An Sonntagmorgen stand ich um ein Uhr auf der Veranda meiner Blockhütte, wartete, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und lauschte in die Nacht.
Ein leichter Wind raschelte im Laub. Ganz in der Ferne hupte ein Wagen. Im Schuppen brummte der Stromgenerator vor sich hin. Kein Geräusch drang aus Yolas Hütte. Den ganzen Abend nicht. Matt war noch nicht angekommen.
Mit leisem Bedauern hatte ich meine Reitstiefel in der Kabine zurückgelassen und trug an den Füßen nur dünne Tennisschuhe mit Gummisohlen und ein Paar Socken darüber. Leise schlich ich durch das Gebüsch und schob mich in weitem Bogen an die kleine Pferdekoppel heran; ein würziger Duft stieg mir in die Nase, wenn ich die silbergrauen Blätter durcheinander wirbelte. Der Halbmond schien hell genug, daß ich auch ohne Lampe sehen konnte, und Wolkenstreifen malten wechselnde Schatten auf den Boden. Das Wetter war wie bestellt.
Die Robustheit der Vorhängeschlösser war nur vorgetäuscht. Sie hatten innen einen einfachen Hebeltrieb, den ich in knapp fünf Minuten öffnen konnte. Das leise Klicken konnte niemand hören. Auch nicht das winzige Quietschen des Tors, als ich es öffnete. Ich schob mich hindurch und verteilte Würfelzucker an die Stuten und Fohlen. Der Braune mit der weißen Blesse quittierte den Zucker mit einem wiehernden Trompetenton, aber weder in Yolas Blockhütte noch im Schlafhaus der Stallburschen ging ein Licht an.
Das Sardinenpferd blähte zwar vorwurfsvoll die Nüstern, nahm aber den Zucker und ließ sich von mir das einfache Halfter überstreifen, das ich mitgebracht hatte. Geduldig streichelte ich ihm die Nase und tätschelte seinen Hals, und als ich auf das Tor zuging, kam er gehorsam mit. Ich öffnete das
Tor und führte ihn hinaus. Lautlos folgten uns die Stuten und Fohlen, und ihre unbeschlagenen Hufe klopften nur dumpf auf den Lehmboden.
Langsam führte ich meine kleine Prozession auf den Fluß zu; mit einigem Poltern überquerten wir die Holzbrücke, dann verschwanden wir im Dunkel der Nadelwälder. Die Stuten und ihre Fohlen begannen bald zu weiden, aber der braune Hengst mit der Blesse wurde plötzlich gewahr, daß er wieder frei war. In vollem Tempo preschte er an mir vorbei und galoppierte wiehernd den Pfad hinauf. Er machte dabei genausoviel Lärm wie ein ganzer Sonderzug voller Fußballfans. Aber von der Ranch her kam keinerlei Reaktion.
Der Sardinenhengst ließ sich nur unwillig mitziehen. Ich beruhigte ihn, dann gingen wir wieder weiter. Für meinen Geschmack suchte er sich seinen Weg zwischen den Steinen und Felskanten des schmalen Pfades allzu vorsichtig, aber ich durfte ihn nicht antreiben, ohne ein Risiko einzugehen. Mein Genick juckte, wenn ich daran dachte, daß man mich wegen Pferdediebstahls in Wyoming in ein Gefängnis sperren könnte. Aber das war noch nichts im Vergleich zu der Angst, daß Mickey mit dem recht behalten könnte, was er über die spindeldürren Beine gesagt hatte.
An mehreren Stellen verengte sich der Pfad bis auf doppelte Fußbreite; auf der einen Seite stieg steil die Felswand an, auf der anderen Seite ging es ebenso steil in den Abgrund. Wenn man bei Tag diesen Pfad entlangritt, mußte man sich einfach darauf verlassen, daß die Pferde nicht über die Kante stolperten, denn dann wären sie unweigerlich in einer Gesteinslawine hundert oder hundertfünfzig Meter tief abgestürzt. An diesen Stellen konnte man nicht neben einem Pferd her gehen. Ich zog den Hengst zollweise hinter mir her, und er setzte behutsam die Hufe zwischen die Steine und schlich mir nach.
