Das Mädchen aus dem Flußkahn öffnete mir die Tür des Ranchhauses, ging mir ein Stück zum Wagen entgegen und hieß mich mit geschäftsmäßiger Freundlichkeit willkommen.
«Mr. Hochner? Wie schön, daß Sie hier sind.«
«Ich bin froh, daß ich bei Ihnen trotz der kurzfristigen Anmeldung unterkommen konnte, wo doch nächste Woche der Unabhängigkeitstag vor der Tür steht. «Ich gab ihr die Hand und sprach mit leichtem deutschem Akzent, weil mir das auf die Dauer leichter fiel als ein amerikanischer. Als Engländer aufzutreten erschien mir nicht ratsam.
«So früh in der Saison sind wir nur selten voll belegt.«
Ihr Lächeln reichte nur bis an die Backenknochen, während ihre wachen Augen mich, den Wagen und mein Gepäck taxierten. Es war nur der prüfende Blick der Hotelbesitzerin; daß sie mich schon einmal gesehen haben könnte, kam ihr nicht in den Sinn.
«Ich zeige Ihnen gleich Ihre Blockhütte, wenn’s Ihnen recht ist. Dann können Sie sich ein bißchen frischmachen und kommen anschließend zum Dinner in die Ranch herüber. Es wird geläutet, wenn es soweit ist.«
Ich stellte den Wagen auf den Parkplatz, nahm meine zwei Koffer — den alten und einen neuen aus Jackson — und folgte ihr über einen grasbewachsenen Weg zu einer der Blockhütten, die verstreut unter den Bäumen standen.
Das Mädchen war groß und kräftig und wirkte älter, als ich sie von der Themse her in Erinnerung hatte: Ich schätzte sie auf sechs- oder siebenundzwanzig. Sie trug das lange Haar nicht mehr offen wie ein Teenager, sondern zu einem runden Knoten
hochgesteckt, der ihren Nacken freiließ. Statt der weißen Hose hatte sie jetzt dunkelblaue Jeans an, aber das rosa Hemd glaubte ich wiederzuerkennen.
Einer der Ladenbesitzer in Jackson, der fünfte, bei dem ich es versuchte, hatte sie auf der Stelle erkannt. Während ich das Geld für eine Landkarte aus der Brieftasche fischte, ließ ich geschickt das Foto mit dem Gesicht nach oben auf seinen Ladentisch fallen.
Er griff danach und sagte beiläufig:»Yola Clive und Matt. Sind das Freunde von Ihnen?«
«Ich wollte sie besuchen«, sagte ich und legte ihm die Geldscheine auf den Tisch.»Wissen Sie zufällig, wie ich da fahren muß? Ich war noch nie bei ihnen hier.«
Bereitwillig erklärte er mir den Weg von etwa fünfzehn Meilen und fuhr fort:»Die High Zee Ranch ist dort das einzige Haus, Sie können es also gar nicht verfehlen. Aber wenn Sie eine Weile bleiben wollen, rufe ich lieber an und lasse Ihnen eine Blockhütte reservieren. Ihr Motel ist sehr beliebt.«
«Klar will ich bleiben«, sagte ich und tat es auch. Ich kaufte mir eine Levis, Reitstiefel und einen neuen Koffer. In einer Cowboygegend sind Schußwaffen eine Selbstverständlichkeit; also fügte ich meiner Ausrüstung noch einen schwarzen Ledergürtel mit silberbeschlagener Schnalle hinzu. Der Verkäufer war überhaupt nicht überrascht, als ich ausprobierte, ob das Hüfthalfter, das ich manchmal benutzte, auch daranpaßte.
Jackson bewahrte sich so weitgehend den Anstrich des Wilden Westens, daß vor dem Drugstore sogar eine richtige Kutsche wartete. Die schläfrigen Pferde davor würden bestimmt nicht sehr gut aussehen, wenn Rothäute im Galopp angriffen. Auf der kurzen Hauptstraße waren die hohen, breiten Bürgersteige aus Planken mit einem Geländer begrenzt, obgleich der Schlamm, gegen den sie einst errichtet worden waren, längst dem Teer gewichen war. Motels, die >Klimaanla-ge und Zentralheizung< anpriesen, nannten sich >Planwagen< oder >Versteck der Pferdediebe<. Im ganzen war Jackson eine gequälte Mischung aus moderner Technik und Filmkulisse und ganz eindeutig ein Erfolg.
Den größten Teil des Nachmittags hockte ich auf einer Haltestange für Pferde in der Sonne. Ich dachte nach und rief zweimal Walt bei der >Buttress<-Versicherung an.
Yola Clive führte mich an einem sauber geschichteten Stoß Brennholz vorbei, zwei Stufen hinauf, über eine winzige Veranda und durch eine Fliegentür. Dann standen wir in der Blockhütte.
