Kapitel 17

Ich hatte einen Krampf in beiden Beinen. Als Matt aus dem Haus trat, wurde mir bewußt, daß der Schattenfleck gewandert war, ich aber nicht. Matt ging zum Stall, und ich rutschte mit verkrampften Muskeln dem Schatten nach.

Hier war es nicht viel kühler, doch ich war besser gegen Sicht geschützt. So saß ich da und wartete, bis Matt wieder aus dem Stall kam und ich meine Beine bewegen konnte. Am besten wäre es gewesen, aufzustehen und ein wenig herumzutrampeln, aber wenn Matt ganz in der Nähe jemanden bemerkte, der sich bewegte, dann war unser ganzer Plan erledigt.

Er holte Wasser für die Pferde, für die Kälber und die Hühner. Ich sah auf die Uhr und merkte erschrocken, daß es fast sechs Uhr war. Das kann nicht sein, dachte ich. Doch es stimmte. Vier Stunden, seit ich zuletzt nachgesehen hatte. Vier Stunden. Ich zitterte in der glutheißen Luft.

Matt holte einen leeren Eimer und verschwand im Stall, dann brachte er ihn gefüllt wieder heraus. Während des Nachmittags hatte ich bei der Überwachung versagt, aber ich war ziemlich sicher, daß sich auf der Farm nichts verändert hatte. Eines schien mir festzustehen: Matt hatte keine Helfer und keine Besucher, und wenn er nach Las Vegas fuhr, waren die Pferde wieder allein. Um diese Gewißheit zu erlangen, war ich zu einer ganztägigen Überwachung bereit gewesen und hatte mich dabei nicht gerade mit Ruhm bekleckert.

Matt schloß die Stalltür und ging ins Haus. Eine halbe Stunde später kam er in einem cremefarbenen Jackett und schwarzer Hose wieder heraus; er sah ganz anders als in den gewohnten Jeans und dem karierten Hemd aus. Er öffnete das Tor zum Autoschuppen, ging hinein, ließ den Motor an und fuhr den Wagen über den Hof. Bald darauf verschwand er um die Kurve

der Straße und fuhr in Richtung Kingman in die Wüste.

Befriedigt erhob ich mich. Der Krampf ließ nach. Müde kehrte ich zu meinem Auto zurück, das ich in zwei Meilen Entfernung versteckt hatte, und wünschte mir, die Nacht wäre schon vorbei und nicht gerade erst am Anfang. Ich hatte kaum genug Energie übrig, um noch eine Briefmarke aufzukleben.

Der von Matt aufgewirbelte Staub hatte sich gerade gelegt, als ich ihm über die verlassene Straße nachfuhr, aber er war immer noch in Kingman. Erschrocken sah ich ihn vor einer Tankstelle stehen, als ich vorbeifuhr, dann hielt ich fünfzig Meter weiter an und drehte mich um. Auf dem Hof der Tankstelle standen sein schwarzer Mietwagen und sein blauer Ford. Ein Mädchen in Overall tankte seinen Ford auf, und Matt ließ alle Anzeichen von Ungeduld erkennen. 19.20 Uhr, und noch 100 Meilen bis Las Vegas. Er würde zu seiner Verabredung mit Walt auf jeden Fall ein paar Minuten zu spät kommen.

Ich glitt tiefer in meinen Sitz und drehte den Rückspiegel so, daß ich den Wagen sehen konnte. Matt bezahlte den Sprit und sprang über die geschlossene Tür hinweg in sein Cabrio. Dann fuhr er auf die Straße, bog in meine Richtung ein und preschte mit zunehmendem Tempo an mir vorbei. Ich folgte ihm eine Weile in gebührendem Abstand und kehrte in die Stadt zurück, nachdem ich mich davon überzeugt hatte, daß er auf der Bundesstraße 93 wirklich mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nach Las Vegas jagte.

Vor dem bescheiden wirkenden >Mojave-Motel< nahm Sam Hengelmans Pferdetransporter ein Sechstel des Parkplatzes ein. Ich trat ein und erfuhr, er sei um 16.30 Uhr angekommen und schlafe in Zimmer 6. Ich ließ ihn schlafen, da wir uns ohnehin erst auf den Weg machen konnten, nachdem ich um 20.00 Uhr mit Walt telefoniert hatte. Im Busbahnhof holte ich mir einen Kaffee. Er kam in einem Plastikbecher aus dem Automaten und war schwarz, aber schwach. Wie schlecht er schmeckte, fiel mir kaum auf. Ich überlegte, ob ich etwas essen sollte, aber eigentlich hatte ich gar keinen Hunger, und in meinem verschmutzten und unrasierten Zustand konnte ich doch in kein gutes Lokal gehen. Ich blieb bis nach acht Uhr auf einer Bank im Busbahnhof sitzen und starrte Löcher in die Luft, dann versuchte ich, eine Verbindung mit Walt zu bekommen.

Es dauerte eine Weile, bis er sich meldete.

«Wie sieht’s aus?«fragte er.

«Matt ist um 19.30 Uhr aus Kingman in Richtung Las Vegas abgefahren. Er wird sich also etwas verspäten.«

«Aus Kingman?«fragte Walt überrascht.

