18 Ein Vorgeschmack der Einsamkeit

Gibt es noch mehr Probleme, die Ihr von mir lösen lassen wollt?« Rands Tonfall sagte eindeutig aus, daß er Probleme meinte, die sie bereits gelöst haben sollten. Rhuarc schüttelte leicht den Kopf, während Berelain errötete. »Gut. Legt einen Zeitpunkt fest, an dem Mangin gehängt wird...« Wenn es zu sehr weh tut —Lews Therins Lachen klang wie ein heiseres Flüstern — laß es statt dessen jemand anderes spüren. Seine Verantwortung. Seine Pflicht. Er versteifte seinen Rücken, um diesen Berg davon abzuhalten, ihn zu erdrücken. »Hängt ihn morgen. Sagt ihm, ich hätte das angeordnet.« Er schwieg und blickte wütend drein, bis ihm klar wurde, daß er auf Lews Therins Antwort wartete und nicht auf die ihre. Wartete auf die Stimme eines toten Mannes, eines toten Verrückten, »Ich gehe zur Schule.«

Rhuarc wies darauf hin, daß die Weisen Frauen sich möglicherweise auf dem Weg von ihren Zelten hierher befänden, und Berelain stellte fest, die Adligen aus Tear und Cairhien würden sich darum reißen, herauszufinden, wo sie Rand versteckte. Doch er befahl beiden, bei der Wahrheit zu bleiben und anzuordnen, keiner solle ihm folgen. Er würde eben zurückkommen, wenn er es für richtig hielt. Die beiden wirkten, als hätten sie saure Pflaumen gegessen, doch er schnappte sich nur sein Drachenszepter und ging.

Im Gang sprangen Jalani und einer der Roten Schilde mit blondem Haar geschmeidig auf, wobei sie sich kurz anblickten. Bis auf die zwei war der Gang menschenleer. Nur ein paar Diener eilten gelegentlich geschäftig umher. Einer aus jeder Gemeinschaft, das ergab einen Sinn. Allerdings fragte Rand sich, ob Urien Sulin zuerst einen Ringkampf geliefert hatte, damit sie seinen Leuten einen Platz überließ.

Er bedeutete ihnen, ihm zu folgen, und ging dann hinunter zum nächstgelegenen Stall, wo selbst die Boxenwände aus dem gleichen grünen Marmor gefertigt waren wie die Säulen, die die hohe Decke stützten. Der Stallmeister, ein verdrießlicher Bursche mit großen Ohren, der auf der kurzen Lederweste die Aufgehende Sonne Cairhiens trug, wurde von Rands Erscheinen so überrascht, und noch dazu mit nur zwei Aiel als Eskorte, daß er ständig zum Stalltor hinübersah, ob nicht doch noch weitere kämen. Zwischen diesen Blicken verbeugte er sich unablässig, und Rand fragte sich schon, ob er jemals ein Pferd bekommen werde. Doch sobald der Mann schrie: »Ein Pferd für den Lord Drache«, sprangen sechs Stallburschen herbei, um einen hochrahmigen braunen Wallach mit feurigem Blick für ihn herzurichten. Das Zaumzeug war mit Goldfransen geschmückt, der Sattel enthielt Einlegearbeiten aus Gold und lag auf einem himmelblauen Satteltuch, das ebenfalls Fransen aufwies und reich mit goldenen Aufgehenden Sonnen bestickt war.

So schnell sie auch machten — der Stallmeister mit den großen Ohren war verschwunden, als Rand sich schließlich in den Sattel schwang. Möglicherweise suchte er nach dem Gefolge, das den Wiedergeborenen Drachen gewiß begleiten würde. Oder er wollte jemandem berichten, daß Rand den Palast fast ohne jede Begleitung verließ. So war das in Cairhien nun einmal. Der schlanke Braune tänzelte, doch während Rand ihn noch zu beruhigen versuchte, ließ er ihn bereits an überraschten Gardesoldaten vorbei aus dem Palastgelände schreiten. Er machte sich keine Gedanken darüber, ob ihn nach der Warnung des Mannes mit den großen Ohren vielleicht ein Hinterhalt von Attentätern erwarte. Jeder, der ihn in einen Hinterhalt locken wollte, würde zu der Erkenntnis gelangen, daß er ohne Schere zur Schur gekommen war. Eine Verzögerung hätte bedeutet, innerhalb kürzester Zeit einen Schwarm Adliger um sich zu haben, so daß er nicht ohne diese wegkam. Es war zur Abwechslung einmal ein gutes Gefühl, allein zu sein.

Er musterte Jalani und den jungen Aielmann, die neben dem Braunen hertrabten. Dedric, erinnerte er sich, ein Codara aus der Jaernriß-Septime. Fast allein. Er konnte Alanna noch immer spüren, und in weiter Entfernung beklagte Lews Therin den Tod seiner Ilyena. Er war niemals wirklich allein. Vielleicht nie mehr in seinem Leben. Trotzdem tat ihm nach so langer Zeit das bißchen Abgeschiedenheit gut.

Cairhien war eine große Stadt, deren Hauptstraßen so breit waren, daß die Menschen, die sie bevölkerten, ganz klein wirkten. Jede Straße durchschnitt pfeilgerade die Hügel, die so mit Steinwällen und Terrassen eingefaßt waren, daß sie wie von Menschenhand gemacht wirkten. Sämtliche Straßen trafen sich in rechten Winkeln. Überall in der Stadt erhoben sich mächtige Türme, von Holzgerüsten umgeben, die die kunstvollen Erker und Vorsprünge mit ihren quadratischen Fensteröffnungen verbargen, Türme, die den Himmel zu berühren schienen und noch höher hinauf strebten. Es war zwanzig Jahre her, da hatten die legendären unvollendeten Türme von Cairhien während des Aielkrieges wie Fackeln gebrannt, und auch jetzt waren die Reparaturen noch nicht beendet.

Sich durch die Menge hindurchzuarbeiten war mühsam. Im Trab ging das schon bald nicht mehr. Rand war mittlerweile daran gewöhnt, daß die Menschenmengen sich vor seiner üblichen Eskorte teilten, aber obwohl Hunderte von in den Cadin'sor gekleideten Aiel in Sichtweite in dem sich langsam weiterschiebenden Gewühl mitschritten, war es doch nicht ganz dasselbe, da er nur zwei Begleiter dabeihatte. Er glaubte, einige der Aiel hätten ihn erkannt, aber sie beachteten ihn nicht, denn sie wollten keine peinlichen Szenen hervorrufen, indem sie auf den Car'a'carn aufmerksam machten, wo er doch gerade ein Schwert gegürtet hatte und —nicht ganz so unschicklich, aber doch auch nicht gerade lobenswert — auf einem Pferd ritt. Für die Aiel waren Scham und Verlegenheit viel schlimmer als Schmerzen zu ertragen, wenn auch Ji'e'toh alles noch einmal komplizierte, denn es gab Abstufungen, die Rand nur teilweise begriffen hatte. Aviendha konnte das alles bestimmt erklären; sie wollte ihn zweifellos zu einem Aiel machen.

Auch viele andere verstopften die Straßen, Menschen aus Cairhien in ihrer üblichen eintönigen und formlosen Kleidung, aber auch welche in den schäbigbunten Kleidern der früheren Einwohner des Vortors, das mittlerweile niedergebrannt war, Tairener, einen Kopf größer als die übrige Volksmenge und beinahe so hochgewachsen wie die Aiel. Ochsenkarren und von Pferden gezogene Planwagen rumpelten durch die Menge und machten von Zeit zu Zeit Platz für geschlossene Kutschen und Sänften, die gelegentlich die Flagge eines Adelshauses zeigten. Straßenhändler priesen ihre Waren an, die sie in Bauchläden zur Schau stellten, während andere Schubkarren vollgeladen hatten; Musikanten, Akrobaten und Jongleure vollführten ihre Künste an Straßenecken. Aber all das war anders als früher. Einst war es in Cairhien ruhig zugegangen, gedämpft, und nur im Vortor hatte buntes Treiben geherrscht. Etwas von dieser Nüchternheit war immer noch geblieben. Über den Läden hingen nach wie vor nur ganz kleine Schilder, und zur Straße hin waren keine Waren ausgestellt. Und obwohl die ehemaligen Einwohner des Vortors genauso laut und fröhlich schienen wie früher, schallend lachten oder sich laut anschrien und mitten auf der Straße stritten, wurden sie noch immer von den typischen Städtern mit prüden, angewiderten Blicken bedacht.

