Kapitel 16

Fast dreißig Stunden lang hockte ich in der gebirgigen Wüste Arizonas und schaute Matt Clive zu, wie er sich langweilte.

Er war genauso tüchtig, flink und geschickt wie seine Schwester. Er tränkte das Vieh und flickte einen Zaun, fegte das Haus und fütterte die Hühner. Viel Zeit verbrachte er im größten Stall der Farm.

Ich hatte zwischen den Felsen am Ostrand des Tals einen guten Beobachtungsposten gefunden, eine halbe Meile von der staubigen Straße entfernt, die zur Farm führte. Hier, fast tausend Meter über dem Meeresspiegel, war die Hitze erträglich, aber um die Mittagszeit stach die Sonne senkrecht vom Himmel herab; wenn ein Bürgersteig dagewesen wäre, hätte man darauf Spiegeleier braten können. Wüstenpflanzen erhalten nur sich selbst und niemand sonst. Hinter meinem Rücken wuchs eine große Agave. Ihr Hauptstamm erhob sich mannshoch und endete in waagerechten Blüten von einem herrlichen Feuerrot bis zum strahlendsten Gelb. Als Blätter hatte die Agave messerscharfe Spitzen, die dicht über dem Boden büschelweise hervor standen. Sie waren hart und eckig und boten nicht viel Schatten. Spindeldürres Hirschhorn und die flachen Teufelsfinger hätten auch keinem Zwerg Schutz geboten. So kroch ich unter einen überhängenden Felsen und rutschte dem Schatten nach, bis die Sonne im Westen unterging.

Showman und Allyx mußten in dem großen Stall stehen. Allerdings bemerkte ich am ersten Nachmittag weder von ihnen noch von anderen Pferden etwas.

Für den Flug nach Las Vegas und die Fahrt im Mietwagen nach Kingman hatte ich fast den ganzen Vormittag gebraucht.

An der letzten Abzweigung von der Straße, die zur Farm führte, mußte ich mich entscheiden: Entweder riskierte ich, mit Matt mitten auf der Straße zusammenzustoßen, oder ich mußte zehn Meilen marschieren. Ich wagte es. Zehn Meilen hin waren auch zehn Meilen zurück. Zwei Meilen vor der Farm war der Wagen protestierend von der Straße gerollt und stand nun gut geschützt in einer Mulde.

Durch den Feldstecher konnte ich jede Einzelheit auf der ärmlichen Farm klar und deutlich erkennen. Links lag das kleine, baufällige Haus, auf der anderen Seite des großen, staubigen Hofs der mächtige Stall. Den größten Teil des ungefähr quadratischen Platzes säumte auf der dritten Seite eine Reihe von niedrigen schlichten Steingebäuden. Dahinter rosteten zwei alte Autos unter freiem Himmel vor sich hin.

Alles war verwahrlost. Hier konnte kein Wohlstand ausbrechen. Die Besitzer konnten hier in dem kleinen Tal zwischen den Bergen Arizonas nur existieren, weil eine Laune der Natur an einer Stelle zwischen den Felsen das Grundwasser in einer Quelle zutage treten ließ. Von meinem Beobachtungspunkt aus konnte ich den kleinen Bach leicht mit den Blicken verfolgen. Wo er entsprang, gab es Gras und ein paar Bäume, am Oberlauf folgten ihm links und rechts schlecht gebaute Koppeln und windschiefe Zäune, in der Nähe des Farmhauses wuchs ein wenig Mais, und in der Ferne verlor er sich in einer weiten, trockenen Mulde in der Wüste. Schwerer Regen verwandelte ihn gewiß jedesmal in einen reißenden Strom, ebenso vernichtend wie lebensnotwendig. Hoch über dem Haus erhob sich dominierend ein riesiger, zwiebelförmiger Wassertank auf einem gebrechlich wirkenden Gerüst.

Meilenweit folgten schwarze Masten dem Lauf der Straße. Sie trugen die Drähte für elektrischen Strom und Telefon, aber die Zivilisation machte sich sonst kaum bemerkbar. Auf der einen Seite des großen Stalles sah ich auf dem

Schuttabladeplatz eine eiserne Bettstelle, einen halben Traktor, eine bodenlose Zinnbadewanne, das Gerippe eines alten Wagens und einen Haufen rostigen Metalls, dazu etwa fünfzig abgefahrene Autoreifen verschiedenster Größe. Jedes Loch weit und breit war mit leeren Flaschen und Konservendosen ausgefüllt. Die Etiketts blätterten ab, und die Deckel gähnten mit ausgezackten Mündern. Über allem flimmerte die Luft vor Hitze.