Ich erklärte ihm die Sache mit dem Autowechsel.»Sein Ford war wahrscheinlich noch nicht ganz fertig, als er ankam. Auf jeden Fall kommt er in dem blauen Cabrio und nicht in dem Mietwagen.«

«Bei Ihnen ist alles in Ordnung?«fragte Walt zögernd.

«Natürlich.«

«Ihre Stimme klingt aber nicht danach.«

Ich überhörte seinen Einwand.»Sam Hengelman ist hier. Er schläft im >Mojave-Motel<. Sobald ich wieder zurück bin, treffe ich ihn, dann brechen wir auf.«

«Auf der Farm ist alles in Ordnung?«Das klang ein wenig besorgt.

«Kein Mensch da«, versicherte ich ihm.»Sie steht seit gestern leer. Außer Matt war niemand in der Gegend. Machen Sie sich also keine Sorgen. Reden Sie mit Matt und spielen Sie ihm ein bißchen Theater vor, dann fahren Sie sofort nach Santa Barbara zurück. Sobald Sam sicher aus der Gegend verschwunden ist, komme ich nach. In etwa zwölf Stunden sehen wir uns beim Frühstück.«

«In Ordnung«, sagte er.»Nun — geben Sie gut auf sich acht.«»Sie auch.«

«Na klar, ich bin ja nicht verrückt. «Es klickte in der Leitung, bevor ich ihm darauf antworten konnte, und ich hatte das vage Gefühl, daß ich ihm eigentlich noch manches hätte sagen wollen, aber es fiel mir nichts mehr ein.

Ich klopfte an Sams Zimmertür; er öffnete mir mit verschlafenem Gesicht. Dann schaltete er das Licht ein und schloß wieder die Tür.

«Ich bin gleich fertig«, sagte er, griff nach den Schuhen und suchte nach der Krawatte.

«Sam, Sie müssen nicht mitkommen.«

«Wie?«

«Schlafen Sie weiter. Ich hole die Pferde allein. Dann sind Sie nicht in die Sache verwickelt.«

Er saß auf der Bettkante und blickte zu Boden.»Ich soll sie aber doch nach Lexington fahren?«

«Nur, wenn Sie wollen. Sie können den Transporter auch hier stehenlassen und mit dem Flugzeug zurückkehren.«

«Nein. «Er schüttelte den Kopf.»Geschäft ist Geschäft. Wenn ich schon drinstecke, mache ich es auch richtig. Im Rückwärtsgang läßt sich der Transporter nicht leicht manövrieren — ich weiß nicht, ob Sie damit zurechtkommen.«

Ich mußte lächeln und erhob keine Einwände. Ich wollte ihn schon dabeihaben, aber freiwillig — und das hatte ich erreicht. Er band seinen Schlips um, fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar und begutachtete danach mit einem schiefen Seitenblick mein Äußeres. Ich sah wesentlich verkommener aus als er. Er war ein rundlicher Mann von etwa fünfzig Jahren, kahl, mit rosigem Gesicht und in keiner Weise aufgeregt. Seine Nerven würden die Anspannung des Abends schon durchstehen.

«Gut, dann gehen wir«, rief er unternehmungslustig.

«Ich habe im voraus bezahlt.«

Wir gingen zu seinem Transporter und kletterten in die Kabine. Sam ließ den Motor an, berichtete, daß er gleich bei der Ankunft in Kingman aufgetankt habe, und dann rollten wir nach Südosten auf die Straße zur Farm. Im matten Schimmer der Armaturenbeleuchtung wirkte sein Gesicht völlig ruhig und gelassen. Er ging mit dem Riesenmonstrum, das immerhin sechs Pferde faßte, wie mit einem Spielzeugauto um. Acht Meilen fuhren wir schweigend dahin, dann meinte er nur:»So weit weg von der Stadt möchte ich auch nicht wohnen. Hier gibt’s doch kein Bier.«

Wir fuhren an der dritten Seitenstraße vorbei und hatten nur noch die zehn menschenleeren Meilen bis zur Farm vor uns. Drei Meilen weiter hörte ich von Sam einen besorgten Ausruf, dann bremste er den Transporter, der ohnehin nur dreißig gefahren war, ganz ab.

«Was ist los?«fragte ich.

«Hier, der Anzeiger. «Er deutete auf ein Zifferblatt. Die Nadel des Fernthermometers pendelte im roten Bereich.

«Muß mal nachsehen«, knurrte er und schaltete den Motor aus. Als er aus dem Führerhaus stieg, konnte ich nur noch leise vor mich hinfluchen. Ausgerechnet hier, an dieser gefährlichen Stelle, mußte die Karre zusammenbrechen.

Er kam zurück und öffnete die Tür auf meiner Seite. Ich sprang auf die Straße hinunter, und er führte mich zum Auspuffrohr.

«Hier«, sagte er unnötigerweise.»Wasser.«

Aus dem Rohr tropfte es feucht auf die Straße, wie ich beim Licht seiner Taschenlampe sah.

«Eine Dichtung«, sagte er, seine Stimme sprach Bände. Es war eine Katastrophe, und er haderte mit dem Schicksal.

«Kein Wasser im Kühler«, sagte ich.

