Die Büros der Buttress-Lebensversicherungsgesellschaft in der 33. Straße lagen im 6. Stock und verfolgten sehr raffiniert den Zweck, Eindruck auf die Kunden zu machen. Computer und elektrische Schreibmaschinen waren im 5. und 7. Stock in nüchternen kleinen Zellen untergebracht. Ich saß zehn Zentimeter tief in weichem, schwarzem Leder und dachte darüber nach, daß von allen amerikanischen Experten die Sesselkonstrukteure am meisten zu bewundern waren. In keinem anderen Land der Welt kann man stundenlang auf demselben Sitzmöbel zubringen, ohne daß das Steißbein protestiert.
Ich hatte bereits vierzig Minuten in der angenehmen Kühle gewartet, lange genug, um zu entdecken, daß die Reihen von Topfpflanzen aus Plastik gemacht waren; sie standen auf einer niedrigen Mauer, die die große Halle in fünf kleinere Nischen unterteilte. Lange genug, um die Holzverkleidung der Wände, den knöcheltiefen Teppich und die Hängedecke mit ihrer indirekten Beleuchtung bewundern zu können. In jeder Nische stand ein großer Schreibtisch, dahinter ein riesiger Sessel, ein anderer daneben, ein dritter davor. Ein zweiter, kleinerer Tisch teilte die Nischen fein säuberlich in die Hälfte. An diesem kleinen Tisch saß der Sekretär und Empfangschef, der seinem jeweiligen Chef diskret den Rücken zuwandte. Jede Nische hatte eine eigene breite Lederbank für wartende Besucher.
Ich wartete.
Vor mir war noch ein anderer Mann an der Reihe, der auch den >Big Boss< sprechen wollte. Es tue ihm furchtbar leid, versicherte mir der Empfangssekretär, aber selbst vor Eintreffen von Mr. Tellers Telegramm sei der Terminkalender schon randvoll gewesen. Ob ich mich bitte noch etwas gedulden
könnte?
Ich konnte. Ich hatte ja drei Wochen Zeit.
Gedämpftes Licht und ebenso gedämpfte Hintergrundmusik übergoß alles wie mit dickem Sirup. Die Musik und die schallschluckende Akustik waren daran schuld, daß die ernsthaften Beratungen, die in allen fünf Nischen abgehalten wurden, für die Besucher auf den Wartebänken absolut unhörbar waren, während man gleichzeitig der wohltuenden Illusion anheimfiel, nicht allein gelassen zu sein. Und trotzdem ist im Grunde genommen jeder allein. Nur die einen mehr, die anderen weniger.
Nach dem Abschied von Lynnie hatte ich die ganze Nacht nicht geschlafen, doch daran war nicht sie schuld. Ich focht einen langen und albernen Kampf zwischen der Sehnsucht nach Vergessen und der Überzeugung aus, daß ein Nachgeben nicht so sehr moralisch falsch, sondern vielmehr eine Niederlage auf der ganzen Linie gewesen wäre. Mit Niederlagen konnte ich mich noch nie abfinden. Meine beruflichen Erfolge hatte ich dieser Halsstarrigkeit zu verdanken, und sie allein hielt mich wohl noch am Leben, da mir alle anderen Anreize wie Zahnstocher bei einem Sturmangriff vorkamen. Die Begeisterung für den Auftrag, Tellers Pferd wiederzufinden, brannte in mir so heiß wie feuchter Kohlenstaub, und das Land würde wohl kaum einen Zusammenbruch erleiden, wenn ich nicht mehr in seinen Diensten stand.
Caroline hatte wie eine Sturmflut meinen Verstand überschwemmt, mich von Kopf bis Fuß erfüllt. Caroline — ich hätte sie geheiratet, aber ihr Mann wollte sich nicht scheiden lassen.
Caroline hatte ihn verlassen, um mit mir zusammenzuleben, aber sie war die Schuldgefühle nie losgeworden. Ein heilloses Durcheinander von ganz alltäglicher Art. Ihre erste
Leidenschaft hatte sich in sechs zermürbenden Jahren — wird er es endlich tun oder nicht? — abgenutzt, und am Ende gab er sie doch nicht frei. Er bekam sie auch nicht zurück. Seitdem sie mich vor einem Jahr verlassen hatte, arbeitete sie als Krankenschwester in Nairobi. Unser beider Bitten, sie möge doch zurückkehren, ließen sie ungerührt.