Zwei- oder dreimal kamen wir an kleineren Herden von
Ranchpferden vorbei, die sich durch das leise Bimmeln der Glocken am Hals der Leittiere verrieten. Ihre dunklen Umrisse verschwammen mit dem unruhigen Hintergrund von Wald und Fels, und nur ab und zu fiel ein Schimmer Mondlicht auf ein schimmerndes Auge, einen Rumpf, einen schlagenden Schweif. Die Stallburschen mußten jeden Morgen nach den Pferden suchen, da man die Glocken nur aus nächster Nähe hören konnte. Ich hatte mich mit einem der Burschen ausführlich darüber unterhalten, und er hatte mir gezeigt, wie man es machte. Sie konnten meiner Spur in die Berge so leicht folgen, als hätte ich ihnen den Weg beschrieben, und nach dem Tau, der sich in den Hufabdrücken ansammelte, ließ sich auch der genaue Zeitpunkt bestimmen. Der Bursche hatte mir Hufabdrücke gezeigt und erklärt, wie viele Pferde wann vorbeigekommen waren, und ich hatte nichts weiter gesehen, als ein paar verstreute staubige Eindrücke. Die Burschen konnten auf dem Boden lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch. Wenn ich versuchte, die Hufabdrücke des Sardinenpferdes zu verwischen, so verspielte ich gleichzeitig auch die Chance, daß die Clives vielleicht glaubten, der Hengst sei zufällig ausgebrochen. Die Abdrücke meiner Gummisohlen würde man, so hoffte ich, durch die Socken nicht mehr erkennen. Sonst hätte es sich gar nicht gelohnt, sie für einen so schwierigen Weg anzuziehen.
Nach etwa zwei Stunden hatte ich eine Höhe von rund dreieinhalbtausend Metern erreicht und gelangte ans Ende der Pfade, die ich in den vergangenen vier Tagen kennengelernt hatte. Von hier an konnte ich mich nur noch auf meine Nase verlassen. Die treibenden Wolkenfetzen warfen pechschwarze Schatten über die Felsen, und mehr als einmal blieb ich stehen und streckte tastend die große Zehe aus, um sicher zu sein, daß ich nicht geradewegs in irgendeinen Abgrund stolperte. Der Mond und der kalte Bergwind, der mir gegen die rechte Backe blies, dienten mir als Kompaß, aber der auf meiner Karte mit einer gepunkteten Linie eingezeichnete Bergpfad existierte mehr in der Einbildung als in der Wirklichkeit.
Die Beine des Hengstes hielten bemerkenswert gut durch. Meine hatten jetzt schon genug. Bergsteigen gehört nicht zu den normalen Aufgaben eines Beamten.
Der Gipfel des Grand Teton ragt 4196 m hoch in den Himmel. Mit seinen Schneeflecken und den teilweise abgeschmolzenen schwarzen Feldern hing er drohend nahe über mir. Ich stieß plötzlich auf einen schmalen Pfad, der sich schlangengleich durch das Gebüsch wand. Hier waren noch vor kurzem Menschen zu den Schneefeldern hinaufgestapft. Mit etwas Glück war ich auf den richtigen Weg gestoßen. Ich fror in meinem schwarzen Pullover mit dem dünnen Hemd darunter und wünschte mir nur, ich hätte Handschuhe mitgenommen. Aber weit konnte es nicht mehr sein — noch durch einen kurzen Canyon, dann auf der anderen Seite wieder hinaus auf das Plateau. Ich schaute auf die Uhr. Der Aufstieg hatte fast drei Stunden gedauert, ich war schon zu spät dran.