Matt verbrachte schon mindestens eine Woche in dieser häßlichen Oase. Es sollte Walt nicht allzu schwer fallen, ihn zu einem abendlichen Besuch in Las Vegas zu überreden.

Ich beobachtete die Farm bis lange nach Einbruch der Dunkelheit. Im Haus gingen Lichter an und wieder aus, Matt ging hin und her, tauchte mal hinter diesem, mal hinter jenem Fliegengitter auf, hatte aber keine Vorhänge zugezogen. Ich bezweifelte, daß es hier überhaupt welche gab.

Nach ein Uhr nachts, nachdem alle von hier aus sichtbaren Lichter im Haus seit mindestens zwei Stunden verloschen waren, schlich ich vorsichtig zur Farm hinunter. Die Nacht war immer noch sehr warm. Das einzige Licht stammte von den Sternen, und in Bodennähe war es stockfinster. Da ich immer an die stacheligen Agavenbüsche denken mußte, erschien mir der Gebrauch meiner Taschenlampe als das geringere Risiko.

Ich erreichte den Hof. Nichts rührte sich. Leise und behutsam tastete ich mich hinüber zum Stall. Matt schlief im Haus weiter.

Keine Schlösser, nicht einmal Riegel gab es. Das breite Tor des Stalls stand weit offen. Dieser Einladung konnte ich nicht widerstehen. Das Innere des Stalls war in sechs Boxen auf der einen Seite und Behälter für Futter und Zaumzeug auf der anderen Seite aufgeteilt. Auch hier sah alles nach Verfall aus. Wohin der Strahl meiner Lampe auch fiel, alles hätte dringend eine Reparatur nötig gehabt.

Vier Boxen waren leer, aber in den beiden mittleren standen nebeneinander zwei Pferde. Leise, um sie nicht aufzuregen, ging ich auf sie zu, murmelte beruhigende Worte und leuchtete mit meiner Lampe auf die Mauer vor ihren Köpfen. Sie rollten fragend ihre Augen, aber keins der Pferde stampfte oder zeigte andere Anzeichen von Erregung.

Als ich dem ersten Hengst mit der Lampe ins Maul leuchten wollte, scheute er ein wenig zurück, doch das ungewöhnlich kräftige Halfter und eine ganz neue Kette gaben ihm nicht viel Spielraum. Ich tätschelte ihm den Hals und redete ihm begütigend zu, und schließlich sah ich die eintätowierte Nummer, nicht allzu deutlich, aber immerhin lesbar: 752-07. Die Zuchtbuchnummer von Moviemaker.

Die Tätowierung des anderen Pferdes war neueren Datums und besser leserlich. Es war die eingetragene Nummer von Centigrade.

Zufrieden gab ich ihnen je einen freundschaftlichen Klaps und verließ außerordentlich vorsichtig den Stall. Matt schlief immer noch. Ich zögerte, weil ich mir sagte, das müßte genug sein, aber dann nutzte ich doch die Gelegenheit und sah mir die anderen Baulichkeiten an, die den Hof säumten. Nur eins enthielt etwas von Interesse: einen Wagen.

Es war nicht Matts hellblaues Cabrio, sondern ein blecherner, schwarzer Sedan, drei oder vier Jahre alt. Im Schein meiner Lampe sah ich auf dem Vordersitz ein Stück Papier liegen. Ich öffnete die Tür und sah es mir an. Es war der Durchschlag eines Auftragszettels von einer Garage und Tankstelle in Kingman. Name des Kunden: Clive. Auftrag: gelbe Farbe von Ford-Cabrio beseitigen. Nähere Anweisungen: schnellstmöglich.

Ich legte das Papier wieder auf den Sitz und leuchtete unter das Armaturenbrett. Ein kleines, blankes Metallschild sagte mir Namen und Anschrift der Tankstelle in Kingman. Matt hatte

sich den Wagen geliehen, bis sein eigener fertig war.