«Das Bad ist dort drüben. «Sie zeigte hin.»Abends werden Sie vermutlich den Ofen anzünden müssen. Bei uns ist der Schnee erst vor zwei oder drei Wochen weggeschmolzen, und die Nächte sind immer noch sehr kühl. «Sie lächelte kurz und zeigte auf einen kleinen Eimer mit krümeligem Zeug, der neben dem gedrungenen schwarzen Ofen stand.»Sie können die Holzklötze mit ein paar Händen voll von diesem Zeug anzünden.«
«Was ist das denn?«
«Ein Anzünder, eine Mischung aus Dieselöl und Sägespänen. «Mit geübtem Blick überflog sie den Raum und stellte fest, daß alles in Ordnung war.»Hinter der Küche ist eine Eismaschine, falls Sie sich einen Drink machen wollen. Die meisten Gäste bringen ihre eigenen Getränke mit… Wir verkaufen selbst keinen Alkohol. Morgen werden Sie sicher reiten wollen. Das besprechen wir gewöhnlich beim Abendessen. «Wieder kam und ging dieses rasche Lächeln, dann ging Yola über den schmalen Weg zurück.
Seufzend untersuchte ich mein Quartier. Man hatte sich zu einem glücklichen Kompromiß zwischen altem Material und neuer Konstruktion entschlossen. So war ein stabiles Blockhaus mit zwei Räumen entstanden, das ein überhängendes Dach und gefirnißte Balkenwände hatte. Im größeren Raum standen zwei Einzelbetten auf dem blanken Holzboden. Die Zimmerdecke bestand aus schmalen Holzbrettern. Hinter einem Vorhang befand sich eine Art von Schrank, die beiden harten Stühle und der Tisch waren Eigenbau. Auch Handtuchreck, Stuhl und Regal im Bad, wie ich bald bemerkte. Doch bis zur Installation reichte die hinterwäldlerische Einrichtung nicht. Für die Beleuchtung erzeugte die Ranch ihren eigenen Strom.
Ich packte aus, verstaute meine Sachen im Schrank und auf Regalen, zog meine städtische Kleidung aus und dafür die Levis und ein blau-weiß kariertes Hemd an. Typischer Feriengast, dachte ich säuerlich und schnallte mir auch noch den Waffengürtel um.
Danach saß ich eine Stunde lang vor der Tür und genoß den Ausblick, der für eine Pralinenpackung hätte herhalten können. Die Gebirgskette Teton Range, ein Ausläufer der Rocky Mountains, erstreckte sich mit ihren dunkelgrünen Tannenhängen, die aus den Tälern hinaufstiegen, weit von Nord nach Süd. Darüber ragten reinweiße Schneekappen auf. An ihrem Fuß zog sich ein blausilbern schimmerndes Band dahin, ein Nebenfluß zum Oberlauf des Snail River. Zwischen Fluß und Wald stand meine Blockhütte, genau am Waldrand, davor eine große Wiese mit einzelnen Büschen und bunt getupft von Unkraut und Blumen.
Der Wald rings um die Blockhütte gehörte zu den Ausläufern einer anderen Gebirgskette, die sich steil hinter der Ranch erhob und sie regelrecht einschloß und von der Außenwelt abschied. Der Fluß lief genau durch das Tal, aber die einzige Straße, die hereinführte, endete auf dem Parkplatz der High Zee Ranch.
Oben am Ranchhaus läutete eine Glocke. Ich trat in meine Blockhütte und zog mir einen weiten schwarzen Pullover über, unter dem die Parabellum nicht zu sehen war — für zweieinhalbtausend Meter über dem Meeresspiegel genau das Richtige. Die immer noch anhaltende Hitzewelle machte sich allerdings auch hier in den Bergen deutlich bemerkbar. Ich ging langsam über den staubigen, grasbewachsenen Pfad und fragte mich, ob Matt Clive mich wohl wiedererkennen würde. Ich jedenfalls erinnerte mich an sein Gesicht nur noch undeutlich. Nur vom Foto her kannte ich es recht gut. Dieses Foto hatte ich aber auch eingehender betrachtet als den Jungen auf dem Flußkahn. Da er sich damals ganz auf Dave Teller konzentrieren mußte, war es höchst unwahrscheinlich, daß er besonders auf mich geachtet hatte. Vielleicht war seine Erinnerung aber besser als bei Yola, weil er mir näher stand, als ich hinter Dave ins Wasser sprang.
Meine Sorge war überflüssig. Er war nicht da.