Im Canyon war es noch dunkler, aber hier konnte man mich auch vom Tal aus nicht entdecken. Ich zog die kleine Lampe aus der Tasche meiner Blue jeans und leuchtete auf den Weg. So kam die ganze Geschichte wieder in Gang.
Urplötzlich kam dicht vor uns ein Mann um eine Ecke und baute sich mitten auf dem Weg auf. Das Pferd war noch erschrockener als ich, scheute sofort, riß mir die Leine aus der Hand, und ich fiel zu Boden, als ich sie festzuhalten versuchte. Das Pferd preschte über einen schmalen Grat davon, der nach links abzweigte.
Mir war übel vor Wut, als ich mich aufrappelte, um ihm nachzulaufen. Der Mann kam einen Schritt näher und rief mir entgegen.
«Gene?«
Es war Walt.
Ich biß mir buchstäblich auf die Zunge, um meine Wut nicht an ihm auszulassen, dafür war jetzt keine Zeit.
«Ich hab’ Sie kommen sehen. Das Licht«, erklärte er.
«Ich wollte Ihnen nur ein Stück entgegengehen. Sie haben sich verspätet.«
«Ja. «Mehr sagte ich nicht. Es ging immerhin um eine halbe Million Pfund. Ich war verantwortlich dafür, es war mein Fehler.
Der Mond schob sich aus einer Wolke und schaltete klägliche 20 Watt ein. Da konnte ich das Pferd wieder sehen. Der Grat, den der Hengst entlanggeprescht war, hatte eine Breite von höchstens einem halben Meter; links nackter Felsen, und rechts ging ein Geröllhang in die Tiefe, so steil, als wäre es eine senkrechte Wand. Unten in der unsichtbaren Tiefe ragten sicher die üblichen Felsspitzen.
«Bleiben Sie hier stehen und verhalten Sie sich still«, sagte ich zu Walt.
Er nickte lautlos und wußte genau, daß eine Entschuldigung jetzt auch nichts nützte. Er hatte ausdrücklich Anweisung, an einer ganz bestimmten Stelle auf mich zu warten.
Das schmale Felsband war zehn Meter lang und machte eine Biegung nach links. Ohne die Taschenlampe zu benutzen, schob ich mich langsam voran und tastete mich mit der Linken an der Felswand entlang; das graue Licht reichte gerade aus, um mich die ausgezackte, rechte Kante des Wegs erkennen zu lassen.
Nach zehn Metern verbreiterte sich der Pfad zu einer tellerartigen Mulde, die zu drei Vierteln von himmelstürmenden Felsen umgeben war. Der abschüssige Boden der Mulde führte direkt zum steilsten Ende des Gerölls. Auf dem Boden lag zwischen groben, schwarzen Steinen noch etwas Schnee.
Hier stand der Hengst und schwitzte vor Angst. Er zitterte an allen Gliedern. Es gab nur einen Ausweg: zurück über den schmalen Grat.
Ich streichelte seine Nüstern, gab ihm vier Zuckerwürfel und redete ihm viel beruhigender zu, als mir selbst zumute war. Es dauerte zehn Minuten, bis die übermäßige Spannung aus seinen Muskeln wich, und weitere fünf Minuten, bevor er sich wieder rührte. Dann drehte ich ihn vorsichtig herum, bis er mit dem Kopf in der Richtung stand, aus der er gekommen war.
Pferde reagieren sofort auf Angstgefühle bei Menschen. Ich hatte nur eine einzige Chance, ihn zu retten: Ich mußte mich so sicher bewegen wie auf der betonierten Straße vor seinem Stall. Wenn er bei mir Angst witterte, kam er sicher nicht mit.
Kurz vor der schmalen Stelle scheute er. Ich gab ihm noch mehr Zucker und redete ihm wieder zu. Dann kehrte ich ihm den Rücken zu, legte mir das Halfter über die Schulter und ging langsam weiter. Ich spürte ein geringes protestierendes Zögern, dann kam er.
