Ich war um 8.15 Uhr am Flughafenbus, aber Lynnie war schon vor mir da.
«Ich konnte nicht recht schlafen«, erklärte sie.»Ich war nämlich noch nie in Amerika.«
Ich war schon ein dutzendmal drüben. Aber ich hatte auch nicht viel geschlafen.
Lynnie trug einen glänzenden, kräftig rosafarbenen Plastikregenmantel über dem matt-orangefarbenen Kleid. Ihr Aufzug hatte eine aufheiternde Wirkung auf alle, die sie sahen. Ich hätte beinahe nach der Sonnenbrille gegriffen, und eine ungewohnt gehobene Stimmung ergriff mich. Sie dauerte an, bis wir etwa halbwegs über dem Atlantik waren. Dann schlief Lynnie ein. Ein gewaltiges Gähnen überkam mich, und es war mir mit einemmal völlig gleichgültig, ob wir Chrysalis fanden oder nicht. Schläfrig überlegte ich, daß es mir wirklich nichts ausmachen würde, mit Eunice und Lynnie am Swimmingpool zu faulenzen, den ganzen langen Tag nichts anderes zu tun als im friedlichen Sonnenschein Scotch zu trinken und den Anblick zweier gutgebauter Frauen im Bikini zu genießen. Vor allem ging es mir um den Frieden. Wie ein Klotz herumliegen, nicht denken, nicht fühlen. Nur schlafen. Sechzehn Stunden des Tages verschlafen und die übrigen acht verfaulenzen. Ein solches Programm kommt dem Tod schon verdammt nahe. Nur noch ein ganz kleiner Schritt bis zur Ewigkeit, zum dauernden Frieden…
«Worüber denken Sie nach?«fragte Lynnie.
Sie hatte die Augen offen und beobachtete mich.
«An den Himmel!«
Sie schüttelte leicht den Kopf.»Eher die Hölle. «Sie setzte
sich mit einem Ruck auf.»Wann landen wir?«
«In ungefähr einer Stunde.«
«Ob Mrs. Teller mir wohl gefallen wird?«
«Sie kennen sie nicht?«
«Ich hab’ sie nur einmal gesehen, als kleines Mädchen. Ich habe keinerlei Erinnerung mehr an sie.«
Ich mußte lächeln.»Man vergißt sie nicht so leicht.«
«Kann ich mir denken«, sagte sie.»Eigentlich eine komische Sache, daß ich zu ihr fahre. Natürlich habe ich mit Freuden zugesagt, wer fährt nicht gern weg, wenn er dadurch der Schule entrinnen kann, besonders wenn es sich um eine so tolle Reise handelt. Aber ich werde das Gefühl nicht los, daß Dad und Mr. Teller gewisse Hintergedanken hegen. Ich möchte gern wissen, was dahintersteckt.«
«Sie möchten, daß Eunice Gesellschaft hat und nicht so viel trinkt.«
«Puh!«Sie sah mich überrascht an.»Ist das Ihr Ernst?«
«Gesagt hat mir das niemand. Ich kann nur raten.«
«Aber ich kann sie doch nicht am Trinken hindern!«protestierte sie.
«Versuchen Sie’s gar nicht erst. Sie wird nicht betrunken. Sie wird Ihnen bestimmt gefallen, falls Ihnen nicht bei manchem, was sie sagt, die Ohren weh tun.«
Sie lachte.»Meine Mutter wäre also nicht mit ihr einverstanden?«
«Höchstwahrscheinlich nicht.«
«Vermutlich habe ich sie deshalb nur ein einziges Mal gesehen. «Sie grinste mich ohne eine Spur von Verlegenheit koboldhaft an. Joans Einfluß schien mit jeder zurückgelegten Meile dahinzuschwinden.
In New York war es später Vormittag, als wir im >Biltmore< abstiegen. Lynnie machte sich zu Fuß auf einen Bummel durch die Stadt, und ich fuhr mit einem Taxi zur >Buttress<-Lebensversicherung. Die Hitzewelle hatte sich noch nicht gelegt, die Luft flimmerte. Über der Stadt hingen Lethargie und Dunst, und die Gebäude schienen wie Trugbilder hinter den blauen Auspuffgasen zu vibrieren. Sobald ich die Schwelle der Firma >Buttress< überschritten hatte, befand ich mich in der gemäßigten Klimazone. Unterwegs zum 7. Stock kondensierte die Feuchtigkeit in meiner Kleidung zu Wasser. Feucht sank ich im Zimmer 47 in Walts Besuchersessel.