Der erste Schmerz nach ihrem Weggehen war so weit abgeklungen, daß ich ihn zumindest nicht mehr in jeder wachen Minute spürte. In immer längeren Abständen kam er wieder und quälte mich. Aber dann hatte ich sie wieder so vor Augen, wie sie zu Anfang war, und der Hunger wurde beinahe unerträglich. Es war nicht schwer, ein Mädchen zum Reden, eins zum Arbeiten und eins fürs Bett zu finden, aber so gut wie ausgeschlossen, eine ideale Partnerin wie Caroline zu entdecken, die alle drei Voraussetzungen erfüllte. So hatte mich im letzten Jahr das Gefühl des Alleinseins, statt abzuklingen, immer mehr eingehüllt. Es lag schon in der Natur meines Berufs, daß ich mich absonderte, und ich hatte niemanden, zu dem ich nach Hause kommen, dem ich mich mitteilen, für den ich sorgen konnte. Die Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit, die Leere reichte bis an die Wurzeln meines Seins. Vor mir lag nichts als eine endlose Zahl von Jahren voller Monotonie, die ich jetzt schon kaum ertragen konnte.
Die Kunden an dem großen Schreibtisch erhoben sich und verabschiedeten sich mit einem Händedruck. Der Sekretär führte den Mann zur Audienz, der vor mir mit dem >Big Boss< verabredet war. Ich wartete geduldig weiter. Ich war es ja gewöhnt.
Die Überprüfung des Kahns in Henley hatte nichts weiter ergeben als zehn verschiedene Arten von Fingerabdrücken, von denen die obersten und deutlichsten Peter gehörten. Das Taschentuch mit dem Yogi-Bären war unterwegs zu den Herstellern. Wir hegten die schwache Hoffnung, daß uns vielleicht einer von ihnen sagen konnte, wohin es verkauft worden war. Dave Teller hatte bei einem kurzen Besuch nur matt gemurmelt, ich solle alle Rechnungen an ihn schicken. Die Düsenmaschine war um 15.00 Uhr — britische Sommerzeit — vom Flughafen Heathrow gestartet und um 15.10 Uhr auf dem Kennedy-Flughafen gelandet. Die Buttress — Lebensversicherung hatte um 18.00 Uhr Geschäftsschluß, also blieb mir immer noch eine halbe Stunde. In den Straßenschluchten draußen kroch die Temperatur um einen weiteren Grad — bis auf 38 °Celsius hinauf.
Dann war ich an der Reihe. Der Gewaltige erhob sich hinter seinem Schreibtisch, hielt mir seine trockene, schlaffe Hand hin und schenkte mir das aufrichtige Lächeln des erfahrenen Versicherungsdirektors. Nachdem er mir den tiefen, bequemen Sessel neben seinem Tisch angeboten hatte, nahm er selbst auch wieder Platz und griff nach dem Telegramm, das sein Sekretär ihm diskret gereicht hatte. Zwischen uns stand ein polierter Klotz aus Edelholz, der mich mit hübschen goldenen Buchstaben unterrichtete, daß ich es mit Mr. Paul M. Zeissen zu tun hatte.
«Wir haben von Mr. Teller ein Telegramm erhalten«, begann er mit einem ganz leisen abweisenden Unterton.
Ich nickte. Ich hatte es selbst aufgegeben.
«Unsere eigenen Ermittlungsbeamten sind erfahrene Fachleute. «Es paßte ihm nicht, daß ich gekommen war, andererseits wollte er gern Tellers Versicherungen behalten. Seine Höflichkeit wirkte ein wenig erzwungen.
Ich beruhigte ihn — mehr aus alter Gewohnheit als aus anderen Gründen.