«Richtig.«»Und wenn wir weiterfahren, fressen die Kolben fest.«

«Richtig.«

«Sie haben vermutlich kein Wasser mit?«

«Natürlich habe ich das. Fahre nie ohne Wasser.«

«Können wir dann nicht welches nachfüllen?«

«Ja, das schon. Zwei Gallonen habe ich mit. Wir können einen Liter hineinschütten, drei Meilen fahren und wenn er ausgelaufen ist, wieder einen Liter hineinschütten und wieder drei Meilen fahren. Dann kommen wir insgesamt 12 Meilen weit. Das war’s.«

13 Meilen bis Kingman. Das konnten wir gerade schaffen. Auf der Farm konnten wir den Kühler nachfüllen, aber mit einem lecken Kühler konnte Sam sich nicht auf eine Zweitagesreise mit gestohlenen Pferden begeben.

«Natürlich habe ich eine Ersatzdichtung mit«, sagte er.

«Die richtige?«

«Klar, ich habe immer alle Ersatzteile bei mir. Man weiß nie, was passieren kann. Achsgelenke, Kabel, Vergaser, alles habe ich mit. Jeder vernünftige Mensch tut das.«

«Nun gut«, sagte ich erleichtert.»Wie lange dauert denn die Reparatur?«

Er hob vorn die Klappe und betrachtete die Maschine im Schein seiner Taschenlampe.

«Sagen wir drei Stunden.«

Drei Stunden!

«Nicht viel weniger«, sagte er.»Was sollen wir denn machen?«

Ich schaute auf die Uhr. 20.50 Uhr. Drei Stunden dazu, macht 23.50 Uhr. Wenn wir dann zur Farm fuhren und die Pferde abholten, konnten wir frühestens um 1.15 Uhr wieder in Kingman sein.

Matt mußte etwa um 21.30 Uhr den Pittsville Boulevard erreichen und war um 22.00 Uhr sicher mit seiner Versicherungsangelegenheit fertig. Wenn er dann gleich nach Hause fuhr, erreichte er die Straße zu seiner Farm um Mitternacht. Wir auch, wenn Sam diese Dichtung vorher auswechselte.

Falls Matt noch auf ein Spielchen in Las Vegas blieb, dauerte es mindestens eine Stunde länger bis zu seiner Rückkehr. Seine Kleidung ließ darauf schließen. Aber es war dann schwer zu sagen, ob er eine oder sechs Stunden später kommen würde.

«Wechseln Sie die Dichtung aus«, sagte ich,»dann sehen wir weiter.«

Sam nickte gelassen. Das hätte er ohnehin getan, auch wenn der Transporter woanders zusammengebrochen wäre. In aller Ruhe suchte er sein Werkzeug zusammen und begann ein paar Schrauben zu lösen.

«Kann ich Ihnen helfen?«fragte ich.

Er schüttelte den Kopf und klemmte die Taschenlampe so fest, daß er bequem arbeiten konnte. Er tat keine hastige Handbewegung, aber er zögerte auch nicht, und jede Bewegung verriet Erfahrung. Auf der ausgebreiteten Zeltbahn neben ihm wuchs der Haufen abgeschraubter Teile.

Ich ging ein paar Schritte zur Seite und tastete nach den Zigaretten. Noch zwei übrig. Ich hatte vergessen, neue zu kaufen. Bei der Entscheidung, ob ich weiterfahren oder umkehren sollte, half mir die Zigarette auch nicht weiter.

Ich mußte mich ohnehin schon darauf verlassen, daß Matt noch zum Spielen ging. Hätte es sich um Yola gehandelt, so wäre ich ziemlich sicher gewesen, daß sie für den Rest der Nacht in Las Vegas blieb. Aber ihr Bruder war vielleicht kein so leidenschaftlicher Spieler, und alles, was er suchte, war wohl eine Abwechslung vom täglichen Einerlei mit den Pferden. Aber wie lang oder wie kurz?

Der Entschluß, den ich dann faßte, war eigentlich gar keiner: Ich wollte erst einmal abwarten, um welche Zeit Sam fertig war.

Abgesehen von dem Lichtfleck rings um den Pferdetransporter war diese Nacht genauso schwarz wie die vergangene. Die Sterne glitzerten fern und klein, und deutlicher als sonst zeigte der riesige amerikanische Kontinent, wie gleichgültig ihm die Menschen waren. Welche Rolle spielt ein Mensch schon in dieser Größenordnung? Man brauchte nur in die Wüste hinauszugehen…

Ich drückte sorgfältig die Zigarette aus und schob den Stummel in die Tasche. Ein guter Verbrecher, dachte ich ironisch. Das war ich immer schon. Ich hatte einen Auftrag zu erledigen, und auch wenn das geschafft war, blieb mir keine Zeit für Spaziergänge in der Wüste. Ich würde nach Santa Barbara zurückfahren, mit Walt, Eunice und Lynnie frühstücken. Diese Aussicht kam mir im Augenblick völlig unwirklich vor, denn die Berge Arizonas waren so weit weg vom Luxus der Küste, und ich stand wieder ganz allein mit der riesigen Wüste meiner Seele.

Ich ging zu Sam zurück und erkundigte mich, wie er vorankäme. Er kratzte gerade die schadhafte Dichtung vom Zylinderblock.

«Es geht«, sagte er ruhig.»Ich breche wahrscheinlich jeden Rekord.«

Ich versuchte zu lächeln. Er knurrte und meinte, jetzt könne er eine Tasse Kaffee gebrauchen. Mir war auch danach, doch wir hatten keinen mitgebracht.

