Kapitel 6

In meinem Zimmer fand ich einen Umschlag von Walt vor, der eine kurze Notiz und eine Liste enthielt.

Gene, mehr habe ich aus den Fahrern nicht herausbekommen. Man darf wohl mit Sicherheit annehmen, daß sie diese Wagen wirklich gesehen haben. An die ersten drei erinnern sich alle beide. An die übrigen erinnert sich nur einer von ihnen. Keine Pferdetransporter dabei. Walt

Die Liste lautete:

Impala, lila, 2 Jahre alt, Zulassung aus Kalifornien. Zu den Insassen gehörte ein dickes Kind, das aus dem Rückfenster Grimassen schnitt. An beiden Tagen.

Grauer Kombi mit einer Ladung Möbeln. An beiden Tagen. Ford Mustang, dunkelgrün, Zulassung aus Nevada. Junges Paar, keine nähere Beschreibung. Die Fahrer erinnern sich an diesen Wagen, weil sie sich darüber unterhielten, ob der Mustang ein guter Wagen sei. Nur am zweiten Tag.

Armeegrüner Kleinlaster mit weißer Aufschrift an den Türen. Nur am zweiten Tag. Die Fahrer meinen, sie hätten ihn wahrscheinlich auf der Bundesstraße 70 gesehen, hinter Zanesville und bevor sie nach Süden abbogen. Keine genaue Erinnerung.

Ich las die Liste beim Ausziehen dreimal durch. Die Möbelladung kam der Sache noch am nächsten, aber ermutigend war keine der Beobachtungen.

Doch auch diesen kleinen Hoffnungsschimmer dämpfte Walt,

als er mich am nächsten Morgen zum Flughafen fuhr.

«Das war nur ein Lastwagen vom >Snail Express<.«

«Diese Selbstfahrer?«fragte ich.

«Richtig. >Tragen Sie Ihren Haushalt auf dem Rücken mit, aber lassen Sie sich von uns die Last abnehmen<, lautet ihr Werbespruch. Die Fahrer meinen, der Wagen sei für ein Pferd nicht groß genug gewesen.«

Im ganzen Land gab es Möbelwagen in allen Größen. Wer umziehen wollte, mietete einen solchen Wagen am bisherigen Wohnsitz, lud alles auf und fuhr damit zur neuen Wohnung, die unter Umständen sechs Bundesstaaten entfernt liegen konnte. Dort lud man das Zeug ab und gab den Lastwagen einfach am nächstgelegenen Depot ab. Die Transportfirma teilte ihn von dort aus für den nächsten Kunden ein. Zwei solche Selbstfahrerfirmen gab es; die leuchtend orangefarbenen Wagen von >U-Haul< und die zweifarbigen, aluminiumsilbern-blauen von >Snail-Express< sah man auf Amerikas Straßen fast ebenso häufig wie die riesigen Überlandbusse der >Greyhound<-Linien.

«Was ist mit dem Kleinlaster?«fragte ich.

«Viel zu klein für ein Pferd«, antwortete Walt düster.

Er flog mit mir nach New York und rieb sich beständig mit dem Daumen über die Fingerkuppen, während ich das Aktenstück durchging, das wir zu dem Fall angelegt hatten.

Zunächst gab es einen Packen Fotos von dem verschwundenen Pferd, die anscheinend zumeist aus den Anzeigen im Zuchtbuch stammten. Nach meiner Meinung sah der Hengst auf dem Papier nicht sehr eindrucksvoll aus.

Sam Hengelman hatte seine zwei besten Fahrer nach New York geschickt, um Chrysalis abzuholen. Mrs. Teller hatte ihn telefonisch über die genaue Ankunftszeit unterrichtet, außerdem war ihm aus England telegrafisch der Abflug bestätigt worden. Daraufhin hatte Sam Hengelman den Kennedy-

Flughafen angerufen und erfahren, am Dienstag mittag ende die vorgeschriebene Einfuhrquarantäne von 24 Stunden. Er gab zu, daß es auch für Pferdetransporte ein ähnliches System gebe wie >U-Haul<, um unnütze Leerfahrten zu vermeiden, aber manche Leute wollten eben doch persönlich bedient werden, und zu denen gehörte auch Mr. Teller.

Die Buttress-Lebensversicherung deckte auch den Transport. Sam Hengelman brauchte für den Transport keine Versicherung abzuschließen, und er selbst hatte sich von dem Raub weder einen Gewinn noch einen Verlust zu erwarten.