Yola saß an der Stirnseite eines langen Tisches aus goldfarbenem Holz, flankiert von plappernden Ranchgästen. Meist waren es ganze Familien, außerdem noch zwei Ehepaare. Ich war der einzige Alleinstehende. Eine strahlende, makellos frisierte Mutti lud mich ein, neben ihr Platz zu nehmen. Ihr gegenüber saß ihr liebenswürdiger Ehemann und erkundigte sich, ob ich eine lange Fahrt hinter mir habe. Ein kleiner Junge auf der anderen Seite des Tisches erklärte seinen Eltern laut und vernehmlich, er möge keine Pfannkuchen, und alle sahen gleich sonnengebräunt aus, unternehmungslustig und in bester Urlaubslaune. Ich mußte mich überwinden, nicht aufzuspringen und dieser lauten Fröhlichkeit zu entrinnen. Wie sollte es mir da jemals gelingen, so zu tun, als mache mir das alles Spaß?
Gegen Ende des Essens hatte ich das Gefühl, als sei mein Lächeln eingefroren; so starr und mechanisch war es, daß meine Gesichtsmuskeln davon schon schmerzten. Aber der freundliche Mann mir gegenüber —»Ich heiße Quintus L. Wilkerson III., aber nennen Sie mich ruhig Wilkie«- freute sich über seinen praktisch stummen Zuhörer und nutzte ihn weidlich aus. Ich mußte einen ausführlichen Bericht seines heutigen Fischfangs über mich ergehen lassen, wobei er nicht den kleinsten Spritzer ausließ. Seine Frau Betty-Ann war mit ihm zum See geritten und dann mit den beiden Kindern Samantha und Mickey zum Picknick weiter in die Berge gewandert. Auch darüber erfuhr ich alles Wissenswerte, und zwar von allen dreien. Sie luden mich ein, sie am nächsten Tag zu begleiten, und ich biß mir bei meiner zustimmenden Antwort fast die Zunge ab.
Ich hielt auch den Kaffee noch durch. Die liebe Familie Wilkerson versprach mir ein gemeinsames Frühstück, und Yola erkundigte sich, ob ich mich in meiner Blockhütte auch wohlfühle.
«Danke, ja. «Ich mußte an meinen deutschen Akzent denken. Und lächeln.
«Das freut mich«, sagte sie strahlend.»Sagen Sie’s ruhig, wenn Sie noch irgend etwas brauchen.«
Steifbeinig verließ ich das Ranchhaus und ging den Pfad entlang, zurück zu meiner leeren Hütte. Ich lehnte mich müde an einen der Pfosten, die das Vordach trugen, und blickte hinüber auf die Bergkette, die matt im Mondlicht schimmerte. Immer wieder zogen Wolken über den Himmel. Ich hatte einen Druck im Schädel, als sei mein Gehirn eingeklemmt, oder als würde es mit Luft aufgepumpt und wollte gleich platzen.
Wie soll das nur weitergehen? überlegte ich. Das Dinner war schon eine extreme Belastungsprobe. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Beten nutzte mir nichts — dazu fehlte mir der Glaube. Zu einem Arzt gehen? Der schickte mich mit einem Heilwässerchen und einer Gardinenpredigt, ich solle mich zusammenreißen, wieder nach Hause. Mir blieb nichts anderes übrig, als es zu ertragen und abzuwarten, bis es besser wurde. Wenn ich mich wenigstens davon überzeugen könnte, daß es am Ende wirklich besser würde, dann hätte ich wenigstens etwas gehabt, an das ich mich klammern konnte.
Irgendwo im Tal wieherte ein Hengst.
Vielleicht war es Chrysalis. Wenn er sich nicht unmittelbar auf der High Zee Ranch befand, dann war die Wahrscheinlichkeit groß, daß er zumindest irgendwo in der Nähe versteckt wurde. Vielleicht wußte Keeble wirklich, warum er mich hergeschickt hatte; was meine Arbeit anging, so funktionierten meine Sinne noch völlig normal. Ich konnte mich konzentrieren und damit mein privates Chaos vorübergehend abschalten. Wenn ich mich nur vierundzwanzig Stunden am Tag konzentrieren könnte, dann wäre das Leben ganz einfach.
Das Schlimme daran war nur, daß das nicht ging.
Auf der Ranch befanden sich mindestens hundertzwanzig Pferde. Etwa vierzig davon standen in einem Pferch in der Nähe des Ranchhauses. Da waren die Reitpferde für die Gäste.
Wir frühstückten schon früh, doch die Auswahl der Pferde dauerte einige Zeit, obgleich die meisten Leute schon ein paar Tage hier waren und eigentlich genau wußten, welches Tier sie wollten. Der Stallmeister fragte mich, ob ich reiten könne, und wenn ja, wie gut.
«Ich hab’ seit neun oder zehn Jahren auf keinem Pferd mehr gesessen«, antwortete ich.