Er arbeitete weiter. Die Luft war trotz der Nacht immer noch viel wärmer als in England, und er wischte sich immer wieder mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Das Licht der Lampe schimmerte auf seinen kräftigen Fingern, und das Klappern des Schraubenschlüssels hallte durch die Wüste.

Langsam bewegten sich die Zeiger meiner Uhr weiter. Wegen der Zylinderblockdichtung ging ein guter Teil der Nacht drauf!

Und wo war Matt?

Nach zwei Stunden rutschte Sam mit seinem Schraubenschlüssel ab und fluchte. Trotz seiner äußeren Ruhe schien er einer Explosion nahe zu sein. Er hielt in der Arbeit inne, reckte sich, holte dreimal tief Luft und starrte zum Nachthimmel hinauf. Offensichtlich wartete er darauf, daß ich etwas sagte.

«Sie kommen großartig voran«, sagte ich.

Er schnaubte.»Und was geschieht, wenn sie uns hier erwischen?«

«Dann kriegen wir die Pferde nicht.«

Bei dieser Antwort verzog er nur das Gesicht und machte sich wieder an die Arbeit.

«Was haben Sie den ganzen Tag getrieben?«

«Nichts. Herumgesessen.«

«Sie sehen halbtot aus«, meinte er.»Reichen Sie mir mal bitte die beiden Unterlegscheiben rüber.«

Ich gab ihm die Scheiben.

«Wie lange noch?«

«Kann ich nicht sagen.«

Ich unterdrückte den Impuls, ihn anzutreiben. Er arbeitete ohnehin schon so schnell es ging. Aber die Zeit tickte dahin, und ich konnte die Entscheidung nicht länger aufschieben. Die Wüste wirkte wie ein Magnet. Ich kehrte ihr den Rücken zu und kletterte in die Kabine. 23.20 Uhr. Möglich, daß Matt nur noch eine knappe Viertelstunde von Kingman entfernt war. Vielleicht klebte er aber auch an irgendeinem Spieltisch in Las Vegas.

Wo war er nun?

Eine halbe Stunde lang schaute ich aus dem Rückfenster, aber von dort empfing ich keine nützlichen, telepathischen Botschaften. Also ein Glücksspiel, dachte ich. Man muß nur überlegen, ob der Gewinn das Risiko lohnt.

Die Entscheidung wäre mir leichter gefallen, wenn ich allein hergekommen wäre. Aber dann hätte ich auch die Dichtung nicht reparieren können.

Um 23.40 Uhr erklärte Sam mir mit düsterer Miene, er müsse auch die Wasserpumpe reparieren, sie hinge fest.

«Wie lange?«

«Noch einmal zwanzig Minuten.«

Wir tauschten einen finsteren Blick, dann sagte ich schließlich:»Machen Sie weiter. «Was sollte ich sonst sagen?

Ich stieg aus der Kabine und ging unruhig ein Stück die Straße entlang; dabei fürchtete ich jeden Augenblick, Matts Schweinwerferpaar kommen zu sehen. Ich überlegte, wie wir am besten mit ihm fertig werden könnten, wenn es schon sein mußte. Ich war wohl bereit, ihm etwas zu stehlen, was ihm nicht gehörte, aber ich wollte ihm nicht ans Leder. Seine Einstellung war eine ganz andere. Er hatte keine Hemmungen, und es würde auf jeden Fall Blut fließen. Sams Blut durfte es aber nicht sein. Das wäre unfair.

Zwei Minuten nach Mitternacht rief er mir zu, er sei fertig. Ich ging rasch zum Wagen zurück. Er schüttete Wasser in den Kühler, dann schraubte er die Kappe zu.

«Jetzt muß er in Ordnung sein«, sagte er. Seine Hände glänzten ölverschmiert, müde ließ er die Schultern hängen.

«In welche Richtung fahren wir?«

«Geradeaus weiter.«

Er nickte mit breitem Grinsen.»Habe ich mir gedacht. Nun, ich habe nichts dagegen.«

Er schwang sich auf den Fahrersitz, und ich kletterte ebenfalls in die Kabine. Die Maschine sprang beim ersten

Versuch an, er schaltete die Scheinwerfer ein, löste die Bremse, und wir rollten davon.

«Wenn uns jetzt jemand erwischt«, sagte ich,»gehen Sie in Deckung.«

«So?«

«Ja.«

«Will Ihnen mal was sagen«, brummte er gemütlich.

«Ich hab’ ‘nen guten linken Haken.«

«Damit gibt sich der Kerl nicht zufrieden, hinter dem wir her sind. Der haut einem gleich den Schädel ein.«

«Sind aber nette Menschen, mit denen Sie es zu tun haben«, sagte er.»Das werde ich mir merken.«

Wir legten die restliche Strecke schweigend in kurzer Zeit zurück. Dann kroch der Pferdetransporter um die letzte Kurve, und die Scheinwerfer tasteten sich über die Farmgebäude vor uns.

Ich legte Sam die Hand auf den Arm, er blieb ein Stück vor dem Hof stehen.

«Bitte ausschalten, auch die Lichter«, sagte ich. Dann sprang ich rasch aus der Kabine und mußte wieder ein paar kostbare Sekunden vergeuden, bis meine Augen sich an die Dunkelheit und meine Ohren sich an die Stille gewöhnt hatten.

