten, und das Messer lag in ihrer Hand.

Elayne mußte fast lachen. In einem Moment spricht sie davon zu teilen und im nächsten Moment ist sie so verbissen wie ... wie... So verbissen wie ich, beendete sie diesen Gedanken, der ihr überhaupt nicht gefiel. Dies hätte schlimmer sein können, viel schlimmer. Es hätte Berelain sein können. Da es irgend jemand sein mußte, konnte es genausogut Aviendha sein. Und ich könnte es genausogut in Angriff nehmen, anstatt wie ein Kind mit dem Fuß aufzustampfen. Sie setzte sich aufs Bett, die gefalteten Hände im Schoß. »Steckt dieses Messer ein und setzt Euch hin, Aviendha. Und bitte zieht Eure Bluse wieder an. Ich habe Euch viel zu erzählen. Es gibt eine Frau — meine Freundin, meine Nächstschwester — namens Min...«

Aviendha zog sich wieder an, aber es dauerte einige Zeit, bis sie sich hinsetzte, und noch mehr Zeit, bis Elayne sie davon überzeugen konnte, daß sie bezüglich Min keine falschen Schlüsse ziehen durfte. Das sah sie schließlich ein und sagte widerwillig: »Ich muß sie kennenlernen. Ich werde ihn mit keiner Frau teilen, die ich nicht als Erst-Schwester lieben kann.« Diese Worte wurden mit einem prüfenden Blick zu Elayne geäußert, die seufzte.

Aviendha würde erwägen, ihn mit ihr zu teilen. Und Min war auch bereit, ihn mit ihr zu teilen. War sie die einzige von ihnen dreien, die nicht verrückt war? Laut des Plans unter ihrer Matratze sollte Min bald in Caemlyn eintreffen, oder vielleicht war sie schon dort. Sie wußte nicht, was dort geschehen sollte, nur daß Min ihre Visionen gebrauchen sollte, um ihm zu helfen. Was bedeutete, daß Min ihm nahe bleiben mußte. Während Elayne nach Ebou Dar zog.

»Ist irgend etwas im Leben jemals einfach, Aviendha?«

»Nicht, wenn Menschen einbezogen sind.« Elayne war sich nicht sicher, was sie mehr überraschte: die Erkenntnis, daß sie lachte, oder daß Aviendha es tat.

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