Er wies mir einen lammfrommen Gaul mit U-förmigen Fesseln zu. Nach den briefmarkengroßen Dingern, die ich gewohnt war, kam mir der Wildwest-Sattel wie ein Sofa vor. Es gab auch keinen neumodischen Kram wie Schnallen zum Einstellen der Bügellänge. Der Stallmeister schnallte die zehn Zentimeter breiten Riemen vom Sattel, ließ sie zwei oder drei Löcher herab und befestigte sie wieder. Es war gutes, weiches Leder, das auch bei einem langen Ritt nicht das Pferd wundreiben konnte.
Drüben auf der anderen Seite des Ranchhauses, jenseits der grünen, bewässerten Rasenfläche, erstreckte sich eine kleinere Koppel von höchstens einem Morgen, umgeben von einem kräftigen Zaun aus Querstangen. Während des ganzen Frühstücks hatte ich mir die sieben Pferde in der Koppel genau angesehen: drei Stuten, zwei junge Fohlen, zwei Hengste. Beide waren braun, aber einer davon hatte eine weiße Blesse und war kein Vollblut.
«Was sind denn das da drüben für Pferde?«fragte ich den Stallmeister.
Er überlegte eine Weile, wie er es einem unwissenden Laien und noch dazu einem Ausländer klarmachen sollte, dann sagte er:»Wir züchten die meisten Pferde selbst.«
«Ach so, dann haben Sie wohl viele Hengste hier?«
«Drei oder vier«, antwortete er und sah sich unter den geduldig wartenden Pferden um.»Die meisten von denen hier sind Wallache.«
«Ein hübscher Brauner«, bemerkte ich.
Er folgte meinem Blick zu der Koppel hinüber.»Der ist neu«, antwortete er.»Ein Halbblut, das vor zwei oder drei Wochen in Laramie gekauft wurde.«
Ich bemerkte den ablehnenden Unterton und fragte:
«Sie mögen ihn nicht?«
«Für die Berge nicht genug Knochen«, antwortete er kurz angebunden und richtete mir den zweiten Steigbügel.
«Ist es Ihnen jetzt bequem?«
«Sehr gut, danke vielmals.«
Er nickte mir halbwegs freundlich zu und kümmerte sich um den nächsten Kunden. Die Stallburschen unterschieden sich von den Städtern nur im Alter und in der Kleidung. Alle waren junge Männer zwischen achtzehn und dreißig, einige von ihnen Studenten, die in den Semesterferien etwas Geld verdienen wollten. Wie mir Betty-Ann Wilkerson überlegen anvertraute, nannte man einen Cowboy nur im Film einen Cowboy. >Cowhand< ginge noch an, aber richtiger wäre Stallmeister. Auf der High Zee Ranch gab es keine Rinder. Die Stallmeister pflegten die Pferde, und die waren nur für die Städter vorhanden.
Was die Kleidung anbetraf, so waren die Stallburschen etwas staubiger, weniger farbenfroh herausgeputzt, weniger sorgfältig gebügelt. Sie waren schon seit halb sechs auf den Beinen. Anderer Leute Ferien bedeuteten für sie schwere Arbeit.
«Sie treiben abends die Pferde immer in die Hügel hinaus«, erklärte mir Wilkie.»Am Morgen holen sie sie dann wieder herein.«
Wir brachen in zwei Partien von der Ranch auf. Zu jeder gehörten etwa zwölf Urlaubsgäste und zwei Pferdeburschen. Es ging über eine flache Holzbrücke, und dann auf der anderen Seite in die Teton-Berge hinauf. Als wir uns in einer Reihe den gewundenen Pfad emporarbeiteten, ritt Wilkie vor mir, Betty-Ann hinter mir. Beide redeten unermüdlich.
«Sie treiben die Pferde da drüben in die Hügel, weil’s hier im Tal nicht genug Weidegrund für sie gibt. «Wilkie drehte sich im Sattel um und überzeugte sich davon, daß ich ihn auch verstehen konnte.»In den meisten Nächten zerstreuen sie sich meilenweit. Die Stallburschen machen es wie die Schweizer mit ihren Kühen: Sie hängen einigen Pferden Glocken um, damit sie sie am Morgen wiederfinden. Das sind sozusagen die natürlichen Leittiere, die unter den anderen Pferden ein gewisses Ansehen genießen. «Er lächelte herzlich.»Manchmal sieht man sie nicht gleich, wenn die Sonne durch die Bäume scheint und Schatten wirft.«
Er hatte recht. Wir kamen später an drei Pferden vorbei, die in einer kleinen Senke standen. Erst als sich eins der Tiere bewegte und die umgehängte Glocke bimmelte, bemerkten wir
sie.
«Sie holen nur so viele herein, wie sie gerade brauchen«, ergänzte Betty-Ann.»Die anderen lassen sie draußen und nehmen sie vielleicht erst am nächsten Tag mit, wenn sie sie zufällig zuerst aufstöbern.«
«Manche Pferde können also eine ganze Woche hintereinander in den Hügeln draußen sein?«fragte ich.