Kein Licht im ganzen Haus, nirgendwo ein Geräusch, bis auf das fast unhörbare leise Singen und Vibrieren in der endlosen Atmosphäre. Die Kälber und Hühner schliefen. Auch die Pferde waren still. Ich klopfte an die Fahrerkabine, und Sam schaltete wieder die Scheinwerfer ein, bevor er zu mir herunterkletterte. Die hellen Lichtbündel trafen die Rückseite des Hauses und würden die Pferde wenigstens nicht blenden, wenn ich sie aus dem Stall führte. Drüben auf der dunklen Seite des Hofs gähnte das offene Tor des Autoschuppens, den Matt unverschlossen gelassen hatte, wie ein schwarzes Loch.

Der Abfallhaufen genau vor uns warf surrealistische Schatten über den staubigen Boden, und Verwesungsgeruch stieg uns in die Nasen.

Sam überflog alles mit dem Blick eines erfahrenen Mannes.»Nicht viel wert. «Seine Stimme war nur ein Flüstern.

«Nein — lassen Sie bitte die Rampe herunter, ich hole jetzt die Pferde. Eines nach dem anderen, denke ich.«

«Okay. «Er atmete etwas rascher und ballte die Fäuste. Er war es doch nicht gewöhnt.

Ich lief schnell zum Stall hinüber. Es war nicht weit, nur etwa vierzig Schritte. Jetzt, wo wir nicht mehr zurückkonnten, drängte alles in mir nach Eile. Nur weg von hier, zurück nach Kingman, weit fort, bevor Matt zurückkam. Vielleicht war er schon irgendwo hinter uns auf der Straße, vielleicht brauste er irgendwo in diesem Augenblick durch die Wüste auf seine Farm zu.

Von diesem Augenblick an geschah alles furchtbar schnell, wie in einem verwischten, zu rasch ablaufenden Film.

Ich hörte einen Schrei hinter mir.

«Gene!«

Ich fuhr herum. Zwei Scheinwerferpaare, wo nur eines sein durfte.

Matt.

Wieder die Stimme.»Gene, aufpassen!«

Eine Gestalt rannte über den Hof auf mich zu.

Dann dröhnte etwas hinter mir auf. Ich drehte mich wieder um und wurde von einem dritten Scheinwerferpaar geblendet. Die Lichter waren näher, sehr viel näher.

Sie bewegten sich auf mich zu.

Ich war benommen, schwankte und wäre niemals weggekommen. Die Gestalt stürzte auf mich zu, warf sich mit ausgestreckten Armen gegen mich und stieß mich aus der Bahn, dann krachte der aufheulende Wagen gegen den Körper, der sich noch im Sprung befand. Schlaff und zerschmettert blieb er auf meinen Beinen liegen.

Der Wagen, der ihn zu Boden geschleudert hatte, wendete auf der anderen Seite des Hofes in weitem Bogen und kam zurück. Die Scheinwerfer richteten sich wie zwei Sonnen auf ihr Ziel. Unwillkürlich schoß mir ein Gedanke durch den Kopf: Ausgerechnet jetzt, wo ich beschlossen hatte, nicht zu sterben, sollte es doch sein.

Halb sitzend, halb kniend riß ich meine Pistole aus der Tasche und jagte alle acht Kugeln in die Windschutzscheibe. Ich sah nicht genug, um richtig zielen zu können, meine Augen schmerzten von dem grellen Licht, und außerdem nutzten die Kugeln nichts — der Winkel war zu ungünstig. Sie konnten den Fahrer nicht treffen. Als ich meine letzte Patrone verschossen hatte, war der linke Scheinwerfer noch zwei Schritte entfernt. Ich preßte die Zähne zusammen und wappnete mich für den Aufprall, das Krachen, Brechen, Verstümmeln… Dann, in der allerletzten Zehntelsekunde kam der Wagen vom Kurs ab. Ein Kotflügel traf mich an der Schulter, das eine Vorderrad rollte über eine Falte meines Hemdärmels, vom Hinterrad war ich nur einen Zoll entfernt.

Noch bevor mir recht klar wurde, daß der Wagen mich verfehlt hatte, krachte er mit lautem Kreischen von zertrümmertem Holz und Metall in eines der Gebäude hinter mir. Die Karosserie wurde regelrecht zerknittert. Die Lichter gingen aus, der Motor blieb stehen. Wütend zischte die Luft aus einem durchstoßenen Reifen.

Keuchend aus Angst vor dem, was ich nun sehen würde, beugte ich mich über die schwere Gestalt, die auf meinen Beinen lag. Ich hörte wieder Schritte auf dem Hof, blickte ohne Hoffnung auf, konnte nichts mehr tun. Ich hatte alle Kugeln verschossen, ich hatte keine mehr übrig.

«Sie leben«, hörte ich eine Stimme dicht neben meinem Ohr rufen. Sam Hengelman kniete neben mir. Ich sah ihn nur verschwommen.

«Ich dachte…«stotterte ich atemlos.»Ich dachte, Sie sind das?«

Er schüttelte den Kopf.»Nein.«

Gemeinsam hoben wir den Mann auf, der mein Leben gerettet hatte, und drehten ihn auf den Rücken. Als ich sein Gesicht erblickte, packten mich Übelkeit und unerträgliche Traurigkeit.

Walt.

Wir legten ihn vorsichtig in den Staub.

«Sehen Sie dort in dem Auto nach«, sagte ich.

