Dick Francis Schnappschuß

Kapitel 1

Ich erwachte mit einer bösen Vorahnung. Unwillkürlich schloß sich meine Hand um die Parabellum unter meinem Kopfkissen. Ich lauschte gespannt. Kein Geräusch. Kein verdächtiges Rascheln, kein Reiben von Tuch auf Tuch, kein halbunterdrücktes, schnelles Atmen. Kein lauernder Feind. Langsam entspannte ich mich, drehte mich um und blinzelte in das Zimmer. Ein ruhiges, leeres, häßliches Zimmer. Ein Drittel dessen, was ich in Ermangelung eines weniger anheimelnden Wortes mein >Heim< nannte.

Heller Sonnenschein drang durch die dünnen rosa Gardinen und malte einen goldenen Farbfleck auf den verblichenen braunen Plüschteppich. Ich mag Rosa nicht. Aber mir fehlte andererseits auch die Energie, meinen Hausherrn davon zu überzeugen, daß Blau besser paßte. Nach acht Monaten wußte ich, daß er niemals etwas erneuerte, ehe es in Stücke fiel.

Trotz der herrschenden Stille vertiefte sich das Gefühl einer Vorahnung, wurde deutlicher und löste sich dann in eine weniger bedrohliche, aber düstere Allgemeinstimmung auf. Sonntagmorgen. Der 20. Juli. Für mich der Beginn eines dreiwöchigen Urlaubs.

Ich drehte mich auf den Bauch, verschloß meine Augen vor dem Sonnenschein und entfernte meine Hand zwanzig Zentimeter von der Parabellum. Das reichte. Ich fragte mich, wie lange ein Mensch wirklich schlafen kann, wenn er es sich fest genug vornimmt. Gar noch ein Mann, der auch sonst nie tief schläft. Drei Wochen, die längst überfälligen drei Wochen Pflichturlaub, ließen sich mit viel Schlafen leichter überstehen.

Jahrtausende Schlaf lagen unter meinem Kopfkissen: der Neunmillimeter-Gleichmacher, mein unzertrennlicher Freund. Er begleitete mich überallhin, zum Strand, ins Bad, auch in

Betten, die nicht mir gehörten. Er war dazu da, mir das Leben zu retten, nicht es mir zu nehmen. Ich hatte so manche Versuchung durchgestanden und auch das geschafft.

Das Klingeln des Telefons erledigte das Problem der drei Wochen, noch ehe eine halbe Stunde davon vergangen war.

«Ja?«sagte ich verschlafen und balancierte den Hörer zwischen Ohr und Kopfkissen.

«Gene?«

«Mhm?«

«Sie sind also nicht verreist. «Sie klang sehr erleichtert, die Stimme meines Chefs. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war zehn Uhr.

«Nein«, antwortete ich unnötigerweise. Er wußte, daß ich nicht verreisen wollte. Ich verstand seine Erleichterung nicht. Der eigenartige Unterton war verschwunden, als er weiterredete.

«Wie wär’s mit einem Tag auf der Themse?«

Er hatte ein Motorboot irgendwo auf dem Oberlauf der Themse liegen. Ich hatte es bisher nie zu Gesicht bekommen. War auch noch nie zu einer Themsefahrt eingeladen worden.

«Einladung oder Befehl?«fragte ich gähnend.

Er zögerte.»Das liegt an Ihnen.«

Was für ein Mensch! Man tat für ihn immer etwas mehr, als man eigentlich wollte.

«Wo und wann?«

«Meine Tochter holt Sie ab«, sagte er.»Sie ist in einer halben Stunde bei Ihnen. Reine Familienangelegenheit. Bootsdreß. Kommen Sie so, wie Sie gerade sind.«

«In Ordnung«, antwortete ich. So, wie ich bin — mit Stoppelbart, Parabellum und Shorts. Schlafanzüge trage ich nie. Die halten zu sehr auf.

Was war unter Bootsdreß zu verstehen? Ich entschied mich für eine graubraune Baumwollhose und ein olivgrünes Nylonsporthemd. Die Parabellum hatte ich in der rechten Hosentasche stecken, als es klingelte. Man kann nie wissen. Aber ein Blick durch den Weitwinkelspion an meiner Tür überzeugte mich davon, daß alles seine Richtigkeit hatte — es war Keebles Tochter, wie vereinbart. Ich öffnete ihr.

«Mr. Hawkins?«fragte sie zögernd. Ihr Blick wanderte zwischen mir und der bronzenen Sechs hin und her, die an dem massiven, dunkelgebeizten Holz aufgeschraubt war.

Ich lächelte.»Stimmt. Treten Sie ein.«

Sie ging an mir vorbei. Ich schloß die Tür und stellte interessiert fest, daß sie nach vier Treppen nicht wie die meisten meiner Besucher atemlos war. Genau aus diesem Grund wohnte ich nämlich so hoch oben.

