Der Name des Eigentümers stand auf einem kleinen Metallschild, das im Heck des Kahns angeschraubt war. Der Schleusenwärter erklärte auf unsere Frage, der Kahn stamme von einem Bootsverleih etwa eine Meile flußabwärts, gleich neben einer Wirtschaft, man könne es nicht übersehen.
«Das war da, wo wir heute morgen die Rast einlegten«, raunte ich Keeble zu.
Er blinzelte rasch, dann sagte er zu dem Schleusenwärter:»Vermutlich passieren eine Menge Kähne von dort Ihre Schleuse.«
«Klar, ganz besonders an einem so schönen Sonntag.«
«Ist Ihnen dieser hier zufällig aufgefallen? Mit einem Jungen und einem Mädchen drin? Das Mädchen hatte langes, blondes Haar, eine weiße Hose und ein rosa Hemd, der Junge trug enge, blaßblaue Jeans und ein gelb-rot kariertes Hemd.«
«Ich glaube, die sind vor der Mittagspause vorbeigekommen. Jedenfalls erinnere ich mich nicht daran, daß ich sie am Nachmittag gesehen hätte.«
Der Schleusenwärter schob sich die weiße Mütze in den Nacken und betrachtete die Boote, die sich vor der Schleuse anstellten. Er war noch ein ziemlich junger Mann mit einer Geduld wie ein Maultier. Das rührte wohl daher, daß er tagein, tagaus mit einer endlosen Kette von Anfängern zu tun hatte. Er hatte ganz sachlich erklärt, daß an jedem Tag Leute in seine Schleuse purzelten. Beinahe Ertrunkene interessierten ihn nicht sonderlich, dafür hatte er zu oft mit den Nichtgeretteten zu tun.
«Würden Sie die beiden wiedererkennen?«fragte Keeble.
Der Mann schüttelte ganz entschieden den Kopf.»Ausgeschlossen. Und wenn ich jetzt nicht gleich zu meiner Schleuse
zurückkehre, dann werden die da unten so nervös, daß wir wahrscheinlich noch einen rausfischen müssen.«
Er tippte sich an die Mütze — ein Abschiedsgruß für mich als einen der wenigen, die über sein Wehr gegangen waren und es überlebt hatten, dann schlenderte er ohne besondere Hast davon und begann sich wieder dem rückflutenden Sonntagsverkehr zu widmen.
«Wir nehmen den Flußkahn am besten mit zurück zum Bootsverleih«, sagte Keeble rücksichtsvoll.»Wir kommen ohnehin dort vorbei, und an einem so geschäftigen Wochenende haben die doch niemanden frei, der ihn abholen könnte. Vielleicht wissen sie, woher der Junge und das Mädchen kamen.«
Vielleicht auch nicht, dachte ich. Aber man muß auch der aussichtslosesten Spur nachgehen.
«Ich möchte mir den Pfahl noch ansehen«, sagte ich.
Keeble hatte nichts dagegen, aber Lynnie, Peter und ihre Mutter waren entsetzt, als sie hörten, was wir vorhatten. Sie wollten lieber am Ufer warten. In Reih und Glied bewachten sie den Kahn und sahen uns ängstlich zu, wie Keeble das Boot geschickt ein Stück flußaufwärts zwischen den entgegenkommenden Schiffen durchmanövrierte und es dann langsam auf den Pfahl zutreiben ließ. Ich stand im Heck und hielt mich an dem Brett mit der ominösen Warnung fest, während Keeble den Rückwärtsgang einlegte, um gegen die rasche Strömung anzugehen.
Sobald die Maschine rasch genug drehte, um das Boot gegen die Strömung zu halten, ließ die Spannung in meinen Armen nach; ich kniete mich auf den Sitz und rekonstruierte, was das Mädchen vorhin versucht hatte: eine Leine hinter dem Pfosten durchzuziehen. Die Neigung der zwei Tonnen schweren >Flying Linnet< abzutreiben, kann kaum weniger Schwierigkeiten bereitet haben als der leichte Kahn, aber ich konnte sie leicht festhalten, auch wenn ich berücksichtigte, daß meine Arme länger und kräftiger waren. Ich befestigte die Leine und gab Keeble ein Zeichen. Er stoppte die Maschine. Dann klemmte ich meine große Zehe fest unter eine Kante, schob die Ärmel des braunen Pullovers hoch und beugte mich weit über die Bordwand, um mir die Sache aus der Nähe anzusehen.