Sam stand schweigend auf und ging weg. Ich hörte, wie seine Schritte verhallten und dann zurückkamen.

Walt schlug die Augen auf. Ich beugte mich über ihn, hob seine Hand, tastete mit neuer Hoffnung nach seinem Puls.

«Gene?«murmelte er.

«Ja.«

«Er kam nicht.«

«Was?«

«Ich wollte — helfen.«

«Ja«, sagte ich.»Danke, Walt.«

Dann glitt sein Blick von meinem Gesicht ab.

«Christus«, sagte er deutlich.»Das war’s. Ja, wirklich — das war’s dann.«

«Walt…«Seine Hand in meiner war noch warm, aber sie regte sich nicht.

«Vorbei«, sagte er.»Ich wollte… ich wollte.«

Seine Stimme verstummte. Ich fühlte keinen Puls, keinen

Herzschlag. Nichts, überhaupt nichts.

Behutsam legte ich die warme Hand mit den runden Fingerkuppen auf den Boden und schloß ihm die Augen. Ich hätte hier liegen sollen, nicht Walt. Bei diesem Gedanken, daß nicht ich es war, sondern daß Walt mir das gestohlen hatte, was ich wollte — meinen eigenen Tod —, bei diesem Gedanken schüttelte mich plötzlich hilflose Wut. Es hätte mir so wenig ausgemacht, wenn ich es gewesen wäre. Es hätte mir überhaupt nichts ausgemacht.

Walt. Walt.

Sam Hengelman fragte:»Ist er tot?«

Ich nickte, ohne hochzublicken.

«Im Auto sitzt ein junger Kerl«, sagte er.»Der ist auch tot.«

Langsam erhob ich mich, um nachzusehen. Alle Knochen taten mir weh. Es war das blaue Ford-Cabrio, und der junge Kerl war Matt.

Gleichgültig und mechanisch stellte ich fest, daß der Wagen das rechte Garagentor zerschmettert hatte und gegen die dahinterliegende Wand geprallt war. Der größte Teil der Windschutzscheibe lag in winzigen Splitterchen im Innern des Autos, aber in einer Ecke, die noch im Rahmen hing, sah ich ein fingergroßes Loch.

Matt hing mit baumelnden Armen über dem Lenkrad und hatte die Augen offen. Über der linken Augenbraue war der Schädelknochen eingedrückt, und an der Chromstrebe der Windschutzscheibe klebten Blut und Haare. Ich berührte ihn nicht. Nach einer Weile kehrte ich zu Walt zurück.

«Was machen wir jetzt?«fragte Sam Hengelman.

«Lassen Sie mich nachdenken.«

Er wartete, ohne ein Wort zu sagen. Ich überblickte den Hof. An der Einfahrt leuchteten immer noch zwei Scheinwerferpaare.

«Ist das Walts Wagen da drüben?«

«Ja. Er kam wie der Teufel herangeschossen, sprang aus dem Wagen und lief auf Sie zu…«

Ich drehte mich um und blickte in die dunkle Garage.

«Der Kerl muß die ganze Zeit hier gewesen sein und auf uns gewartet haben«, sagte Sani.»Der Wagen kam herausgeschossen und genau auf Sie zu. Ich konnte nichts machen, war zu weit weg. Walt stand schon halb auf dem Hof.«

Ich nickte. Matt hatte hier auf uns gewartet. Er war gar nicht in Las Vegas. Nicht auf der Straße — hier im Hinterhalt wartete er auf uns.

Auf der Straße hatte er uns nicht überholt, und sonst führte kein anderer Weg zu der Farm. Er mußte wohl lange vor uns zurückgefahren sein. Auf der Straße nach Las Vegas hatte er sicherlich kehrtgemacht und war durch Kingman zurückgekommen, während ich am Busbahnhof saß und auf mein Telefongespräch mit Walt wartete.

Aber warum? Warum war er zurückgekommen?

Er hatte nicht bemerkt, daß ich ihn verfolgte. Ich war viel zu weit hinter ihm. Und ich war auch wieder umgekehrt, als er die Schnellstraße erreicht hatte.

Das >Warum< spielte jetzt keine Rolle. Wichtig war nur, daß er hier auf uns gewartet hatte. Sam Hengelman blickte auf Walt hinunter und erkannte wohl, in welcher Klemme wir saßen.

«Was, zum Teufel, sollen wir jetzt machen?«

Ich holte tief Luft.»Holen Sie mir bitte Ihre Taschenlampe?«Er nickte und brachte sie herbei.

Ich ging hinüber zum Ford und schaute mich genauer um. Es war nicht viel Neues zu sehen, was ich nicht schon wußte. Nur eine Flasche Whisky war beim Aufprall zersplittert. Der Flaschenhals mit der ausgezackten oberen Hälfte der Flasche lag auf dem Boden rechts neben Matt, und mehrere kleinere Splitter schwammen in einer dunklen Flüssigkeit.

Ich ging in die Garage und sah mir den Ford von vorn an. Mit dem Wagen würde niemand mehr fahren.

Die große Taschenlampe erhellte das Innere der Garage. Sie war jetzt leer bis auf die Zigarettenstummel neben der linken Wand. Matt hatte geraucht und getrunken, während er auf uns wartete. Und er hatte sehr lange warten müssen.