«Ich trinke gerade meinen Kaffee aus«, sagte ich.»Möchten Sie eine Tasse?«

«Sehr nett von Ihnen, aber Dad hat gesagt, wir sollen uns beeilen. Er möchte so bald wie möglich den Fluß hinaufdampfen.«

Keebles Tochter sah in Wirklichkeit genauso aus wie auf dem Foto, das ihr Dad auf dem Schreibtisch stehen hatte. Halb Frau, halb Schulmädchen. Kurzes, dunkles Wuschelhaar, dunkle, wachsame Augen, eine an den richtigen Stellen gerundete, schlanke Figur, eine selbstbewußte Haltung, die deutlich sagte: Rühr mich nicht an! Dazu in der augenblicklichen Situation einen Anflug von liebenswerter Verlegenheit.

Sie schaute sich im Wohnzimmer vorsichtig um. Die Möbel, die mir mein Hausherr hereingestellt hatte, stammten wohl vom Trödler, und ich hatte mir auch keine Mühe gegeben, etwas daran zu verschönern. Mein Beitrag zum Mobiliar beschränkte sich auf zwei Regalreihen Bücher und den Blechkasten in der Ecke, in dem ich allen möglichen Kram verwahrte. Ich hatte das Zeug noch nicht einmal ausgepackt. Der zurückgezogene Vorhang enthüllte die Küche samt Inhalt: Schrank, Kühlschrank, Spüle und Kochstelle. Jedem einzelnen Stück sah man deutlich sein Alter an.

Durch das Wohnzimmer gelangte man ins Schlafzimmer, von da ins Bad und vom Bad auf die Feuertreppe. Der Wohnung fehlte eigentlich nur noch eine Zugbrücke und ein Burggraben. Ich hatte wochenlang gesucht, bis ich so etwas fand. Nur der Spion an der Tür fehlte. Der Hausbesitzer war wütend, als er merkte, daß ich ihn eingebaut hatte. Ich mußte drei Monatsmieten im voraus bezahlen, um ihn davon zu überzeugen, daß der Spion nicht nur dem Zweck diente, mich vor seinem Besuch rechtzeitig zu warnen.

Ich beobachtete Keebles Tochter. Sie bemühte sich krampfhaft, mir ein nettes Wort über meine Wohnung zu sagen. Als ihr nichts einfiel, schüttelte sie resigniert ihren jungen Kopf. Ich hätte ihr sagen können, daß ich früher einmal eine schönere Wohnung hatte, geräumig, bequem, im ersten Stock, mit Balkon und Blick auf einen baumbestandenen Platz. Aber es hatte sich herausgestellt, daß sie für unerwünschte Besucher zu leicht erreichbar war. Ich war auf einer Tragbahre ausgezogen.

«Ich hole nur eben meine Jacke«, sagte ich und trank den letzten Schluck Kaffee aus.»Dann können wir!«

Sie nickte erleichtert. Die Leere meines Privatlebens schien sie zu bedrücken. Fünf Minuten waren ihr mehr als genug.

Ich ging ins Schlafzimmer, nahm das Jackett vom Bett und beförderte meine Pistole aus der Hosentasche ins eingebaute Schulterhalfter. Dort befestigte ich sie mit einem Druckknopf am Gurt. Mit der Jacke über dem Arm stellte ich die schmutzige Kaffeetasse in die Spüle, zog den Küchenvorhang zu, öffnete die Tür und schloß sie hinter Miss Keeble und mir gewissenhaft ab.

Auf der Treppe geschah nichts. Vier Stockwerke tiefer traten wir auf die sonnenbeschienene Putney Street hinaus. Miss Keeble schaute sich nach den alten, soliden, notdürftig umgebauten Häusern um. Mein Haus glich genau seinen Nachbarn: Sie alle schrieen nach Farbe und strahlten

bürgerliche Ehrbarkeit aus.

«Ich war erst nicht ganz sicher, ob ich an der richtigen Haustür stand. Daddy sagte nur, das vierte Haus nach der Ecke.«

«Er fährt mich abends manchmal nach Hause.«

«Ja, das sagte er. «Sie ging auf den weißen Austin zu, der am Bordstein parkte. Mit dem Schlüssel in der Hand blieb sie unschlüssig stehen.»Was dagegen, wenn ich fahre?«

«Natürlich nicht.«

Sie lächelte zum erstenmal, seit sie gekommen war. Es war ein rasches, beinahe freundliches Lächeln. Sie schloß auf, stieg ein und öffnete mir von innen die andere Tür. Beim Einsteigen bemerkte ich das Schild mit dem großen L auf dem Rücksitz.