«Selbstverständlich. Bitte, betrachten Sie mich einfach als zusätzliche Hilfskraft. Mr. Teller hat mich zu dieser Reise überredet, weil er sich drüben in England leider ein Bein gebrochen hat und für die nächsten Wochen im Krankenhaus festliegt. Er beauftragte mich als persönlichen Freund ohne besondere Hintergedanken — ich soll ihn hier sozusagen vertreten. Nur zusehen, ob ich vielleicht in irgendeiner Form behilflich sein kann. Das soll natürlich nicht bedeuten, daß er mit Ihrer Firma unzufrieden wäre.«
Ich legte eine kleine Pause ein.»Wenn er an jemandem Kritik übt, dann höchstens an der Polizei.«
Mr. Zeissens Lächeln wurde von innen heraus ein wenig wärmer, aber wenn jemand in einer Versicherungsgesellschaft zu leitender Position aufsteigt, dann glaubt er ohnehin nur die Hälfte dessen, was er hört. Mir war das recht. Die Hälfte dessen, was ich sagte, stimmte. Oder es war zumindest zur Hälfte wahr.
«Es ist Mr. Teller doch wohl klar, daß es in unserem eigenen Interesse liegt, das Pferd wiederzufinden?«meinte er.
«Natürlich«, sagte ich.»Mr. Teller hofft sehr, daß Sie damit Erfolg haben, weil das Pferd unersetzlich ist. Das Pferd wäre ihm unendlich lieber als die Versicherungssumme.«
«Eineinhalb Millionen«, bemerkte Zeissen ehrfürchtig.
«Auf vier Beinen sind sie ihm lieber«, versicherte ich.
Jetzt erst schien ich ihm etwas willkommener zu sein. Nachdem er zuerst den verletzten Stolz hinuntergeschluckt hatte, wurde ihm klar, daß die Gesellschaft nichts zu verlieren hatte, wenn sie mich mitmachen ließ.
«Den Fall Chrysalis bearbeitet einer unserer besten Männer, Walt Prensela«, sagte er.»Er wird Sie informieren, und er weiß, daß Sie kommen. Ich habe ihm eine Aktennotiz und eine Kopie des Telegramms zugehen lassen.«
Er schaltete die Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch ein.
«Walt? Ich habe Mr. Hawkins aus England hier. Kann er jetzt vielleicht auf einen Sprung zu Ihnen hinaufkommen?«
Diese höfliche Frage stellte die typisch amerikanische Form einer ebenso höflichen Anweisung dar. Natürlich hatte Mr. Prensela nichts einzuwenden. Zeissen legte den Schalter um und erhob sich.
«Walt hat sein Büro im nächsten Stock, Nummer 47. Kann Ihnen jeder zeigen. Würden Sie sich jetzt zu ihm bemühen?«
Ich bemühte mich.
Wenn ich erwartet hatte, in Nummer 47 auch so einen Kerl mit gesträubtem Gefieder anzutreffen, so sah ich mich getäuscht. Walt hatte seine Hausaufgaben nämlich gemacht, obgleich ich mir dessen zuerst nicht so sicher war. Er begrüßte mich sachlich und ohne Überschwang, deutete auf den freien Stuhl und setzte sich wieder. Einschließlich Händedruck dauerte das nicht länger als fünf Sekunden. Nach meiner Schätzung war er ungefähr in meinem Alter, aber ein gutes Stück kleiner und viel dicker. Seine kräftigen, viereckigen Hände hatten so kurze Nägel, daß die Fingerkuppen überzuquellen schienen. Sein Schädelbau deutete auf mitteleuropäische Vorfahren hin; er hatte kurz geschnittenes, braun-graues Haar und tiefsitzende braune Augen, die dasselbe ausdrückten wie bei seinem Chef eine Etage tiefer: Ich glaub’ dir kein Wort! Nur deutlicher.
«Also, Gene — Sie haben einen weiten Weg hinter sich«, sagte er weder freundlich noch unfreundlich.
«Es war Dave Tellers Idee«, sagte ich sanft.
«Pferde suchen — machen Sie das öfter?«Seine Stimme klang tonlos und verriet gar nichts.
«Eigentlich nicht. Und Sie, Walt?«
Seine Nasenflügel zuckten.»Wenn Sie damit fragen wollen, ob ich es war, der die beiden anderen auch nicht gefunden hat — nein, das war ich nicht.«
Ich versuchte es mit einem Lächeln, aber er verzog keine Miene, Er sagte:»Die Firma >Buttress< mußte vor drei Jahren für Allyx bezahlen. Eine Million sechshundertdreiundvierzig-tausendsiebenhundertneunundzwanzig Dollar, vielleicht ein paar Cents mehr oder weniger. Showman, das erste Pferd, war bei einer anderen Gesellschaft versichert.«
«Zufall oder Absicht?«murmelte ich vor mich hin.