«Seien Sie um Himmels willen vorsichtig!«rief Keeble mir durch das Rauschen des Wehrs zu.
Ich drehte mich um und lachte ihn an.
«Ich habe sonst keine trockenen Sachen mehr«, knurrte er.»Jedenfalls nichts, was Ihnen paßt. Wenn Sie noch einmal ins Wasser fallen, fahren Sie naß nach Hause.«
Lächelnd wandte ich mich wieder dem Pfahl zu. Aber so sorgfältig ich ihn auch abtastete, an dem kräftigen, weißgestrichenen Balken war nichts Ungewöhnliches zu entdecken.
Achselzuckend meinte Keeble:»Hab’s Ihnen ja gleich gesagt. «Dann steuerte er das Schiff zurück ans Ufer.
«Sollen wir den Kahn nach Fingerabdrücken untersuchen?«fragte ich.
«Sie sind ein hartnäckiger Bursche.«
«Darüber sollten Sie doch froh sein.«
Wir beide erinnerten uns an eine lange Reihe von Fällen, in denen meine Hartnäckigkeit uns reiche Ernte eingetragen hatte. Ich merkte, wie er unsicher wurde.
«Schön, Gene, wenn Sie so sicher sind.«
«Lassen Sie Raben ran, er macht’s am besten.«
«Gut. Gleich morgen.«
«Und die Polizei?«
Er schob die Lippen vor.»Das ist nicht unser normales Betätigungsfeld. Schon eher ihres, das gebe ich zu. Aber sie werden unsere Theorie wahrscheinlich doch nicht ernst nehmen. Sie tun nur etwas, wenn wir ihnen sagen, wer wir sind, und sie damit beeindrucken. Nein, das gefällt mir gar nicht. Ich denke, wir behalten diese Sache vorerst für uns.«
«Damit wir uns nicht vor aller Welt blamieren, falls nichts dabei herauskommt?«
Seine Gesichtsmuskeln spannten sich eine Sekunde lang.»Sie werden nicht dafür bezahlt, Ihren sechsten Sinn gegen Ihren Chef einzusetzen.«
«Wahrscheinlich doch.«
«Gutes Argument.«
Das Boot scharrte sanft am Ufer entlang. Ich half Joan und Lynnie beim Einsteigen. Peter kletterte auf Anweisung seines Vaters in den Kahn und reichte ihm die Halteleine. Keeble machte sie in der Klampe im Heck der >Flying Linnet< fest. Dann glitten wir, mit dem Kahn im Schlepp, in die Schleuse, teilten dem Schleusenwärter unsere Absicht mit und fuhren stromabwärts zu dem Bootsverleih mit der benachbarten Wirtschaft.
Ein aufgeregter Bootswärter bemühte sich hier, mit den zurückkehrenden Familienausflüglern und ein paar Jungen und Mädchen fertig zu werden, die sich die halbe Stunde bis zur Öffnung der Wirtschaft um sieben Uhr vertreiben wollten. Die Nachmittagssonne schimmerte rötlich auf seiner spiegelnden Glatze. Wir mußten warten, bis er seine Fahrgäste behutsam in die Boote oder heraus bugsiert, ihr Geld entgegengenommen und die jungen Pärchen darauf aufmerksam gemacht hatte, daß man nach Einbruch der Dämmerung nicht mehr ohne Positionslichter auf der Themse fahren dürfe und daß der Bootsverleih ohnehin um 21.30 Uhr schließe.
Endlich fand Keeble Gelegenheit, sich bei dem Mann zu erkundigen, ob er ein blondes Mädchen und einen Jungen in einem gelb-rot karierten Hemd gesehen habe, die am Morgen einen flachen Flußkahn mieteten.
«Ob ich die gesehen hab’? Denk’ schon, war ja den ganzen Tag hier.«
«Erinnern Sie sich an die beiden?«fragte Keeble geduldig.
«Wo sind sie denn?«Der Bootsbesitzer schaute sich mißtrauisch um.
«Sie sind fort«, antwortete Keeble.
«Und wer bezahlt mich dann?«rief der Bootsverleiher in einem Ton, als wollte er sagen: Auch das noch! Jetzt ist es aber genug!