Draußen war es totenstill. Ich kam mir vor wie ein Schatten unter Schatten, verließ lautlos den Hof und ging ein Stück die Straße entlang. Der Weg bis zu meinem Wagen kam mir viel länger vor als nur zwei Meilen. Ich hatte drei flache Steine als Markierung aufgebaut, um die Stelle nicht zu übersehen, aber selbst dann brauchte ich noch eine ganze Weile, bis ich den versteckten Wagen gefunden hatte und wieder auf die Straße zurückkehrte.

Nach drei Uhr rief ich Walt an. Seine Stimme klang resigniert, aber er mußte doch wissen, daß mein Anruf irgendwann im Laufe der Nacht kommen mußte.

«Sind sie dort?«fragte er.

«Ja. Fast unbewacht, und auf der ganzen Farm ist niemand außer Matt. Wie sieht’s bei Ihnen aus?«

«Ach!«sagte er amüsiert,»Offen spielte die gekränkte Unschuld. Er verstand einfach nicht, wie jemand auf die Idee kommen konnte, er sei in eine Betrugsaffäre verwickelt. Und so weiter. Auf die Beamten der Staatsanwaltschaft machte das allerdings keinen Eindruck, weil die solchen Zinnober dauernd zu hören bekommen. Sie werden dadurch höchstens noch schärfer. Sie hatten eine ziemlich lange Unterhaltung mit ihm, höflich zwar, aber doch eindringlich. Künstler sind das! Offen sagte nichts, was für uns von Interesse sein könnte, höchstens eines: Die Beamten fragten ihn nach dem Stallmeister, diesem Kiddo, erinnern Sie sich? Der uns von den Stuten erzählt hat, die immer nachts fohlen?«

«Ja, ich erinnere mich.«

«Nun, bei den Stuten scheint im Augenblick keine Saison zu sein, jedenfalls ist dieser Kiddo am Tag nach unserem Besuch in Urlaub gefahren.«

«Davon hat er nichts gesagt, als wir dort waren.«

«Natürlich nicht. Offen sagt, Kiddo würde in drei Wochen wieder zurück sein. Ich nehme an, er hofft, daß sich bis dahin Centigrade und Moviemaker als echt erwiesen haben. Wenn sich der Wirbel gelegt hat, kann er wieder Allyx und Showman holen, und Kiddo darf zurückkehren. Offen wußte vermutlich nicht, wie der Junge sich verhalten würde, und schaffte ihn vorsichtshalber aus dem Weg.«

«Da haben Sie sicherlich recht«, sagte ich.»Etwas Interessantes auf dem Tonband?«

«Diese verdammte Maschine bringt mich noch um«, sagte er müde.»Heute war hauptsächlich die Unterhaltung zwischen Offen und den Beamten drauf, und die hab’ ich mir gleich zweimal angehört. Danach rief er Yola und Matt an und erstattete Bericht. Er schien mit dem Lauf der Dinge recht zufrieden zu sein. Matt war wohl ziemlich verärgert, weil er noch bleiben muß, da sagte ihm Offen, er solle sich nicht so anstellen, was seien schon eine Woche oder auch zwei bei dem, was auf dem Spiel stehe. Yola will Matt anscheinend auch zurückhaben, denn Offen schmierte auch ihr Honig ums Maul. «Walt räusperte sich.

«Was glauben Sie wohl, wie Matt und Yola zueinander stehen?«

Ich lächelte den Empfänger an und sagte:»Aber Walt! Solche Gedanken hatte ich bei Ihnen nicht vermutet!«

«Ist doch möglich…«:, begann er verlegen.

«Natürlich ist es das. Aber nichts weist darauf hin außer der Tatsache, daß sie nicht verheiratet sind.«

«Dann glauben Sie nicht.«

«Ich würde sagen, sie hängen sehr aneinander, aber wie weit das geht, weiß ich wirklich nicht. Ich hab’ sie nur zweimal zusammen gesehen, und da hatten sie entweder Ruderstangen oder Waffen in den Händen.«»Hm, ja, vielleicht bindet sie das Verbrechen aneinander.«

Ich stimmte ihm zu und fragte, ob er mit Matt schon eine Vereinbarung wegen des Gesprächs über die Versicherung getroffen habe.

«Natürlich hab’ ich das«, antwortete er selbstgefällig.