Er rieb sich mit dem linken Daumen über die gerundeten Fingerkuppen. Diese Geste sollte ich noch hundertmal zu sehen bekommen.
«Da Sie gekommen sind — Absicht. Ein Plan. Vorher war ich nicht ganz sicher.«
«Offiziell habe ich Urlaub«, wehrte ich ab.»Ich bin nur gekommen, weil mich Teller darum bat. Das dürfen Sie nicht zu wichtig nehmen.«
Er sah mir ironisch in die Augen.
«Ich hab’ mich nach Ihnen erkundigt«, erklärte er und spielte mit der Kopie des Telegramms, die auf seinem Schreibtisch lag.»Ich wollte wissen, was für einen Wichtigtuer man mir da angehängt hat.«
Ich schwieg. Er machte aus dem Mundwinkel ein schnalzendes Geräusch, das gleichzeitig Verstehen, Resignation und Zustimmung ausdrückte.
«Ein Ermittlungsbeamter«, sagte er.»Wie kam Teller denn auf Sie?«
«Wie kamen Sie denn auf mich?«konterte ich.
«Ich habe an zwei verschiedenen Stellen Ihren Namen erwähnt«, antwortete er.»Beim FBI und beim CIA. In beiden Fällen war die Reaktion positiv. Hab’ dort recht brauchbare Freunde, die erzählten mir das Nötigste. Anscheinend legen Sie Leuten, die Spione in gewissen Regierungsämtern oder in Labors für biologische Kriegsführung unterbringen wollen, Steine in den Weg, und Sie haben auf diesem Gebiet unseren Leuten in Fort Detrick recht nützliche Warnungen zukommen lassen. Man erzählt sich, die andere Seite hätte ein- oder zweimal mit etwas rüden Methoden versucht, Sie abzuschrecken. «Er seufzte.»Nach Ansicht unserer Boys sind Sie in Ordnung. Und wie!«
«Und wie denken Sie darüber?«
«Man sagt, Sie stehen nicht gern im Scheinwerferlicht.«
«Das können Sie haben.«
«Mir kommt’s nur darauf an, daß ich gegenüber >Buttress< gut dastehe.«
Mein zustimmendes Nicken befriedigte ihn. Wenn wir das Pferd fanden, dann sollte er ruhig die Glückwünsche entgegennehmen.
«Dann bringen Sie mich bitte auf den neuesten Stand«, bat ich.»Wie ist Chrysalis verschwunden?«
Walt schaute auf seine Uhr und verglich die Zeit mit der elektrischen Wanduhr. Das kleine, zellenähnliche Büro hatte kein Fenster. Die einzige Fensterscheibe führte zum Flur. Obgleich es hier angenehm kühl war, schien es doch nicht der rechte Ort für eine Unterhaltung zu sein, wenn man nicht unbedingt mußte.
«Fünf nach sechs«, stellte Walt fest.»Haben Sie noch etwas vor?«
«Kennen Sie eine nette Bar?«schlug ich vor.
«Ein Gedankenleser!«Er schickte einen Verzweiflungsblick gen Himmel.»Einen Häuserblock den Broadway rauf wäre >Delaneys<.«
Wir traten aus dem vollklimatisierten Gebäude in die Hitze der Straße hinaus. Der Temperaturunterschied betrug gut und gern zwanzig Grad. Da die Luftfeuchtigkeit sicher auch bei 98 Prozent lag, war man nach hundert Schritten naßgeschwitzt. Mir machte das nichts aus. New York in einer Hitzewelle ist mir immer noch lieber als New York bei Schneesturm. Hitze mag ich lieber als Kälte. Kälte geht bis auf die Knochen, lahmt den Verstand und raubt einem die Willenskraft. Falls meine Niedergeschlagenheit zum Winter hin noch zunahm, dann kam mit dem ersten Schnee sicherlich die Katastrophe.