Noch nie sind mir zehn Meter so endlos erschienen. Doch der animalische sechste Sinn bewahrte den Hengst vor einem Fehltritt, und ich hörte hinter mir das gleichmäßige Hufeklappern auf dem rauhen, unebenen Felsboden.
Diesmal gab Walt überhaupt keinen Laut von sich. Er war ein Stück den Pfad vorausgegangen, und als er mich sah, drehte er sich wortlos um und ging weiter.
Nach knapp einer halben Meile senkte sich der Pfad in ein weites, flaches Becken. Hier sollte Walt mich eigentlich erwarten, und hier stand noch ein Mann und trat von einem Bein auf das andere, um sich warm zu halten.
Sam Kitchens. Er hielt ein zweites Pferd.
Ich nahm ihm das Halfter ab, während er mit einer starken Taschenlampe den Gaul, den ich mitgebracht hatte, zollweise untersuchte.
«Na?«fragte ich.
Er nickte.»Ja, das ist Chrysalis. Sehen Sie hier die winzige Narbe unter der Schulter? Als er zwei Jahre alt und ein bißchen übermütig war, hat er sich einmal an einem eisernen Torpfosten gerissen. Dann die schwarzen Punkte hier am Bauch, die wie Sommersprossen aussehen. Dann die Wirbel, die das Fell an der Innenseite der Schenkel bildet. Ein oder zwei Merkmale hat er an sich, die neu sind. Aber ganz abgesehen von der allgemeinen Gestalt sind das doch sichere Merkmale, die ich jederzeit vor einem Gericht beschwören kann.«
«War der Riß von dem Torpfosten so schlimm, daß ihn ein Veterinär behandeln mußte?«fragte ich.
Sam nickte.»Fünf oder sechs Stiche.«
«Gut«, sagte ich.»Dann hauen Sie mit ihm ab. Und passen Sie gut auf.«
Sam Kitchens grinste.»Wer hätte gedacht, daß ich ihn mitten in der Nacht in den Rocky Mountains wiederfinde? Machen Sie sich keine Sorgen, ich passe schon auf.«
Er drehte Chrysalis sehr geschickt herum, schnalzte liebevoll mit der Zunge und machte sich auf den meilenweiten Weg hinunter zum Campingplatz von Teton, wohin er mit Walt und Sam Hengelman in einem Pferdetransporter gekommen war.
Walt sagte:»Es ist für Sie doch zu spät, wieder zurückzugehen. Kommen Sie mit uns.«
Ich schüttelte den Kopf.»Wir treffen uns wie vereinbart in Idaho Falls.«
Walt machte eine abwehrende Geste.»Es ist für Sie nicht sicher, noch einmal zur Ranch zurückzugehen.«
«Ich komme schon zurecht. Treiben Sie nur Ihre beiden Sams ein bißchen an. Sie müssen bis zum Morgengrauen einen guten Teil des Wegs zurückgelegt haben. Den Kaufvertrag haben Sie
doch?«
Walt nickte und betrachtete das großrahmige Bergpferd neben mir.»Er kostet fünfhundert Dollar. Ein Brauner, völlig ohne Merkmale, sieben oder acht Jahre alt, wie bestellt. Das steht auf dem Kaufvertrag, und genau das haben wir auch im Pferdetransporter, falls uns jemand fragt. Sam Kitchens hat ihn ausgesucht. Er sagt, etwas Besseres könnte man nicht kriegen, es sei denn, man bezahlt ein paar tausend Dollar für einen Vollblüter.«
«Der hier sieht ganz gut aus. Bis später, Walt.«
Er wartete schweigend, während ich mich auf den bloßen Pferderücken schwang und die Zügel aufnahm. Dann nickte ich ihm zu, wendete und ritt den Pfad hinauf zum Canyon.
Es ist spät, dachte ich, fast zu spät. Um sechs Uhr sind die Stallburschen schon oben in den Bergen und treiben die Pferde zusammen. Die Gäste warten auch am Sonntagmorgen wie gewohnt auf ihren Ausritt. Es war schon fünf, der Mond verblaßte, und die erste graue Dämmerung kroch im Osten herauf. Wenn Sie mich so früh hier oben antrafen, gab es sicher Ärger.
