Kapitel 5

Wir flogen mit der Morgenmaschine nach Lexington. Walts verschwollene Augen zeigten mir, daß der Hochzeitstag zu einer feuchtfröhlichen Feier ausgeartet war, und meine Augen fühlten sich an, als hätte ich Splitt unter den Lidern.

Die beiden Fahrer hatten wir vorher telefonisch verständigt. Sie erwarteten uns in der Halle eines Motels in der Nähe von Lexington, wo Walt bei seiner ersten Erkundungsreise übernachtet hatte. Er reservierte uns Zimmer. Es entsprach nicht entfernt dem, was ich aus dem >Biltmore< gewohnt war, dafür wurde jedoch Sauberkeit und Hygiene groß geschrieben.

Walt schaltete die Klimaanlage ein, schob Stühle und Sessel zurecht und versprach uns für später ein Bier. Die beiden Fahrer gaben sich widerborstig und berichteten noch einmal mürrisch die ganze unheilvolle Geschichte. Ihnen war klar, daß sie die wertvollen Pferde niemals hätten unbeaufsichtigt lassen dürfen und nun wahrscheinlich ihren Job einbüßen würden. Was sie sagten, wußte ich im wesentlichen bereits von Walt.

«Sie kennen sich recht gut?«fragte ich.

Der Schmächtigere der beiden, der ein richtiges Vogelgesicht hatte, bejahte.

«Kannten Sie auch die Pferdepfleger? Kennen die beiden sich schon länger?«

«Hab’ sie schon mal gesehen«, antwortete der Dicke.

«Diese faulen Hunde.«

Der Schmächtige fügte hinzu:»Einer von ihnen kam von der Midway-Farm.«

Die gehörte Dave Teller.»Er wurde ganz besonders wegen Chrysalis geschickt. Er müßte für die ganze Sache geradeste-

hen.«

«Kannten die beiden sich schon vor der Fahrt?«

«Klar«, erwiderte der Dicke.»Wie die redeten, sind sie beide mit Pferden großgeworden.«

Walt zog die Luft hoch und nickte. Das alles hab’ ich schon überprüft, sagte mir seine resignierte Miene. Reine Routine.

Ich wandte mich an die Fahrer:»Ich möchte, daß Sie einmal genau nachdenken und eine Liste aller Personen- und Lastwagen aufstellen, die Sie auf dem Weg vom KennedyFlughafen bis zu der Stelle gesehen haben, wo die Pferde verloren gegangen sind.«

Sie starrten mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

«Hören Sie«, sagte ich,»auf diesen Schnellstraßen begegnet man manchmal immer wieder denselben Wagen. Ich meine solche, die in dieselbe Richtung fahren. Man sieht sie an den Raststätten, Sie fahren dann vielleicht früher los, der andere überholt Sie, und am nächsten Rasthaus steht er vielleicht, während Sie bis zum übernächsten weiterfahren. Dann überholen die anderen wieder. Stimmt das nicht?«

Sie nickten.

«Vielleicht erinnern Sie sich doch noch an einige Fahrzeuge, die Ihnen aufgefallen sind? Mir geht’s besonders um solche, die Sie an beiden Tagen gesehen haben.«

Sie starrten mich immer noch an. Dann sagte der Dicke:

«Nichts zu machen. Das war schon vor einer Woche.«

«Ich weiß. Versuchen Sie’s trotzdem, denken Sie genau nach. Besprechen Sie sich, vielleicht fällt Ihnen gemeinsam etwas ein. Schreiben Sie’s auf und lassen Sie uns die Liste hier, damit wir sie heute abend vorfinden.«

Ich zückte meine Brieftasche und probierte es mit zwanzig Dollar. Das ging ihnen ein. Sie versprachen, sich Mühe zu geben.

«Aber nichts erfinden«, warnte ich sie.»Ich bezahle lieber für nichts als für nutzloses Blabla.«

Sie nickten wieder und verzogen sich. Das versprochene Bier wurde auf unser nächstes Treffen verschoben.

«Worauf wollen Sie hinaus?«fragte Walt neugierig.