Das Einschußloch in der Windschutzscheibe warf die schlimmste Frage auf, die noch nicht geklärt war.

Ich mußte es wissen.

Ich stand neben Matt und leuchtete seinen Körper bis zum Gürtel zollweise ab. Er hatte das cremefarbene Jackett abgelegt und trug sein kariertes Arbeitshemd. Ich fand keine Löcher, auch nicht darunter. Sein Kopf war schwer. Ich legte ihn sanft auf das Lenkrad und trat zurück.

Keine der Kugeln hatte ihn getroffen. Sie hatten nur die Windschutzscheibe zerschmettert und ihn geblendet, und so war er ein Stückchen von der Bahn abgekommen, hatte die Mauer getroffen und nicht mich. Dabei mußte sein Schädel gegen den schmalen Metallrahmen geschlagen sein.

Langsam kehrte ich zu Sam Hengelman zurück, der neben Walt stand. Er bot einen Anblick äußerster Niedergeschlagenheit und sah mich hoffnungslos an.

«Haben Sie die Rampe heruntergelassen?«fragte ich hart.

Er schüttelte den Kopf.»Noch keine Zeit.«

«Dann tun Sie es jetzt, wir holen die Pferde.«

Er war erschüttert.»Das können wir nicht.«

«Wir müssen. Für Walt, für Sie und für Dave Teller. Auch für mich. Was schlagen Sie denn vor? Daß wir die Polizei anrufen und erklären, was wir hier zu suchen haben?«

«Das werden wir müssen«, sagte er verzweifelt.

«Nein, auf gar keinen Fall. Lassen Sie jetzt die Rampe herunter.«

Er konnte es nicht fassen und zögerte noch ein paar Sekunden, dann tat er, was ich verlangte. Die Pferde standen friedlich im Stall — sie schien der Krach, die Schüsse und das Durcheinander nicht gestört zu haben. Ich band zuerst Showman los und führte ihn langsam über den Hof in den Pferdetransporter hinein.

Sam schaute mir schweigend zu, als ich ihn in einer der Boxen anband.

«Damit kommen wir nie durch.«

«Selbstverständlich kommen wir durch«, sagte ich,»wenn Sie diese Pferde sicher nach Lexington schaffen und niemandem, keinem Menschen, ein Sterbenswörtchen davon verraten, was heute nacht geschehen ist. Vergessen Sie’s. Wenn Sie wieder zu Hause sind, gebe ich Ihnen Bescheid, damit Sie sich keine Sorgen machen müssen. Solange Sie den Mund halten, wird gar nichts passieren.«

Das breite, fleischige Gesicht verriet die innere Spannung.

«Sie haben zwei Pferde abgeholt«, erklärte ich sachlich.

«So etwas kommt alle Tage vor — zwei Pferde abholen. Alles übrige vergessen Sie.«

Ich ging noch einmal in den Stall, holte Allyx und verfrachtete ihn in den Transporter.

Sam regte sich immer noch nicht.

«Hören Sie«, sagte ich.»Ich habe schon früher manchmal — hm — solche Dinge arrangiert. Da, wo ich herkomme, gibt es eine Regel: Man geht ein Risiko ein, man sitzt in der Klemme, man windet sich wieder heraus. «Er blinzelte.

«Walt hat sich vor den Wagen geworfen«, fuhr ich fort.

«Matt wollte ja nicht ihn umbringen — Sie sind also nicht Zeuge eines Mordes geworden. Dann ist Matt von ganz allein gegen die Wand gefahren. Auch das war ein Unfall. Es geht also nur um zwei Autounfälle. Sie haben wahrscheinlich schon Dutzende gesehen. Vergessen Sie’s. «Er gab keine Antwort. Ich fügte brüsk hinzu:»Der Wasserbehälter ist leer, dort drüben können Sie ihn auffüllen.«

Er zuckte zusammen, dann nahm er den Behälter und ging in die Richtung, die ich ihm zeigte. Mit einem Seufzer stellte ich fest, daß er drei Tagesrationen Futter für die Hengste gekauft hatte. Als er wieder zurückkam, verriegelten wir gemeinsam sorgfältig die kostbare Ladung für die lange Reise.

«Sie haben nicht zufällig Handschuhe dabei?«fragte ich.

«Nur ein paar alte Baumwollhandschuhe beim Werkzeug.«

Er kramte herum und fand sie schließlich. Es waren zwei dreckige, ölbeschmierte Dinger, die überall Spuren hinterlassen mußten — genauso verräterische Spuren wie bloße Finger. Ich drehte sie um und stellte fest, daß sie dick genug waren, um die Schmiere nicht durchzulassen. Sam sah mir wortlos zu, als ich sie mit der schmutzigen Seite nach innen überzog.

«Okay«, sagte ich.»Wenden Sie den Wagen, wir brechen gleich auf.«

Er wendete vorsichtig den schweren Transporter und hielt so viel Abstand zu Walt wie nur möglich. Genauso vorsichtig stieg ich in den Wagen, mit dem Walt gekommen war, berührte ihn sowenig wie möglich, fuhr ihn auf den Hof und hielt kurz vor der Gittertür zum Haus an. Ich schaltete Motor und Beleuchtung aus und zog die Handbremse. Dann ging ich zu Sam zurück. Er saß fertig zur Abfahrt hinter dem Steuer.