Beide Fahrer konnten weit zurückreichende einwandfreie Führungszeugnisse aufweisen.

Beide Pferdepfleger arbeiteten länger als drei Jahre in ihrer gegenwärtigen Stellung. Einer von ihnen kam von der Mid-way-Farm, der andere von einer zweiten Farm, die mit demselben Transport ebenfalls ein Pferd bekommen sollte.

Das Gespräch mit Mrs. Eunice Teller war ergebnislos verlaufen.

Ich klappte die Mappe lächelnd zu und reichte sie Walt zurück.

«Sollten wir nicht vorsichtshalber bei >Snail-Express< rückfragen?«

Er machte ein skeptisches Gesicht.»Die Fahrer meinen, der Wagen sei nicht hoch genug gewesen.«

«Die vergleichen das mit normalen Pferdetransportern. Von ihrer hohen Fahrerkabine schauten sie auf das andere Fahrzeug herab. Aber wenn man herzlos genug ist, kann man ein Rennpferd auch in einen Verschlag zwängen, der nicht größer ist als eineinhalb mal drei Meter, bei einer Höhe von zwei Metern. Stellen Sie fest, wie viele Wagen von dieser Größe die Firma am letzten Montag und Dienstag unterwegs hatte und welcher davon sich auf der Schnellstraße befunden haben könnte.«»In Ordnung«, sagte er ausdruckslos.»Wie Sie meinen.«

Da sich der Zeitunterschied entgegengesetzt auswirkte, war es 3.00 Uhr am Donnerstagmorgen, als ich in Heathrow landete, und 12.00 Uhr mittags, als ich Tellers Zimmer in einem Krankenhaus in Reading betrat. Das strahlende Juniwetter war nur eine vorübergehende Erscheinung gewesen — es regnete wieder.

Abgesehen von den Seilen, Flaschenzügen, Schlingen und Gipsverbänden, die das Bein ausgestreckt in der Luft hielten, sah der Patient recht gesund aus. Er begrüßte mich ohne Umstände und sah mich unverwandt aus seinen hellen, harten Augen an.

«Anstrengende Reise?«

«Es geht.«

«Schon was gegessen?«Er deutete flüchtig auf seine Kollektion von Schokolade und Weintrauben.

«Ich hab’ um zwei Uhr nachts über Irland gefrühstückt.«

Er lachte, legte sich bequemer zurecht und streckte eine Hand nach einer Zigarette aus.

«Wie geht’s meiner Frau?«

«Sehr gut.«

Er zündete sich die Zigarette an und ließ das Feuerzeug wieder zuschnappen.

«Was hat sie gerade gemacht?«Seine Spannung war gut überspielt.

«Sonnenbad und Schwimmen. Drüben herrscht eine drückende Hitze.«

An seinem Unterarm entspannten sich ein paar Muskeln. Er inhalierte tief.»Ich hoffe, sie hat Ihnen etwas zu trinken angeboten?«

«Sicher. Dazu ein kühlendes Bad. Ich blieb auch zum Abendessen.«

Wortlos sah er mir eine ganze Weile ins Gesicht, dann fragte er nur:»War das Essen gut?«

«Danke, sehr gut. Chub Lodovsky hat mir auch Ihre Pferde gezeigt.«Über Pferde konnte er viel ungezwungener reden. Die machten ihm weniger Sorgen.

«Ich habe erfahren, Sie wollen nach Kalifornien übersiedeln«, sagte ich nach einer Weile.

Sofort war die innere Spannung wieder da. Ich hatte täglich auf das winzige, verräterische Zucken um die Augen, am Nacken und bei den Muskeln der Atmung zu achten und konnte auch gegenüber meinen Freunden nicht darüber hinwegsehen.

«Ja«, antwortete er und streifte die Asche ab.»Eunice liebt den Ozean, und in Kentucky sind wir endlos weit davon entfernt. Außerdem ist die Pferdezucht in Kalifornien natürlich ebenso gewinnbringend. Ich zweifle nicht daran, daß wir dort erfolgreich sein werden.«

«Wie sieht die neue Farm aus?«

«Guter Boden, ausgiebig bewässert. Die Stallungen und die allgemeine Anlage sind ebenso geeignet wie in Midway, in mancher Hinsicht sogar noch besser. Die Farm hat früher dem alten Davis L. Davis gehört.«

Eunice wird ihre Probleme mitnehmen, dachte ich. Aber wenn sie Glück hat, werden sie für ein oder zwei Jahre etwas in den Hintergrund treten. Das ist Dave vielleicht die Mühe wert.