«Ich komme schon dafür auf«, beruhigte ihn Keeble und zog aus einer Gesäßtasche die wie üblich prall gefüllte Brieftasche. Keeble hatte es nicht nötig, von dem Gehalt zu leben, das Ihre Majestät ihm bezahlte. Er arbeitete aus Überzeugung und nicht, weil er mußte; sein Taschengeld war höher als mein Wochenlohn, und sein Schiff hätte mich ein Jahresgehalt gekostet.
«Was sind Ihnen die beiden denn schuldig?«Er bezahlte die geforderte Summe und legte noch fünf Pfund drauf.
«Ich möchte das Boot gerne bis morgen mieten. Haben Sie etwas dagegen?«
Der Bootsverleiher nahm ohne zu zögern das Geld an und tat, als müsse er sich das noch einmal überlegen.
«Wohin wollen Sie das Boot denn mitnehmen?«fragte er vorsichtig.
«Nach Henley.«
«Und Sie lassen auch nicht die Kissen draußen, falls es regnet?«
Keeble schüttelte den Kopf.
«Na schön. «Er hatte die Geldscheine bereits eingesteckt.»Und morgen bringen Sie es mir zurück?«
«Morgen nachmittag. Was die beiden jungen Leute von heute morgen betrifft…«
Unerwarteterweise leuchtete das Gesicht des Mannes plötzlich auf.»Jetzt fällt’s mir wieder ein!«rief er.»Das waren doch die beiden, die gar nicht miteinander wegfahren sollten!«
«Wie meinen Sie das?«fragte Keeble.
«Nun ja, das Mädchen sagte so etwas wie: Wenn ihr alter Herr ihnen nun Detektive nachgeschickt habe? Was würde er wohl sagen, wenn er hörte, daß sie den ganzen Tag in einem Kahn mit ihm weggefahren sei? Und sie wolle nur mitkommen, wenn man ihr daraus nicht für eine Scheidung etwas anhängen könne. Der Junge in dem gescheckten Hemd drehte sich um und sagte, der alte Geldsack, womit er wohl ihren alten Herrn meinte, der würde ja doch nie herausfinden, wo sie waren, schließlich sei er doch geschäftlich in Frankreich, oder irgendwo, nicht wahr? Da merkten sie, daß ich dicht danebenstand und ihnen zuhörte. Sie stießen sich an und waren still. Ich könnt’ mir denken, daß die beiden aufn kleinen Seitensprung aus waren, und keiner sollte sie dabei erwischen.«
«Genau!«sagte Keeble und nickte mir zu: Ich hab’s ja gleich gesagt!
«Und sehr geschickt gemacht«, stimmte ich ihm zu.
«Meisterhaft!«
«Ich nehme an, Sie haben die beiden seit heute morgen nicht mehr gesehen, wie?«fragte Keeble den Bootsverleiher.»Wissen Sie zufällig, wie sie hierhergekommen sind?«
«Mit dem Auto. «Er machte eine weit ausholende Handbewegung.»Sie kamen da hinten vom Parkplatz.«
«Sie wissen nicht, mit welchem Wagen?«
Er sah Keeble mitleidig an.»Hören Sie, der Parkplatz gehört der Wirtschaft und uns, da ist ein ewiges Kommen und Gehen. Und ich hab’ meine Augen hier unten am Fluß und wirklich alle Hände voll zu tun. Ich kann Ihnen wirklich nicht sagen, wann und mit welcher Kiste die Leute kommen oder gehen, aber sie müssen mit dem Wagen gekommen sein, weil sie am Morgen schon hier waren, und am Sonntag kommt vor halb zwei Uhr nachmittags kein Bus vorbei.«
«Jedenfalls vielen Dank«, sagte Keeble seufzend.»Sie haben mir sehr geholfen. «Er fügte der ohnehin schon großzügig bemessenen Bezahlung noch ein Pfund hinzu. Der Bootsmann warf einen raschen Blick auf die Uhr an der Wirtschaft. Noch zehn Minuten bis zur Öffnung der Bar. Ich wollte sie ihm gern vertreiben helfen.
«Hat einer der beiden mit einem besonderen Akzent gesprochen?«fragte ich.
Da der Bootsverleiher selbst einen breiten Berkshire-Akzent sprach, war sein Zögern verständlich.»Sie haben genauso gesprochen wie die Ansager im Flimmerkasten«, sagte er nach einigem Nachdenken.