>Delaneys Bar< quoll über von Menschen, da irgendeine geschäftliche Tagung anscheinend gerade Feierabend gemacht hatte. Am Aufschlag eines jeden Geschäftsanzugs prangte ein längliches Namensschildchen, und auf jedem Gesicht verdeckte ein zuversichtliches Lächeln die innere Besorgnis. Die Kerntruppe dieses Klubs hielt sich noch auf dem Bürgersteig auf, aber ihre Vorhut erstreckte sich schon bis in die Dämmerung der kühlen Bar. Schwierig, da durchzukommen. Und ganz ausgeschlossen, sich in diesem Trubel zu unterhalten.
«Wie wär’s mit Ihrem Hotel? Wo sind Sie abgestiegen?«fragte Walt.
«Im >Biltmore<.«
Walts Augenbrauen schoben sich um glatt fünf Zentimeter in die Höhe.
«Teller bezahlt alles«, erklärte ich.»Er hat dort ein Konto.«
«Wie haben Sie denn das angestellt? Haben Sie ihm das Leben gerettet?«
Ich ging auf seinen sarkastischen Ton ein.»Sechsmal.«
«Er muß wirklich glauben, daß Sie ihm das Pferd wieder herschaffen können«, meinte Walt nachdenklich.
«Wir«, berichtigte ich.
«Nein. Sie. Es gibt keine Spur. Ich hab’ mich überall umgesehen.«
Ein farbiger Taxifahrer mit hochgerollten Hemdsärmeln brachte uns in mein Hotel. Wenn er beschleunigte, blies uns durch das offene Seitenfenster jedesmal ein Schwall warmer Luft ins Gesicht. Die Stadt schien unter der unbarmherzigen Sonne ihr Tempo verringert zu haben, und an den
Straßenrändern glaubte ich mehr Müll als sonst zu sehen.
«Eine dreckige Stadt«, bemerkte Walt. Er schien sie durch meine Augen zu sehen.»Da lobe ich mir Chicago.«
«Zu kalt«, sagte ich automatisch.»Schön, aber viel zu kalt. Dieser eisige Wind vom See her…«
«Seid ihr beide aus Chicago?«unterbrach mich der Taxifahrer.»Ich bin dort geboren, am Loop.«
Walt unterhielt sich mit ihm darüber. Ich glitt in einen angenehmen Dämmerzustand hinüber, in dem mir der Taxifahrer ebenso gleichgültig war wie Walt, Dave Teller, Caroline oder sonst jemand auf der Welt.
Im >Biltmore< gingen wir auf mein Zimmer. Mit einiger Mühe betätigte ich mich als Gastgeber, klingelte nach einer Flasche Scotch und Eis, kümmerte mich um die Klimaanlage, Feuerzeug, Aschenbecher. Walt lockerte seinen Schlips und nahm einen Probeschluck.
«Sie sehen erschossen aus«, sagte er.
«Mein Normalzustand.«
«Für Sie ist wahrscheinlich schon Mitternacht.«
«Wahrscheinlich.«
Wir tranken, und es entstand eine längere Pause. Dann setzte er sich in dem weißen Ledersessel bequemer und sagte:»Wollen Sie nun etwas über den Gaul wissen oder nicht?«
«Klar. «Selbst mich erschreckte der gelangweilte Ton meiner Stimme. Er machte ein verwundertes Gesicht, wurde nachdenklich und begann schließlich ganz nüchtern zu berichten.