«Seit wann haben Sie denn Ihren Führerschein?«fragte ich behutsam.

«Hm…«Sie lächelte immer noch.»Um ehrlich zu sein: seit gestern.«

Dafür fuhr sie eigentlich recht gut. Vorsichtig, aber sicher. Nur mit dem Zeichengeben nahm sie es etwas zu genau. Ein bißchen zaghaft kroch sie über das Rondell von Chiswick hinauf zur M 4. Auf dem großen blauen Autobahnschild stand, daß die Schnellstraße für Besitzer von L-Scheinen gesperrt sei. Sie rümpfte im Vorbeifahren verächtlich die Nase.

«Sind Sie auf dem Herweg auch hier entlanggefahren?«fragte ich beiläufig.

Sie ordnete sich ganz rechts ein und beschleunigte auf vierzig Meilen.

«Nein. Ich wohne mit sechzig anderen Mädchen in einem Heim in South Kensington. Dad rief mich an und sagte mir, wenn ich den Wagen schon übers Wochenende in London mithätte, dann könnte ich Sie gleich abholen und nach Henley mitbringen. War wohl so ein plötzlicher Einfall von ihm.«

«Aha.«

Wir gelangten ans Ende der Geschwindigkeitsbeschränkung. Entschlossen trat sie aufs Gas.

«Angst?«Die Nadel zitterte um die 65 Meilen.

Ich lächelte schief.»Nein.«

«Eigentlich. «Sie umklammerte das Lenkrad so krampfhaft wie alle Anfänger.»Eigentlich sehen Sie nicht aus, als ob man Ihnen so leicht Angst machen könnte.«

Ich warf ihr einen erstaunten Blick zu. Ich sehe ganz durchschnittlich aus. Ruhig und durchschnittlich. Das ist zuweilen sehr nützlich.

Freimütig fuhr sie fort:»Ich habe Dad jedenfalls gefragt, ob ich über die Schnellstraße fahren dürfte. Er meinte, Ihre Nerven würden schon durchhalten. Aus irgendeinem Grund schien er das ungeheuer komisch zu finden.«

«Er hat eine ganz eigene Sorte Humor.«

«Mhm. «Die nächsten Meilen legte sie schweigend zurück. Sie konzentrierte sich aufs Fahren. Allmählich ging sie mit der Geschwindigkeit wieder auf fünfzig Meilen herunter. Offensichtlich war für sie die Schnellstraße doch nicht die reine Freude, die sie sich erwartet hatte. Auf der Überholspur zischten wie üblich ein paar Sonntags-Jim-Clarks vorbei, und auf der rechten Spur zuckelten Familienausflügler daher, wobei Oma vom Rücksitz aus den Fahrer dirigierte. Wir hielten uns in der mittleren Fahrbahn und bogen hin und wieder tapfer aus, um einen Flughafenbus zu überholen.

Als hinter Windsor der Verkehr schwächer wurde, fragte sie zweifelnd:»Sie — äh — Sie arbeiten für Dad?«

«Ja. Warum nicht?«

«Nun, dafür gibt’s natürlich keinen Grund. Ich meine — «stotterte sie verlegen,»- ich meine, ich kann mich nicht erinnern, daß er jemals einen Mitarbeiter… Üblicherweise tut er das eigentlich nicht. Deshalb. «Sie machte ein Gesicht, als täte es ihr leid, dieses Thema überhaupt angeschnitten zu haben.

«War vielleicht eine freundliche Regung bei ihm«, tippte ich und fragte mich insgeheim, was er wohl von mir wollte. Sicherlich wollte er mir nicht nur einen sonnigen Urlaubstag gönnen. Das war nicht seine Art, wie seine Tochter richtig andeutete.

Wir schafften es bis Henley, ohne einen einzigen Kratzer abzubekommen. Sie parkte den Wagen recht ordentlich auf dem geschotterten Platz vor dem Bahnhof. Nur ihre Hände zitterten leicht, als sie den Wagen abschloß. Mir wurde klar, daß dies ihre bisher längste und wohl auch schnellste Fahrt gewesen war.

«Sie haben das großartig gemacht«, sagte ich aufrichtig.

«Wie ein alter Hase.«

«Ach!«Sie lachte auf. Es klang mehr nach einem Husten. Aber sie war gleichzeitig erleichtert und erfreut.

«Vielen Dank. «Ich wußte, auf dem Rückweg würde sie schon viel lockerer fahren und nachher nicht so abgekämpft sein. Selbstvertrauen spenden und nehmen, das gehörte mit zu meinem Handwerk. Es gab keine Gewerkschaft, die mir das am Sonntag verbieten konnte.