Niemand außer den Aiel erkannte den barhäuptigen Reiter im silberverzierten blauen Mantel, wenn auch gelegentlich jemand in seiner Nähe das Satteltuch etwas genauer anblickte. Das Drachenszepter war hier noch weitgehend unbekannt. Niemand machte ihm Platz. Rand fühlte sich hin- und hergerissen zwischen Ungeduld und der Freude darüber, einmal nicht im Blickpunkt aller zu stehen.

Für die Schule hatte er ein kleines Schloß etwa eine Meile vom Sonnenpalast entfernt ausgewählt. Es war einst im Besitz von Lord Barthanes gewesen, der jetzt tot und unbeweint lag. Sie näherten sich der mächtigen Anhäufung von Steinblöcken mit kantigen Türmen und schmucklosen Baikonen. Das hohe Tor zum zentralen Innenhof stand offen, und als Rand einritt, wurde er herzlich willkommen geheißen.

Idrien Tarsin, die diese Schule leitete, stand auf den breiten Stufen am Eingang des Innenhofs, eine stämmige Frau im einfachen, grauen Kleid, und mit so steifem Kreuz, daß man sie für einen Kopf größer halten konnte, als sie tatsächlich war. Sie war nicht allein. Dutzende von Leuten bevölkerten die Steinstufen, Männer und Frauen, die häufiger Wolle trugen als Seide, und ihre schmucklose Kleidung wirkte in vielen Fällen abgetragen. Zumeist handelte es sich um ältere Leute. Idrien war nicht die einzige, die bereits ergrautes Haar hatte. Einige Männer hatten bereits gar keine Haare mehr. Nur hier und da blickte Rand auch ein jüngeres Gesicht begeistert entgegen. Jünger bedeutete in diesem Fall, daß sie nur etwa zehn oder fünfzehn Jahre älter waren als er.

Auf gewisse Weise waren sie die Lehrer, obwohl diese Einrichtung nicht im eigentlichen Sinne als Schule bezeichnet werden durfte. Natürlich kamen Schüler zum Lernen hierher — junge Männer und Frauen hingen gaffend an jedem Fenster um den Hof herum —, aber Rand hatte an diesem Ort möglichst viel Wissen ansammeln wollen. Immer wieder hatte er gehört, wieviel während des Hundertjährigen Kriegs und der Trolloc-Kriege verlorengegangen war. Um wie vieles mehr mußte bei der Zerstörung der Welt zugrunde gehen? Sollte er wirklich die Welt erneut zerstören, hatte er vor, Zufluchtsstätten zu schaffen, an denen Wissen bewahrt wurde. Eine weitere Schule war vor wenigen Tagen in Tear eröffnet worden, und er hielt jetzt in Caemlyn Ausschau nach einem geeigneten Ort.

Nichts läuft jemals so, wie du erwartest, murmelte Lews Therin. Erwarte nichts, dann wirst du auch nicht überrascht. Erwarte nichts. Hoffe auf nichts. Nichts.

Rand unterdrückte die Stimme und stieg ab.

Idrien kam heran und knickste. Wie immer wirkte es überraschend, wenn sie sich erhob und er wieder merkte, daß sie ihm kaum bis an die Brust reichte. »Willkommen in der Schule Cairhiens, mein Lord Drache.« Ihre Stimme klang verblüffend süß und jugendlich und stand in krassem Gegensatz zu ihrem groben Gesicht. Er hatte bereits gehört, daß diese Stimme auch härter klingen konnte, wenn sie mit Schülern und Lehrern sprach. Idrien hielt die Zügel ihrer Schule fest in der Hand.

»Wie viele Spione habt Ihr im Sonnenpalast?« fragte er mit sanfter Stimme. Sie blickte überrascht drein, vielleicht, weil er eine solche Andeutung machte, wahrscheinlicher aber, weil eine solche Frage in Cairhien als ein Anflug schlechter Manieren galt.

»Wir haben eine kleine Ausstellung vorbereitet.« Na also, er hatte auch nicht wirklich eine Antwort erwartet. Sie musterte die beiden Aiel wie eine Frau, die zwei große, schmutzverspritzte Hunde ansieht, von denen sie nicht weiß, ob sie vielleicht beißen, begnügte sich aber mit einem Schnauben. »Wenn mein Lord Drache mir folgen würde?«

Er folgte ihr mit gerunzelter Stirn. Was für eine Ausstellung?

Die Eingangshalle der Schule war ein riesiger Saal mit glänzenden dunkelgrauen Säulen, hellgrauen Fußbodenfliesen und einer grauen Marmorbalustrade, die sich in zwei Spannen Höhe um den ganzen Saal zog. Nun war sie zum größten Teil mit ... eigenartigen Apparaten angefüllt. Die Lehrer, die sich hinter ihm hineindrängten, liefen schnell zu ihnen hin. Rand riß die Augen auf. Mit einem Mal mußte er an Berelains Worte denken, daß die Schule Dinge ›mache‹. Aber was?

Idrien erklärte es ihm auf ihre Weise, während sie ihn von einem Ausstellungsstück zum nächsten führte, wo jeweils verschiedene Männer und Frauen ihm sagten, was sie geschaffen hatten. Er verstand sogar einiges davon.

Eine Anordnung von Sieben und Pressen und Sammelbecken, gefüllt mit Leinenfetzen, lieferte feineres Papier, als irgend jemand bisher herstellen konnte, wie der Erfinder erklärte. Ein großes, wuchtiges Gebilde mit Hebeln und riesigen flachen Platten war eine Druckerpresse, viel besser als alle bisher im Gebrauch befindlichen, wie ihr Hersteller beteuerte. Dedric zeigte sich äußerst interessiert daran, bis Jalani offensichtlich entschied, er solle lieber aufpassen, ob jemand den Car'a'carn angreifen wolle: sie trat ihm hart auf den Fuß, woraufhin er wieder hinter Rand herhumpelte. Es gab einen Pflug mit Rädern, der angeblich sechs Furchen auf einmal ziehen konnte. Rand war beeindruckt. Es war durchschaubar für ihn und er glaubte, es könne funktionieren. Dann stand da ein Ding mit Deichseln für Pferde, mit dem man Heu ernten sollte, ohne Männer mit Sensen zu benötigen, und eine neue Art von Webstuhl, der leichter zu bedienen war, wie der Bursche behauptete, der ihn gebaut hatte. Angemalte Holzmodelle von Aquädukten waren aufgebaut worden, die Wasser an Orte befördern sollten, in denen die Quellen versiegt waren, des weiteren Modelle von neuen Abfluß- und Abwasserkanälen für Cairhien, und sogar ein ganzer Tisch, auf dem winzige Abbilder von Männern und Karren, Kränen und Rollen zu sehen waren. Das sollte darstellen, wie man Straßen bauen und pflastern konnte, und zwar so gut, wie man es vor langer Zeit fertiggebracht hatte.

Rand konnte nicht beurteilen, ob irgend etwas davon wirklich Erfolg versprach, aber einiges sah aus, als sei es einen Versuch wert. Dieser Pflug beispielsweise würde nützlich sein, wenn Cairhien sich jemals wieder selbst versorgen wollte. Er würde Idrien befehlen, ihn bauen zu lassen. Nein, er würde Berelain sagen, sie solle es anordnen. Halte dich in den Augen der Öffentlichkeit immer an die offizielle Rangfolge, hatte Moiraine geraten, außer du willst die Autorität einer Person untergraben und sie zu fall bringen.

Unter den ihm bekannten Lehrern befand sich auch Kin Tovere, ein untersetzter Linsenmacher, der sich ständig den kahlen Kopf mit einem gestreiften Taschentuch abwischte. Abgesehen von Fernrohren in verschiedenen Größen — »zählt die Haare in der Nase eines Mannes noch auf eine Meile Entfernung«, so drückte er sich immer aus — hatte er eine Linse ausgestellt mit einem Durchmesser wie sein eigener Kopf, dazu eine Zeichnung von dem Fernrohr, in welches diese Linse und noch weitere ähnliche Linsen passen sollten, ein sechs Schritt langes Gebilde, mit dem er ausgerechnet die Sterne betrachten wollte. Nun, Kin wollte eben immer weit entfernte Dinge sichtbar machen.