«Vielleicht suche ich nach einem zweiten Pferdetransporter.«

Er überlegte.»Sie können doch ein Treffen für die Stelle abgesprochen haben, wo der leere Transporter gefunden wurde. Dann mußten sie sich nicht auf der Straße blicken lassen.«

«Nach meiner Meinung wußten sie vorher nicht mit Sicherheit, an welcher Stelle sich der geplante Raub würde verwirklichen lassen. Sie wußten ja auch nicht, wo die Fahrer Rastpausen einlegen wollten. Es hat keinen Sinn, ein Rendezvous in Kentucky zu vereinbaren, wenn sich vorher schon eine passende Gelegenheit bietet, zum Beispiel bei Wheeling.«

Walt pflichtete mir bei.»Sie wollten mit einem >heißen< Lastwagen sicher nicht allzuweit fahren. Es waren auch nur fünfundzwanzig Meilen, hauptsächlich über Nebenstraßen. Sie fuhren schnurstracks ins Gebirge. Dort dauert es am längsten, entlaufene Pferde wieder einzufangen.«

«Spuren?«

«Keine brauchbaren Reifenabdrücke. Die Straßen in der Umgebung hatten Schotterbelag, der um diese Jahreszeit trocken und staubig ist. Da, wo der Transporter von der Straße abgebogen und hinter den Hügel gefahren ist, fanden sich Spuren, aber auf der Straße selbst war nicht viel. Jeder vorbeikommende Wagen wirbelte eine Staubwolke auf und löschte eventuell vorher vorhandene Spuren wieder aus.«

Ich ächzte.»Hufabdrücke?«

«Dutzende. Nach allen Richtungen.«

«Auch auf der Schotterstraße?«

Abgespannt schüttelte er den Kopf.»Nicht feststellbar.

Jedenfalls nicht über den Reifenspuren des Transporters. Aber wir haben eine Menge Bodenproben genommen, für den Fall, daß sich vielleicht später noch etwas ergibt.«

«Sie haben recht sorgfältig gearbeitet.«

Diesmal brach das Lächeln beinahe durch. Er sagte knapp:»Eineinhalb Millionen sind auch für eine Versicherung viel Geld.«

Schon den Torpfosten der Midway-Farm sah man die Wohlhabenheit an. Ich durchschritt sie allein, da Walt sich mit einsetzenden Kopfschmerzen entschuldigte.

Eine Ungarin in mittleren Jahren öffnete mir und erkundigte sich in gebrochenem Englisch nach meinen Wünschen. Aufgrund langer Übung erkannte ich ihren Akzent richtig und antwortete in ihrer Muttersprache, da dies einfacher war. Sie verschwand kurz im Salon und führte mich dann hinein.

Daves Frau stand mitten auf einem halben Morgen von üppig wucherndem grünem Teppich. Die Wände waren grün und weiß gestrichen, die Möbelbezüge tomatenrot. Sie schnippte mit dem Daumen gegen meine Karte und stellte fest:»Sie sind also der Mann, der Dave aus dem Bach gefischt hat.«

«Ja«, antwortete ich überrascht.

«Er rief mich gestern an«, erklärte sie.»Ich könne Ihnen völlig vertrauen, sagte er.«

Sie war ein schlankes, zierliches Geschöpf mit einem kleinen, festen Hinterteil, wie man es vom vielen Reiten in früher Kindheit bekommt. Sie hatte ein zartes, etwas eckiges Kinn, eine gerade Nase und große, klare Augen. Das mausbraune, gewellte Haar war graugesprenkelt, und wenn sie wirklich ein Make-up trug, dann hätte man das nur aus nächster Nähe feststellen können. Jede ihrer beherrschten Gesten deutete auf Selbstsicherheit hin. Dem Tonfall ihrer Stimme konnte ich entnehmen, daß sie sich normalerweise nicht nur auf das Wort ihres Mannes zu verlassen pflegte.

«Nehmen Sie Platz«, sagte sie und deutete auf einen tomatenroten Sessel.»Was trinken Sie?«Es war zwei Uhr nachmittags, noch dazu an einem heißen Nachmittag.

«Scotch«, stellte sie fest, ohne meine Antwort abzuwarten.

Ich beobachtete sie, wie sie die goldbraune Flüssigkeit über die Eiswürfel rieseln ließ und der Form halber einen Tropfen Wasser dazutat. Dann kam sie auf mich zu und hielt mir eins der beiden hohen Gläser mit ihrer schmalen, sonnengebräunten Hand hin. An ihrem Handgelenk klimperte ein schweres goldenes Armband mit Anhängern und Talismanen. Ein flüchtiger Duft von >Creur Joie< wehte mir in die Nase.

Ich probierte den Whisky. Eine ausgesprochene Spitzenmarke. Jeder kleine Schluck ließ einen lange anhaltenden Nachgeschmack auf meiner Zunge zurück.

«Eva sagt, Sie sprechen Ungarisch«, bemerkte sie. Mit ihrem Glas entfernte sie sich wieder von mir und nahm einen tüchtigen Schluck.

«Ja.«

«Sie war sehr davon beeindruckt.«

«Ich komme wegen Chrysalis«, begann ich.