«Denke schon«, murmelte Wilkie unsicher. Er wußte es nicht.»Wenn die Burschen ein bestimmtes Pferd suchen, dann reiten sie natürlich bis hinauf in die Berge und finden es auch, das weiß ich zufällig sicher.«
«Wer gut genug reiten kann, der darf die Pferdeburschen am Morgen hinaufbegleiten«, sagte Betty-Ann.»Aber sie galoppieren den ganzen Weg, statt im Schritt zu reiten.«
Der Pfad war steil und auch steinig.
«Diese Pferde sind es gewohnt, Liebling«, erklärte Wilkie milde.»Das ist etwas ganz anderes als die Pferde in der Reitschule zu Hause.«
In einer Höhe von weit über dreitausend Metern wurde der Pfad eben. Wir hatten ein baumbestandenes Plateau erreicht und überblickten ein atemberaubend schönes Waldtal mit einem strahlendblauen See auf dem Grunde. Die Fotoapparate klickten aufgeregt. Die lauten Stimmen übertönten den Befehl der schönen Landschaft zum Schweigen. Und schließlich machten wir uns wieder auf den Rückweg.
Beim Mittagessen erkundigte sich Yola, wie mir der Vormittag gefallen habe. Ich brauchte mich nicht einmal dazu zu zwingen,»gut «zu sagen. Die Wilkerson-Kinder nannten mich >Hans< und baten mich, am Nachmittag mit ihnen im Fluß schwimmen zu gehen. Wilkie klopfte mir herzhaft auf die Schulter und eröffnete mir, ich sei ein netter Kerl, und Betty-Ann begann, mir höchst irritierende Blicke zuzuwerfen, die Wilkies Meinung über mich auf der Stelle geändert hätten, wenn er sie bemerkt hätte.
Ich verließ als letzter den Mittagstisch und schmuggelte in einer Papierserviette eine große Scheibe Brot mit hinaus. In meiner Kabine packte ich ein paar Lebensmittel aus, die ich heimlich erworben hatte, stopfte mir Würfelzucker in die eine Tasche und kippte eine ganze Dose Ölsardinen auf das Brot. Die Brotscheibe wickelte ich wieder in die Serviette und trug sie vorsichtig über den buschbestandenen Hügel hinunter zu der Koppel auf der anderen Seite des Ranchhauses.
Mit der einen Hand hielt ich den Tieren Zucker hin, mit der anderen das Sardinenbrot. Die Stuten kamen, schnupperten und entschieden sich ausnahmslos für Zucker. Auch die Fohlen waren für Zucker. Der Braune mit der weißen Blesse fraß Zucker. Zuletzt kam das staubige Halbblut näher, das Matt vor zwei oder drei Wochen in Laramie gekauft hatte. Der Hengst zeigte sich weniger neugierig als die übrigen Tiere.
Er schnupperte an der Papierserviette mit dem Sardinenbrot und hob mit steil gestellten Ohren den Kopf, als habe er von den fernen Teton-Bergen einen vertrauten Laut gehört, von fern einen bekannten Geruch gewittert. Seine Nüstern bebten sanft. Ich betrachtete die herrliche Kopfform, das ein wenig schräggestellte Auge, den vollkommenen Winkel von Kopf und Hals. Er hatte die Kruppe eines Vollblüters und die Fesseln eines Rennpferdes.
Er senkte den Kopf und fraß mir das ganze Sardinenbrot aus der Hand.
Yola und Matt wohnten in einer eigenen Blockhütte, die etwas abseits vom großen Ranchhaus stand. Im Haupthaus waren nur Speisesaal, Küche, Wohnräume und Aufenthaltsräume für regnerische Tage untergebracht.
Yola holte einen schmutzig-olivgrünen Kombi aus dem Unterstand neben ihrer Hütte und fuhr über die staubige Straße davon. Auf den Türen stand in kleinen weißen Buchstaben eine Aufschrift. Ich sah ihr halb erstaunt, halb lächelnd nach. Einen Punkt für die Fahrer des Pferdetransporters, dachte ich. Sie hatten sowohl den Möbelwagen der Firma >Snail Express< als auch den olivgrünen Kombi bemerkt. Beide Fahrzeuge mußten sie eigentlich mehrfach gesehen haben, aber sie erinnerten sich wenigstens daran.
Die Gäste durften das einzige Telefon der Ranch benutzen, das in der Blockhütte der Clives stand. Ich schlenderte hin und klopfte. Es war niemand da, die Tür stand offen, und für jeden Fall steckte sogar ein Schlüssel. Keine der Hütten war verschlossen, man konnte sie nur von innen verriegeln, und zwar mit einem schlichten Holzriegel.