In gemächlichem Trott trug mich mein neues Pferd den Canyon hinauf und an der gefährlichen Engstelle vorbei, die Chrysalis nur mit Mühe geschafft hatte; seine kräftigen Beine waren auf dem bergigen Gelände zu Hause, und bald schon ritten wir auf der anderen Seite in das Tal zur Ranch der Clives hinab. Hier hielt ich Ausschau nach einer Herde von High-Zee-Pferden, aber ich befand mich schon weit unterhalb der Schneegrenze, ehe ich die ersten Glocken hörte.
Eine kleine Gruppe von Pferden stand in einer baumbewachsenen Mulde. Als sie mich sahen, trabten sie langsam davon, aber als ich mitten unter ihnen anhielt, blieben sie auch stehen. Ich glitt von meinem Pferd, fuhr mit meinen Fingern durch die Mähne eines der anderen Tiere und legte ihm das Halfter an. Dann ließ ich Dave Tellers Neuerwerbung im Wert von 500 Dollar frei und trabte auf dem anderen Pferd nach Hause.
Der Gaul kannte den Weg und legte ihn deshalb viel rascher zurück. Die Wilkersons hatten mir erzählt, daß die Pferdeburschen diese steilen Felspfade heruntergaloppierten, aber erst als ich es selbst tat, konnte ich mir ein Bild davon machen, was für eine haarsträubende Angelegenheit das war. Das Pferd setzte seine Hufe auf Stellen, von denen ich behauptet hätte, kein Mensch könnte darauf stehen, geschweige denn ein Vierfüßler, und als ich den Gaul vom Pfad weglenkte, verminderte er kaum das Tempo. Im Galopp preschten wir zwischen Tannen und Ulmen und ganzen Gruppen silbriger, toter Bäume hinunter in die dichteren Wälder, deren Boden grasbewachsen war und wo es wieder Heidelbeeren und Unterholz gab. Wir kamen an eine schwierige Steilstelle von schwarzen Granitfelsen, wo ein Bergstrom die Erde ausgewaschen hatte, aber das Pferd stolperte darüber weg, auch wenn es bei jedem Schritt bis an die Knöchel einsank. Weiter unten überquerte es den sprudelnden Fluß und suchte sich seinen Weg zwischen den Felsbrocken unter der Wasserfläche, bis wir wieder den normalen Pfad erreichten, der in sanftem Zickzack ins Tal hinabführte. Unter den Bäumen schlugen Zweige nach uns, aber ich legte mich flach auf den Rücken des Pferdes, und wo es durchkam, kam ich auch durch.
Die gemächlichen Ausflüge zu Pferd waren keine Vorbereitung für diese waghalsige Jagd, und an die ein oder zwei Geländeritte, die ich vor vielen Jahren unternommen hatte, erinnerte ich mich nur noch undeutlich; sie waren ein Kinderspiel im Vergleich zu diesem Ausflug. Aber was man in der Jugend gelernt hat, bleibt einem für immer: Instinktiv hielt ich das Gleichgewicht und fiel nicht vom Pferd.
Bis eine Meile vor der Ranch hielt ich das Tempo bei, dann lenkte ich das Pferd nach rechts, das Tal hinauf und weg von
der Brücke, die über den Fluß führte.
Die Pferdeburschen würden den Gaul wahrscheinlich hier finden, aber ich hatte keine Zeit, den ganzen Umweg zu Fuß zurückzulegen. Es war schon hell und zu spät, um über die Brücke auf die Ranch zurückzukehren. Ich mußte weiter oben den Fluß noch einmal überqueren und dann durch die Wälder von der anderen Seite her zu Fuß versuchen, meine Blockhütte zu erreichen.