«Hab’ ihn heute nachmittag angerufen, wahrscheinlich gleich nach seinem Gespräch mit Offen. Er war anscheinend recht froh über eine Ausrede, mal nach Las Vegas zu kommen. Er war mit 18.00 Uhr einverstanden, dann bat er mich aber doch, etwas später zu kommen.«

«Wahrscheinlich will er die Pferde füttern, wenn’s am Abend etwas kühler wird«, sagte ich.»Die Pferde kommen zuerst.«

«Ja. Bei einem Preis von drei Millionen Dollar! Mir ist schon rätselhaft, daß er sie überhaupt für eine Minute aus den Augen läßt.«

«Gegen wen soll er sie denn bewachen?«

«Stimmt auch wieder«, gab er zu.»Nur gegen uns, und wir konzentrieren uns ganz offensichtlich auf die zwei Hengste auf der Orpheus-Farm. Stimmt’s?«

«Genau.«

«Wir haben uns jedenfalls dann auf 21.00 Uhr geeinigt. Das bedeutet, daß er auf dem Heimweg vermutlich noch ein wenig Roulette spielen wird. Möglich, daß wir ziemlich die ganze Nacht haben, um die Pferde wegzuschaffen.«

«Gut, Walt«, sagte ich.»Aber…«

«Ja?«

«Gut aufpassen.«

«Predigen Sie Ihrer Großmutter!«schnaubte er. Ich lächelte wieder und fragte, ob er etwas von Sam Hengelman gehört hätte.

«Der hat heute abend angerufen, wie Sie angeordnet haben.

Er hat Santa Rosa in New Mexico erreicht und wollte in Albuquerque übernachten. Um etwa vier Uhr morgen mittag wolle er in Kingman sein, sagte er. Nein, heute nachmittag, um genau zu sein. Er erwartet Sie im >Mojave-Motel<. Ich sagte ihm, die Rückfahrt werde nicht vor acht Uhr abends losgehen, er solle sich ein Zimmer nehmen und noch ein paar Stunden schlafen.«

«Danke, Walt, das war genau richtig.«

«Damit wäre wohl alles klar, wie?«Seine Stimme klang eine Spur unruhig, und wieder spürte ich, wie meine Sinne mich vor einer drohenden Gefahr warnten.

«Sie brauchen nicht nach Las Vegas zu kommen«, sagte ich.»Wir haben auch so genug Zeit.«

«Ich komme aber«, erwiderte er.»Dabei bleibt’s!«

«Nun gut. Wir sollten aber einen Treffpunkt vereinbaren, falls etwas schiefgeht. Sagen wir, Sie warten morgen abend von 20.00 Uhr bis 20.30 Uhr in der Halle der >Angel Inn<, wo ich gewohnt habe, gleich am Rand von Las Vegas, aber leicht vom Pittsville Boulevard zu erreichen. In dieser halben Stunde rufe ich an. Wenn ich nicht anrufe, bleiben Sie dort und fahren nicht zu Matts Haus.«

«Okay«, antwortete er. Er gab sich Mühe, aber seine Stimme klang eindeutig erleichtert.

Wir legten auf. Ich besorgte mir in einem Schnellimbiß am Busbahnhof, der die ganze Nacht geöffnet hatte, ein Sandwich und heißen Kaffee, dann fuhr ich mit meinem Mietwagen wieder zur Farm zurück. Die drei flachen Steine tauchten im Scheinwerferlicht auf. Ich stellte den Wagen in seinem vorherigen Versteck ab und legte dann das letzte Stück des Weges zu Fuß zurück.

Im Schutz meines überhängenden Felsens versuchte ich, ein wenig zu schlafen. Bis zum Morgengrauen hatte ich noch mindestens eine Stunde Zeit, und auch dann war die Sonne noch für eine Weile erträglich. Doch obgleich ich wußte, daß ich in der kommenden Nacht überhaupt keinen Schlaf finden würde, konnte ich nicht einschlafen. In offenem Gelände, umgeben von Kakteen, in Rufweite eines Mannes, der mich nur allzugern umbringen wollte, hatte das vermutlich nichts mehr mit gewöhnlicher Schlaflosigkeit zu tun, aber ich gab mich keinen Illusionen hin. Ich kannte alle Symptome nur zu gut — die innere Unruhe, die jagenden Gedanken, die prickelnde Spannung, das Bewußtsein, daß jede Faser des Körpers unter Dampf steht. Man kann sich flach hinlegen und so bewußt entspannen, daß man nicht mehr sagen kann, wo man die Arme und Beine liegen hat, trotzdem schläft man nicht ein. Tief atmen, tausend Schafe zählen, alte Verse aufsagen — nichts hilft.