«Das hilft uns auch nicht weiter«, bemerkte Keeble.
«Wie machen Sie die Enden der Leinen Ihrer Boote fest?«erkundigte ich mich.
«Wie?«fragte der Bootsverleiher verwirrt.
«Umwickeln Sie die Enden der Taue, damit sie nicht auffasern?«
«Ach, jetzt versteh’ ich! Nein, wir spleißen sie. Die Enden werden umgeschlagen und eingeflochten. Umwickeln taugt nichts, das geht zu leicht wieder auf.«
Ich wickelte die Leine des Kahns von der Heckklampe der >Flying Linnetc.»Dieses Tau fasert aber auf.«
«Zeigen Sie mal«, sagte er argwöhnisch. Ich reichte ihm das Tauende. Er drehte die offenen Fasern der Leine zwischen seinen kräftigen, schmutzigen Fingern und betrachtete sie mit einer Mischung aus Wut und Resignation.
«Diese verdammten Vandalen! Entschuldigung, Madam!«murmelte er mit einem Blick auf Joan.»Diese — hm — die machen den Kahn an einem Baum oder an etwas anderem fest, und wenn’s wieder weitergehen soll, dann kriegen sie den Knoten nicht mehr auf, weil die Leine naß ist. Sie geben sich gar keine Mühe, sondern schneiden das Ende einfach ab und fahren weiter.«
«Kommt das oft vor?«
«Damit gibt’s jeden Sommer ein paarmal Ärger. «Er zog die Leine gerade und maß sie mit einem Blick.»Da fehlen gut vier oder fünf Fuß an der Länge, würde ich sagen. Wir wollten schon Ketten nehmen, aber die können sich ganz furchtbar verknoten, die Ketten. Hören Sie«, fügte er, zu Keeble gewandt, hinzu,»nehmen Sie lieber einen anderen Kahn, bei dem die Leine in Ordnung ist.«
«Der hier reicht uns schon«, sagte Keeble und machte die Leine wieder fest.»Bis morgen dann.«
Er schleppte den Flachkahn bis Henley und zog ihn in das garagenähnliche Bootshaus, das den englischen Sommer vom Lack der >Flying Linnet< fernhielt. Zusammen mit Peter sicherte er den Kahn längsseits. Dann gingen alle über eine schmale Laufplanke von Bord, wobei jeder ein Souvenir von der Fahrt mitbrachte: Überreste des Lunchs, Zeitungen, Badetücher, ich meine nassen Sachen und das eisenbeschwerte Jackett. Durch das Bootshaus gingen wir zu Keebles Rover, der auf dem netten Grasplatz dahinter parkte.
Peter war am meisten um seine kostbare Kamera besorgt, die er jetzt wieder um den Hals hängen hatte.
«Sag mal«, fragte ich ihn beiläufig,»du hast nicht zufällig da droben am Wehr einen Schnappschuß gemacht? Vielleicht von den beiden jungen Leuten in dem Kahn?«
Er schüttelte den Kopf und blinzelte wie sein Vater.
«Herr im Himmel, nein. Wahrscheinlich hätt’ ich nicht einmal an ein Foto gedacht, als das alles passiert ist. Sie vielleicht? Ich meine, das hätte doch komisch ausgesehen, wenn ich mich hinstelle und knipse und alles, während Sie und Mr. Teller ertrinken.«
«Du wirst nie ein rechter Zeitungsreporter«, sagte ich grienend.
«Sie hätten es mir also nicht übelgenommen?«
«Ich glaube nicht.«
«Jedenfalls konnte ich auch nicht«, sagte er betrübt.
«Ich hatte schon zu Mittag den Film verknipst. Selbst wenn ein Großfeuer oder so was ausgebrochen wäre, ich hätt’s nicht fotografieren können. «Er betrachtete nachdenklich seinen Fotoapparat.»Ich werde nie wieder einen Film mitten am Tag schon leerknipsen. Man kann ja nicht wissen, was noch kommt.«
«Ein Großfeuer, zum Beispiel«, sagte ich ernsthaft.»Das gibt jedenfalls ein viel besseres Bild als Leute, die ertrinken. Das spielt sich ja doch größtenteils unter Wasser ab.«
Peter nickte und sah mich an.»Junge, sind Sie aber schlau!«
«Peter!«rief seine Mutter tadelnd.»So etwas sagt man doch nicht!«Der Tadel war unnötig, aber es paßte ihr auch nicht, als ich ihr sagte, meinetwegen könne er sagen, was er wolle.