«Der Hengst wurde in einem Pferdetransporter vom Kennedy-Flughafen nach Lexington im Bundesstaat Kentucky geschafft. Im Stall des Flughafens hatte er die vorgeschriebene Quarantäne von vierundzwanzig Stunden absolviert, zusammen mit sechs anderen Pferden, die mit derselben Maschine angekommen waren. Man lud Chrysalis und vier andere Gäule in den Transporter und fuhr sie auf der >Pennsylvania Turnpike<, der schnellen Autobahn, von New York aus westwärts.«
«Wann?«
«Abfahrt vom Kennedy-Flughafen um 16.00 Uhr am Montag. Das war vorige Woche — heute genau vor einer Woche. Am Dienstag wollten sie um die Mittagszeit in Lexington sein. Siebenhundert Meilen.«
«Aufenthalte?«
«Tja, die Fahrtunterbrechungen«, sagte Walt,»damit fängt der Ärger schon an. «Er ließ die Eiswürfel ans Glas klicken.»Die erste Essenspause legten sie in einer Raststätte in der Nähe von Allentown ein, das ist 85 Meilen von New York entfernt. Zu dem Transport gehörten vier Mann, zwei Fahrer und zwei Pferdepfleger. Die Fahrer vorn in der Kabine, die Betreuer hinten bei der Fracht. Während der ersten Pause aßen sie abwechselnd, erst die Fahrer, danach die Betreuer. Die Fahrer ärgerten die Pferdemänner, indem sie ihnen für ein anständiges Essen nicht genug Zeit ließen. Darüber gab es einen unschönen Streit.«
«Das sagen alle übereinstimmend aus?«
«Ja. Ich hab’ mir die vier einzeln vorgenommen. Jeder bemüht sich, den anderen die Schuld zuzuschieben. Nach der Rast fuhren sie noch etwa zweihundert Meilen bis Bedford, wo sie übernachteten. Dort war’s um keinen Deut besser. Der Streit hatte sich nicht abgekühlt, im Gegenteil.
Südlich von Pittsburgh bogen sie von der Autobahn auf die Bundesstraße 70 ab, fuhren bis Zanesville und nahmen von da aus die südwestliche Umgehung nach Cincinnati. Etwa fünfzig Meilen weiter bogen sie genau nach Süden ab, überquerten den Ohio-Fluß, wechselten nach Kentucky über und fuhren dann über Paris und die >Paris Turnpike< bis Lexington.«»Das muß ich mal auf einer Karte sehen«, sagte ich.
Er nickte.»Von Zanesville bis Paris fuhren sie auf Nebenstraßen, die aber natürlich alle befestigt waren. Klar? In Ohio wurde der Transporter geraubt, und jenseits der Staatengrenze, drüben in Kentucky, fand man ihn wieder. Darum hat’s auf beiden Seiten ‘ne Menge Krach gegeben.«
«Geraubt? Das erste, was ich höre!«
«Er wurde wahrscheinlich versehentlich überfallen. Eigentlich wollten die Burschen einen Schnapstransport erwischen, der etwa zwanzig Meilen hinter ihnen auf derselben Straße daherkam. Die Transporter sahen sehr ähnlich aus, gleiche Farbe, gleiche Größe, und keiner der beiden hatte deutliche Aufschriften an den Seiten.«
«Was passierte?«
«Am Dienstagmorgen aßen Fahrer und Pferdepfleger gleichzeitig, allerdings an den entgegengesetzten Enden des Tisches. Sie ließen die Pferde eine volle Viertelstunde lang unbeaufsichtigt, und in dieser Zeit fuhr einfach jemand mit der ganzen Fuhre auf und davon.«
«Aber die Fahrer hatten doch wenigstens abgeschlossen und die Schlüssel eingesteckt?«
«Sicher. Allerdings waren Experten am Werk. Sie haben die Zündung kurzgeschlossen.«
«Und dann?«
«Als die vier feststellten, daß der Transporter verschwunden war, riefen sie die Polizei an, aber der Wagen wurde erst am Mittwoch morgen abseits von der Straße entdeckt — hinter einem kleinen Hügel, so daß man ihn nicht sehen konnte. Aber ohne Pferde. Die Rampe war heruntergelassen, die Pferde auf und davon.«
«Mit Absicht.«
«Natürlich. Man hatte sie losgebunden, und die Halfter hingen noch im Transportwagen. Die Rennpferde liefen frei herum, ohne Zaum oder sonst etwas, woran man sie hätte festhalten können. In Kentucky meint man, die Pferde seien freigelassen worden, um die Polizei von der Fährte der Räuber abzulenken, weil zuerst die Gäule eingefangen werden mußten.«
«Und das hat funktioniert?«
«Klar. «Walt zeigte eine düstere Miene.»Die Besitzer machten ‘ne Menge Stunk. Die anderen Pferde waren genauso wertvoll wie Chrysalis. Aber nur Chrysalis war bei >Buttress< versichert.«
«Haben die anderen denn ihre Pferde wiederbekommen?«
«Alle. Nur Chrysalis war wie vom Erdboden verschwunden.«
«Woher wissen Sie, daß es die Räuber auf den Schnapstransport abgesehen hatten?«
«Das einzige, was sie in dem Pferdetransporter zurückgelassen haben, war ein zusammengeknülltes Stück Papier. Darauf war die genaue Zeit notiert, zu der dieser Schnapswagen täglich seine Tour fuhr.«
«Fingerabdrücke?«
«Handschuhe. Sogar beim Schreiben.«
Walt hatte vom Reden eine trockene Kehle bekommen. Ich füllte sein Glas neu und wurde unendlich schläfrig.