«Die >Flying Linnet<, das ist unser Schiff, muß hier irgendwo liegen. Weit kann’s nicht sein«, sagte sie. Lächelnd streckte sie die Hand aus.»Hier geht’s zur Themse.«

Wir gingen zum Fluß hinunter und dann den breiten, sauber geteerten Uferweg entlang. Die halbe Stadt schien sich hier versammelt zu haben, um die Enten zu füttern. Die Sonne funkelte auf dem dunkelgrünen Wasser. Am Bootsverleih hatte sich eine lange Schlange gebildet. Wir kamen an Gärten, Rasenflächen und Bänken, an einer Bowlingbahn und einem Spielplatz mit Rutschen und Schaukeln vorbei. Überall dieselben strahlenden Sonntagsgesichter, dasselbe sommerliche Stimmengemurmel. Ich sah Familien, Paare und Gruppen, wenige Einzelgänger. Drei Wochen mutterseelenallein, dachte ich trübsinnig. Ich konnte sie hier am Ufer des tiefen, grünen Flusses mit Entenfüttern verbringen und einfach ins Wasser springen, wenn ich es nicht länger aushielt.

«Da ist Daddy!«rief Keebles Tochter und streckte die Hand aus. Die Sonne spielte auf ihrem hell gebräunten Arm und changierte karamelfarben auf den Kurven ihres mattorangefarbenen Kleides. Zu jung für mich, dachte ich zusammenhanglos. Oder vielmehr: Ich war zu alt. Um Äonen zu alt. Die Vierzig lagen zwar noch ein paar Jährchen vor mir, aber ich hätte Methusalem einiges vormachen können.

Keeble war von einem der Boote, die dicht hintereinander an der Mole lagen, an Land gesprungen und kam nun mit ausgestreckten Händen und schönstem Willkommenslächeln auf uns zu. Abgesehen von dem offenen Freizeithemd sah mein Chef genau wie an den Werktagen aus, ein kleiner, etwas untersetzter Mann mit sanften Manieren und leicht ängstlich wirkendem Gesichtsausdruck. Die hellen, blaugrauen Augen blinzelten wie gewöhnlich sehr rasch hinter der einfachen Brille, und wie gewöhnlich hatte er beim Rasieren ein Büschel Bartstoppeln übersehen. Seine vorzeitige Glatze hatte ihn mit fünfunddreißig schon wie einen Fünfziger wirken lassen, aber er bedauerte dies keinesfalls, sondern betrachtete seine Glatze vielmehr als Grund für seine rasche Beförderung gegenüber vollständig behaarten Kollegen. Vielleicht hatte er recht. Er wirkte harmlos, vorsichtig, wie ein Mann ohne jeden Ehrgeiz, ein Leisetreter von Natur aus. Es war acht Jahre her, seit er mich mitsamt dem ganzen übrigen Laden übernommen hatte; nach genau zwei Minuten war mir klar gewesen, welch scharfer Verstand hinter dem arglosen Äußeren lauerte.

«Gene«, sagte er,»wie schön, daß Sie kommen konnten. «Gleichgültig benutzte er meinen Arm als Pumpenschwengel. Es war eine gesellige Geste, die ihm so wenig bedeutete wie mir. Wir tauschten ein dazu passendes Lächeln aus. Seine Tochter begrüßte er mit echter Herzlichkeit. Sie gab ihm einen liebevollen Kuß auf die Wange, und in seinen Augen glommen Funken des Stolzes auf, wie ich sie noch nie bei ihm gesehen hatte.

«Na, Lynnie, mein Liebes, du bist also doch sicher gelandet. Oder hast du Gene fahren lassen?«

«Sei so gut«, sagte sie,»er hat nicht einmal gezuckt.«

Keeble warf mir einen amüsierten Blick zu. Ich wiederholte mein Kompliment über ihre Fahrkunst. Er nickte mir verstohlen zu und wußte ganz genau, warum ich das sagte.

Die beiden wandten sich ab und gingen den Weg entlang. Mir wurde durch eine Handbewegung bedeutet, ich solle nachkommen. Keeble blieb an seinem Boot stehen. Es war ein hübscher, elegant wirkender Kabinenkreuzer aus Fiberglas mit einer Kabine vorschiffs und einem großen, offenen Cockpit achtern. Die Decks blitzten fleckenlos, das Chrom funkelte. Auf der blaßblauen Polsterung saßen lässig ein Mann und eine Frau nebeneinander; beide lächelten uns entgegen, aber sie erhoben sich nicht.

Lynnie sprang ins Boot hinunter und gab der Frau einen Kuß. Vorsichtig kletterte Keeble hinterher.

«Kommen Sie an Bord!«rief er mir zu. Das klang so, daß mir wiederum die Wahl blieb, ob ich es als Einladung oder als Befehl betrachten wollte — wie es mir beliebte. Ich entschied mich für die Einladung und sprang mit beiden Beinen hinein — nicht nur in die >Flying Linnet<.