Der Name Davis sagte mir nichts. Er merkte es mir an und erklärte:»Der hat sein Geld mit Würstchenständen an der Straße verdient. Anfang des Jahres starb er, und letzten Monat wurde sein Gestüt wegen der Erbteilung aufgelöst. Ich habe bei den Testamentsvollstreckern mein Angebot für die Farm hinterlegt, bevor ich diesmal nach England kam. Vor einer Woche haben sie mir geschrieben, daß sie es akzeptieren. Im Augenblick werden gerade die Verträge aufgesetzt, aber es dürfte kaum noch Schwierigkeiten geben. Ich bin froh, daß ich es endlich unter Dach und Fach habe.«

«Endlich?«

«Ich suche schon seit über einem Jahr nach einer Farm in Südkalifornien, aber überall war ein Haken dran. Eunice und ich waren im März dort und haben die Davis-Farm gesehen. Sie hat uns auf Anhieb gefallen. Deshalb…«Er beendete den Satz mit einer vielsagenden Fingerbewegung.

Die Tür ging auf. Keeble trat ein. In seinen Brillengläsern spiegelte sich sanft das fahle Licht des Fensters, er blinzelte rasch, und an der Stelle, die er beim Rasieren ausgelassen hatte, wucherte der übliche graue Stoppelbart. Er begrüßte uns freundlich und ließ sich auf dem Sessel nieder.

«Na, wie sieht’s in den Staaten aus?«fragte er. Ich berichtete den beiden alles, was ich von Walt erfahren hatte. Sie dachten eine ganze Weile schweigend darüber nach.

«Und was halten Sie jetzt davon?«fragte Keeble schließlich.

Ich streifte Teller mit einem zweifelnden Blick, doch der klopfte ruhig die Asche von seiner Zigarette und bemerkte schlicht:»Sim behauptet, Sie seien davon überzeugt, daß ich mit Absicht in den Fluß gestoßen wurde. Mit seiner Frage will er sich vermutlich erkundigen, ob sich Ihre Ansicht nun geändert hat.«

«Nein«, antwortete ich.

Keeble und Teller tauschten einen Blick. Dann sagte Teller mit einem Seufzer:»Wir sind über ein paar Dinge gestolpert, die es beinahe als sicher erscheinen lassen, daß Sie damit recht haben.«

Keeble nickte.»Ich fuhr nach London, holte Daves Gepäck aus seinem Hotel, bezahlte die Rechnung und hinterließ seine Anschrift, für den Fall, daß jemand etwas von ihm wollte. Der junge Mann vom Empfang erkundigte sich, ob die Journalistin von der Züchterzeitschrift >Stud and Stables< Dave am Samstag gefunden habe. Sie habe es wegen des Redaktionsschlusses ihrer Zeitschrift äußerst dringend gemacht, deshalb habe er ihr meine Anschrift und Telefonnummer gegeben. Dave hatte sie für den Fall hinterlassen, daß er im Zusammenhang mit dem Fall Chrysalis dringend gebraucht würde.«

«Und so haben der Junge und das Mädchen erfahren, wo Sie zu finden waren?«

«Stimmt. «Keeble nickte.»Es war nicht schwer, die Spur vom Haus zum Fluß zu verfolgen. Übrigens habe ich bei >Stud and Stables< nachgefragt. Sie haben niemanden zu Dave geschickt, und ihr Redaktionsschluß liegt jeweils um den Ersten eines jeden Monats.«

«Wie hübsch«, bemerkte ich.

Keeble zog einen Umschlag aus der Tasche und entnahm ihm einige Schwarzweißfotos.»Das sind Peters Schnappschüsse«, erklärte er.»Sehen Sie sich die Bilder einmal an.«

Ich nahm sie in die Hand und schaute sie mir an. Die Enten waren blendend getroffen, jedenfalls besser als Lynnie, die sich gerade bewegt hatte. Ein anderes Bild zeigte unser Picknick, dann die >Flying Linnet< in der Schleuse von Marsh, Dave auf dem Bug des Bootes, und auf einem anderen Bild starrte ich mit finsterem Gesicht ins Wasser. Auch die vier Männer waren zu sehen, die in dem Kahn übereinandergepurzelt waren; bei einem anderen Bild schließlich hatte der Fotograf mit dem Rücken zum Fluß gestanden und Keeble, Joan, Dave, Lynnie und mich geknipst, wie wir um den kleinen runden Tisch unter dem Sonnenschirm saßen, jeder ein Glas in der Hand.