«Ich hab’ noch dreierlei zu erledigen«, sagte ich.»Ich bin so rasch wie möglich zurück. Machen Sie einfach die Augen zu und schlafen Sie ein bißchen.«

«Wie witzig.«

Ich bemühte mich um so etwas wie ein Lächeln, und die

Spannung auf seinem Gesicht löste sich etwas.

«Es dauert nicht lange«, sagte ich. Er nickte und schluckte hart.

Mit seiner Taschenlampe suchte ich den Hof ab. Die Parabellum ist eine Automatik, das heißt, sie wirft nach jedem Schuß die leere Hülle aus. Die verschossenen Kugeln würde niemand finden, aber acht kleine, schimmernde Metallhülsen in der Nähe von Walts Leiche waren schon etwas anderes. Sieben von ihnen blitzten im Lichtschein der Taschenlampe, und ich schob sie in die Tasche. Die achte blieb verschwunden.

Der Auswurfschlitz der Pistole hatte sich auf der von Walt abgewandten Seite befunden, aber manchmal schießen die Hülsen auch nach oben oder nach vorn weg und nicht nach der Seite. Ich fragte mich, ob diese eine Hülse vielleicht so weit gesprungen war, daß sie unter ihm liegen konnte. Ich wollte ihn nicht anrühren, aber ich mußte die achte Hülse unbedingt finden.

Als ich schon aufgeben wollte, entdeckte ich sie: verbogen und schmutzig, zusammengedrückt und gar nicht mehr glänzend. Ich hob sie von der Stelle auf, wo ich genau vor Matts Wagen gelegen hatte. Er war darüber hinweggefahren.

Danach kümmerte ich mich um den Boden. Auf der rauhen, staubigen Oberfläche sah man keine Reifenspuren, wohl aber einige Hufabdrücke. Ich holte einen Besen aus dem Stall und verwischte sie.

Dann kam die Garage an die Reihe. Ich stieß die letzte Ecke der Windschutzscheibe mit dem verräterischen Loch in den Wagen und sammelte alle Zigarettenstummel ein, die verrieten, wo und wie lange Matt gewartet hatte. Sie kamen in den Abfalleimer neben der Haustür.

Matt hatte das Haus nicht verschlossen. Ich trat ein und suchte nach einer ganz bestimmten, wichtigen Information: die Adresse der Farm und den Namen des Besitzers. Das Licht der

Taschenlampe glitt über fadenscheinige Möbelbezüge und altmodische Einrichtungsgegenstände. In der Schublade einer großen Kommode fand ich schließlich eine Mappe mit Rechnungen und Briefen. Ich las: Wilbur Bellman, Far Valley Farm, Kingman. Auf dem Notizblock neben dem Telefon hatte Matt eine für mich wichtige Nachricht hinterlassen: Mit einem schwarzen Kugelschreiber hatte er hingekritzelt: >Versicherung — 21.00 Uhr<.

Bevor ich das große, heruntergekommene Wohnzimmer verließ, leuchtete ich es noch einmal mit der Taschenlampe ab und entdeckte ein Foto, das auf einem Regal stand. Etwas an dem Gesicht kam mir bekannt vor. Noch einmal richtete ich den Strahl der Lampe auf das Bild.

Das freundliche, geduldige Gesicht von Kiddo lächelte mich an, genauso sorglos wie damals, als er Walt und mir von Offens Stuten erzählte. Auf die untere Hälfte des Bildes hatte er mit ungeübter Hand gekritzelt: >Für Ma und Pa von eurem euch liebenden Sohn.<

Wenn Offen seinen Stallmeister nach Miami zu seinen Eltern geschickt hatte, so war an Kiddos Treue gegenüber seinem Arbeitgeber nicht zu zweifeln. Ich mußte beinahe Offens Technik bewundern, wie er es fertigbrachte, sich mit einem Schlag ein abgelegenes Versteck für die Pferde und einen verschwiegenen Mitarbeiter zu beschaffen.

Nach dem Haus blieb nur noch Walt übrig. Ich mußte ihm Lebewohl sagen.

Ich kniete neben ihm im Staub, aber die regungslose Gestalt war eigentlich schon nicht mehr Walt. Der Tod hatte ihn gezeichnet. Ich zog einen Handschuh aus und berührte seine Hand. In der warmen Luft war sie noch warm geblieben, aber die Festigkeit des Lebens fehlte ihr.

Es hatte keinen Sinn, ihm zu sagen, wie mir zumute war. Wenn sein Geist noch irgendwo hier in der Gegend schwebte, wußte er es ohnehin.

Ich ließ ihn in der Dunkelheit liegen und ging zu Sam zurück.

Er warf einen Blick auf mein Gesicht und fragte entsetzt:»Sie wollen ihn doch nicht etwa da liegenlassen?«

Ich nickte und stieg neben ihm ein.

«Aber Sie können doch nicht.«

Ich nickte nur wieder und bedeutete ihm mit einer Geste, er solle sich endlich auf den Weg machen. Er fuhr mit einem so wütenden Ruck los, daß die Hengste durcheinandergeschüttelt wurden. Auf dem ganzen Weg nach Kingman sprach er kein Wort. Doch seine Abscheu vor dem, was ich getan hatte, hing beinahe greifbar zwischen uns.

Es war mir gleichgültig. In mir war nichts als schmerzende Trauer um den Mann, den ich da zurücklassen mußte.

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