«Sprechen Sie noch andere Sprachen?«Ihre Sprechweise war mehr Amerikanisch als Englisch. Die Worte kamen etwas zu ruckartig, wie wenn sie schon zwei Drinks zuviel gehabt hätte. Aber sonst merkte man es ihr nicht an.

«Deutsch«, antwortete ich mit höflichem Lächeln.

Bei der Methode, die bei mir angewandt worden war, bekam man nach einer Woche einen flüchtigen Eindruck von einer Sprache, nach drei Monaten sprach man sie fließend, und nach zwei Jahren war man so weit, daß man typische Redewendungen und Denkschablonen erkannte, wenn man sie in die Muttersprache übersetzt fand. Auf diese Weise hatte ich innerhalb von sieben Jahren — ich war damals zwischen zwanzig und dreißig — Deutsch, Ungarisch und fünf slawische Sprachen, darunter Russisch und Kroatisch, eingetrichtert bekommen. Keine davon würde mir bei der Auffindung von entlaufenen Pferden helfen. Außerdem waren sie aus der Mode gekommen. Die neuen Kollegen lernten Suaheli, Arabisch und Chinesisch.

«Und Französisch, nehme ich an?«fragte sie.

«Ein bißchen«, gab ich zu.

«Sicher genug, um so im Leben zurechtzukommen?«

Ihrem Gesicht und der Betonung, die sie den Worten gab, konnte man unschwer entnehmen, was sie damit meinte. Es handelte sich keinesfalls um Essen und Trinken.

«Völlig«, pflichtete ich ihr bei und ließ erkennen, daß ich ihre Definition akzeptierte.

Sie lachte. Das klang in keiner Weise geziert oder kleinmädchenhaft. Sie führt fort:»Chrysalis macht uns nichts als Ärger. Ich hätte ihn mir gar nicht erst ausgesucht. Purple Emperor ist weich und hat seine schlechten Eigenschaften an die gesamte Nachkommenschaft weitergegeben. Das ist immer so. Moth hat das Derby in einem entsetzlich schlecht besetzten Jahr gewonnen. Wenn ihn ein anderes Pferd gefordert hätte, wäre er zusammengeklappt. «Sie nahm einen tiefen Schluck.»Verstehen Sie etwas von Pferden, oder sind Sie blutiger Laie?«

«Wann ist man ein blutiger Laie?«

Sie schaute mich verwundert an, dann lachte sie halb ungläubig auf.»Ein blutiger Laie ist man dann, wenn man nicht kapiert, daß Pferde aus Männern verdammte Narren machen.«

Ich lächelte sie unwillkürlich an, weil mir der Kontrast zwischen ihrer robusten Sprech- und Denkweise und ihrem

zerbrechlichen Äußeren gefiel.

«Ich gehe schwimmen«, sagte sie.»Bringen Sie Ihren Drink mit.«

Im Vorbeigehen mixte sie sich einen neuen Whisky. Dann schob sie eine gläserne Tür auf, ohne einen Blick zurück auf die grüne Teppichwiese zu werfen. Sie schob sich draußen durch das Fliegengitter und marschierte geradeaufgerichtet über die Terrasse auf den gepflegten Rasen hinaus. Seufzend stand ich auf und folgte ihr. Das Gras war dicht und weich, ganz anders als der typische englische Rasen. Auf der einen Seite warf ein Rasensprenger diamantene Tropfen durch die Luft.

Sie blieb auf dem plattenbelegten Umgang eines nierenförmigen Beckens stehen und nestelte an den Verschlüssen ihres gelben Kleides. Es fiel in einem Stück zu Boden und enthüllte darunter einen zweiteiligen Badeanzug. Sie hatte eine schlanke, sorgsam gepflegte Figur, die aber ganz und gar nicht an ein junges Mädchen erinnerte. Anfang bis Mitte Vierzig, schätzte ich. Sie gehörte zu den Frauen, die unter dreißig uninteressant sind.

Sie glitt ins Wasser und legte sich auf den Rücken. Ich sah zu, wie die Sonne in samtenen Wellen auf ihrer braunen Haut spielte.

«Kommen Sie!«rief sie.»Da drüben in der Kabine liegen Badehosen herum.«

Ich schüttelte lächelnd den Kopf und ließ mich auf einen der bequemen Stühle mit den weichen Plastikpolstern nieder. Sie ließ sich Zeit, planschte im Wasser herum und summte leise dazu. Es war heiß in der Sonne, aber nicht so drückend wie in der Stadt. Ich zog das Jackett aus und spürte, wie die Sonne durch das weiße Baumwollhemd auf den Rücken brannte. Allmählich breitete sich in mir eine friedliche Stimmung aus. Ich brannte gar nicht auf Mrs. Tellers Gesellschaft, aber sie gesellte sich bald wieder zu mir. Wassertropfen glitten schimmernd über ihre eingeölte Haut.