Etwa eine halbe Meile stromaufwärts ließ ich mich vom Pferderücken gleiten und nahm dem Tier das Halfter ab.
Das braune Fell glänzte dunkel von Schweiß, das Tier sah ganz und gar nicht aus wie ein Pferd, das die Nacht friedlich auf der Weide verbracht hat. Ich gab ihm einen Klaps, und es trottete davon, wieder hinauf in die Berge. Wenn ich etwas Glück hatte, entdeckten die Stallburschen es erst, wenn es sich wieder etwas erholt hatte, zumal sie ja sicher nicht nach diesem Tier suchen würden.
Schon als ich vorsichtig aus dem Wald trat und den eiskalten Fluß überquerte, hörte ich den Tumult am Ranchhaus. Die spitzen Steine stachen mir in die bloßen Füße, und das Wasser benetzte meine hochgerollten Hosenbeine. Aber da ich von hier aus keines der Gebäude sehen konnte, verließ ich mich darauf, daß auch mich niemand erblicken würde. Deutlich hörte ich die Schreie, und dann trommelten mehrere Pferde über die Holzbrücke. Als ich den Fluß überquert hatte und mich hinsetzte, um die Schuhe anzuziehen, sah ich sie zum Waldrand hinaufjagen. Sie waren zu sechst. Wenn sie sich jetzt umdrehten, sahen sie meine Schultern, meinen Kopf aus den Sage-Büschen ragen.
Zwischen mir und den sicheren Bäumen auf der anderen Seite des Tals lagen noch hundert Schritte. Minutenlang legte ich mich flach auf den Boden, um wieder Atem zu schöpfen, und blickte hinauf in den Morgenhimmel. Die graue Färbung wich einem glasklaren Blau. Die Spuren der Stuten, der Fohlen und der beiden Hengste führten geradewegs hinauf ins Gebirge. Ich wartete, bis die Burschen ein gutes Stück zurückgelegt hatten, dann stand ich leise auf und schlich mich durch die Bäume zu meiner Blockhütte.
Es war zehn nach sechs und taghell.
Ich zog meine schmutzigen, verschwitzten Sachen aus und ließ heißes Wasser in die Badewanne einlaufen. Ich war müde bis auf die Knochen, und das heiße Wasser prickelte wie eine Massage auf meiner Haut. Eine halbe Stunde blieb ich in der Wanne, entspannte mich und erholte mich allmählich.
Das Tonband hatte das laute Klopfen an Yolas Hintertür aufgefangen und dann die Meldung des Stallmeisters, daß die Stuten und Hengste ausgebrochen seien.
«Was heißt hier ausgebrochen?«
«Die Spuren führen zur Brücke hinunter. Sie müssen in die Berge sein.«
«Was?«kreischte Yola, als ihr aufging, was das bedeutete.»Das kann doch nicht sein!«
«Es ist aber so. «Die Stimme des Stallmeisters klang viel gelassener. Er konnte den ganzen Umfang der Katastrophe nicht überblicken, weil er nicht eingeweiht war.»Ich begreif’s allerdings nicht. Als ich gestern abend alles kontrollierte, waren die Vorhängeschlösser zu.«
«Holt sie zurück«, befahl Yola scharf.»Holt sie sofort zurück. «Ihre Stimme bekam einen hysterischen Klang.
«Der neue Hengst — holt ihn, holt ihn rasch zurück.«
Danach hörte ich, wie Schubladen herausgerissen wurden, und eine Tür schlug zu. Dann herrschte wieder Stille. Yola hatte sich auf die Suche nach Chrysalis begeben. Aber Chrysalis war schon unterwegs nach Kentucky.
Beim Frühstück wußten es alle Gäste der Ranch.
«Was für ein Getue«, sagte Wilkie.»Man könnte meinen, die hätten den Schlüssel zu einer Goldmine verloren.«
Das stimmte auch.
«Ich bin jedenfalls froh, daß sie die lieben kleinen Fohlen wiedergefunden haben«, sagte Samantha.