Idriens Blick zeigte Zufriedenheit, als Rand Meister Toveres Zeichnung betrachtete. Sie hatte für gewöhnlich vor allem praktische Dinge im Kopf. Während der Belagerung Cairhiens hatte sie persönlich eine riesige Armbrust gebaut, die mit Hebeln und Flaschenzügen bedient wurde, und damit konnte sie einen kleinen Speer so hart eine volle Meile weit hinausschleudern, daß er am Ziel noch einen Mann durchbohrte. Ginge es nach ihr, würde niemand Zeit für etwas verschwenden, was nicht zweckmäßig verwendbar war.

»Baut es«, sagte Rand zu Kin. Vielleicht würde es niemandem nützen, nicht so wie der Pflug, aber er mochte Tovere. Idrien seufzte und schüttelte den Kopf. Tovere strahlte. »Und ich verleihe Euch einen Preis von hundert Goldkronen. Es sieht wirklich bemerkenswert aus.« Das rief verstärktes Gemurmel hervor, und er mochte nicht raten, wessen Kinnlade tiefer herunterklappte — Idriens oder Toveres.

Im Vergleich zu anderen Dingen und ihren Schöpfern erschien Tovere jedoch beinahe genauso praktisch veranlagt wie der Straßenbaumeister. Der Bursche mit dem runden Gesicht beispielsweise, der etwas mit Kuhfladen anstellte und schließlich eine bläuliche Stichflamme am Ende eines Messingrohrs erhielt; selbst er schien keine Ahnung zu haben, wozu das dienen könne. Oder die schlaksige junge Frau, deren Ausstellungsstück aus einer Papierhülle bestand, die an Fäden hing und durch die Hitze einer kleinen Flamme in der Luft gehalten wurde. Sie gab irgend etwas übers Fliegen von sich — er war sicher, daß sie das tatsächlich erwähnt hatte — und die gewölbten Flügel von Vögeln — sie hatte Skizzen von Vögeln dabei und von etwas, das wie ein hölzerner Vogel aussah — aber sie war so verlegen und sprach so undeutlich, weil sie dem Wiedergeborenen Drachen gegenüberstand, daß er nichts verstand, und Idrien war natürlich nicht in der Lage, ihm zu erklären, worum es sich handelte.

Und dann war da ein Mann mit Halbglatze und einer ganzen Ansammlung von Messingrohren und Zylindern, Stangen und Rädern, die zusammen einen schweren Holztisch bedeckten, der frische Rillen und Kratzer aufwies. Ein paar der Rillen waren tief in die Tischfläche eingegraben. Aus irgendeinem Grund waren die eine Gesichtshälfte des Mannes und eine seiner Hände dick mit Bandagen umwickelt. Sobald Rand in der Eingangshalle erschienen war, hatte er nervös damit begonnen, ein Feuer unter einem der Zylinder zu entzünden. Als Rand und Idrien vor ihm stehenblieben, legte er einen Hebel um und lächelte stolz.

Die Vorrichtung begann zu beben, und Dampf zischte an zwei oder drei Stellen heraus. Das Zischen wurde zu einem Kreischen, und das ganze Ding erzitterte und ächzte unheildräuend. Das Kreischen war ohrenbetäubend. Das Ding zitterte so stark, daß sich der ganze Tisch bewegte. Der Mann mit der Halbglatze warf sich auf den Tisch und löste einen Stöpsel am größten Zylinder. Eine Dampfwolke strömte aus, und das Ding gab endlich Ruhe. Der Mann saugte an seinen verbrühten Fingerspitzen und brachte gerade noch ein schwaches Grinsen zuwege.

»Sehr hübsche Messingarbeiten«, sagte Rand, bevor er sich von Idrien weiterführen ließ. »Was war das?« fragte er leise, als sie sich außer Hörweite befanden.

Sie zuckte die Achseln. »Mervin verrät es niemandem.

Manchmal hört man aus seinem Raum Donnerschläge, die laut genug sind, um die Türen zittern zu lassen, und bisher hat er sich bereits sechsmal verbrüht, aber er behauptet, es werde ein neues Zeitalter einleiten, wenn es funktionierte.« Sie sah Rand nervös an.

»Mervin soll es bringen, wenn er soweit ist«, erwiderte er trocken. Vielleicht sollte das Ding Musik machen? All dieses Kreischen? »Ich kann Herid nirgendwo sehen. Hat er vergessen herunterzukommen?«

Idrien seufzte wieder. Herid Fei war ein Andoraner, der irgendwie hierhergekommen war und in der Königlichen Bibliothek viele Bücher las — er bezeichnete sich selbst als jemand, der Geschichte und Philosophie studiere — und er gehörte nicht gerade zu der Sorte von Menschen, die sich bei ihr beliebt machten. »Mein Lord Drache, er kommt nie aus seinem Arbeitszimmer heraus, außer, wenn er in die Bibliothek geht.«

Er mußte eine kleine Rede halten, um den Menschen hier zu entkommen. So stellte er sich auf einen Hocker, hielt das Drachenszepter in der Armbeuge und erzählte ihnen, ihre Schöpfungen seien wundervoll. Seines Wissens waren es einige tatsächlich. Dann endlich war es ihm möglich, zusammen mit Jalani und Dedric hinauszuschlüpfen. Und mit Lews Therin und Alanna. Sie ließen ein erfreut klingendes Volksgemurmel hinter sich zurück. Er fragte sich, ob außer Idrien noch irgend jemand daran gedacht habe, eine Waffe herzustellen.

Herid Fels Arbeitszimmer befand sich in einem der oberen Stockwerke, von wo aus man nicht viel mehr sah als die dunklen Ziegeldächer der Schule und einen quadratisch angelegten Stufenturm. Herid behauptete, er sehe ohnehin niemals aus dem Fenster.

»Ihr könnt hier draußen warten«, sagte Rand, als er die schmale Tür erreichte — auch das Zimmer war sehr klein —, und er war überrascht, als Jalani und Dedric sofort einverstanden waren.

Mit einem Mal fielen ihm eine Reihe kleiner Dinge auf. Jalani hatte sein Schwert nicht ein einziges Mal mißbilligend angesehen, seit er von der Besprechung mit Berelain und Rhuarc gekommen war, etwas, das sie sonst nie versäumte. Weder sie noch Dedric hatten im Stall auch nur einen Blick auf das Pferd geworfen oder eine abfällige Bemerkung darüber gemacht, daß seine Beine eigentlich gut genug sein müßten, um ihn zu tragen. Auch das tat sie sonst regelmäßig.

Wie zur Bestätigung musterte Jalani Dedric kurz von Kopf bis Fuß, während Rand sich zur Tür wandte. Kurz, doch offensichtlich interessiert und mit einem Lächeln auf den Lippen. Dedric ignorierte sie so betont, daß er genauso offen hätte hinsehen können. So war das bei den Aiel. Er mußte vortäuschen, er verstehe gar nichts, bis sie sich ihm eindeutiger erklärte. Sie hätte sich genauso verhalten, falls er mit Blicken den ersten Schritt getan hätte.

»Habt Spaß miteinander«, sagte Rand über die Schulter, was zwei überraschte Blicke hervorrief, dann trat er ein.

Das kleine Zimmer war mit Büchern, Schriftrollen und Papierstapeln angefüllt, so schien es wenigstens. Bis auf die Tür und die beiden geöffneten Fenster waren alle Wände bis zur Decke mit überladenen Regalen verstellt. Bücher und Dokumente bedeckten den Tisch, der den größten Teil des Raums einnahm, oder lagen völlig ungeordnet auf dem zweiten Stuhl und sogar hier und da auf dem, was vom Fußboden noch zu sehen war. Herid Fei selbst war ein kräftiger Mann, der wirkte, als habe er heute morgen vergessen, sein dünnes, graues Haar zu kämmen. Die Pfeife, die er zwischen die Zähne geklemmt hatte, war kalt, und Pfeifenasche zog eine Spur über seinen verknitterten, braunen Rock.