Keeble fuhr zum Parkplatz am Bahnhof. Dort stiegen Lynnie und ich in den Austin um.
«Ich ruf Sie gleich am Morgen an«, sagte Keeble und beugte sich aus seinem Luxusgefährt.
«Gut.«
«Passen Sie auf Lynnie auf.«
«Mach’ ich.«
Lynnie gab ihren Eltern einen Abschiedskuß, der bei ihrem Vater etwas herzlicher ausfiel, dann schnitt sie Peter ein Gesicht, und der Rover rollte davon. Sie stieg in den Austin, wartete, bis ich neben ihr saß, und streckte die Hand nach der Zündung aus.
Sie zitterte wieder.
«Soll ich fahren?«fragte ich in einem Ton, der ihr zeigte, daß ich es ihr selbst überlassen wollte zu entscheiden.
Sie legte beide Hände in den Schoß und starrte geradeaus durch die Scheibe. Über dem orangefarbenen Kleid wirkte ihr Gesicht sehr blaß.
«Ich dachte schon, Sie wären beide tot.«
«Ich weiß.«
«Ich bin noch ganz erledigt. Es ist albern.«
«Es ist nicht albern. Ich nehme an, Sie mögen Dave Teller sehr gern.«
«Er hat uns schon Geschenke geschickt, als wir noch klein waren.«
«Ein netter Kerl.«
«Ja. «Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und meinte nach einer Weile:»Es wäre vielleicht doch besser, wenn Sie jetzt fahren, falls es Ihnen nichts ausmacht.«
«Natürlich tu’ ich das gern.«
Wir tauschten die Plätze, dann fuhr ich nach London zurück. Am Chiswick-Rondell sagte ich, daß ich sie zu ihrer Wohnung fahren wolle und dort ein Taxi nehmen würde, aber sie meinte mit einem lachenden Seitenblick, in meinem Aufzug würde mich kein Taxifahrer mitnehmen. Ihr gehe es schon wieder besser, und das letzte Stück schaffe sie schon allein. Ich fuhr also bis Putney und hielt vor meiner Haustür.
Sommerliche Dämmerung lag auf den stillen Straßen. Keiner in der Nähe. Lynnie blickte durch das Fenster an dem Haus hinauf. Ein Schauder fuhr ihr durch die Glieder.
«Sie frieren«, sagte ich und machte mir Sorgen wegen ihrer bloßen Arme.
«Nein… Ich hab’ eine Jacke im Wagen… Ich mußte nur gerade an Ihre Wohnung denken.«
«Was ist damit?«
«Sie ist so — leer. «Sie ließ ein halbes Lachen hören und schüttelte den Gedanken ab.»Nun, ich hoffe nur, daß Sie nach diesen Erlebnissen nicht schlecht träumen werden.«
«Nein. «Ich sammelte meine Sachen zusammen und stieg aus. Sie rutschte auf den Fahrersitz herüber.
«Ob man Ihnen in dem Studentinnenheim wohl das Abendessen warmgestellt hat?«fragte ich.
«Aussichtslos«, antwortete sie fröhlich.»Aber üblicherweise findet man noch irgendwo ein Glas Milch und ein Stück Kuchen.«
«Würden Sie vielleicht eine Kleinigkeit mit mir essen? — Nein, nicht da droben«, fügte ich hastig hinzu, da ihre gute Erziehung sie schon wieder mißtrauisch machte.»Ich meine, in irgendeinem Restaurant.«
«Meine verdorbene Phantasie habe ich meiner Mutter zu verdanken«, sagte sie zu meiner Überraschung.»Ich hab’ wirklich Hunger, und ich sehe nicht ein, warum ich nicht bei Ihnen etwas essen sollte, falls Sie etwas im Hause haben. «Ohne sich zu zieren, stieg sie aus, schloß den Wagen ab und stand erwartungsvoll neben mir auf dem Bürgersteig.
«Ein paar Konserven müßten noch da sein«, sagte ich.