«Sie haben Ihr Glas kaum berührt«, sagte sie vorwurfsvoll.»Sie gehören doch wohl nicht zu den Waschlappen, die keinen Alkohol vertragen?«Sie griff nach ihrem Glas und bewies, daß zumindest sie nicht zu dieser Sorte gehörte.

«Chrysalis…«:, begann ich.

Sie unterbrach mich sofort:»Können Sie reiten?«

«Das schon, aber ich reite nicht«, antwortete ich.

«Warum nicht?«

«Ich habe kein Pferd und auch kein Königreich, um es gegen ein Pferd einzutauschen.«

«Trinken Sie aus«, sagte sie lächelnd.

«Gleich.«

«Dann ziehen Sie sich aus und springen Sie ins Wasser.«

Ich schüttelte den Kopf.

«Warum denn nicht?«

«Weil ich mich so pudelwohl fühle. «Außerdem hatte ich von dem Wehr noch zu viele blaue Flecken am Leib.

Leicht verärgert zuckte sie die Achseln.»Verdammt, macht Ihnen denn gar nichts Spaß?«

«Wie viele Leute wußten, um welche Zeit Chrysalis vom Kennedy-Flughafen abtransportiert würde?«

«Mein Gott, was sind Sie langweilig!«

«Wollen Sie das Pferd denn nicht wiederhaben?«

«Nein!«antwortete sie heftig.»Was mich betrifft, so finde ich, daß wir mit der Versicherungssumme weitaus besser dran wären.«

«Zweihunderttausend Dollar, das ist ein ziemliches Risiko«, gab ich zu.»Wenn er nun keine Nachfolger wie Moth mehr zeugt?«

«Dave läßt sich nicht beirren, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat. «Sie saß auf der Kante eines Liegebetts und strich sich aus einer mattrosa Tube Creme ins Gesicht.»Er wollte bei seiner Rückkehr ein paar Anteile verkaufen. Weiß der Himmel, was nun geschehen soll, wo er im Krankenhaus festsitzt.«

«Er wird in etwa vier Wochen entlassen.«

«Ja, das hat er auch gesagt. «Sie legte sich zurück und schloß die Augen.»Ich hab’ ihm gesagt, er soll sich Zeit lassen. Hier in den Staaten ist Kranksein verdammt kostspielig.«

Fünf stille Minuten verstrichen. Eine einzelne Düsenmaschine zog über uns dahin, ein silberner Strich in so großer Höhe, daß wir das Düsengeräusch erst hörten, als der Vogel verschwunden war. Es regte sich kein Lüftchen. Die braungebrannte Haut bekam an den Stellen, die der gelbe Bikini nicht bedeckte, eine saftige Dosis ultravioletter Strahlen ab, und die Eiswürfel in unseren Gläsern schmolzen dahin.

«Ziehen Sie sich um Himmels willen schon aus«, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen.»Oder schämen Sie sich wegen der käsigen Haut, die ein Engländer normalerweise hier anschleppt?«

«Ich glaube, ich gehe jetzt lieber.«

«Machen Sie doch, was Sie wollen!«Sie machte eine lässige Handbewegung, die deutlich sagte: Geh oder bleib. Wie du willst.

Ich stand auf, ging zu der Kabine hinüber und betrat das schöne Gebäude aus Fichtenholz mit dem weit vorspringenden, schattenspendenden Dach. Es enthielt ein Bad und zwei Umkleideräume. In der Diele stand ein Schrank mit bunten Badehosen und Handtüchern. Ich zog eine blaue Badehose an, griff nach einem Handtuch, um es als Kissen zu verwenden, und behielt das Hemd an. Die Verletzungen an meinen Beinen waren fast abgeheilt… Langsam ging ich hinaus und legte

mich auf das Liegebett neben ihr.

Sie grunzte nur mit geschlossenen Augen, aber nach einer weiteren Minute sagte sie:»Wenn Sie etwas über den Zeitplan wissen wollen, was Chrysalis angeht, so müssen Sie schon Sam Hengelman in Lexington fragen. Er hat den Transporter besorgt, betreibt dort ein kleines Fuhrunternehmen. Dave rief mich an und teilte mir mit, wann der Hengst landen würde, und ich rief Sam Hengelman an. Alles andere hat er erledigt.«

«Wem haben Sie sonst noch etwas über die Ankunftszeit gesagt?«

«Du liebe Zeit, das war doch kein Geheimnis! Ich hab’ sechs oder sieben Leute des Syndikats angerufen und es ihnen gesagt. Dave bat mich darum. Ich glaube, halb Kentucky hat’s gewußt.«

Plötzlich setzte sie sich auf und öffnete die Augen.