«Was halten Sie davon?«fragte er.
Ich zuckte die Achseln.»Sie hatten es eigentlich auf Chrysalis abgesehen. Die notierte Fahrzeit war nur Tarnung.«
«Aber warum? Wozu stiehlt man einen Hengst? Das kapieren wir alle miteinander nicht. Ich verstehe nicht viel von Pferden, mein normales Arbeitsgebiet sind unberechtigte Forderungen. Man hat mir diesen Fall nur zwischen ein paar Bagatellsachen untergejubelt, verstehen Sie? Aber selbst mir ist klar, daß der Name des Hengstes die hohen Deckgebühren bringt. Nehmen wir an, jemand hat Chrysalis geklaut — was hat er davon? Er kann doch nicht inserieren und seinen Namen anpreisen, also ist der Gaul für ihn keinen Cent wert. Wir haben schon daran gedacht, jemand ist vielleicht so verschroben, daß er den Hengst für sich allein haben will, wie zum Beispiel ein weltberühmtes Gemälde. Aber ein Bild kann man im Keller verstecken, ein Pferd nicht. Alles miteinander klingt so unlogisch.«
Dazu hatte ich meine eigenen Ansichten, aber ich sagte nur:»Was wurde eigentlich aus Allyx?«
«Das weiß ich nur aus den Akten. Heute morgen hab’ ich mir den Fall noch einmal angesehen. Allyx stammte aus Frankreich und war anscheinend einer der besten jungen Hengste ganz Europas. Als er herüberkam, war er neun Jahre alt und hatte bereits eine Siegesliste aufzuweisen, die länger war als Ihr Arm. Dave Teller war der führende Mann des Syndikats, das ihn erstanden hatte. Deshalb war der Hengst auch bei uns versichert, weil wir alle Aufträge von Teller bekommen. Allyx wurde wohlbehalten auf Tellers Gestüt abgeliefert. Damals gab’s keine Schwierigkeiten bei der Überführung. Dann brach eines Nachts in den Ställen Feuer aus, und man führte die Pferde alle in einen kleinen Pferch hinaus.«
«Und als man sie wieder hereinholen wollte, waren sie nicht mehr da?«
Er nickte.»Die Einfriedung war an einer Stelle niedergebrochen. Keiner wußte etwas davon. Die übrigen Pferde hat man vollzählig wieder eingefangen, wenn auch teilweise erst nach Tagen. Aber keine Spur von Allyx. Die Firma mußte sich mit der Tatsache abfinden, daß er wahrscheinlich bis in die Vorberge der Appalachen geraten war und sich möglicherweise das Genick gebrochen hatte. So mußte die Versicherungssumme ausbezahlt werden.«
«Was war mit dem Feuer?«»Damals schöpfte man anscheinend keinerlei Verdacht. Einer unserer besten Leute untersuchte den Fall und entdeckte keine Hinweise auf Brandstiftung. Aber einen Stall kann man leicht anzünden. Man braucht nur irgendwo eine Zigarettenkippe ins Stroh fallen zu lassen, das hinterlässt keine verdächtigen Spuren. Von Kerosin war beispielsweise nie die Rede. Alle waren der Meinung, daß es sich um einen Unfall handelte.«
Ich lächelte ein wenig.»Und wie war’s bei Showman?«
Walt schüttelte den Kopf.»Ich weiß nicht, auf welche Weise der losgekommen ist. Aber ihn hat man gefunden, wenn auch tot. Muß schon eine ganze Weile dagelegen haben, glaube ich.«
«Wo?«
«In den Appalachen. Er kam aus derselben Gegend wie die anderen. Aber in Lexington gibt’s schließlich mehr Gestüte als sonstwo in den Staaten, also hat das nicht viel zu bedeuten.«
«Sie waren vergangene Woche in Lexington?«
Er nickte.»Ich flog am Mittwoch hin, als uns Mrs. Teller anrief.«
«Die Frau von Dave Teller?«
«Mhm. «Seiner Miene merkte ich an, daß Dave Tellers Frau auf ihn Eindruck gemacht haben mußte.»Sie stammt aus England, genau wie Sie.«
«Ich fahre morgen hin«, sagte ich und beobachtete, wie er sich nach einigem Zögern entschloß, mir nichts über sie zu erzählen. Statt dessen warf er einen Blick auf seine Uhr, stellte das Glas hin und erhob sich.