Er blinzelte Rand einen Augenblick lang an und sagte dann: »Ach, ja. Natürlich. Ich wollte gerade...« Er blickte mit gerunzelter Stirn das Buch an, das er in Händen hielt, setzte sich dann hinter den Tisch und blätterte in einem Papierstapel herum, wobei er leise Selbstgespräche führte. Anschließend wandte er seine Aufmerksamkeit der Titelseite des Buches zu und kratzte sich am Kopf. Schließlich blickte er wieder zu Rand auf und blinzelte erneut überrascht. »O ja. Was war es gleich, worüber Ihr mit mir sprechen wolltet?«

Rand nahm die Bücher und Papiere von dem zweiten Stuhl, legte sie auf den Boden und das Drachenszepter obenauf. Er setzte sich. Er hatte schon versucht, mit anderen hier zu sprechen, Philosophen und Historikern, gelehrten Frauen und Männern, und es war gewesen, als wolle man eine Aes Sedai auf irgend etwas festlegen. Sie waren sehr sicher, wo sie eben sicher waren, und was den Rest betraf, hatten sie ihn mit Worten überschwemmt, die einfach alles bedeuten konnten. Wenn er nicht lockerließ, wurden sie entweder zornig, denn sie schienen zu glauben, er ziehe ihre Kenntnisse in Zweifel, eine Todsünde also, oder sie redeten noch heftiger auf ihn ein, wobei er nicht einmal die Hälfte von dem verstand, was sie sagten, oder sie wurden plötzlich unterwürfig und versuchten herauszufinden, was er hören wollte, um ihm dann genau das mitzuteilen. Herid war anders. Zu den Dingen, die ihm ständig wieder entfielen, gehörte, daß Rand der Wiedergeborene Drache war, und das paßte Rand natürlich sehr. »Was wißt Ihr von den Aes Sedai und ihren Behütern, Herid? Von dem Band zwischen ihnen?«

»Behüter? Band? Genausoviel wie jeder andere, der nicht zu den Aes Sedai gehört, schätze ich. Und das ist nicht gerade viel, oder?« Herid zog an seiner Pfeife, wobei er nicht zu bemerken schien, daß sie längst ausgegangen war. »Was wolltet Ihr wissen?« »Kann die Verbindung gebrochen werden?« »Gebrochen? O nein. Ich glaube nicht. Außer, Ihr meint, wenn eben die Aes Sedai oder der Behüter stirbt. Das bricht die Verbindung, glaube ich. Ich erinnere mich, einst etwas über diese Verbindung gehört zu haben, aber ich weiß nicht mehr...« Herid entdeckte einen weiteren Stapel Notizen auf seinem Tisch und zog ihn mit den Fingerspitzen zu sich heran. Er stöberte darin herum, wobei er die Stirn runzelte und den Kopf schüttelte. Die Notizen sahen aus, als habe er sie selbst niedergeschrieben, aber er schien nicht mehr mit dem Inhalt einverstanden zu sein.

Rand seufzte; er hatte das Gefühl, wenn er nur schnell genug den Kopf umwandte, würde er Alannas Hand über sich noch sehen können. »Wie steht es mit der Frage, die ich Euch beim letzten Mal gestellt habe? Herid? Herid?«

Der Kopf des untersetzten, kräftigen Mannes fuhr hoch. »Oh. Ja. Ach, die Frage. Letztes Mal. Tarmon Gai'don. Also, ich weiß nicht, wie es da zugehen wird. Trollocs, schätze ich. Schattenlords? Ja. Schattenlords. Aber ich habe nachgedacht. Es kann nicht wirklich die Letzte Schlacht sein. Ich glaube das nicht. Vielleicht gibt es in jedem Zeitalter eine Letzte Schlacht. Oder in den meisten.« Mit einem Mal fixierte er über die Nase hinweg die Pfeife zwischen seinen Zähnen mit einem bösen Blick und fing an, auf dem Tisch herumzukramen. »Ich habe hier irgendwo eine Zunderschachtel.«

»Was meint Ihr damit, daß es nicht die Letzte Schlacht sein kann?« Rand bemühte sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen, Herid kam durchaus stets auf den Punkt; man mußte ihn nur ein wenig anschubsen.

»Was? Ja, das trifft es genau. Es kann nicht die Letzte Schlacht sein. Sogar dann nicht, wenn der Wiedergeborene Drache das Gefängnis des Dunklen Königs wieder genauso sicher versiegelt wie der Schöpfer selbst. Und ich glaube nicht, daß er das kann.« Er beugte sich vor und sagte leise in verschwörerischem Tonfall: »Wißt Ihr, er ist nicht der Schöpfer, was sie auch auf den Straßen behaupten mögen. Aber trotzdem muß es von irgend jemandem neu versiegelt werden. Das Rad, wißt Ihr.«

»Ich verstehe nicht...« Rand sprach nicht weiter.

»Doch, Ihr versteht es. Ihr wärt mir ein guter Schüler.« Herid nahm die Pfeife aus dem Mund und beschrieb einen Kreis in der Luft. »Das Rad der Zeit. Die Zeitalter kommen und gehen und kehren zurück, wenn sich das Rad gedreht hat. Der ganze Katechismus.« Plötzlich stieß er zu und markierte einen Punkt auf dem imaginären Rad. »Hier ist das Gefängnis des Dunklen Königs, ganz und unbeschädigt. Hier haben sie ein Loch hineingebohrt und es erneut versiegelt.« Er fuhr mit dem Pfeifenstiel den Bogen nach, den er beschrieben hatte. »Hier sind wir. Ehe Siegel werden schwächer. Aber das spielt natürlich überhaupt keine Rolle.« Der Pfeifenstiel beendete seine Kreisbahn. »Wenn sich das Rad bis hierhin weitergedreht hat, zu dem Punkt, an dem ursprünglich das Loch gebohrt wurde, muß das Gefängnis des Dunklen Königs wiederhergestellt sein.«

»Warum? Vielleicht bohren sie das nächste Mal durch das Siegel hindurch. Möglicherweise haben sie es beim letzten Mal genauso angestellt — sich durch das gebohrt, was der Schöpfer selbst schuf, meine ich — vielleicht haben sie den Stollen durch den Verschluß gebohrt, und wir wissen es bloß nicht?«

Herid schüttelte den Kopf. Einen Augenblick lang sah er seine Pfeife an, bemerkte erneut, daß sie erkaltet war, und Rand glaubte schon, er müsse ihn noch einmal auf den Boden der Tatsachen zurückholen, doch statt dessen blinzelte Herid wieder und fuhr fort: »Irgend jemand muß es einst gebaut haben. Zum ersten Mal, meine ich. Außer, Ihr seid der Ansicht, der Schöpfer habe das Gefängnis des Dunklen Königs gleich mit einem Loch und einem passenden Verschluß geschaffen.« Seine Augenbrauen zuckten bei dieser Vorstellung. »Nein, zu Beginn war es ganz, und ich denke, es wird auch wieder ganz sein, wenn das Dritte Zeitalter erneut anfängt. Hmmm. Ich frage mich, ob sie es auch als das Dritte Zeitalter bezeichnet haben?« Er tauchte rasch eine Feder in das Tintenfaß und kritzelte eine Notiz an den Rand eines geöffneten Buches. »Hmmm. Spielt jetzt keine Rolle. Ich will nicht behaupten, daß der Wiedergeborene Drache derjenige sein wird, der es wieder instand setzt, sowieso nicht unbedingt in diesem Zeitalter, aber es muß geschehen, bevor das Dritte Zeitalter zurückkehrt, und es muß genug Zeit vergangen sein, seit es repariert wurde — wenigstens ein ganzes Zeitalter —damit sich niemand an den Dunklen König oder sein Gefängnis erinnert. Keiner erinnert sich daran. Ich frage mich...« Er schielte in Richtung seiner Notizen und kratzte sich am Kopf, und dann schien er überrascht, weil er die Hand benützt hatte, in der er noch die Feder hielt. In seinem Haar war ein Tintenklecks zu sehen. »In jedem Zeitalter, in dem die Siegel brüchig werden, muß man sich schließlich an den Dunklen König erinnern, denn sie werden sich der Auseinandersetzung mit ihm stellen und ihn wieder einschließen müssen.« Er steckte sich die Pfeife wieder zwischen die Zähne und mühte sich ab, eine weitere Notiz zu machen, ohne die Feder erneut einzutauchen.