Keeble wartete geduldig, ohne zu blinzeln. Das fiel mir auf. Also sah ich mir den ganzen Stapel noch einmal genauer an und entdeckte, was er gefunden hatte. Ich blickte auf. Er nickte und fischte ein Vergrößerungsglas aus der Rocktasche. Er warf es mir zu. Mit Hilfe der Lupe konnte ich die beiden Gestalten klar erkennen. Im Hintergrund des Fotos, das uns mit den Gläsern in der Hand im Garten der Wirtschaft zeigte, standen nebeneinander ein Mädchen mit langem Haar und weißer Hose und ein junger Mann in heller Hose und kariertem Hemd.

«Das sind sie!«

«Ja«, stimmte mir Keeble zu.»Sie waren also am Morgen schon da. Sie könnten uns im Wagen von Henley aus nachgefahren sein. Von verschiedenen Stellen der Straße aus kann man die Themse einsehen. Ich gebe auch zu, daß sie Dave am Bug des Bootes stehen sahen, als wir in Henley und von der Wirtschaft ablegten, vielleicht auch bei der Ankunft und in der Marsh-Schleuse. Dann war ihnen klar, daß er höchstwahrscheinlich wieder am Bug stehen würde, wenn wir durch die Harbour-Schleuse fuhren.«

Ich lächelte.»Und das fehlende Stück Leine ging drauf, als sie auf uns warteten und dabei ihren Kahn sicher am Pfosten des Warnschildes anbanden.«

«Gebe ich auch zu«, sagte Keeble.»Nachdem Sie am Montag abgeflogen waren, nahmen wir den Kahn aus dem Wasser und stellten fest, daß die Klampe für die Heckleine vom Heck abgeschraubt und unterhalb der Wasserlinie am Bug angeschraubt worden war.«

«Beide Leinen zum Festmachen befanden sich demnach an einem Ende«, fügte Teller hinzu.»Die Sicherungsleine hat sich die ganze Zeit unter Wasser befunden, verdeckt durch den Kahn selbst und durch den Körper des Mädchens. Natürlich konnten wir nichts Derartiges vermuten und haben deshalb auch nicht gleich danach gesucht.«

Keeble schloß:»Nachdem Joan die sichtbare Leine sicher in Händen hielt und wir alle besorgt hinter Ihnen und Dave herschauten, brauchte das Mädchen nur rasch eine Schlinge aufzuziehen, und der Kahn schwamm frei. Ich gebe also zu, Gene, daß es sich um einen Unfall handelt, der gestellt sein kann — und tatsächlich gestellt war —, und daß Sie recht hatten, während ich unrecht hatte. Ich erinnere mich vage, daß das bereits früher ein- oder zweimal der Fall war.«

Er lächelte mich an. Mir kam zu Bewußtsein, daß nur wenige Vorgesetzte so etwas zugeben würden.

Eine Krankenschwester brachte mit lautem Geschirrklappern Daves Mittagessen, das aus Geflügelsalat und Mandarinen aus der Dose bestand. Der Patient schüttete die Mandarinen über den Salat und löffelte den Eintopf resigniert.

«Das Essen ist scheußlich«, sagte er sanft.»Ich hab’ schon ganz vergessen, wie ein ordentliches Steak aussieht.«

Wir sahen ihm neidlos beim Essen zu. Dann fragte ich Keeble, ob er hinsichtlich des Taschentuchs etwas erreicht habe.

«Nur negative Antworten. Kein Lizenzträger für Yogi-Bären in diesem Land hat es importiert. Nach dem Gewebe und der Farbe zu urteilen, soll es angeblich in Japan hergestellt sein. Einige Fachleute bezweifeln, daß es von den Originalkünstlern stammt. Die Zeichnung sei nicht gut genug, meinten sie.«

«Ich nehme es mit in die Staaten und versuche es dort«, sagte ich.»Der Junge und das Mädchen waren höchstwahrscheinlich Amerikaner.«

Teller hatte den Mund voll und sah mich fragend an.