«Warten Sie einen Augenblick, bitte. Ich will nur rasch einen Blick nach hinten werfen.«
«Nach hinten?«
«Einbrecher«, erklärte ich ironisch. Ich überprüfte wie gewöhnlich die bepuderte unterste Stufe der Feuerleiter. Den ganzen Tag über konnte niemand hier hinauf- oder heruntergeklettert sein.
Lynnie bewältigte die Treppen bis in den vierten Stock ebenso mühelos wie am Morgen. Einem geschickt angebrachten Papierstreifchen merkte ich an, daß niemand meine Tür geöffnet hatte. Ich schloß auf, wir traten ein.
Der grüne Plastikschirm meiner Wohnzimmerlampe tauchte den einigermaßen aufgeräumten Raum in ungemütliches Licht und verwandelte das milde Grau draußen plötzlich in tiefes Schwarz. Schlagartig wurde mir die Trostlosigkeit von Mietskasernen an einem Winternachmittag klar. Es wäre ganz einfach, dachte ich, gleich am Morgen loszugehen und einen roten Lampenschirm zu kaufen. Ob der wohl rosigere Gedanken vermittelte?
«Nehmen Sie Platz«, lud ich sie ein.»Ist Ihnen warm genug? Schalten Sie die elektrische Heizung ein, wenn Sie wollen. Ich ziehe mich rasch um, dann können wir beschließen, was wir machen wollen.«
Lynnie nickte und nahm die Sache in die Hände. Als ich aus dem Schlafzimmer kam, hatte sie bereits meinen kärglich ausgerüsteten Vorratsschrank inspiziert und ein Päckchen Suppe, ein paar Eier und eine Dose Sardellen bereitgelegt.
«Suppe und Rührei mit Sardellen«, gab sie bekannt.
«Wenn Sie so etwas mögen«, murmelte ich zweifelnd.
«Sehr viel mehr kann ich nicht kochen.«
Ich lachte.»Na gut. Ich kümmere mich um den Kaffee.«
Als sie fertig war, hatte das Rührei angebrannte Stellen, die gut zu dem abgekratzten, weil zu schwarz gewordenen Toast paßten. Die bräunlichen Sardellenstreifen schmeckten zu pfefferig.
«Keiner wird mich wegen meines Cordon bleu heiraten«, seufzte sie.
Es gab eine Menge anderer Gründe, aus denen sie in ein oder zwei Jahren sicher alle Hände voll zu tun haben würde, sich ihrer Verehrer zu erwehren: ihre gute Figur, den zarten Hals, die Babyhaut, den Ausdruck von Rühr-mich-nicht-an, ihren erwachenden Mut in gesellschaftlichen Dingen, ihr rasches, unverfälschtes Mitgefühl. Aber im Augenblick fühlte sie sich nicht selbstsicher genug, als daß ich es ihr hätte sagen mögen.
«Wann sind Sie denn siebzehn geworden?«fragte ich.
«Vorletzte Woche.«
«Dann haben Sie sich mit der Fahrprüfung aber beeilt.«
«Ich kann seit meinem achten Lebensjahr fahren. Peter kann’s übrigens auch. «Sie war mit dem Rührei fertig und tat sich zwei gehäufte Teelöffel Zucker in den Kaffee.
«Aber ich hatte tatsächlich Hunger. Seltsam, wie?«
«Seit dem Lunch ist einige Zeit vergangen.«
«Schrecklich viel Zeit…«Plötzlich sah sie mir gerade ins Gesicht. Bis jetzt hatte sie das zumeist vermieden. Mit vernichtender Offenheit erklärte sie:»Ich bin so froh, daß Sie am Leben geblieben sind.«
Ich duckte mich unwillkürlich und versuchte zu lachen.
«Und ich bin froh, daß Dave Teller noch lebt.«
«Beide«, sagte sie.»Es war der schlimmste Augenblick in meinem ganzen Leben, als Sie nicht mehr auftauchten.«
Ein wohlbehütetes Kind, dachte ich. Schade, daß es auf der Welt so rauh zugeht. Eines Tages erwischt es sie auch bei ihrem hübschen Genick und schüttelt sie durch. Keiner kann entrinnen. Es ist pures Glück, wenn man mit siebzehn noch nicht gebüßt hat.