«Meine Frau Joan«, stellte Keeble vor und deutete auf die Frau.»Das ist Gene Hawkins, Schatz.«

Joan Keeble war eine zerbrechliche, an einen Vogel erinnernde Frau mit einem gezierten Benehmen, das sicher noch aus einer Zeit herrührte, als sie hübsch war. Sie zwinkerte mir zu und wollte wohl bewundert werden. Ich kratzte einen Rest an Charme zusammen, und wir tauschten die üblichen Gemeinplätze über Wetter, Schiffe und autofahrende Töchter aus. Keeble unterbrach uns mit einer nachlässigen Handbewegung in Richtung auf den Mann neben ihr.

«Ihr zwei kennt euch noch nicht…«Er zögerte einen Augenblick.»Dave… Gene, das ist David Teller.«

Teller erhob sich, reichte mir knapp die Hand und behauptete, über die Bekanntschaft mit mir erfreut zu sein. Er trug ein schlampiges, zerknittertes blaues Hemd über einer geflickten Baumwollhose, zerknautschte Segelschuhe an den Füßen und auf dem Kopf eine schmutzige alte Baseball-Kappe. Amerikaner, gute Schulbildung, wohlhabend, selbstsicher — ganz automatisch stufte ihn mein geschulter Verstand ein. Außerdem war er schlank, ging auf die Fünfzig zu, hatte eine kräftige Hakennase, einen offenen Blick und einen hervorragenden Zahnarzt.

Keeble ließ sich, abgesehen von dieser dürftigen Vorstellung, auf keine näheren Erklärungen ein, sondern konzentrierte sich ganz darauf, sein Schiff seeklar zu machen. Er schrie in die Kabine, ein gewisser Peter solle ihm helfen, aber niemand erschien. Ich schob meinen Kopf durch die Tür und erblickte einen etwa zwölfjährigen Jungen, der hingebungsvoll damit beschäftigt war, einen neuen Film in seinen billigen Fotoapparat einzulegen.

«Peter!«brüllte sein Vater.

Peter stieß einen abgrundtiefen Märtyrerseufzer aus, drückte seine Boxkamera zu und ging an mir vorbei hinaus. Dabei hatte er nur Augen für den Apparat und drehte im Gehen am Aufzug. Blindlings und völlig sicher trat er auf die schmale Bordwand und von da auf die Mole hinüber.

«Eines Tages fällt er noch ins Wasser«, sagte Lynnie zu niemandem im besonderen. Ihr Bruder hörte sie nicht einmal. Während er mit der einen Hand immer noch an der Kamera herumdrehte, wickelte er mit der anderen langsam die Leine vom Vertäuungsring. Dabei kniete er mit seinen sauberen schwarzen Jeans auf dem Boden nieder und stand mit zwei großen grauen Flecken auf den Knien wieder auf. Dann richtete er den Apparat auf einen vorbeifliegenden Entenschwarm, knipste und drehte mit ernstem, konzentriertem Gesicht den Film weiter.

Weiter oben machten Keeble und Teller die Bugleine los und plauderten dabei angeregt. Lynnie und ihre Mutter richteten die Fender aus und schossen die Leine auf. Sie machten sich hier und da zu schaffen und plauderten über Nichtigkeiten. Ich fragte mich, was zum Teufel ich hier zu suchen hatte, und kam mir höchst überflüssig vor. Dieses Gefühl des Losgelöstseins war mir nicht neu, es befiel mich in letzter Zeit häufiger. Die beiden Ebenen des Daseins entfernten sich immer weiter voneinander. Die alltägliche, gesellige Ebene hatte jede Bedeutung eingebüßt, und darunter, wo fester Fels sein sollte, gähnte die Leere erschreckender Einsamkeit. Es wurde immer schlimmer damit. Die Gegenwart war schon schlimm genug — die Zukunft war ein richtiger Abgrund. Arbeit hielt die zersplitternden Stücke meines Ichs noch zusammen, dabei wußte ich nur zu gut, daß es gerade die Arbeit war, die diesen Prozeß überhaupt in Gang gesetzt hatte. Sie und Caroline. Genauer: Carolines Mann.

«Ich hab’ gesagt, Sie sollen die Leine da mal halten. Bitte!«rief Peter. Ich faßte die nasse Schlange an, die er mir hinhielt.»Hallo!«fügte er hinzu, da er mich wohl zum erstenmal bewußt erblickte.»Wer sind Sie denn?«

«Jeder darf raten«, sagte ich wahrheitsgemäß, aber nicht sehr logisch. Seine Mutter warf mir einen sonderbaren Blick zu und nannte meinen Namen.

Keeble kam auf Deck zurück und startete die Maschine.