»Außer der Dunkle König bricht aus«, sagte Rand leise. »Um das Rad der Zeit zu zerbrechen und die Zeit und die gesamte Welt nach seinen eigenen Vorstellungen neu zu gestalten.«

»Das mag sein.« Herid zuckte die Achseln und blickte finster seine Feder an. Schließlich erinnerte er sich an sein Tintenfaß. »Ich glaube nicht, daß wir viel daran ändern können. Warum bleibt Ihr nicht hier und studiert bei mir? Ich glaube nicht, daß Tarmon Gai'don schon morgen beginnt, und Ihr könntet Eure Zeit genauso benützen...«

»Könnt Ihr euch irgendeinen Grund vorstellen, warum man die Siegel zerbrechen sollte?«

Herid zog die Augenbrauen hoch. »Die Siegel zerbrechen? Die Siegel zerbrechen? Warum sollte irgend jemand außer einem Wahnsinnigen so etwas tun? Kann man sie überhaupt zerbrechen? Ich glaube, mich daran zu erinnern, irgendwo gelesen zu haben, daß sie unzerbrechlich seien, aber ich weiß nicht mehr, aus welchem Grund. Wieso habt Ihr an so etwas auch nur gedacht?«

»Ich weiß es nicht«, seufzte Rand. In seinem Hinterkopf sang Lews Therin: Zerbrich die Siegel. Zerbrich die Siegel und laß alles enden. Laß mich für immer sterben.

Egwene fächelte sich mit einem Zipfel ihres Schals gelangweilt Luft zu und sah sich nach allen Seiten an der Kreuzung der beiden Gänge um, in der Hoffnung, sie habe sich nicht schon wieder verlaufen. Sie hegte allerdings die schlimmsten Befürchtungen, was ihre Laune nicht verbesserte. Durch den Sonnenpalast zogen sich nicht enden wollende Korridore, und in keinem davon war es wesentlich kühler als draußen. Außerdem war sie noch nicht oft genug hier drinnen gewesen, um sich auszukeimen.

Überall standen Töchter zu zweit oder zu dritt herum — viel mehr, als Rand normalerweise mitbrachte und natürlich erheblich mehr als zu den Zeiten, wenn er sich nicht hier aufhielt. Sie schienen lediglich herumzuschlendern, aber irgend etwas an ihnen kam ihr ... so verschwörerisch vor. Einige kannten sie vom Sehen, und von ihnen hätte sie ein freundliches Wort erwarten können. Besonders die Töchter schienen sich entschlossen zu haben, die Tatsache höher zu bewerten, daß sie bei den Weisen Frauen lernte, als ihre Zugehörigkeit zu den Aes Sedai, denn für eine solche hielten sie sie, und sie redeten sich sogar ein, sie sei gar keine Aes Sedai mehr. Doch wenn sie ihrer ansichtig wurden, blickten sie wie ertappte Sünder drein, soweit das bei einem Aiel überhaupt möglich war. Das übliche Nicken zur Begrüßung erfolgte ein bißchen spät, und dann hasteten sie weiter, ohne sich mit ihr zu unterhalten. Bei diesem Verhalten verging es ihr, sie nach dem Weg zu fragen.

Statt dessen runzelte sie beim Anblick eines verschwitzten Dieners mit dünnen blaugoldenen Streifen an den Manschetten die Stirn und fragte sich, ob er vielleicht den Weg beschreiben könne, den sie nehmen mußte. Das Schwierige daran war nur, daß sie selbst nicht genau wußte, wohin sie eigentlich wollte. Unglücklicherweise war der Bursche in Gegenwart so vieler Aiel äußerst nervös. Als er bemerkte, wie ihn diese ›Aielfrau‹ mit gerunzelter Stirn anblickte — ihre dunklen Augen, wie sie kein Aiel aufwies, bemerkte eben keiner — und da er vermutlich den Kopf voll hatte mit Geschichten über die Töchter des Speers, wirbelte er herum und rannte weg, so schnell er konnte.

Sie schnaubte gereizt. Sie brauchte sowieso keinen Helfer. Früher oder später würde sie an eine Stelle kommen, die sie wiedererkannte. Es war zwecklos, den Gang zurückzugehen, durch den sie gekommen war, aber welchen der anderen drei sollte sie nehmen? So wählte sie irgend einen davon und schritt so energisch los, daß ihr sogar ein paar der Töchter auswichen.

In Wirklichkeit war ihr ziemlich elend zumute. Es wäre so schön gewesen, nach all dieser Zeit Aviendha wiederzusehen, wenn diese ihr nicht einfach kühl zugenickt und sich zu einer privaten Aussprache in Amys Zelt begeben hätte. Als Egwene versuchte, ihr zu folgen, gab man ihr zu verstehen, daß es wirklich eine private Aussprache war.

Ihr seid nicht hergebeten worden, hatte Amys in scharfem Tonfall gesagt, während sich Aviendha mit übergeschlagenen Beinen auf ein Kissen setzte und wie verloren auf die Teppichschichten vor ihren Füßen blickte. Geht und macht einen Spaziergang. Und eßt etwas. Eine Frau sollte nicht wie ein Grashalm

aussehen.

Bair und Melaine waren hinzugeeilt, von Gai'schain herbeigerufen, aber Egwene wurde ausgeschlossen. Es hatte gutgetan, daß sie sah, wie eine ganze Reihe Weiser Frauen ebenfalls abgewiesen wurde, aber eben doch nur ein wenig. Schließlich war sie Aviendhas Freundin, und sollte sie sich in irgendwelchen Schwierigkeiten befinden, wollte Egwene ihr helfen.

»Warum seid Ihr hier?« verlangte Sorileas Stimme hinter ihr zu wissen.

Egwene bewahrte ihren Stolz. Sie wandte sich gelassen um und sah der Weisen Frau der Shendefestung ins Gesicht. Sorilea, die zu den Jarra Chareen gehörte, hatte dünnes weißes Haar und ein Gesicht, das aussah, als habe man Leder fest über den blanken Schädel gespannt. Sie war nur Haut und Knochen, und obwohl sie mit der Macht umgehen konnte, waren ihre Fähigkeiten schwächer als die der meisten Novizinnen, die Egwene kennengelernt hatte. In der Burg hätte sie niemals mehr erreicht, als eine Novizin zu bleiben und als solche wieder nach Hause geschickt zu werden. Natürlich galt der Gebrauch der Macht bei den Weisen Frauen nicht sehr viel. Welch geheimnisvolle Regeln auch das Verhältnis der Weisen Frauen untereinander bestimmen mochten: wenn Sorilea in der Nähe war, fiel ihr immer die Führungsrolle zu. Egwene führte dies auf ihre Willensstärke zurück.

Wie die meisten Aielfrauen war Sorilea einen guten Kopf größer als Egwene. Nun fixierte sie die Jüngere mit einem Blick aus ihren grünen Augen, der einen Stier umgeworfen hätte. Das erleichterte Egwene, denn so sah Sorilea gewöhnlich alle an. Wäre sie auf Egwene böse gewesen, dann wären vor ihrem Blick die Mauern eingefallen, und die Wandbehänge hätten Feuer gefangen. So schien es ihr jedenfalls.

»Ich bin gekommen, um Rand zu besuchen«, sagte Egwene. »Von den Zelten hierher ist es nur ein Spaziergang.« Und ganz gewiß besser als fünf- oder sechsmal in schnellem Schritt um die gesamte Stadtmauer herumzulaufen, was die Aiel für gewöhnlich als kleinen Erholungsspaziergang betrachteten. Sie hoffte, Sorilea werde nicht nach dem Grund fragen. Sie belog die Weisen Frauen wirklich nicht gern.

Sorilea sah sie einen Augenblick lang so durchdringend an, als vermute sie etwas, doch dann zog sie sich lediglich den Schal etwas enger um die hageren Schultern und sagte: »Er ist nicht hier. Er hat sich zu seiner Schule begeben. Berelain Paeron war der Meinung, es sei nicht gut, ihm dorthin zu folgen, und ich schließe mich ihrer Meinung an.«

Keine Miene zu verziehen fiel Egwene schwer. Daß die Weise Frau mit Berelain sprechen würde, war so ziemlich das letzte, was sie erwartet hatte. Sie behandelten sie wie eine vernünftige Frau, die Respekt verdient hatte, und das wiederum sah Egwene überhaupt nicht ein, und nicht, weil Rand ihr solche Autorität übertragen hatte. Den Weisen Frauen war schließlich die Autorität eines Feuchtländers völlig egal. Es erschien ihr lächerlich. Diese Frau aus Mayene kleidete sich in skandalöser Weise und flirtete hemmungslos — wenn sie nicht sogar mehr tat als nur zu flirten, wie Egwene insgeheim glaubte. Also absolut nicht die Sorte Frau, die Amys wie eine Lieblingstochter anlächeln sollte. Oder Sorilea.