«Der Junge rief: >Können Sie uns helfen, Sir?< Dieses >Sir< verwendet ein Amerikaner häufiger als ein Engländer. Außerdem sagte der Bootsverleiher aus, sie hätten genauso geredet wie die Leute im Fernsehen. Im Fernsehen hört man fast mehr Amerikanisch als Englisch.«

«Das könnte man auch für die Schüler unserer Public Schools anführen«, bemerkte Keeble beiläufig.»Aber die beiden kamen aus Amerika, da stimme ich Ihnen zu.«

«Abgesehen davon, wer sie waren, brauchen wir also nur noch herauszufinden, warum die beiden Sie umbringen wollten«, sagte ich zu Teller.

Zu diesem Punkt fiel keinem von uns etwas Vernünftiges ein. Teller trank seinen Kaffee aus, dann holte ein Mädchen in grünem Overall das Tablett ab.

Ich sah dem Mädchen nach und fragte Keeble:»Haben Sie vorgesorgt, daß sie nicht noch einen Versuch unternehmen können?«

Keeble folgte meinem Blick.»Ich habe alle Vorkehrungen getroffen«, versicherte er mir.»Ich habe die Agentur Radnor-Halley beauftragt. Für Dave nur das Allerbeste!«

«Ich darf nicht einmal Päckchen selbst öffnen«, beklagte sich Teller.»Ich glaube, die Burschen nehmen die Pakete mit ins Freie, tauchen sie in einen Eimer Wasser und warten darauf, daß es zu ticken anfängt. Schokolade bekomme ich nur ausgehändigt, wenn Sim persönlich sie gekauft hat. Sie würden nicht die Hälfte von dem glauben, was sich hier tut!«

Ich mußte lachen.»Warten Sie, bis Sie hier erst mal rauskommen!«

«Er bleibt hier drin, bis Sie den Fall geklärt haben«, sagte Keeble und meinte es auch.

Ich stand unruhig auf und trat ans Fenster. Es regnete immer noch. Zwei Krankenschwestern liefen von einem Gebäude zum anderen. Sie hatten sich Capes übergeworfen und spritzten sich in der Eile die Rückseite der Strümpfe voll. Solche Leute werden gebraucht. Leute, die etwas leisten, ihren Beruf ernst nehmen, alles ertragen…

«Na?«fragte Keeble hinter mir.

«Ich gehöre zur Abwehr von Infiltration, nicht zum CID, das ist Ihnen doch klar?«

«Aber sicher. Die Methode ist dieselbe. Lassen Sie Ihren Jagdinstinkten freien Lauf und sagen Sie uns, was Sie als nächstes vorhaben.«

Ich drehte mich um und lehnte mich an die Wand.»Wie sieht’s mit den Finanzen aus?«

Teller antwortete:»Hören Sie, Gene, ich habe genug Geld, um damit ein kleines Raumfahrtprojekt zu finanzieren. Und wie ich bereits sagte: Ohne Sie wäre ich überhaupt nicht mehr hier. Veranlassen Sie, was Sie für nötig halten, die Rechnungen bezahle ich.«

«Nun gut — dann finde ich es am besten, wenn Radnor-Halley hier die Ermittlungen weiterführt. Die Agentur hat doch sicher auch die Erkundigungen nach dem Taschentuch durchgeführt?«

Keeble nickte.

«Ich fliege morgen in die Staaten zurück. Ich bin fest davon überzeugt, daß der Mordversuch mit dem Pferdediebstahl zusammenhängt, also muß der Angelpunkt für alles in den USA zu finden sein. Es sei denn, ein irischer Hitzkopf hätte etwas dagegen, daß Sie die Krone irischer Pferdezucht entführen.«

«Chrysalis stammt demnach aus Irland?«fragte Teller ernsthaft.

«Er hat zumindest irisches Blut, das ist alles. Sein Vater war Purple Emperor vom Gestüt Read in Newmarket.«

«Woher wissen Sie das?«fragte Teller überrascht.

«Ich hab’s nachgeschlagen«, antwortete ich knapp.

«Auch seine Merkmale, weil das wichtig ist. «Ich hielt inne.

«Wer Allyx und Chrysalis gestohlen hat, muß eine Menge von Pferden verstehen. Allyx lief in jener Nacht zusammen mit fünf anderen Pferden frei in einem Pferch herum. Chrysalis war eines von fünf Pferden in einem Transporter. Trotzdem wurde beide Male das richtige Pferd erwischt. An einen Zufall können wir nicht glauben; weil in beiden Fällen das mit Abstand wertvollste Pferd ausgesucht wurde. Gut. Chrysalis ist dunkelbraun, ohne besondere Kennzeichen. Keine Manschetten, keine Blesse, kein Stirnfleck. Rundherum einfarbig. Das gleiche gilt für Allyx. Es gibt buchstäblich Tausende von Pferden, die genauso aussehen.«

Die beiden rührten sich nicht.