«Was zum Teufel, macht es schon, wie viele Leute wußten, daß Chrysalis unterwegs war? Auf ihn hatten es doch die Straßenräuber nicht abgesehen. Sie sind einfach einer Verwechslung aufgesessen und haben den falschen Lastwagen erwischt.«

«Nehmen wir einmal an, sie haben bekommen, was sie wollten.«

«Sind Sie eigentlich von vorgestern? Züchter bezahlen doch für den Stammbaum. Wer den nicht vorweisen kann, für den ist Chrysalis keinen roten Heller wert. Zu irgendeinem Gaul, der gerade zur Verfügung steht, schickt doch niemand eine halbwegs anständige Stute, wenn nicht ein Name dahintersteht, ein Ruf, ein ordentliches Zuchtbuch, Papiere. Glauben Sie vielleicht, nur dafür bezahlt jemand fünfzehntausend Dollar?«

«Die >Buttress<-Leute denken an einen Versicherungsschwindel.«

«Dann können sie suchen, bis sie schwarz werden. «Sie griff nach ihrem Glas, nahm einen großen Schluck und verzog das Gesicht.»Der Whisky ist genauso warm wie das Wasser da, und er schmeckt auch entsprechend. Würden Sie mir einen frischen holen?«Sie hielt mir das Glas hin. Ich erhob mich mühsam von dem Liegebett und ging mit den beiden Gläsern ins Haus. Für sie mixte ich einen ähnlichen Drink wie zuvor, einen schwächeren für mich. Dann ging ich mit den beiden Gläsern wieder nach draußen. Die Eiswürfel klickten kühl an die Wand der Gläser.

«Danke. «Sie trank fast das halbe Glas leer.»Jetzt geht’s mir besser.«

Ich trat neben das Schwimmbecken und hielt eine Zehe ins Wasser. Es war gut körperwarm.

«Was ist denn mit Ihren Beinen passiert?«fragte sie.

«Dasselbe wie mit denen Ihres Mannes, nur daß meine dabei nicht gebrochen sind.«

«Und was steckt noch unter dem Hemd?«

«Die Sonne brennt mir zu heiß. Ich halte nicht viel von einem Sonnenbrand.«

«Aha. «Sie legte sich wieder hin.»Käsig-weiß.«

Lächelnd setzte ich mich an den Rand des Beckens, ließ die Beine ins Wasser hängen und wandte ihr den Rücken zu. Eigentlich wäre es besser, dachte ich, wenn ich ginge und etwas Nützlicheres täte, beispielsweise mit Sam Hengelman reden. Aber daran hatte zweifellos Walt bereits gedacht. Seine beginnende Migräne hielt bestimmt nur so lange vor, bis unser Mietwagen mit mir außer Sicht war. Walt und Daves Frau hielten offenbar nicht viel voneinander.

«Mr. Hawkins?«fragte sie hinter mir.

«Ja?«

«Wovon leben Sie eigentlich?«

«Ich bin Beamter.«»Mit dem Ding da?«

Hinter meinem Rücken hörte ich ein scharfes, metallisches Klicken, genau das Geräusch, das mir garantiert die Haare im Nacken hochstehen ließ, als hätte ich den Urwald niemals verlassen.

«Können Sie denn überhaupt mit dem Ding umgehen?«fragte ich so lässig wie möglich.

«Allerdings.«

«Dann schieben Sie die Sicherung vor.«

Sie gab mir keine Antwort. Ich stand auf und drehte mich um. Dabei blickte ich geradewegs in die Mündung meiner eigenen Pistole.

Ich hab’s nicht besser verdient, dachte ich. Langsam, leichtsinnig, dumm. Das alles war ich, und noch mehr.

Sie hatte die Beine untergeschlagen und hielt meine Parabellum in der Faust, ohne zu zucken. Da zwischen uns fünf Schritte lagen, zuviel, um etwas zu unternehmen, blieb ich einfach ruhig stehen.

«Sie sind recht kaltschnäuzig; das muß man Ihnen lassen.«

«Sie werden mich nicht erschießen«, sagte ich lächelnd.