«So, hat man sie gefunden?«fragte ich. Die kleine Koppel war immer noch leer.
«Sie haben sie in den Stall gebracht«, erklärte Mickey.
«Zusammen mit ihren Müttern.«
«Jemand muß das Tor offengelassen haben«, berichtete Betty-Ann.
«So eine Schande. Yola ist schrecklich aufgeregt.«
Als ich zum Frühstück in den Speisesaal geschlendert kam, hatte Yola stocksteif in der Küchentür gestanden, alle ihre Gäste prüfend angesehen und nach Anzeichen von Schuldbewußtsein gesucht.
Ihre ruhige Haltung hatte sie verlassen. Das Haar war hastig mit einem Band hochgebunden, den Lippenstift hatte sie vergessen. Auch das geschäftsmäßige Lächeln fehlte. An ihrem kräftigen Kinn zuckte ein Muskel, und sie konnte Angst und Verwirrung in ihrem Blick nicht verbergen.
Ich aß eine doppelte Portion Speck und Pfannkuchen mit Ahornsirup und trank dazu drei Tassen Kaffee.
Betty-Ann saß mir gegenüber, zündete sich eine Zigarette an und fragte, ob ich wirklich fahren müsse und nicht noch ein paar Tage bleiben könne. Wilkie meinte knurrig, wenn einer wegwolle, könne man ihn nicht halten. Er hatte endlich kapiert und sah mich ganz gern davonziehen.
An der Tür hinter mir hörte ich kräftige Schritte. Betty-Ann blickte über mich hinweg und machte große Augen.
«Nein, wie schön, daß Sie wieder da sind«, rief sie erfreut und lenkte dann ihre Aufmerksamkeit dem nächsten Objekt zu.
Wilkie müßte sich inzwischen daran gewöhnt haben, dachte ich amüsiert. Aber ich vergaß die Eheprobleme der Wilkersons in dem Augenblick, wo jemand den Neuangekommenen beim Namen rief.
Matt!
Dann hörte ich hinter meinem Rücken Matt Clives beherrschte, tiefe Baßstimme.
«Hört mir bitte mal zu. Sie wissen wahrscheinlich, daß wir heute morgen hier ein bißchen Ärger haben. Irgend jemand hat die Stuten und Fohlen aus der Koppel drüben rausgelassen. Wenn’s jemand von euch Kindern war, so hätten wir es gern gewußt.«
Betretenes Schweigen breitete sich aus. Die Kinder machten verlegene Gesichter, und die Augenbrauen ihrer Eltern verzogen sich zu drohenden Fragezeichen.
«Weiß vielleicht jemand zufällig, ob das Tor gestern nicht richtig verschlossen war?«
Wieder Schweigen.
Matt Clive kam langsam um den Tisch herum und trat in mein Blickfeld. Er hatte ungefähr Yolas Alter und ihre Größe. Der gleiche Gesichtsschnitt, der gleiche kräftige Körperbau, nur männlicher. Ich erinnerte mich an die zwei Schlafzimmer in ihrer Blockhütte und daran, daß Yola keinen Ring trug. Also mußte es Yolas Bruder Matt sein. Ich trank meinen Kaffee und wich seinem Blick aus.
Einer oder zwei von den Gästen sprachen lachend von Pferdedieben, und jemand schlug vor, die Polizei zu benachrichtigen. Matt sagte, das habe er auch schon ernsthaft erwogen. Einer der Hengste sei sehr wertvoll. Aber natürlich sei er sicher, daß keiner der Gäste das Tor absichtlich offengelassen habe.
Außer einem mitfühlenden Murmeln bekam er keine Antwort. Vielleicht war er wirklich tapfer oder auch verzweifelt genug, die Polizei zu rufen. Aber selbst wenn er das tat, er bekam Chrysalis nie wieder. Der Hengst mußte inzwischen Hunderte von Meilen entfernt sein, begleitet von einem völlig legalen Kaufvertrag.