Bei einer raschen Inspektion der Hütte fand ich zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, die Küche, das Bad und einen Büroraum vor. Ich brachte so unsichtbar wie möglich drei überempfindliche Abhörgeräte unter und ging ohne Eile wieder hinaus.
Danach schwang ich mich in den Chevrolet und fuhr ebenfalls nach Jackson, weil man dort ungestörter telefonieren konnte. Ich führte ein sehr langes Gespräch mit der >Buttress<-Lebensversicherung, und in der zweiten Hälfte unserer Unterhaltung bekam ich von Walt nur noch erregtes Schnaufen und ein paar Proteste zu hören:»Nein, das geht doch nicht, das können Sie nicht!«
«Hören Sie, Walt«, sagte ich schließlich.»Wir sind doch keine Polizeibeamten. Ich nehme an, Ihrer Firma liegt mehr daran, das gestohlene Eigentum zurückzubekommen, als indiskrete Fragen zu stellen? Mein Auftrag lautet, Chrysalis seinem Besitzer Dave Teller zurückzubringen. Nichts sonst. Wenn wir nach Ihren Vorstellungen arbeiten, dann haben wir’s am Ende mit einem ganzen Haufen superschlauer Anwälte und einem vermutlich toten Gaul zu tun.«
Es entstand eine lange Pause. Dann murmelte er:»Okay.
Sie haben recht.«
Er schrieb sich eine lange Liste von Instruktionen auf, während ich laut dachte:»Heute haben wir Mittwoch. Sagen wir, am Sonntagmorgen. Sie hätten somit ganze drei Tage Zeit. Das muß reichen.«
«Nur knapp.«
«Macht nichts«, beruhigte ich ihn.»Sie können das meiste davon im Sitzen erledigen.«
Walt empfand diese Bemerkung nicht als komisch.
«Und was werden Sie in dieser Zeit tun?«
Sachlich antwortete ich:»Auf einer Ferienranch macht man Urlaub.«
Ich ging zum Postamt und schickte ihm per Eilboten sechs Haare von der Mähne des Sardinenpferdes, dann kehrte ich zu der aufreibenden Aufgabe zurück, die ich von Anfang an gefürchtet hatte: den Urlauber spielen.
Die drei Tage kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Die Vormittage und einen Teil der Nachmittage brachte ich im Sattel zu; das war noch der erträglichste Teil. Die Mahlzeiten waren nach wie vor grausam anstrengend. Die Nächte wurden mir lang. Ich wünschte mir Lynnie herbei, denn in ihrer Gegenwart schien meine niedergedrückte Stimmung zu verfliegen, aber die war als Eunices Stütze und nicht als meine hergekommen. Und bei allem Vertrauen hätte ihr Vater es mir kaum geglaubt, daß ich nur am Tage ihre Nähe suchte. Vielleicht hätte ich es auch nicht geschafft. Also gab es für mich keine Stütze. Überhaupt keine.
Yola betrieb die Ranch mit spielerischer, dafür aber um so erstaunlicherer Tüchtigkeit. Sie schaffte es, daß Personal und Gäste pausenlos zufrieden waren, ohne sich dabei zu verausgaben oder aggressiv zu werden. Das blonde Haar trug sie auch weiterhin in einem Schopf zusammengebunden. Ihre Kleidung bestand tagaus, tagein aus Jeans, Hemd und flachen Schuhen. Keine Stiefel — sie gab sich nie einen männlichen Anstrich. Sie strahlte Freundlichkeit und Selbstbewußtsein aus, aber ihr Lächeln erreichte nicht ein einziges Mal die Augen.
Ihre Fragen beantwortete ich mit halbwahren Gemeinplätzen, aber sie hörte mir ohnehin nur mit halbem Ohr zu.
«Für die Besitzerin einer so großen Ranch sind Sie noch sehr jung«, sagte ich einmal mit ausgesuchter Höflichkeit.
Diese kleine Fangfrage beantwortete sie entwaffnend offen:»Die Ranch gehörte erst meinem Großvater und danach meiner Mutter. Sie ist vor zwei Jahren gestorben.«
«War das schon immer eine Gästeranch? Ich meine, für Rinder ist das Gelände doch etwas zu hügelig — «
«Es war von Anfang an eine Gästeranch«, antwortete sie.»Großvater hat sie vor vierzig Jahren zu diesem Zweck gebaut.
— Wie sind Sie eigentlich auf uns gestoßen?«
Ich streifte sie mit einem prüfenden Blick, aber sie war nur neugierig, nicht mißtrauisch.
«Ich habe mich in Jackson nach einem schönen, ruhigen, abgelegenen Plätzchen irgendwo in den Bergen erkundigt.«
«Und wer hat uns empfohlen?«
«Ich hab’ einfach auf der Straße einen Mann angesprochen.«
Sie nickte zufrieden.