Ich fuhr fort:»Das bedeutet ein gewaltiges Problem bei der Identifizierung, falls wir Chrysalis jemals wiederfinden sollten. Englische Pferde haben keine eingebrannten Nummern wie amerikanische Pferde.«

«Himmel«, murmelte Teller.

«Ich würde ihn nicht wieder erkennen, wenn er zu mir käme und mir ein Stück Zucker aus der Hand fräße. Sie etwa?«

Er schüttelte den Kopf.

Ich fuhr fort:»Die einzigen, die ihn mit einiger Sicherheit wieder erkennen könnten, sind die Leute, die hier in England damit zu tun hatten. Und da ist schon der nächste Haken. Der Pfleger im Gestüt Read starb vor zwei Monaten plötzlich an einem Herzanfall, und sein Nachfolger wird Chrysalis nicht mit Sicherheit wieder erkennen. Read selbst ist anscheinend zu kurzsichtig, um uns helfen zu können. Das bedeutet, daß wir um fünf Jahre zurückgreifen müssen, bis zur letzten Rennsaison, an der Chrysalis beteiligt war. Wir müssen seinen damaligen Besitzer und Trainer fragen. Vertrauen würde ich dabei allerdings nur dem Burschen, der den Hengst damals ritt. Diesen Burschen müssen wir nach Amerika holen, wenn wir ein Pferd finden, das Chrysalis sein könnte.«

Keeble nickte.»Es müßte doch leicht sein, diesen Pfleger zu finden und ihn hinüberzuschaffen.«

«Er heißt Sam Kitchens und dürfte sich in diesem Augenblick

in Ascot aufhalten, da er um 16.30 Uhr mit einem seiner Pferde antritt. Heute wird nämlich der Goldene Pokal ausgetragen. «Ich lächelte ein wenig.»Ich dachte mir, ich könnte nachher, wenn ich hier weggehe, einmal auf dem Rennplatz vorbeischauen.«

Teller erkundigte sich kleinlaut:»Sagen Sie mir nur, wann und wie Sie das herausgefunden haben. «Er spreizte die Finger.»Ist nur eine Frage.«

«Ich habe heute morgen eine Stunde beim Britischen Züchterverband zugebracht. Gleich um neun Uhr stand ich bei denen auf der Matte. Und dann hab’ ich ein bißchen herumtelefoniert, das ist alles.«

«Schlafen Sie auch irgendwann einmal?«

«Beim Essen. Schlecht für den Appetit.«

«Er ist verrückt!«sagte Teller zu Keeble.

«Daran gewöhnt man sich«, versicherte ihm Keeble.

«Am schlimmsten sind die ersten acht Jahre.«

«Und diesem Kerl vertrauen Sie Ihre Tochter an?«

«Hm«, brummte Keeble,»darüber haben wir noch gar nicht gesprochen.«

«Worüber?«fragte ich argwöhnisch.

«Wir wollten — hm — möchten Sie bitten, Lynnie mit nach Amerika zu nehmen«, sagte Teller.»Sie soll eine Weile bei Eunice bleiben.«

Ich merkte Keeble an, daß er genau wußte, was ich dachte: Eunice braucht dringend Gesellschaft. So dringend, daß der Schulabschluß zurückstehen mußte.

«Das werde ich gern übernehmen«, sagte ich förmlich.

«Auch auf einem langsamen Vergnügungsdampfer via Neuseeland, wenn Sie wollen.«

«Sie ist zu jung für Sie«, sagte Keeble ohne Besorgnis.

«Ja, das ist sie wirklich. «Ich stieß mich von der Wand ab und fragte:»Wo soll ich sie abholen?«

Keeble überreichte mir einen Umschlag.»Flugtickets für euch beide. Lynnie ist morgen früh um 8.30 Uhr am Flughafenbus an der Victoria Station. Einverstanden?«

Ich nahm die Tickets und nickte.»Kann ich das Taschentuch haben?«

Er reichte es mir sofort in einem weiteren Umschlag. Ich steckte ihn zusammen mit den Flugkarten ein und griff noch einmal nach Peters Schnappschüssen. Ich hielt die Negative ans Licht und suchte mir das Bild heraus, das uns vor der Wirtschaft zeigte. Das schob ich ebenfalls in meine Brieftasche.