«Und warum nicht?«

«Weil ich nicht für eineinhalb Millionen versichert bin.«

Ihre Augen wurden groß.»Soll das heißen, daß Sie glauben… daß…. ich… ich Chrysalis erschossen…?«:

«Möglich.«

Sie starrte mich an.»Sie sind ein verdammter Narr.«

«Sie ebenfalls, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Dieses Schießeisen geht sehr leicht los.«

Sie betrachtete die Pistole mit einem gleichgültigen Blick und warf sie mit einer raschen Bewegung auf die Steinplatten, ehe ich sie daran hindern konnte. Der Ruck mußte einen Schuß auslösen. Ein Mündungsblitz schoß aus dem Lauf, und die Kugel zerschmetterte das Whiskyglas, das genau unter ihrem Liegebett stand.

Sie brauchte eine Sekunde, ehe sie kapierte, was geschehen war. Dann zitterte sie und schlug die Hände vors Gesicht. Ich holte die Pistole, sicherte sie und hockte mich dann zu ihr auf den Rand der Liege.

«Spiele«, murmelte sie mit unsteter Stimme.»Was hab’ ich schon außer Spielen? Bridge und Golf. Alles nur Spielereien.«

«Das hier auch?«Ich schob die Parabellum ins Schulterhalfter und befestigte sie mit dem Gurt.

«Ich wollte Ihnen nur ein bißchen Angst machen!«

«Warum?«

«Verdammt gute Frage. Wirklich — eine verdammt gute Frage. Alles Spielerei. Das ganze Leben ist nichts als ein verdammtes Spiel.«

«Und wir alle verlieren dabei«, sagte ich ironisch.

Sie ließ die Hände sinken und sah mich an. Ihre Augen waren trocken, aber sie wirkte nur noch halb so selbstsicher wie zuvor.

«Es war nur ein Spiel. Ich wollte Ihnen nichts antun.«

Sie glaubte wahrscheinlich, die Wahrheit zu sagen, aber ich hatte schon zu oft erlebt, wie einem das Unterbewußtsein Streiche spielen kann. In ihr war unbezweifelbar ein Drang, mich zu vernichten — vielleicht, weil ich ihren Mann gerettet hatte, oder weil ich nach seinem Pferd suchte, oder auch nur, weil ich eine obskure Art von männlicher Herausforderung für sie darstellte. Oder ihre Sorgen waren viel vordergründigerer Art.

«Geben Sie mir Ihr Glas«, bat sie plötzlich.

«Ich hol’ Ihnen noch einen Whisky.«

«Ihrer ist mir schon recht.«

Ich gab ihr das Glas, aber ein kleiner Schluck genügte ihr. Es war Ginger Ale mit Eis.

«Müssen Sie denn auf der ganzen Linie schwindeln?«

«Nur dann, wenn’s menschenfreundlicher ist, oder sicherer, oder wenn ich mir bessere Ergebnisse davon verspreche.«

Ich ging über den Rasen und holte ihr ein frisches Glas.

Sie nahm einen bescheidenen Schluck und stellte es dann zwischen die Überreste des ersten Glases.

«Bleiben Sie zum Essen hier«, sagte sie. Es sollte mehr wie ein gleichgültiger Vorschlag klingen und nicht wie eine warme Einladung. Ich ging nicht auf ihren Ton ein, sondern auf das, was ich dahinter spürte.

«Gut.«

Sie nickte kurz und legte sich auf den Bauch. Ich schob einen Arm über das Gesicht, um die Augen vor der Sonne zu schützen, und dachte über all die Fragen nach, die sie nicht gestellt hatte. Wie es Dave ging? Ob seine gebrochene Hüfte schlimm war?

Nach einer Weile nahm sie den Faden wieder auf.

«Kommen Sie doch ins Wasser!«rief sie vom Schwimmbek-ken her.

Ich schüttelte den Kopf.

«Seien Sie doch nicht so verschämt, ich bin keine Jungfer, die leicht in Ohnmacht fällt. Ihr Körper dürfte so ähnlich aussehen wie Ihre Beine. Also ziehen Sie schon das verdammte Hemd aus und erfrischen Sie sich.«

Es war tatsächlich sehr heiß, und das klare blaue Wasser sah einladend aus. Seufzend erhob ich mich, zog das Hemd aus und glitt ins Wasser. Die laue Wärme löste Verkrampfungen, die mir zuvor nicht einmal zu Bewußtsein gekommen waren. Die Nervenanspannung ließ nach. Ich paddelte fast eine Stunde lang gemächlich hin und her. Als ich mich schließlich wieder auf die Kante des Beckens emporzog, legte sie gerade eine neue Schicht Öl auf. Ihr Whiskyglas war leer.

«Sieht Dave ähnlich aus?«fragte sie.

«Ziemlich.«

Sie schnitt eine Grimasse und sagte nichts, als ich wieder das Hemd überzog.