«Was machen Sie eigentlich im Winter?«fragte ich.
In ihren Augen blitzte es auf, und ein rasches Lächeln glitt um ihre Mundwinkel. Was sie im Winter tat, schien ihr jedenfalls mehr Spaß zu machen, als ein Hotel zu führen.
«Wir ziehen dann nach Süden. Dieses Tal ist von November bis März völlig zugeschneit. In den meisten Jahren können wir erst im Mai wieder zurückkommen. Für gewöhnlich öffnen wir in der zweiten Juniwoche, aber selbst dann sind manche
Canyons meist noch unpassierbar.«
«Und was tun Sie in dieser Zeit mit den Pferden?«
«Ach, die bringen wir in die Ebene hinunter, auf die Ranch von Freunden.«
Ihre Stimme klang genauso kraftvoll und selbstsicher, wie sie war. Ich beobachtete, wie ihr Blick hinüberglitt zu der Koppel mit den Stuten und Fohlen und dann wieder zu mir zurückkehrte. Ausdruckslos.
Ich schenkte ihr ein Lächeln Marke >Nur für Erwachsene Stufe fünf, und erkundigte mich, ob es ihr hier, so weit draußen in der Wildnis, nicht manchmal sehr einsam vorkäme. Dieser behutsame, aber unmißverständliche Vorstoß trug mir nichts weiter ein als ein knappes Kopfschütteln. Ich war hier der einzige Mann, der nicht von einer wachsamen Frau beaufsichtigt wurde. Yola zeigte sich dennoch nicht im geringsten interessiert.
Ich machte ihr Komplimente wegen des hervorragenden Essens und der Hilfsbereitschaft der Stallburschen. Sie bedankte sich höflich. Dann gähnte ich dezent, entschuldigte mich und sagte, das müsse wohl an der vielen frischen Luft liegen. Auch das hatte sie jedes Jahr dutzendmal zu hören bekommen, und sie kannte jede Antwort auswendig, ohne erst nachdenken zu müssen. Es hatte keinen Sinn, einen Versuch zu unternehmen, ihr mittels raffinierter Technik eine unbedachte Bemerkung zu entlocken. Ich hatte auch keine Lust, mit ihr grob zu werden.
Nach einer Weile erhob ich mich müde und sagte, ich wolle schlafen gehen. Sie sah mich mit ihrem gewohnten, nichtssagenden halben Lächeln an. Eigentlich sah sie mich nicht. In einem Monat würde sie sich nicht mehr an mich erinnern. Es sei denn, ich gab ihr unbeabsichtigt einen Anlaß dazu.
Die drei Abhörmikrofone in ihrer Kabine waren mit Audio-schaltern versehen: Sobald sich in der Kabine etwas rührte, sobald auch nur ein Wort fiel, schalteten sie automatisch das mit dem Empfänger gekoppelte Tonbandgerät ein, das die hintere Hälfte des ganz normal aussehenden Transistorradios neben meinem Bett einnahm. Aber es gab nicht viel zu belauschen. Yola schlief allein, und abgesehen von einem Abend, an dem sie vier der Gäste zu einem Schlummertrunk einlud, fing der Empfänger aus der Kabine keine Unterhaltung auf, sondern nur Telefongespräche.
Jeden Abend saß ich nun in meiner Kabine, den Rücken zum schönen warmen Ofen, und hörte das Tagespensum ab. Fast alle Telefongespräche hatten mit ihrem Geschäft zu tun: Lebensmittel, Wäscherei, Schmied, Reservierungen. Aber am Freitagabend fing ich ein Telefongespräch ein, das all die Mühe lohnte.
«Onkel Bark?«fragte Yolas Stimme leise und deutlich.
Eins der Mikrofone steckte hinter einem Bild mit Hängerosen an der Wand hinter dem Telefontisch.
«Sicher, hier ist alles in Ordnung«, sagte sie. Von ihrem Gesprächspartner hörte ich nur hin und wieder ein Wort. Sie schien den Hörer dicht ans Ohr zu pressen.»Keinerlei Schwierigkeiten.«
«Matt?«
«Deshalb rufe ich ja an, Onkel Bark. Matt hat mir geschrieben, daß er in Europa aufgeben muß. Er kommt nicht an Du-weißt-schon heran, weil er bewacht wird wie Fort Knox. Ich glaube, wir müssen einfach die ganze Geschichte noch für eine Weile unter Verschluß halten.«
Was die andere Seite sagte, konnte ich nicht hören.