Teller postierte sich auf dem kleinen Vorderdeck und warf auf Keebles Befehl die Bugleine los. Peter ließ sich mit der Heckleine so lange Zeit, daß er kaum noch an Deck springen konnte. Die Kamera hüpfte an ihrem Riemen an seinem Hals.»Geburtstagsgeschenk von Gran«, sagte er stolz zu Lynnie.»Große Klasse, wie?«

«Du läßt sie noch in den Fluß fallen, wenn du nicht aufpaßt.«

«Ist erst mein zweiter Film. Den ersten hab’ ich gleich in der Schule verknipst. Glaubst du, die Enten werden richtig drauf sein?«

«Wahrscheinlich hast du den Finger vor die Blende gehalten.«

«Drinnen hab’ ich noch ein Buch. «Er deutete mit dem Kopf zur Kabine. Er überhörte gekonnt ihren Sarkasmus und spürte sehr wohl die dahinter verborgene Zuneigung.

«Da steht alles über Blende und Belichtung drin. Ich sehe lieber mal nach, was man bei Sonne nehmen muß. Letzte Woche in der Schule war’s immer grau und verhangen.«

Ich gehöre nicht hierher, dachte ich. Am liebsten hätte ich weitergeschlafen.

Die >Flying Linnet< schob ihre Nase flußaufwärts und suchte sich ihren Weg zwischen einem Schwarm von Ruderbooten. Keeble stand am Ruder, Teller saß ruhig vorn auf dem Kabinendach, und Peter versuchte, an Lynnie vorbeizukommen, die ihm gutmütig neckend den Weg in die Kabine versperrte. Joan Keeble setzte sich auf die breite Bank achtern im Cockpit und deutete auf den Platz neben sich — ich sollte ihr Gesellschaft leisten. Ich gab mir einen Ruck und tat ihr den Gefallen, aber schon nach ein oder zwei Minuten scheinbar nichtssagender, höflicher Konversation merkte ich plötzlich, wie sie behutsam etwas über mich herauszubekommen suchte. Sie wollte wissen, warum ich eingeladen worden war, ohne mich merken zu lassen, daß sie es nicht wußte.

Dieses Spielchen konnte ich bis in alle Ewigkeit fortsetzen. Ich wußte selbst nicht, warum ich hier war, aber daß sie danach fragen mußte, daß sie diese Frage tatsächlich gestellt hatte, sagte mir viel über den mangelnden Kontakt zwischen Keeble und seiner Frau und ließ mich Keeble selbst in neuem Licht sehen. Jetzt wußte ich auch, warum er mich nie in seine Wohnung eingeladen hatte. Es ist gut, wenn man ein Mikroskop besitzt, aber man legt sich nicht gern selbst unter das Okular. Um so eigentümlicher erschien mir der Umstand, daß er es nun doch getan hatte.

Als hätte er meine Gedanken im Genick gespürt, drehte er sich um und sagte:»Wir haben die Schleuse genau vor uns.«

Ich stand auf und trat zu ihm. Peter gab seine Bemühungen endlich auf und kehrte auf seinen Posten an der Heckleine zurück.

«Die Marsh-Schleuse«, erklärte Lynnie. Sie stand neben mir und blickte durch die Windschutzscheibe nach vorn.

«Stromaufwärts ist sie gar nicht einfach.«

Als wir näher kamen, wurde mir klar, was sie meinte. Der breite Fluß verengte sich plötzlich. Backbord waren die Schleusentore, steuerbord daneben das Wehr. Schon in einer Entfernung von fünfzig Metern empfingen uns kleine Wirbel und Gischtstreifen. Je weiter wir kamen, um so gewaltiger wurden Strömung und Wirbel. Sie versuchten dauernd, das Boot ausscheren zu lassen, und Keeble drehte emsig am Ruder, um das Boot auf Kurs zu halten. Vor uns stürzte das Wasser tonnenweise über das Wehr; grün, braun und schäumend-weiß brandete es in Sturzwellen herab und roch nach Moder und Schlamm.

Ein niedriger hölzerner Damm trennte die Schleuseneinfahrt vom quirlenden Wasser des Wehrs. Keeble steuerte das Boot geschickt ins ruhige Wasser vor der Schleuse. Teller warf vom Bug aus seine Leine über einen Poller, Peter schlang seine Leine mit einer Schlinge über einen zweiten.

Gleichgültig blickte ich über die Bootswand und die Holzbarriere hinweg in die Gischt. Das schäumende, stürzende, tosende Wasser sah im hellen Sonnenschein prächtig aus, wie es sich wieder in die volle Breite des Flußbettes ergoß. Ich spürte in der Wärme fein zersprühte kühle Spritzer auf meinem Gesicht und fragte mich, ob jemand, der da hineinfiel, jemals wieder ans Tageslicht kommen würde.