Allmählich neigte sich die Sonne, und die Bäume warfen längere Schatten. Ein goldener Schimmer lag auf dem großen Haus im Kolonialstil jenseits der grünen Rasenfläche. Der Wasserspiegel lag wieder unberührt und regungslos da, und die Stille ringsum kroch mir heimlich in die Glieder.

«Schön haben Sie’s hier«, sagte ich. Eine recht banale Phrase für die friedliche Ruhe.

Sie schaute sich gleichgültig um.»Wahrscheinlich. Aber wir ziehen natürlich wieder um.«

«Umziehen?«

«Ja. Nach Kalifornien.«

«Mit dem ganzen Gestüt? Mit Pferden und allem?«

«Genau. Dave hat kürzlich eine Farm bei Santa Barbara gekauft. Im Herbst übersiedeln wir.«

«Und ich dachte, Sie hätten sich hier für den Rest Ihres Lebens eingerichtet. War das nicht die Farm von Daves Vater?«

«Ach, nein. Wir sind erst vor zehn Jahren hierhergekommen. Die alte Farm lag auf der anderen Seite von Lexington, an der Versailles Road.«

«Kalifornien ist weit weg«, bemerkte ich, aber sie tat mir den Gefallen nicht und gab mir keinerlei Hinweis für den Grund der Übersiedlung. Nach einer Weile fuhr ich fort:

«Wenn’s Ihnen nichts ausmacht, hätte ich mir gern die Pferde und die Stallungen angesehen.«

Ihre Augen wurden eng.»Beruflich oder privat?«

«Beides«, gab ich lächelnd zu.

Sie zuckte die Achseln.»Wie Sie wollen. Aber vorher holen Sie mir noch etwas zu trinken.«

Ein tragbarer Kühlschrank würde hier viele Wege sparen, dachte ich, aber vielleicht brauchte sie die Illusion, am Nachmittag noch nichts zu trinken. Ich füllte ihr Glas und ging mich anziehen. Als ich aus der Kabine trat, lag sie immer noch im Bikini da, das Gesicht nach unten.

«Sagen Sie einfach, ich hätte Sie geschickt«, murmelte sie.

In diesem Augenblick rief jedoch Dave aus England an. Eva brachte das Telefon heraus und stöpselte die lange Schnur an der Umkleidekabine ein. Daves Frau stellte zwei oder drei wenig besorgte Fragen nach seiner Gesundheit, dann sagte sie:»Ja, er ist gerade hier. «Sie hielt mir den Hörer hin.»Er will Sie sprechen.«

«Gene?«Seine Stimme klang so deutlich, als riefe er hier aus Lexington an, außerdem viel kräftiger als gestern morgen.

«Hallo!«sagte ich.

«Hören Sie, Sim und ich brauchen Sie morgen zu einer Besprechung. Können Sie eine Maschine erwischen?«

«Aber die Kosten…«:, wandte ich bescheiden ein.

«Zum Teufel mit den Kosten. Sie haben doch einen Rückflug.«

«Das stimmt.«

«Das Pferd haben Sie noch nicht gefunden?«

«Nein.«

«Glauben Sie, daß Sie es finden werden?«

«Das kann ich noch nicht sagen.«

Er seufzte.»Dann bis Donnerstag. «Damit war die Leitung tot.

Die Stallungen lagen auf der anderen Seite des Hauses. Ich ging um das Haus herum und unterhielt mich kurz mit dem Oberpfleger Chub Lodovsky, einem kräftigen, gutmütigen Mann mit kleinem Vogelkopf und mächtigen Schaufelhänden. Er sprach langsam und bedächtig, zeigte mir in unendlicher Geduld die gesamte Anlage und war offenbar sehr stolz auf seinen Job. Mit Recht. Der Zustand des Gestüts sprach für ihn. Die Stuten und Fohlen standen friedlich kauend in einer Reihe kleiner Verschläge, die man über makellose Fahrwege mit sauber geschnittenen Graskanten erreichte. Die Hengste bewohnten eine kurze Reihe von sechs großen, luftigen Boxen in einem geräumigen Stallgebäude mit einem abgetrennten Auslauf davor. Daneben lagen hinter hohen Mauern zwei Beschälplätze.

Nur fünf der Boxen waren besetzt. Der freie Platz war für Chrysalis bestimmt.

«Hat hier auch Allyx gestanden?«fragte ich.