Die Sonne ging auf und schien mir in die Augen. Ich entzog mich diesem gefährlichen Scheinwerfer und rutschte ein Stück um den Felsen herum. Dann schaute ich wieder durch mein Glas zur Farm hinunter. Keine Bewegung. Um 5.30 Uhr lag Matt noch immer im Bett.

Ich setzte das Glas ab und überlegte, ob ich mir eine Zigarette leisten konnte. Ich hatte nur noch vier Stück in meiner Packung. Ich hätte ja leicht in Kingman welche kaufen können, dachte ich mit einem Seufzer, wenn ich nur daran gedacht hätte. Ein langer Tag lag vor mir. Außer dem Fernglas hatte ich nur noch eine Flasche Wasser bei mir, eine Sonnenbrille — und die Parabellum in meinem Gürtel.

Um 7.30 trat Matt aus der schief in den Angeln hängenden Gittertür, stand eine Weile auf dem Hof und reckte sich, dann betrachtete er den wolkenlosen, kobaltblauen Himmel. Er ging hinüber zum Stall und steckte kurz den Kopf hinein.

Nachdem er zufrieden festgestellt hatte, daß das Gold noch auf der Bank lag, holte er zwei Eimer Wasser und verschwand im Stall zum Füttern und Ausmisten. Nach einer Weile kam er mit einer Karre Pferdeäpfel wieder zum Vorschein und fuhr sie

hinter den Stall. Dort konnte ich ihn nicht mehr sehen.

Die Hühner bekamen ihre Körner, die Kälber in der nahen Koppel ihre Wasserration, dann zog sich Matt zum Frühstück zurück. Der Morgen zog sich in die Länge. Es wurde heißer. Sonst geschah nichts.

Um die Mittagszeit erhob ich mich hinter meinem Felsen und vertrat mir die Beine. Auch mein Hinterteil war vom langen Sitzen gefühllos geworden. Ich trank etwas von meinem Wasser, rauchte eine Zigarette und setzte die Sonnenbrille auf, weil die grelle Helligkeit zu leicht Kopfschmerzen hervorruft. Damit war mein Repertoire erschöpft. Ich hätte höchstens noch ein paar Schüsse aus meiner Parabellum abfeuern können. Also hockte ich mich wieder in den wandernden Schatten des Felsens und faßte erneut die Farm ins Auge.

Der Status quo blieb absolut unverändert. Vielleicht war Matt eingeschlafen. Vielleicht telefonierte er, oder er hatte den Fernseher eingeschaltet, oder er dachte sich etwas für seine Fahrt nach Las Vegas aus — ein neues Roulettesystem vielleicht. Jedenfalls betätigte er sich kaum als Farmer, und er schien auch keine Lust zu verspüren, die Pferde zu bewegen. Sie standen vom Morgen bis zum Abend in ihren engen Boxen.

Um zwei Uhr mittags kannte ich selbst die kleinste Pflanze auswendig, die rings um meinen Felsen wuchs. Mein Blick schweifte viel häufiger nach links über die weite Strecke der Wüste als zur anderen Seite, zur Farm hin. Die Wüste war auf ihre besondere Art sauber und klar, wild und schrecklich schön. Nur Berge und endloser Himmel. Ausgebleichter, staubiger Sand und stachelige Kakteen. Ein wildes, unnahbares, einsames Land.

Als ich zum erstenmal den Drang spürte, einfach in die Wüste hinauszulaufen, wandte ich schuldbewußt den Blick ab, beobachtete wieder die Farm, rauchte die zweite Zigarette und dachte intensiv an Matt und die Pferde. Aber das hielt nur für

eine Weile vor. Das kahle Land zog mich wie ein Magnet an.

Ich brauchte nur hinauszugehen, dachte ich, immer weiter geradeaus, bis ihre Leere mich ausfüllte. Dann hinsetzen, den Lauf der Parabellum an die Schläfe setzen, ganz einfach abdrücken. Kinderleicht. Schrecklich verführerisch.