Die Schleusentore öffneten sich, die flußabwärts fahrenden Boote glitten aus der Kammer, und die >Flying Linnet< schob sich hinein. Das Wasser strömte durch die oberen Schleusentore herein, hob uns hoch, und zehn Minuten später glitten wir aus der Schleusenkammer auf die ruhige Wasserfläche hinaus, zwei Meter höher als zuvor.

«Die Themse hat fünfzig Schleusen«, erklärte Keeble.

«Lechlade erreicht man nur noch in einem Ruderboot. Diese oberste Schleuse liegt immerhin hundert Meter über Seehöhe.«

«Eine tolle Treppe«, bemerkte ich.

Er nickte.»Die Viktorianer waren schon ein intelligenter Haufen. Sie haben die Schleusen gebaut.«

Teller stand mit der aufgeschossenen Leine in der Hand auf dem Vordeck. Sein Mützenschild deutete wie der Schnabel eines aufmerksamen Vogels nach vorn. Ich beobachtete ihn. Keeble merkte die Richtung meines Blicks, gab mir aber keinen weiteren Hinweis.

Knapp eine halbe Meile flußaufwärts von der Schleuse legten wir an einer Wirtschaft eine offenbar vorbereitete Rastpause ein. Teller sprang mit der Leine an Land und hielt die Bordwand von der Betonmole fern, während wir darauf zutrieben. Er und Peter legten das Boot mit gekonnten Schifferknoten an, dann gingen wir alle von Bord.

Wir saßen auf bequemen Metallstühlen um einen Tisch herum, durch dessen Mitte ein Sonnenschirm gesteckt war. Lynnie und Peter bekamen Cola, für uns andere bestellte Keeble, ohne zu fragen, Scotch. Joan nippte mit vorgeschobenen Lippen und zugekniffenen Augen an ihrem Glas, als sei das Getränk für ein so zerbrechliches Persönchen viel zu stark, aber ich merkte, daß sie ihr Glas lange vor uns anderen leergetrunken hatte. Teller ließ sein Getränk minutenlang unberührt stehen, dann goß er es sich in ein paar gewaltigen Schlucken hinter die Binde. Keeble trank bedächtig. Er drehte sein Glas in der Hand und blinzelte durch den goldbraunen Whisky in die Sonne. Sie redeten vom Fluß, von früheren Ausflügen, vom Wetter. Links und rechts von uns saßen unter weiteren Sonnenschirmen Familienausflügler, die sich kaum von unserer Gruppe unterschieden. Sonntagmorgen-Drink, Sonntags-Lunch, Sonntagszeitung, Sonntagabend im Palladium — beschützte kleine Familien, geborgen in ihrer Routine, wohlmeinend und mehr oder weniger zufrieden. Selbst Keeble paßte in das Bild. Ich aber — ich stand abseits.

«Trinken Sie«, forderte mich Keeble auf.»Sie haben doch Ferien.«

Plötzlich betrachteten mich die anderen Familienmitglieder sehr aufmerksam. Ich hob gehorsam mein immer noch volles Glas, während die anderen Gläser alle schon leer waren. Irgendwie war es nicht richtig, so früh am Morgen schon Alkohol zu trinken. In meinem Unterbewußtsein läuteten Alarmglocken. Der Geschmack von Alkohol sagt mir schon zu, nur die Folgen kann ich mir nicht leisten. Alkohol verleitet einen dazu, sich auf sein Glück zu verlassen, und ich verlasse mich lieber auf einen klaren Kopf. Infolgedessen rühre ich das Zeug manchmal wochenlang nicht an, und an diesem Morgen war es mein erstes Glas Alkohol seit genau einem Monat.

Keeble beobachtete mich, wie ich den Whisky schluckte. Er lief mir leicht und vertraut wie ein lang vermißter Freund über die Lippen. Wie weitgehend ich mir jemals Ferien leisten konnte, das machte mir schon das Jackett über meinen Knien deutlich. Ich spürte das Pfund tödlichen Eisens in seinem Schulterhalfter. Und doch erschien es mir höchst unwahrscheinlich, daß ich es ausgerechnet auf der Themse brauchen würde. Als Teller eine zweite Runde bestellte, trank ich wieder aus. Dann war ich an der Reihe — eine dritte Runde.

Peter hielt bis zur dritten Cola mit, dann machte er sich mit seiner Kamera auf die Suche nach lohnenden Objekten. Ganz in der Nähe machte ein Bootsverleih wie in Henley schwunghafte Geschäfte. Vier von den besseren Kunden der Wirtschaft hatten einige Mühe, schwankend ins Boot zu steigen. Teller meinte leise lachend:»Welche Strafe steht eigentlich auf Paddeln unter Alkoholeinfluß?«

«Ein kühles Bad«, sagte Lynnie.»Idioten!«

Der Kahn schwankte bedenklich, als sie ablegten, aber keiner der vier Männer fiel ins Wasser. Er glitt zehn Meter flußaufwärts und krachte dann so heftig gegen den Anlegesteg der Wirtschaft, daß die vier Insassen übereinanderpurzelten. Ich versuchte mitzulachen und fühlte mich fremder als zuvor.