«Gute Reise?«fragte er.»Sie sehen…«Er zögerte.
«Ja«, sagte ich gedehnt,»ich weiß — ich sehe mitgenommen aus.«
Er lächelte. Es lohnte sich, auf dieses Lächeln zu warten. Aus einem Lächeln kann man eine Menge herauslesen, und was Walt mir zeigte, war ein gutes Lächeln.
«Was ist mit >Snail-Express«erkundigte ich mich.
Er nahm eine Liste vom Schreibtisch.»Sehr gefällige Leute. Nur haben sie leider an den beiden Tagen fünfunddreißig Lastwagen unterwegs gehabt, die sich in westlicher Richtung auf der Autobahn befunden haben könnten. «Er überreichte mir mitleidig das Papier.»War ja auch ein Schuß ins Blaue.«
«Hm. «Ich sah mir die Liste von Namen und Adressen an und warf dann einen Blick auf meine Uhr.»Wir sollten sie lieber doch überprüfen.«
«Das habe ich beinahe befürchtet. «Eine Spur von Niedergeschlagenheit machte sich bei ihm bemerkbar.
Ich lächelte ihn an.»Wenn Sie wollen, fange ich damit an. Können Sie mir einen Laden nennen, wo man rasch gute Fotovergrößerungen bekommt?«Er nickte und sagte mir eine Adresse. Ich gab ihm das Negativ.»Die linke obere Ecke. Das Pärchen — der junge Mann und das Mädchen. «Er nickte wieder.»Und hier ist das Taschentuch. «Ich holte es aus der
Tasche.»Ich möchte Sie darum bitten, damit durch alle Büros dieser Etage und vielleicht auch der fünften zu gehen und jeden einzelnen zu fragen, was er davon hält.«
Walt besah sich das kleine weiße Viereck neugierig.
«Ein >Yogi-Bär<. Und was soll das?«
«Es gehört einem Mädchen, das über Chrysalis vielleicht mehr weiß, als sie sollte. Dem Mädchen auf dem Negativ.«
«Wenn wir sie finden, haben wir auch das Pferd?«Die Frage klang halb ungläubig, mit einem Unterton beginnender Erregung.
«Möglich.«
«Na gut. «Er stand schon an der Tür.»Bis später.«
Ich studierte die Liste. Die Firma >Snail Express< hatte sich wirklich alle Mühe gegeben. Neben den meisten Namen standen zwei Anschriften — die alte und die neue.
Dahinter stand jeweils ein Datum und der Ort, an dem der Möbeltransporter nachher wieder abgeliefert worden war. Bei den östlicher gelegenen Adressen standen viele Telefonnummern, aber nach Westen hin wurden sie seltener.
Ich arbeitete mich stur durch die Liste. Wenn neue Hausbewohner nach den neuen Nummern ihrer Vorgänger suchten, entstanden gelegentlich lange Pausen. Ich erklärte, ich riefe von der Firma >Snail Express< an und wolle mich erkundigen, ob man mit uns zufrieden sei, ob es Beschwerden gebe oder vielleicht irgendwelche Vorschläge. Ich bekam mehr Lob als Tadel zu hören und konnte mit der Zeit siebenundzwanzig Adressen von der Liste streichen.
Als Walt wieder hereinkam, zerbiß ich gerade das Ende eines seiner Bleistifte und dachte darüber nach, was als nächstes zu tun sei. Es war 15.00 Uhr. Er hatte unterwegs gegessen, trug aber ein großes, weiß eingewickeltes Paket bei sich, das er behutsam öffnete. Sechs Vergrößerungen von Peters Negativ, linke obere Ecke, in verschiedenen Größen, von Postkarte bis Briefbogengröße. Auf den kleineren Bildern waren die Gesichter am deutlichsten zu erkennen, während sie auf den größeren zu sehr verschwommen waren.
«Bis heute abend können Sie so viele Abzüge haben, wie Sie wollen. Wir müssen sie nur sofort bestellen.«
«Dann bestellen Sie sechs Stück in Postkartengröße.«
«In Ordnung. «Er griff nach dem Hörer, drückte auf ein paar Knöpfe und bestellte.