Walt! dachte ich verzweifelt. Ich durfte das nicht tun, denn da war noch Walt und die nicht erledigte Aufgabe, auf die wir uns eingelassen hatten. Vor mir waren die Pferde. Sam Hengelman und Walt waren unterwegs. Es war unmöglich, sie so einfach im Stich zu lassen. Ich schlug mit der Hand gegen den Stein und zwang mich, wieder an die Farm und die vor uns liegende Nacht zu denken. Nachdem ich das alles Stück für Stück überlegt hatte, konzentrierte ich mich erst auf Yola, dann auf Offen, Eunice und Dave Teller, Keeble und Lynnie. Ich hielt mich krampfhaft an dem Gedanken fest, daß ihnen nicht gleichgültig war, was ich tat. Daß es überhaupt jemanden gab, dem nicht alles gleichgültig war.

Meine Hand blutete. Ich hatte es nicht einmal gespürt. Gleichgültig betrachtete ich die Hautabschürfungen und empfand Haß gegen mich selbst. Ich schloß die Augen, und die Verlassenheit in mir wurde so grenzenlos, daß mir davon schwindelte. Ich blickte in einen schrecklichen, schwarzen Abgrund, in dem es keine Hoffnung, kein Entrinnen gab. Langsam sank ich in Spiralen in den unendlich tiefen Brunnen einsamer Verzweiflung. Aus. Verloren.

Nach einer Weile hörte das Schwindelgefühl auf. Aber die ewige Dunkelheit blieb. Ich öffnete die Augen und schaute zur Farm hinunter, aber ich sah sie kaum. Ich zitterte und wußte genau, daß nicht mehr viel fehlte.

Matt kam aus dem Haus, ging über den Hof, warf einen Blick in den Pferdestall, ging wieder zurück. Wie durch einen Schleier beobachtete ich ihn. Wem waren die Pferde da unten schon wichtig? Was war noch wichtig? Wer scherte sich einen

Dreck um Abstammung, in hundert Jahren war das alles ja doch gleichgültig.

Dave Teller war es nicht gleichgültig.

Soll er doch!

Dave Teller war es zehntausend Dollar wert, was mit den Pferden passierte. Kristallklar erkannte ich, daß wir beide unseren Willen haben konnten, wenn ich nur den Gang in die Wüste bis zur nächsten Nacht verschob. Ich konnte die Pferde zusammen mit Hengelman wegschaffen und ihm dann nicht nach Kingman nachfahren, sondern zu Fuß losgehen. Und wenn es schon fast Morgen war, wenn in der ersten Dämmerung alles noch grau und schattenhaft wirkte, dann war es nur ein kleiner, ein ganz kleiner Schritt…

Dann.

Nachdem ich diesen Entschluß gefaßt hatte, der mir außerordentlich vernünftig vorkam, erfüllte mich ein tiefer Friede. Kein Kampf mehr, kein nutzloses Getue. Ich war erleichtert, entspannte mich, wurde ruhig. Warum war mir diese Lösung nicht schon eher eingefallen? All der Schweiß, die endlose Schlaflosigkeit, alles löste sich in ein gleichmäßiges, kühles Licht auf, das von innen kam.

Dieses Stadium dauerte an, bis ich mich daran erinnerte, daß ich einmal entschlossen war, es nie soweit kommen zu lassen. Dann beschlich mich ganz allmählich die erschütternde Überzeugung, daß ich mich nun aufgegeben hatte. Das war nicht nur verachtenswert, sondern wahrscheinlich sogar ein Zeichen von Geisteskrankheit.

Ich saß eine Weile da, stützte den Kopf in beide Hände und fürchtete mich davor, daß nun die gräßliche Übelkeit wiederkehren würde, nachdem der trügerische Friede zerbröckelt und dahingegangen war.

Sie kam nicht. Mich überfiel nur eine so unendliche Müdigkeit, daß alles, was ich bisher als Müdigkeit bezeichnet hatte, im Vergleich dazu nur noch ein Nadelkopf in einem ganzen Kontinent war. Der schreckliche Kampf ging weiter. Aber die bisher blutigste Schlacht hatte ich wenigstens überlebt. Ich hatte den Grund berührt und war wieder nach oben gekommen. Ich spürte, jetzt brauchte ich nur weiterzumachen und konnte das Ufer erreichen. Ein weiter Weg. Aber ich hatte ja genug Zeit.

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