«Ja, in der zweitletzten Box. Aber er war nur vier Tage hier.«

«Und wo brach das Feuer aus?«

Er runzelte die Stirn.»Es muß nachts in einem Strohhaufen angefangen haben, etwa hier. «Wir standen ziemlich in der Mitte.»War nicht schlimm. Hauptsächlich Rauch.«

«Sie haben die Hengste dann vorn in den Auslauf getrieben?«

«Richtig. War nur ‘ne Vorsichtsmaßnahme. Aber eins von den verflixten Biestern hat gescheut und drüben auf der anderen Seite eine Planke zertrampelt. Danach sind sie alle ausgebrochen, über die Wiese da hinüber zu dem Schotterweg. Allyx haben wir nicht mehr gefunden. Seitdem ist er spurlos verschwunden.«

Wir unterhielten uns eine Weile über die Suchaktion, die sie am folgenden Morgen eingeleitet hatten. Lodovsky erklärte allerdings, in Kentucky wimmle es von Pferden, und niemand denke sich viel dabei, wenn er eins frei herumlaufen sehe.

Obgleich eine hohe Belohnung ausgesetzt war und die Leute von der Versicherung wie die Bluthunde herum schwärmten, wurde er nicht gefunden.

«Und jetzt auch noch Chrysalis!«Ich seufzte mitfühlend.

«Klar. Dabei sagt man, der Blitz schlägt niemals zweimal an derselben Stelle ein.«

Es schien ihn ein wenig zu kränken, daß sein Gestüt damit eine weitere Attraktion eingebüßt hatte, aber es war schließlich nicht sein Geld, und außerdem war er auch auf die noch verbliebenen Hengste mächtig stolz. Ich fragte ihn, ob er schon einmal in Kalifornien gewesen sei.

«Wir übersiedeln mit Sack und Pack dorthin, wußten Sie das nicht?«fragte er.

«Gehen Sie auch mit?«

«Vielleicht, vielleicht auch nicht. Hängt von meiner besseren Hälfte ab, und die kann sich einfach nicht entscheiden. «Er grinste und nahm würdevoll den Geldschein entgegen, den ich ihm reichte.

Als ich zum Schwimmbecken zurückkam, hatte Daves Frau sich das Kleid übergezogen. Eva fegte die Glassplitter zusammen und trug sie vorsichtig über den Rasen weg.

«Na, wie gefällt’s Ihnen?«

«Die Pferde sehen prächtig aus, insbesondere die Hengste.«

«Würden Sie auch, wenn Sie nichts weiter zu tun hätten, als…«Sie hielt inne und verbesserte sich achselzuckend:

«Würden Sie auch.«

Abgesehen von einem gelegentlichen» Verdammt«, das ihr aus alter Gewohnheit unterlief, war das für heute die letzte Entgleisung. Obgleich ich nicht entsetzt reagierte, trank sie den Rest des Nachmittags und Abends in gleichmäßigem Tempo weiter. Ihre geistigen Bremsen blieben, genau wie schon zuvor, halb angezogen.

Bei einer dicken Scheibe rohen Beefsteaks fragte sie:

«Sind Sie verheiratet?«

«Nein. «Ich schüttelte den Kopf.

«Geschieden?«

«Nein. Ich war nie verheiratet.«

«Sind Sie andersrum?«fragte sie im gleichen Ton, als hätte sie gefragt:»Sitzen Sie bequem?«

Ich lächelte leise.»Nein.«

«Und warum haben Sie dann nicht geheiratet?«

«Ich hab’ keine gefunden, die mich hätte heiraten wollen.«

«Das ist doch lächerlich! Die Frauen müssen Ihnen doch in Trauben am Hals hängen.«

«Das ist nicht dasselbe.«

Sie betrachtete mich sinnend über den Rand ihres Glases hinweg.»Sie leben also ganz für sich allein?«

«Stimmt.«

«Keine Eltern?«

«Die sind beide tot. Ich habe auch keine Geschwister, keine Onkels, Tanten oder Vettern und Cousinen. Sonst noch etwas?«Ich lächelte.

«Bleiben Sie über Nacht.«

Das kam so plötzlich heraus, als stammte diese Aufforderung aus einer Schicht tief unter der seichten Oberfläche ihrer harmlosen Befragung. Sie schien sogar selbst ein wenig erschrocken zu sein.

«Tut mir leid«, antwortete ich nüchtern.»Es geht nicht.«

Sie sah mir etwa zehn Sekunden lang ausdruckslos ins Gesicht.

«Ich habe noch eine Mutter«, sagte sie schließlich.

«Auch Brüder und Schwestern und Dutzende von

Verwandten. Dazu einen Mann, einen Sohn und all das hier.«

Ihre Handbewegung umfaßte den gesamten Millionenbesitz.»Ich habe alles. «Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie sah mir weiter ohne zu blinzeln direkt ins Gesicht.

«Verdammt — ich hab’ alles, was man sich wünschen kann.«

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