Ungebeten kam ihr Gawyn in den Sinn. Es war doch nur ein Traum gewesen, und dazu noch sein Traum, nicht ihrer! Es hatte doch nichts mit dem gemein, was Berelain tat.

»Wenn die Wangen einer jungen Frau ohne ersichtlichen Grund erröten«, bemerkte Sorilea beißend, »ist gewöhnlich ein Mann die Ursache. Welcher Mann hat Euer Interesse erweckt? Können wir in nächster Zukunft erwarten, daß Ihr ihm einen Brautkranz zu Füßen legt?«

»Aes Sedai heiraten nur selten«, erwiderte Egwene kühl.

Das Schnauben der Frau mit dem ledrigen Gesicht klang, als zerreiße man Stoff. Die Töchter und die Weisen Frauen und alle Aiel mochten sie so behandeln, als sei sie keine Aes Sedai mehr, solange sie bei Amys und den anderen in die Lehre ging, doch Sorilea trieb es noch viel weiter. Sie schien zu glauben, Egwene sei eine Aielfrau geworden. Sorilea war der Meinung, sie habe kein Recht, auch nur einen Finger selbständig auszustrecken. »Das werdet Ihr schon noch tun, Mädchen. Ihr gehört nicht zu jenen, die Far Dareis Mai werden und Männer für jagdbares Wild halten. Diese Hüften sind für Kinder geschaffen worden, und Ihr werdet welche haben.«

»Sagt Ihr mir, wo ich auf Rand warten kann?« fragte Egwene mit schwächerer Stimme, als ihr selbst lieb war. Sorilea war keine Traumgängerin und somit nicht in der Lage, Träume zu deuten, und sie hatte zweifellos keine Begabung, die Zukunft vorherzusagen, aber sie sprach so energisch, daß ihre Aussagen unvermeidlich erschienen. Licht, wie könnte sie denn Gawyns Kind unter dem Herzen tragen? Es stimmte wirklich, daß die Aes Sedai fast nie heirateten. Der Mann war nur selten zu finden, der bereit war, eine Frau zu heiraten, die ihn mit Hilfe der Macht wie ein Kleinkind herumbeuteln konnte.

»Hier entlang«, sagte Sorilea. »Ist es Sanduin, dieser stramme Blutabkömmling, den ich gestern bei Amys Zelt gesehen habe? Diese Narbe läßt sein übriges Gesicht noch männlicher...«

Sorilea erwähnte immer neue Namen, während sie Egwene durch den Palast führte, wobei sie immer listig aus den Augenwinkeln herüberschielte, ob sie irgendeine unbedachte Regung zeige. Sie tat auch ihr Bestes, die Vorzüge jedes Mannes zu schildern, und da ein Teil ihrer Schilderungen daraus bestand, zu beschreiben, wie derjenige ohne Kleider aussehe — die Aielmänner und die Frauen benützten gemeinsam die gleichen Dampfzelte — errötete sie einige Male.

Als sie schließlich die Gemächer erreichten, in denen Rand die Nacht verbringen würde, war Egwene mehr als froh, daß sie sich endlich bedanken und die Tür des Wohnzimmers vor Sorileas Nase schließen konnte. Glücklicherweise schien die Weise Frau eigene Erledigungen machen zu wollen, sonst hätte sie sich möglicherweise hineingedrängt.

Egwene holte tief Luft und fing an, Rock und Tuch zurechtzuzupfen und glattzustreichen. Es war nicht notwendig, aber sie hatte das Gefühl, als sei sie Hals über Kopf bergab gepurzelt. Diese Frau spielte nur zu gern die Kupplerin. Sie war in der Lage, für eine Frau den Brautkranz zu winden, sie zu dem Mann zu schleifen, den Sorilea ausgewählt hatte, ihm den Brautkranz zu Füßen zu legen und ihm sodann solange den Arm umzudrehen, bis er den Kranz schließlich aufhob. Nun, vielleicht würde sie nicht wirklich körperliche Gewalt anwenden, aber es kam auf dasselbe hinaus. Sicher würde Sorilea es bei ihr nicht soweit treiben. Bei dem Gedanken mußte sie kichern. Schließlich glaubte Sorilea auch nicht wirklich daran, sie sei eine Aielfrau geworden, denn sie wußte, daß Egwene eine Aes Sedai war, oder zumindest glaubte sie es. Nein, sie hatte bestimmt keinen Grund, sich über so etwas Gedanken zu machen!

Sie strich über das längsgefaltete graue Tuch, mit dem sie ihr Haar zusammenhielt, als sie das Geräusch von leisen Schritten aus dem Schlafzimmer vernahm und vor Schreck erstarrte. Wenn Rand von Caemlyn nach Cairhien springen konnte, war er dann direkt in sein Schlafzimmer gesprungen? Oder — vielleicht wartete jemand — oder etwas — dort drinnen auf ihn? Sie griff nach Saidar und webte schnell ein paar äußerst hinterhältige Stränge, um sie notfalls anzuwenden. Doch dann trat lediglich eine Gai'schain heraus mit einem dicken Bündel Bettwäsche auf den Armen. Sie erschrak heftig beim Anblick Egwenes. Also ließ Egwene Saidar wieder los und hoffte, sie sei nicht schon wieder rot angelaufen.

Niella sah in ihrer weißen Robe mit der tiefen Kapuze auf den ersten Blick Aviendha verblüffend ähnlich. Bis einem klar wurde, daß man sich dieses etwas rundere und ein bißchen weniger braungebrannte Gesicht um sechs oder sieben Jahre älter vorstellen mußte, Aviendhas Schwester hatte nie zu den Töchtern des Speers gehört. Sie war Weberin und hatte bereits mehr als die Hälfte ihres Jahres als Gai'schain hinter sich.

Egwene grüßte sie nicht, denn das würde Niella nur in Verlegenheit bringen. »Erwartet Ihr Rand bald zurück?« fragte sie.

»Der Car'a'carn wird erscheinen, wenn er da ist«, erwiderte Niella mit demütig zu Boden gerichtetem Blick. Das kam Egwene wirklich komisch vor, denn zu Aviendhas Gesicht auch wenn es noch etwas kindlicher wirkte, paßte Demut absolut nicht. »Es ist an uns, bereit zu sein, wenn er erscheint.«

»Niella, habt Ihr eine Ahnung, warum sich Aviendha mit Amys und Bair und Melaine zurückziehen müßte?« Es hatte sicher nichts mit dem Träumen zu tun, denn da entwickelte selbst Sorilea genausoviel Talent wie Aviendha.

»Sie ist hier? Nein, ich wüßte keinen Grund.« Doch Niellas blaugrüne Augen zogen sich beim Sprechen ein wenig zusammen.

»Ihr wißt etwas«, beharrte Egwene. Sie konnte schließlich die Gehorsamsverpflichtung der Gai'schain ein wenig ausnützen. »Sagt mir, was es ist, Niella.«

»Ich weiß, daß Aviendha mich verprügeln wird, bis ich nicht mehr sitzen kann, wenn mich der Car'a'carn hier mit schmutziger Bettwäsche auf dem Arm vorfindet«, sagte Niella ängstlich. Egwene hatte keine Ahnung, ob es etwas mit Ji'e'toh zu tun habe oder nicht, doch wenn sie zusammen waren, behandelte Aviendha ihre Schwester doppelt so streng wie alle anderen Gai'schain.

Niellas Gewand raschelte über den gemusterten Teppich, als sie hastig auf die Tür zuschritt, aber Egwene bekam ihren Ärmel zu fassen. »Wenn Eure Zeit vorüber ist, werdet Ihr dann das Weiß ablegen?«

Das war eine ungehörige Frage, und die Demut verschwand augenblicklich und machte einem Stolz Platz, der jeder Tochter des Speers Ehre gemacht hätte. »Alles andere würde Ji'e'toh in Frage stellen«, sagte Niella würdevoll Mit einem Mal huschte ein Lächeln über ihre Züge. »Außerdem würde dann mein Mann nach mir suchen, und es würde ihm nicht gefallen.« Ihre Miene wandelte sich wieder zu der einer typischen Gai'schain, und sie schlug die Augen nieder. »Darf ich jetzt gehen? Aviendha ist hier, und ich möchte sie nicht treffen, wenn ich es vermeiden kann. Aber sie wird bestimmt in diese Gemächer kommen.«

Egwene ließ sie gehen. Sie hatte ohnehin kein Recht gehabt, eine solche Frage zu stellen. Wenn man über das Leben eines Gai'schain vor oder nach dem Weiß sprach, brachte das diesen in große Verlegenheit. Sie schämte sich deshalb auch ein wenig, obwohl sie selbst keineswegs den Regeln des Ji'e'toh folgte. Oder nur gerade soviel, um höflich zu sein.