Nach dem Kaffee bestand sie darauf, das Geschirr zu spülen. Doch dann, als sie das Geschirrtuch aufhängte, merkte ich, wie sie sich plötzlich wieder an alle guten Ratschläge ihrer Mutter erinnerte. Sie streifte mich mit einem raschen Blick und schaute schnell wieder weg. Steif stand sie mitten im Zimmer, nervös und verlegen.
«Warum haben Sie eigentlich keine Bilder an den Wänden?«fragte sie unkonzentriert.
Ich deutete auf die Kiste in der Ecke.»Da drin sind ein paar, aber ich mag sie nicht besonders. Jedenfalls nicht so, daß ich mir die Mühe mache, sie aufzuhängen. - Wissen Sie, daß es schon nach zehn ist? Ich bringe Sie jetzt lieber nach Hause, sonst werden Sie noch ausgesperrt.«
«Ach, ja«, sagte sie höchst erleichtert. Dann fiel ihr der Ton ihrer eigenen Stimme auf, und sie fügte verwirrt hinzu:»Ich meine — Sie müssen mich für ungezogen halten, wenn ich gleich nach dem Essen weglaufe.«
«Ihre Mutter hat ganz recht, wenn sie Ihnen zur Vorsicht rät«, sagte ich und versuchte, einen leichten Ton anzuschlagen.»Das kleine Rotkäppchen konnte auch nicht zwischen einem Wolf und seiner Großmutter unterscheiden. Sie können nie wissen, ob nicht hinter dem nächsten Baum schon ein grober Holzfäller steht.«
Ihre steife Haltung schmolz dahin wie Nebelschleier. Sie bemerkte:»Manchmal sagen Sie wirklich eigenartige Dinge, als ob Sie Gedanken lesen könnten.«
«Kann ich vielleicht. «Ich lächelte.»Ziehen Sie lieber die Strickjacke an, draußen wird es jetzt kühl sein.«
«Gut. «Sie zerrte eine dunkelbraune Jerseyjacke aus ihrem Beutel und zog sie über. Dabei fiel ein sauberes, zusammengefaltetes Taschentuch heraus. Ich bückte mich danach und reichte es ihr.
«Danke«, sagte sie und betrachtete es gleichgültig.»Das hat Peter in dem Flußkahn gefunden.«
«In dem Kahn?«
«Ja, in einem Spalt zwischen zwei Kissen. Er hat’s mir gegeben, weil’s für ihn zu klein war. Zu weibisch, wie er meinte.«»Hat er sonst noch etwas gefunden?«
«Das glaube ich nicht. Ich meine, das ist doch kein Diebstahl, wenn man so ein Taschentuch behält, wie? Wenn sie wieder auftaucht, werde ich es ihr natürlich zurückgeben. Aber als Peter es im Kahn fand, da waren die beiden schon längst verschwunden.«
«Nein, es ist kein Diebstahl«, versicherte ich ihr, obgleich das rein theoretisch zweifelhaft sein mochte.»Kann ich es einmal sehen?«
«Natürlich.«
Sie gab es mir zurück, und ich schlug es auseinander. Es war weiß, viereckig und bestand aus einem dünnen, gazeartigen Material. In einer Ecke entdeckte ich einen stilisierten Bären mit Strohhut.
«Stammt der von Walt Disney?«
Sie schüttelte den Kopf und schien über meine Unwissenheit überrascht zu sein.»Das ist der Yogi-Bär.«
«Wer ist der Yogi-Bär?«
«Nicht zu fassen! Nun, das ist eine Gestalt aus Trickfilmen. Wie Top Cat, Atom Ant oder die Flintstones.«
«Die hab’ ich schon mal gesehen.«
«So etwas Ähnliches ist das, der Yogi-Bär stammt von denselben Leuten.«
«Haben Sie etwas dagegen, wenn ich das Tuch für ein oder zwei Tage behalte?«
«Nein, wenn Sie’s haben wollen«, antwortete sie erstaunt.»Aber es ist wirklich nicht sehr wertvoll.«
Als wir unten an ihrem Wagen standen, sagte ich, es wäre doch am besten, wenn ich sie nun nach Hause führe.
«Ich bin wirklich wieder in Ordnung«, widersprach sie.