«Sicher ist das ärgerlich, klar. Aber wenn wir ihn nur zu dir schaffen können, bevor der Schnee kommt…«
«— «
«Wie soll das denn gehen? Du weißt doch, das Ding ist nicht danach gebaut.«
«— bleiben — «
«Wir können ihn doch nicht zusammen mit den anderen zu Clint schicken. Damit verlieren wir ein ganzes Jahr. Und er kann sich ein Bein brechen, oder sonst etwas.«
«— Wüste.«
«Nach Pitts soll er auch nicht, das ist dafür nicht geeignet. Aber Matt hat ja schließlich noch jede Menge Zeit, etwas zu arrangieren.«
«— nicht anfangen.«
«Ja, ich war sicher, daß du das tust. Aber es ist nun zu spät. Woher sollten wir auch ahnen, daß uns so etwas Blödsinniges dazwischenkommen könnte? Matt kommt vermutlich morgen im Laufe des Tages zurück. Er wird dich dann gleich anrufen.«
Bald danach legte sie auf. Ich ließ das Band zurücklaufen und hörte mir das ganze Gespräch noch einmal an. Zwei unklare Punkte schälten sich dabei heraus. Wäre Dave Teller zu auffällig abgeschirmt worden, dann hätte Matt gemerkt, daß die Episode auf dem Fluß nicht für einen Unfall gehalten wurde. Das >Blödsinnige<, das den Clives dazwischengekommen war, konnte der Umstand sein, daß ich Dave aus dem Wasser gefischt hatte. Es konnte sich aber auch um etwas ganz anderes handeln — etwas, das Daves Beseitigung überhaupt erst notwendig machte. Der Hengst war am Dienstag, dem 15. Juni, gestohlen worden, und am Samstag, dem 19. Juni, hatte sich Yola in London nach Daves Wochenendanschrift erkundigt. Was also — wenn überhaupt — hatte sich in diesen vier Tagen abgespielt? Irgend etwas >Blödsinniges< jedenfalls.
Am Sonntagmorgen nach dem Frühstück sagte ich Yola, daß ich meinen Aufenthalt auf der Ranch sehr genossen habe und morgen abreisen wolle. Sie setzte ihr vorschriftsmäßiges, verschwommenes Lächeln auf und bedankte sich für die Mitteilung.
«Könnten Sie mir dann morgen nach dem Frühstück die
Rechnung ausschreiben?«schlug ich ihr vor.
«Natürlich«, antwortete sie.»Aber können Sie wirklich nicht bis Montag bleiben — wegen der Feiern zum Unabhängigkeitstag?«
«Leider nicht.«
Sie nickte. Es war ihr einerlei.»Ich werde Ihnen dann die Rechnung fertigmachen.«
Die Familie Wilkerson war von meinen Abreiseplänen nicht erbaut. Samantha sagte:»Onkel Hans, dann verpaßt du doch das Spießbraten und die Floßfahrt auf dem Fluß!«
Jemand aus der Gegend hatte Floßfahrten auf dem ziemlich reißenden Snake River organisiert. Diese Touren auf schwarzen, aufblasbaren Gummiflößen galten als große Attraktion, genau wie der Rodeo und der Skilift. Die Wilkersons hatten mich dazu eingeladen. Ich tröstete sie:»Vielleicht komme ich nächstes Jahr wieder.«
Vielleicht auch nicht.
Am Nachmittag kümmerte ich mich um die Kinder, während Betty-Ann zum Friseur fuhr und Wilkie an einem entlegenen See fischte. Sie badeten im Fluß, aber ich blieb am Ufer, weil ich fürchtete, mein Kopf im Wasser könnte Yolas Erinnerung anregen. Danach fütterten wir über den Zaun hinweg die staksigen Fohlen mit Würfelzucker und ausgerupften Grasbüscheln. Die Einfriedung bestand aus soliden jungen Bäumen, die quer auf noch stabilere Pfosten genagelt waren. Das Tor war noch widerstandsfähiger gebaut. Die Angeln waren durch das Holz geschraubt, und den Verschluß bildeten zwei schwere Vorhängeschlösser. Das alles war nicht neu.
Samantha und Mickey hielten nicht viel von dem Sardinengaul.
«Zu dünn«, stellte Mickey sachkundig fest.»Oben in den Bergen bricht er sich die Beine.«
Ich schaute hinüber zu den Teton-Bergen, deren Gipfel weiß in der warmen Sonne schimmerten. Die berggewohnten Pferde der Ranch mit ihrer Trittsicherheit bewältigten spielend die steilen, steinigen Pfade aufwärts und abwärts durch die Wälder, über Heidelbeergestrüpp und Geröllhalden einstiger Bergrutsche bis empor zu den kahlen Felsen an der Schneegrenze.
«Warum bleibst du denn nicht bis Montagabend?«bettelte Mickey.»Wenn du morgen schon fährst, dann versäumst du doch das Feuerwerk.«