«Ich lasse es morgen in New York vergrößern«, sagte ich.»Dann brauche ich nur noch die zweihundert Millionen Einwohner der Vereinigten Staaten durchzukämmen.«

Ein Nieselregen durchweichte die flauschigen Damenhüte in Ascot, als ich ankam, aber der Turf war um so grüner, die Pferde schimmerten noch strahlender. Ich erblickte den Trainer, nach dem ich suchte, und ging auf ihn zu. Er unterhielt sich mit einer mächtigen Dame in einem fleckigen rosa Kleid unter einem großen rosa Regenschirm. Über ihre Schulter hinweg erblickte er mich, und ich merkte, wie er krampfhaft überlegte, bis ihm schließlich einfiel, wo er mich unterzubringen hatte. Da ging ein freundliches Lächeln über sein Gesicht.

«Gene Hawkins!«

Die gewaltige Dame drehte sich um, merkte, daß sie mich nicht kannte und mich auch nicht kennenlernen wollte, und marschierte davon.

«Mr. Arkwright. «Wir schüttelten uns die Hand. Das Alter hatte ihn kaum verändert. Er war immer noch der stramme, aufrechte, grauhaarige Nachbar aus meiner Jugendzeit in Yorkshire.

«Kommen Sie, trinken wir etwas«, schlug er vor.»Stehen wir nicht länger im Regen herum. «Seinen grauen Zylinderhut bedeckten viele kleine Rinnsale.»Ist aber schon viel heller als noch vor einer Stunde, finden Sie nicht auch?«

«Ich bin gerade erst gekommen.«

Er führte mich die Treppe hinauf zur Bar auf dem Aussichtsbalkon und bestellte Wodka mit Tonicwasser. Ich bat darum, Wasser ohne Wodka trinken zu dürfen. Da meinte er, mein Vater, ein passionierter Alkoholkenner, würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er das sehen könnte.

«Was treiben Sie denn jetzt?«fragte er nach einem Schluck von seinem wasserklaren Getränk.»Immer noch in Staatsdiensten?«

«Ja. «Ich nickte.»Im Augenblick habe ich Urlaub.«

«Daß Sie so etwas — hm — Zahmes machen, kam mir schon immer komisch vor«, sagte er.»Wenn man überlegt, was für ein Junge Sie waren. «Er zuckte die Achseln.

«Hätte es nie für möglich gehalten. Ihr alter Vater hat sich immer erhofft, Sie würden auch ins Renngeschäft einsteigen, wissen Sie. Sie waren ein guter Reiter und kannten sich aus. Versteh’ das nicht. «Er sah mich vorwurfsvoll an.

«Die zwei Jahre Militär haben Ihnen nicht gutgetan.«

Ich lächelte.»Meine Stellung wurde mir während meiner Militärzeit angeboten.«

«Sehr sicher«, gab er mürrisch zu.»Staatspension und das alles.«

«Hm«, machte ich vieldeutig.»Heute bin ich eigentlich Ihretwegen hierhergekommen. Ich wollten Sie wegen Chrysalis fragen.«

«Wissen Sie denn, ob man ihn wiedergefunden hat?«

«Noch nicht. Der Amerikaner, der ihn gekauft hat, ist ein Freund meines Chefs. Da ich Sie kenne, haben mich die beiden zu Ihnen geschickt. Ich soll Sie fragen, ob Sie ihnen einen Gefallen erweisen würden.«

«Selbstverständlich, wenn ich kann«, sagte er sofort.

«Ihr Problem besteht darin«, erklärte ich,»daß sie nicht sicher sein können, ob es wirklich Chrysalis ist — falls ein ähnliches Pferd gefunden wird, und zwar weit weg von der Stelle, an der es verlorenging.«

Er sah mich erst überrascht und dann leicht amüsiert an.