Nach einer Weile verschwand Matt wieder und hinterließ eine dräuende Gewitterstimmung sowie Verwirrung und Verlegenheit unter den Gästen.
Ich bat die Bedienung, meine Rechnung zu holen, da ich mich nun fertigmachen müsse. Nach einer Weile brachte sie sie mir. Ich gab ihr das Geld und wartete, bis sie die Quittung ausgeschrieben hatte.
Die Familie Wilkerson verabschiedete sich, weil sie hoffte, doch noch ausreiten zu können, falls ein paar von den Pferdeburschen rechtzeitig von ihrer Suche zurückkehrten. Ich ging gemächlich zu meiner Blockhütte, um meine Sachen zu packen. Ohne Hast stieg ich die zwei Stufen hinauf, überquerte die Veranda, öffnete die beiden Türen und trat ein.
Yola kam mit einem Gewehr in der Hand aus meinem Bad. Man sah ihr an, daß sie damit umzugehen verstand. Matt trat hinter dem Vorhang eines Schranks hervor und verbaute mir den Rückweg zur Tür. Er trug kein Gewehr, sondern eine Schrotflinte.
Ich spielte den Verblüfften und betonte meinen deutschen Akzent.
«Entschuldigung, ich verstehe das nicht.«
«Er ist es«, sagte Matt.»Ganz bestimmt.«
«Wo ist unser Pferd?«fragte Yola wütend.
«Das weiß ich nicht«, erklärte ich wahrheitsgemäß und breitete achselzuckend die Hände aus.»Warum fragen Sie mich so etwas?«
Beide Waffen zielten unverwandt auf mich.
«Entschuldigen Sie mich«, sagte ich.»Ich muß fertigpacken. Die Rechnung habe ich bezahlt. Ich reise noch heute morgen ab.«
«Sie werden nicht abreisen, mein Freund«, sagte Matt zähneknirschend.
«Warum nicht?«
«Bringen Sie das Pferd zurück, dann können Sie gehen, vorher nicht.«
Da hatte er sich eine Menge vorgenommen, wenn er auf einer Ranch voller Feriengäste einen Gefangenen für längere Zeit verstecken wollte.
«Ich kann ihn nicht zurückholen«, sagte ich.»Ich weiß nicht, wo er ist. Aber ein paar Freunde von mir wissen, wo ich bin. Sie erwarten, daß ich heute morgen hier abfahre.«
Sie starrten mich in stiller Wut an. Bei all ihrer Geschicklichkeit sind sie doch als Verbrecher noch rechte Kinder, dachte ich. Sie kamen einfach mit ihren Kanonen hereinmarschiert, ohne die Lage vorher durchzudenken. Allerdings waren es Kinder, die mit dem Tod spielten und die mehr der Impuls beherrschte als die Vernunft.
Ich sagte:»Es ist doch höchst unwahrscheinlich, daß ich hier herumlaufe und allen Leuten sage: >Ich habe den Clives ein Pferd gestohlen. < Wenn Sie nichts unternehmen und mich ungestört wegfahren lassen, werden Sie vielleicht nie wieder etwas darüber hören. Mehr kann ich Ihnen nicht versprechen. Gleichgültig, was Sie tun, das Pferd bekommen Sie bestimmt nicht wieder.«
Wenn sie vernünftig waren, blieb ihnen nur eine Wahl: mich gehen zu lassen. Aber Yolas Finger spannte sich um den Abzugshahn, und ich mußte mir widerwillig sagen, daß es nun
Zeit für die Parabellum war. Da ich sie beobachtete, bemerkte ich im Spiegel eine Zehntelsekunde zu spät, daß Matt hinter mich getreten war und den Kolben seiner Waffe wie eine Keule schwang.
Er erwischte mich genau am Hinterkopf, und die aus bunten Flicken zusammengesetzte Überdecke auf meinem Bett wirbelte kaleidoskopartig durcheinander, als ich zu Boden ging.