Im Wohnzimmer setzte sie sich auf einen in strengen Linien geschnitzten Sessel, den sie ganz ungewohnt unbequem fand, nachdem sie so lange nur mit übergeschlagenen Beinen auf Sitzkissen am Boden gesessen hatte. So zog sie die Beine unter sich und fragte sich erneut, was Aviendha wohl mit Amys und den anderen beiden besprechen mochte. Mit ziemlicher Sicherheit würde es um Rand gehen. Um ihn drehte es sich immer bei den Weisen Frauen. Ihnen waren die von Feuchtländern stammenden Prophezeiungen des Drachen gleichgültig, aber sie kannten die Prophezeiung von Rhuidean von vorn bis hinten auswendig.

Wenn er die Aiel vernichtete, und diese Weissagung sagte genau dies voraus, würde ›der Rest eines Restes‹ gerettet, und sie hatten vor, diesen Rest so groß wie möglich werden zu lassen.

Deshalb befahlen sie auch Aviendha, sich so nahe wie möglich bei ihm aufzuhalten. Zu nahe, um schicklich zu sein. Sie war sicher, wenn sie ins Schlafzimmer ginge, würde sie dort am Boden eine Bettstatt für Aviendha vorfinden. Aber die Aiel sahen so etwas ganz anders. Die Weisen Frauen wollten, daß Aviendha ihn die Sitten und Gebräuche der Aiel lehrte, um ihn jederzeit zu mahnen, daß er von Aielblut sei, wenn er auch nicht bei den Aiel aufgewachsen war Offensichtlich waren die Weisen Frauen der Ansicht, dafür benötige sie jede Stunde des Tages, in der er wach war, und wenn sie bedachte, was ihnen bevorstand, konnte sie ihnen kaum einen Vorwurf machen. Zumindest keinen sehr großen. Trotzdem war es nicht anständig und geziemte sich nicht, wenn man eine Frau zwang, im gleichen Zimmer mit einem Mann zu schlafen.

Andererseits konnte sie Aviendha nicht bei der Lösung ihres Problems behilflich sein, vor allem deshalb, weil Aviendha darin gar kein Problem zu sehen schien. Egwene stützte sich auf einen Ellbogen und begann, sich Wege auszudenken, wie sie Rand am besten auf ihren Wunsch hin ansprechen solle. Ihre Gedanken drehten sich immer im Kreis, aber sie war noch zu keiner Entscheidung gekommen, als er plötzlich eintrat, wobei er zwei Aiel draußen auf dem Flur etwas zuraunte, bevor er die Tür schloß.

Egwene sprang auf. »Rand, du mußt mir bei den Weisen Frauen helfen. Auf dich werden sie hören!« platzte sie heraus, bevor sie sich beherrschen konnte. Das war keineswegs das, was sie ihm hatte sagen wollen.

»Ja, es ist schön, dich wiederzusehen!« entgegnete er lächelnd. Er trug wieder diesen Seanchanspeer, in dessen Schafft jemand seit ihrem letzten Zusammentreffen Drachen geschnitzt hatte. Sie hätte zu gern gewußt, woher er dieses Ding hatte. Alles, was mit den Seanchan zu tun hatte, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. »Danke, es geht mir gut, Egwene. Und dir? Du siehst wieder aus wie früher, und voll Temperament wie eh und je.« Er wirkte so müde. Und hart, so hart, daß selbst dieses Lächeln wie aufgesetzt erschien. Jedesmal, wenn sie ihn wiedersah, wirkte er härter.

»Ich halte das keineswegs für amüsant«, schmollte sie. Am besten, sie machte jetzt so weiter, wie sie begonnen hatte. Das war jedenfalls besser, als einen Rückzieher zu machen und alles zu überspielen, damit er noch mehr Anlaß zum Grinsen fand. »Hilfst du mir?«

»Wie?« Er machte es sich bequem — nun, es waren schließlich seine Gemächer —, warf den Speer mitsamt den daran hängenden Troddeln auf einen kleinen Tisch, dessen Beine in Form von Leoparden geschnitzt waren, und legte den Schwertgürtel und den Rock ab. Irgendwie schien er genausowenig zu schwitzen wie die Aiel. »Die Weisen Frauen hören wohl auf mich, aber sie hören eben nur, was sie wollen. Ich erkenne allmählich diesen sturen Blick, wenn sie der Meinung sind, daß ich Unsinn rede; und weil sie mich nicht in Verlegenheit bringen wollen, indem sie mir das ins Gesicht sagen, ignorieren sie es einfach.« Er zog einen der vergoldeten Sessel heran, damit er sie ansehen konnte, ließ sich darauffallen und streckte die gestiefelten Beine aus. Aber sogar das wirkte bei ihm nun auf gewisse Art arrogant. Ganz entschieden zu viele Leute beugten ihr Knie vor ihm.

»Du redest wirklich manchmal Unsinn«, knurrte sie. Aus irgendeinem Grund half ihr die Tatsache, daß sie keine Zeit zum Nachdenken hatte, sich besser zu konzentrieren. So rückte sie ihr Tuch sorgfältig zurecht und setzte sich aufrecht vor ihn hin. »Ich weiß, daß du gern wieder etwas von Elayne hören würdest.« Warum wurde mit einem Mal seine Miene so traurig und gleichzeitig auch so winterkalt? Wahrscheinlich, weil er so lange nichts mehr von Elayne gehört hatte. »Ich bezweifle, daß Sheriam den Weisen Frauen dir viele Botschaften von ihr übergeben hat.« Soweit sie wußte, überhaupt keine, obwohl er sich so selten in Cairhien aufgehalten hatte, daß er kaum eine erhalten hätte. »Ich bin diejenige, der Elayne solche Botschaften anvertrauen würde. Ich kann sie dir überbringen, wenn du Amys davon überzeugst, daß ich jetzt stark genug bin, um ... um meine Studien wiederaufzunehmen.«

Sie verwünschte sich selbst, weil sie ins Zaudern gekommen war, aber er wußte schon zuviel über das Traum wandeln, wenn nicht gar über Tel'aran'rhiod. Beinahe alles, was das Traumwandeln anging, bis auf diese Bezeichnung, war eines der bestgehütetsten Geheimnisse der Weisen Frauen, und gerade diejenigen, die dazu in der Lage waren, sprachen am wenigsten darüber. Sie hatte kein Recht dazu, ihre Geheimnisse zu verraten. »Sagst du mir, wo sich Elayne aufhält?« Es klang, als habe er sie um eine Tasse Tee gebeten.

Sie zögerte, doch die Abmachung, die sie mit Nynaeve und Elayne getroffen hatte — Licht, wie lange war das nun schon her? — diese Abmachung hatte nach wie vor Gültigkeit. Er war außerdem nicht mehr der Junge, mit dem sie aufgewachsen war. Er war ein Mann, voller Selbstvertrauen, und wie auch immer seine Stimme geklungen hatte, dieser stetig auf sie gerichtete Blick verlangte nach einer Antwort. Wenn schon bei einem Zusammentreffen der Aes Sedai und der Weisen Frauen die Funken sprühten, würde es zwischen ihm und den Aes Sedai lichterloh brennen. Es mußte ein Puffer zwischen ihn und sie geschoben werden, und die einzigen denkbaren Puffer waren sie alle drei. Es mußte sein, doch sie hoffte, sie würden an diesem Feuer nicht verbrennen. »Ich kann dir das nicht sagen, Rand. Ich habe kein Recht dazu. Es ist nicht an mir, dir das mitzuteilen.« Und das war die Wahrheit. Außerdem hätte sie ihm nicht einmal sagen können, wo Salidar eigentlich lag, nur daß es sich hinter Altara irgendwo am Eldar befinden mußte.