«Ich muß jetzt gehen«, sagte er.»Wir haben Hochzeitstag, da hat meine Frau sicher etwas Besonderes vorbereitet.«
«Ich lasse mich bei ihr entschuldigen, weil ich Sie aufgehalten habe.«
«Schon gut. Es paßte zeitlich gut. Ich nehme einen Zug von der Grand Central Station, das ist praktisch hier im Keller. In
einer Viertelstunde fährt mein Zug.«
Ich begleitete ihn an die Tür.
«Walt — hätten Sie Zeit, mich morgen früh nach Lexington zu begleiten?«Als er zögerte, fügte ich hinzu:»Es hat doch keinen Sinn, daß ich alles noch einmal erkunde. Mir wär’s lieber, wenn ich Sie dabei hätte.«
«Gern, Gene«, sagte er allzu höflich. Ich dachte: Zum Teufel mit dir, Walt, zum Teufel mit allem, zum Teufel mit mir, aber nun hab’ ich diese alberne Pferdegeschichte für die nächsten drei Wochen am Hals, und wenn ich sage, du kommst mit, dann kommst du eben mit. Ich verbarg diese Aufwallung vor ihm, indem ich mich abwandte und die Tür öffnete. Sein Zögern konnte ich gut verstehen, denn wer tut schon gern dieselbe Arbeit doppelt, insbesondere unter den kritischen Blicken eines hereingeschneiten ausländischen Wichtigtuers? Er gab mir die Hand.
«Ich ruf Sie morgen früh an«, sagte er und hatte seine Empfindungen besser unter Kontrolle als ich.
«Halb acht?«
«Einverstanden. «Seine Backenmuskulatur entspannte sich ein wenig. Fast sah es danach aus, als sollte sich daraus ein Lächeln entwickeln, aber es kam nicht so recht zustande. Er deutete mit seinen breiten Fingern einen lässigen militärischen Gruß an und schlenderte dann ohne besondere Eile den Gang entlang.
Zum Abendessen leistete ich mir im Restaurant des Hotels ein Steak. Ein altes Sprichwort sagt, man soll westlich von Nebraska nie ein Steak essen. Die Rinder wurden in den Prärien gezüchtet und nach Osten auf die Märkte gebracht. Erst wenn sie unterwegs durch die Maisfelder Nebraskas kamen, wurden sie fett genug, um geschlachtet zu werden. In New York gibt’s meist herrliche Steaks, aber die sind sicher nicht zu Fuß durch den Lincoln-Tunnel hereingekommen. Dafür gibt es
Ferntransporte — auch die Diebe von Allyx und Chrysalis mußten dieses Problem des Ferntransports lösen. Man kann schließlich nicht auf einem Hengst die Fernstraßen entlangreiten. Zudem gehen die Biester nach jahrelanger Arbeit als Zuchthengst nicht mehr so gut unter dem Sattel, selbst wenn es vorher recht ordentliche Reitpferde waren.
Nachtklubs üben auf mich etwa dieselbe Anziehungskraft aus wie ein verregneter Montag in Manchester, und ich war viel zu apathisch, um einen Blick in den Veranstaltungskalender zu werfen. So ging ich nach dem Abendessen nach oben und holte eine Menge versäumten Schlaf nach. Gemeinerweise wurde ich gegen zwei Uhr nachts wieder wach — todmüde, aber ruhelos.
Aus alter Gewohnheit hatte ich die Parabellum wieder unter mein Kopfkissen geschoben.
Es wurde wieder einmal eine lange Nacht.