«Sie brauchen nicht mitzukommen.«»Ich komme aber mit. Ihr Vater hat mich beauftragt, ich soll mich um Sie kümmern, also bringe ich Sie sicher bis an die Haustür.«
Sie hob die Augenbrauen und sah mich mit einem komischen Ausdruck an, ging aber gehorsam auf die andere Seite des Wagens. Ich ließ den Motor an, schaltete die Beleuchtung ein und fuhr nach Kensington.
«Tun Sie denn immer, was Daddy Ihnen sagt?«fragte sie lächelnd.
Jetzt fühlt sie sich schon viel sicherer, dachte ich.
«Ja, wenn ich will.«
«Das ist ein Widerspruch in sich.«
«Stimmt.«
«Was machen Sie denn überhaupt? Was tut man denn so als Beamter?«
«Leute interviewen.«
«Welche Leute?«
«Leute, die sich für den Staatsdienst bewerben.«
«Ach!«Sie lachte.»Dann sind Sie so eine Art Personalchef?«
«So eine Art.«
«Klingt ein bißchen mieselig.«
«Gelegentlich scheint auch die Sonne.«
«Sie haben immer eine Antwort parat. Was wir gestern getan haben, war alles ziemlich mieselig.«
«Ein sehr nützliches Wort.«
«Ja, der Ansicht sind wir auch. Und vielseitig.«
«Bezieht es sich auch auf ins Wasser gefallene Freunde?«
Sie lachte.»Nun, es ist schon mieselig, wenn man einen nassen Waschlappen zum Freund hat. «Sie hob die Hand.
«Da vorn ist das Wohnheim, aber wir müssen erst nach einem
Parkplatz suchen, wo wir den Wagen nachts stehenlassen können. Ein paar Ecken ohne Parkuhren gibt’s hier immer noch.«
Der nächstgelegene freie Parkplatz war gut eine Viertelmeile von dem Wohnheim entfernt. Ich brachte sie zur Haustür.
«Sie brauchen wirklich nicht… Schon gut, sagen Sie’s nicht. Daddy hat’s schon gesagt.«
«Richtig!«pflichtete ich ihr bei.
Sie rümpfte resigniert die Nase und ging mit raschen Schritten neben mir her. Die Ledertasche schwenkte sie in der Hand, ihre flachen Schuhe klapperten nicht auf dem Pflaster. An der glänzend-schwarzen, gut erleuchteten Vorderfront des Wohnheimes blieb sie stehen. Sie wippte hin und her, und ihre unschlüssige Miene sagte mir deutlicher als viele Worte, daß sie sich nicht im klaren darüber war, wie sie sich nun von mir verabschieden sollte. Für einen Onkel war ich nicht alt genug, für ein burschikoses» Tschüss «nicht mehr jung genug. Ich war Angestellter bei ihrem Vater, aber nicht sein Diener. Ich war alleinstehend, sah ordentlich aus, verlangte nichts von ihr — ich paßte somit in keine der Kategorien, mit denen sie umzugehen gelernt hatte.
Lächelnd streckte ich ihr die Hand hin.
«Gute Nacht, Lynnie.«
Ihr Händedruck war kurz, warm, erleichtert.
«Gute Nacht…«Sie zögerte, als könnte sie sich nicht recht entschließen; dann fügte sie leise wie ein Hauch hinzu:»Gene.«
«Ich wünsche Ihnen blinde Verkehrspolizisten und Stoßstangen aus Schaumgummi«, sagte ich.
«Gute Nacht!«Spontan, fröhlich kam das gurrende Kichern aus ihrer Kehle.»Gute Nacht. «Auf einer Zehe machte sie kehrt, hüpfte die beiden Treppenstufen zur Haustür hinauf, schaute noch einmal über die Schulter und winkte beim Eintreten zurück.
Kleine Lynnie, dachte ich, während ich mir ein Taxi herbeipfiff. Kleine Lynnie, bei dir fängt es jetzt gerade erst an. Halb bewußt, halb unbewußt hatte sie schon den Wimpel aufgezogen, der auf das hübsche junge Weibchen aufmerksam machen sollte. Es hatte keinen Zweck, so zu tun, als rühre sie mich nicht. Als sei sie nicht genau die Oase, die ich mir in meiner eintönigen Lebenswüste wünschte. Aber wenn ich in den achtunddreißig Jahren meines Lebens etwas gelernt hatte, so war es die Erkenntnis, mit wem man nicht schlafen darf.
Trauriger noch — unter welchen Umständen man das nicht tut.