Wir tranken aus, stiegen wieder ein und passierten die nächste Schleuse: Harbour. Nun folgte eine Strecke grünen, unbewohnten Weidelandes. Hier legten wir zum Lunch an. Peter sprang immer wieder prustend ins Wasser, und Lynnie half ihrer Mutter in der Kabine beim Herrichten des Essens. Teller legte sich faul auf die Bank im Cockpit, Keeble entfaltete seine Sonntagszeitung, und ich fragte mich bekümmert, wann er wohl endlich zur Sache kommen würde.

Aber er war schon bei der Sache. Sie stand in der Zeitung.

«Lesen Sie das hier«, sagte er und deutete auf eine kleine Meldung auf einer der Innenseiten.

Ich las.

Es gibt immer noch keinen Hinweis auf den Verbleib des am vergangenen Dienstag im amerikanischen Bundesstaat Kentucky ausgebrochenen Chrysalis. Die Besorgnis um den Hengst im Werte von 500000 Pfund Sterling, Vater des diesjährigen Derbygewinners Moth, nimmt zu.

«Meinen Sie diesen Absatz?«fragte ich verwundert, aber er nickte heftig. Ich hatte tatsächlich den richtigen Abschnitt erwischt.

«Wußten Sie denn nichts davon?«fragte er.

«Daß Chrysalis verschwunden ist? Doch, ich denke schon. Es stand ja am Mittwoch in den Pressemeldungen.«

«Aber es hat Ihnen nichts gesagt, wie?«fragte Teller mit einer Spur beherrschter, kultivierter Bitterkeit in der Stimme.

«Nun.«

«Ich bin mit einem Achtel an dem Pferd beteiligt«, erklärte er.»200000 Dollar.«

«Puh!«machte ich.»Eine Menge Geld für ein achtel Pferd.«

«Schlimmer noch«, sagte er seufzend.»Den ganzen letzten Monat verhandle ich schon über den Verkauf. Ich konnte ein anderes Syndikat aus dem Feld schlagen, das ebenfalls bot. Und in dem Augenblick, wo der Hengst drüben landet, passiert das!«

«Tut mir leid«, murmelte ich höflich.

«Ich kann nicht verlangen, daß Sie das begreifen. «Er schüttelte entschuldigend den Kopf.»Mir geht’s nicht um das

Geld, sondern um das Pferd. Es ist unersetzlich.«

«Man wird es schon wiederfinden. «Das meinte ich zwar ehrlich, aber im Grunde genommen war es mir höchst gleichgültig.

«Da bin ich nicht so sicher«, sagte er.»Deshalb möchte ich gern, daß Sie hinfahren und sich mal umsehen.«

Fünf Sekunden lang zuckte keiner mit der Miene, am allerwenigsten ich. Dann wandte sich Teller an Keeble und schenkte ihm sein strahlendstes Lächeln.»Mit dem möchte ich nicht pokern«, sagte er.»Okay, ich schlucke alles, was Sie mir über seine Qualitäten gesagt haben.«

Ich warf Keeble einen Blick zu. Er hob die Augenbrauen und zuckte leicht verlegen mit der Schulter. Ich fragte mich, wie vollständig seine Aussage über mich wohl war.

Teller wandte sich wieder mir zu.»Sim und ich haben im zweiten Weltkrieg in derselben Branche gearbeitet.«

«Aha«, sagte ich. Nun war mir vieles klar.

«Für mich war’s allerdings nur ein Job für Kriegszeiten«, fuhr er fort.»Ich musterte 1947 ab und kehrte heim zu meinem lieben Papa. Ein paar Jahre später starb er und hinterließ mir seine Rennpferde sowie ein paar ersparte Pfennige. «Seine herrlichen Zähne blitzten mich an.

Ich wartete. Die Geschichte hatte ja erst begonnen.

Nach einer Weile fuhr er fort:»Ich bezahle Ihnen natürlich die Überfahrt, die Kosten und ein Honorar.«

«Ich bin doch kein Pferdefänger«, protestierte ich schwach.

«Ich kann mir schon denken, was Sie sonst jagen. «Er warf Keeble einen Blick zu.»Sim sagt, Sie hätten gerade Urlaub.«

Daran brauchte er mich nicht zu erinnern.

Er sagte:»Chrysalis ist schon der dritte international berühmte Hengst, der innerhalb der letzten zehn Jahre spurlos verschwunden ist.«

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