«Ja, das ist tatsächlich schwierig. Aber Chrysalis hat seit — warten Sie mal — seit Oktober vor vier Jahren nicht mehr auf meinem Hof gestanden. Ich weiß auch nicht, ob ich ihn mit absoluter Sicherheit wiedererkennen würde, wenn ich ihn unter zwanzig ähnlichen Pferden vorgestellt bekäme. Und Sie müssen es doch ganz genau wissen.«

«Ja, das schon«, stimmte ich ihm zu.»Ich habe heute morgen bei Ihnen angerufen und von Ihrem Sekretär erfahren, daß Sie heute hier sein würden. Er sagte mir außerdem, daß Chrysalis’ früherer Jockey hier sein würde — Sam Kitchens. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich kurz mit ihm unterhielte?«

«Ganz und gar nicht, fragen Sie ihn ruhig. Er ist mit Milkmaid für das Rennen um 16.30 Uhr gemeldet.«

«Mr. Dave Teller, der Käufer des Hengstes, läßt Sie fragen, ob Sam Kitchens vielleicht für ein paar Tage mit in die Staaten kommen dürfte, falls und wenn Chrysalis wiedergefunden würde, um ihn zu identifizieren. Mr. Teller kommt natürlich für alle Kosten auf.«

Arkwright lachte.»Das wird Sam gefallen. Er ist ein netter Kerl. Ziemlich verläßlich.«

«Wenn er gebraucht wird, schicke ich Ihnen ein Telegramm und teile Ihnen mit, welche Maschine er nehmen soll. Einver-standen?«

Er nickte.»Sagen Sie Ihrem Amerikaner ruhig, daß ich Kitchens beurlaube.«

Ich bedankte mich.»Er wird Ihnen dafür sehr dankbar sein. «Dann bestellte ich für ihn noch einen Wodka mit Tonic, und wir unterhielten uns über Pferde.

Sam Kitchens führte seine hübsche junge Milkmaid am Zügel herum. Ich setzte ein Pfund auf die Stute, aber sie entpuppte sich als Versager. Ich trat zu Arkwright, der die schlanken Fesseln der Stute befühlte, während der Jockey ihm klarzumachen versuchte, daß es nicht an den Beinen liege, sondern vielmehr an ihrem kaum erbsengroßen Gehirn ohne jeden Verstand.

Meistens reagieren Jockeys ausgesprochen sauer auf jede Kritik an ihren Pferden, aber man konnte es Sam Kitchens’ Gesicht ansehen, daß er mit Milkmaid genauso unzufrieden war wie Arkwright. Er war ein kleiner, untersetzter Mann von etwa dreißig Jahren. Nachdem Arkwright uns miteinander bekannt gemacht hatte, fragte ich ihn, ob er Chrysalis so sicher wiedererkennen würde, daß er seine Identität notfalls vor Gericht beschwören könnte.

«Selbstverständlich«, antwortete er ohne zu zögern.

«Natürlich kenn’ ich den Burschen. Hab’ ihn ja drei Jahre geritten. Ich könnte ihn vielleicht nicht mehr aus einer ganzen Herde herausfinden, aber aus der Nähe erkenn’ ich ihn auf jeden Fall wieder. Sein Fell, seine kleinen Falten hier und dort

— nein, die kann man nicht vergessen.«

Ich nickte.»Das ist prima. Gab es — gibt es irgend etwas Besonderes an dem Pferd, woran es jemand erkennen könnte, der es noch nie gesehen hat?«

Er dachte mehrere Minuten lang über diese Frage nach.

«Hm, es ist immerhin schon vier Jahre her. Länger noch, fast fünf. Mir fällt nur noch ein, daß uns sein hinterer Huf immer Kummer gemacht hat. Er war zu dünn und splitterte immer wieder an derselben Stelle. Aber das hat sich im Gestüt vielleicht ausgeheilt, wo er doch keine Rennen mehr gehen mußte. Vielleicht hat es sich auch verwachsen, jetzt, wo er doch älter ist. «Er hielt inne.»Da fällt mir gerade ein — er mochte gern Sardinen. Chrysalis ist das einzige Pferd, das ich kenne, das Sardinen mag.«

Ich lächelte.»Das ist schon seltsam. Wie sind Sie denn drauf gekommen?«

«Ich hab’ einmal meinen Lunch mit in seine Box genommen. Sardinen auf Toast. Hab’s für eine Minute auf den Fenstersims gelegt, und als ich mich wieder umdrehte, hatte er alles aufgefressen. Ich hab’ schallend gelacht. Danach haben wir uns manchmal eine Dose Sardinen geteilt. Sie haben ihm immer geschmeckt.«

Ich blieb noch zum letzten Rennen und erwischte wiederum einen Verlierer. Ein guter Trainer wäre aus mir wohl doch nicht geworden.

Загрузка...