Er beugte sich eindringlich vor. »Ich weiß, daß sie sich bei Aes Sedai aufhält. Du hast mir selbst gesagt, daß mich diese Aes Sedai möglicherweise unterstützen werden. Fürchten sie sich vor mir? Sollte das der Fall sein, werde ich einen Eid ablegen, sie in Ruhe zu lassen. Egwene, ich will Elayne den Löwenthron und den Sonnenthron übergeben. Sie hat einen Anspruch auf beide; Cairhien wird sie genauso schnell anerkennen wie Andor. Ich brauche sie, Egwene.«

Egwene öffnete den Mund — und dann wurde ihr klar, daß sie Rand alles erzählen wollte, was sie über Salidar wußte. Gerade noch rechtzeitig klappte sie den Mund wieder zu und biß die Zähne so hart aufeinander, daß ihr die Kiefer schmerzten. Dann öffnete sie sich Saidar. Das süße Gefühl, endlich zu leben, so stark, daß es alles andere überwältigte, schien ihr zu helfen.

Langsam verflog der Drang zu sprechen.

Er ließ sich mit einem Seufzen zurücksinken, und sie musterte ihn mit weit geöffneten Augen. Natürlich hatte sie gewußt, daß er der stärkste Ta'veren war seit Artur Falkenflügel, aber selbst in solchem Maße davon beeinflußt zu werden, war etwas anderes. Sie konnte nur mit Mühe vermeiden, die Arme um ihren Oberkörper zu klammern und zu schaudern.

»Du sagst es mir nicht«, stellte er fest. Es war nicht als Frage gemeint. Er rieb sich die Unterarme mit knappen Bewegungen durch die Ärmel hindurch und erinnerte sie damit daran, daß sie Saidar in sich aufgenommen hatte. Auf diese geringe Entfernung würde er das als schwaches Prickeln auf der Haut wahrnehmen. »Hast du geglaubt, ich wolle dich zum Sprechen zwingen?« fauchte er zornig. »Bin ich ein solches Ungeheuer geworden, daß du die Macht gebrauchen willst, um dich vor mir zu schützen?«

»Ich brauche gar nichts, um mich vor dir zu schützen«, erwiderte sie, so ruhig sie konnte. Immer noch hatte sie Magenschmerzen. Er war Rand, und er war ein Mann, der die Macht benützen konnte. Etwas in ihr hätte sich am liebsten angsterfüllt geduckt und geheult. Sie schämte sich des Gefühls, aber das ließ es auch nicht verfliegen. So ließ sie Saidar fahren und bereute es, als sie dabei ins Zögern geriet. Aber es spielte keine Rolle. Sollte es zu dieser Art von Auseinandersetzung kommen und wäre sie nicht in der Lage, ihn vorher noch schnell abzuschirmen, hätte er genauso leichtes Spiel mit ihr wie beim Armdrücken. »Rand, es tut mir so leid, daß ich dir nicht helfen kann, aber es geht nicht. Und trotzdem bitte ich dich um deine Hilfe. Du weißt, daß du damit auch dir selbst helfen könntest.«

Sein Zorn verging unter einem Grinsen, das sie langsam verrückt machte. Es war beängstigend, wie schnell ein solcher Wandel in ihr vorging. »›Eine Katze für einen Hut, oder einen Hut für eine Katze‹«, zitierte er.

Aber für nichts gibt's nichts, beendete sie das Sprichwort in Gedanken. Sie hatte das von Leuten aus Taren Fähre gehört, als sie noch ein Mädchen war. »Du kannst dir die Katze in den Hut stecken und in deine Hose stopfen, Rand al'Thor«, sagte sie in kaltem Ton zu ihm. Auf dem Weg nach draußen beherrschte sie sich soweit, daß sie die Tür nicht zuknallte, aber nur gerade so eben.

Im Weggehen fragte sie sich, was sie nun machen sollte. Irgendwie mußte sie die Weisen Frauen dazu bringen, sie wieder nach Tel'aran'rhiod zu lassen —sozusagen auf legale Weise. Früher oder später würde er ohnehin auf die Aes Sedai aus Salidar treffen, und es würde sehr hilfreich sein, könnte sie vorher noch mit Elayne oder Nynaeve sprechen. Sie war schon ein bißchen überrascht, daß Salidar nicht bereits Verbindung mit ihm aufgenommen hatte. Was hielt Sheriam und die anderen noch zurück? Nun, sie konnte diesbezüglich nichts unternehmen, und sie wußten es wahrscheinlich sowieso besser als sie.

Etwas hätte sie aber Elayne gern sofort mitgeteilt Rand brauchte sie. Es klang, als meine er das ernster als alles, was er je in seinem Leben gesagt hatte. Das sollte ihr alle Sorgen nehmen, ob er sie noch immer liebte oder nicht. Kein Mann sagte einer Frau auf diese Art, er brauche sie, wenn er sie nicht liebte.

* * * Ein paar Augenblicke lang saß Rand da und blickte die Tür an, die sich hinter Egwene geschlossen hatte. Sie hatte sich so verändert, seit sie als Kinder zusammen aufgewachsen waren. In dieser Aielkleidung hätte man sie für eine Weise Frau halten können —jedenfalls abgesehen von der Größe; eben eine kleine Weise Frau mit dunklen Augen — aber andererseits hatte Egwene immer alles aus ganzem Herzen getan. Sie war so kühl geblieben wie eine echte Aes Sedai und hatte nach Saidar gegriffen, als sie sich von ihm bedroht gefühlt hatte. Daran würde er sich erinnern müssen. Welche Art von Kleidung sie auch trug, sie wollte doch eine Aes Sedai werden, und sie wahrte deren Geheimnisse, sogar dann, als er ihr klargemacht hatte, daß er Elayne benötigte, um zwei Ländern den Frieden zu bringen. Er mußte sie von jetzt ab als Aes Sedai betrachten. Das machte ihn traurig.

Müde stand er wieder auf und zog noch einmal den Rock an. Er mußte noch die Adligen aus Cairhien treffen, Colavaere und Maringil, Dobraine und die anderen. Und die Tairener — Meilan und Aracome und diese Bande — würden ins Schwimmen kommen, wenn er denen aus Cairhien auch nur einen Augenblick mehr Zeit schenkte als ihnen. Und die Weisen Frauen wollten auch noch an die Reihe kommen, und Timolan sowie die anderen Clanhäuptlinge hier, die er heute noch nicht angetroffen hatte. Warum hatte er nur den Wunsch verspürt, Caemlyn zu verlassen? Ja, das Gespräch mit Herid hatte Spaß gemacht. Weniger die Fragen, die er dem Mann gestellt hatte, aber es tat bereits gut, mit jemandem zu reden, der sich nicht daran erinnerte, daß er der Wiedergeborene Drache war. Und er hatte ein bißchen Zeit gefunden, in der er keinen Rattenschwanz von Aiel hinter sich herziehen mußte. Das würde er öfters tun.

Er erblickte sein Abbild in einem Spiegel mit vergoldetem Rahmen. »Wenigstens hast du dir nicht anmerken lassen, wie müde du bist«, sagte er zu seinem Spiegelbild. Das war einer der eindeutigsten Ratschläge Moiraines gewesen. Laßt Euch niemals eine Schwäche anmerken. Er mußte sich eben nur daran gewöhnen, Egwene als eine der anderen zu betrachten.

Sulin kauerte im Garten unterhalb der Gemächer Rand al'Thors und warf ein kleines Messer auf irgendein Ziel am Boden. Damit schien sie sich die Langeweile zu vertreiben. Der Ruf einer Felseule brachte sie aber dazu, blitzschnell und mit einem Fluch auf den Lippen aufzuspringen, wobei sie das Messer in den Gürtel steckte. Rand al'Thor hatte seine Gemächer wieder verlassen. Ihn auf diese Art zu bewachen war wohl sinnlos. Hätte sie Enaila oder Somara mitgebracht, würde sie sie auf ihn ansetzen. Doch normalerweise versuchte sie, ihm diese Art von Unsinn vom Leibe zu halten und ihn wie ihren Erstbruder zu behandeln.

Sie trabte zum nächstgelegenen Eingang hinüber und schloß sich dort drei anderen Töchtern an — keine von denen, die sie mitgebracht hatte —, und dann fingen sie an, dieses Gewirr von Gängen nach ihm zu durchsuchen, aber so, daß es wirkte, als schlenderten sie nur gemächlich durch den Palast. Was der Car'a'carn auch wünschte: Dem einzigen Sohn einer Tochter des Speers, der je zu ihnen zurückgekehrt war, durfte auf keinen Fall etwas zustoßen.

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