Der Junge und das Mädchen standen nebeneinander, die Gesichter ein wenig nach links gewandt. Dort saßen wir unter dem Sonnenschirm. Ihre Gesichter wirkten gelassen, nett und einander ein wenig ähnlich. Der Junge hatte allerdings dunkleres Haar. Auch die Größe der beiden war fast gleich. Einer seiner Knöpfe war entweder offen oder abgerissen. Das Mädchen trug am linken Handgelenk eine Uhr mit auffallend breitem Band. Als sie sich am Pfosten festhielt, hatte sie die Uhr nicht getragen.
«Echt amerikanische Typen«, bemerkte Walt.»Und nun?«
«Nun möchte ich wissen, was Sie über das Taschentuch gehört haben.«
Walt zog es hervor. Es war nicht mehr so frisch und nicht mehr so schön glatt wie zuvor.
«Fünfzehn sagten >Yogi-Bär<, zehn >laß mich in Ruhe<, sechs redeten Blödsinn, einer sagte >Yellowstone Park<.«
«Wie bitte?«
«Yellowstone Park.«
«Warum denn das?«
«Dort lebt doch der >Yogi-Bär<. Auf den Zeichnungen heißt das zwar >Jellystone<, aber gemeint ist der YellowstoneNationalpark.«
«In dem Park gibt’s noch wirkliche Bären?«»Natürlich.«
«Naturwunder — Ferienziel, stimmt’ s?«Ich erinnerte mich nur vage.
Walt nickte.
«Sicher bekommt man dort auch Souvenirs?«
«Und wie uns das weiterhilft!«
Da mußte ich ihm recht geben. Die Zahl der Verdächtigen wurde dadurch auf die paar Leute reduziert, die irgendwann einmal in Yellowstone Park waren — jeden Monat nur ein paar Tausend —, oder auf die paar Millionen, die jemanden kannten, der einmal dort war. Aber ich kannte einmal einen Bewerber um einen Assistentenposten im Labor für Biologische Kriegsführung in Porton, der abgelehnt worden war, weil er in seinem Schlafzimmer eine Castro-Büste russischer Herkunft stehen hatte. Souvenirs sind manchmal recht gefährlich.
«Das Taschentuch stammt vermutlich aus Japan. Haben Sie einen Laufburschen hier, der einmal nachprüfen könnte, wer es importiert und wo es hier im Handel ist?«
«Einen Laufburschen?«wiederholte Walt mißmutig.
«Der bin ich. «Er schob das Taschentuch wieder in den Umschlag, holte telefonisch einige Auskünfte ein und stand dann ächzend auf.»Dann gehe ich mich mal nach >Yogi< erkundigen. Was machen die Möbelwagen?«
«Siebenundzwanzig sind in Ordnung. Von den übrigen acht melden sich fünf nicht, drei haben kein Telefon.«
Ich versuchte es bei zwei der nicht besetzten Anschlüsse noch einmal. Wieder keine Antwort. Walt ging die kürzere Liste der noch nicht überprüften Adressen durch.
«Zerstreuen sich in alle Winde, wie? Nebraska, Kentucky, New Mexico, Kalifornien, Wyoming, Colorado, Texas und Montana. Verlangen Sie bloß nicht, daß ich die auch noch alle aufsuche!«Er schlug die Tür hinter sich zu. Dann verklangen seine kräftigen Schritte draußen auf dem Korridor.
Ich versuchte es ab und zu mit den nicht erreichten Anschlüssen. Nach zwei Stunden hatte ich Texas von der Liste gestrichen, das Ende von Walts Bleistift ganz durchgebissen und ein Stück tiefer neu zu kauen begonnen. Ich war mir darüber klargeworden, daß ich es in diesem Kaninchenbau von einem Büro nicht lange aushalten würde, und fragte mich, ob Eunice wohl wieder neben ihrem Swimmingpool lag.
Das Telefon summte.
«Sind Sie wieder im >Biltmore< abgestiegen?«fragte Walt.
«Ja.«
«Dann treffen wir uns dort in der Bar«, schlug er vor.
«Ich bin näher beim Hotel als bei Ihnen.«
«Einverstanden«, sagte ich.»Bin schon unterwegs.«
Lynnie war noch nicht zurück. Ich hinterließ eine Nachricht für sie und ging zu Walt in die Hotelbar. Sein hellblauer Anzug sah aus wie durch die Mangel gedreht, und seine Haut wirkte feucht und durchscheinend. Schuldbewußt spendierte ich ihm einen doppelten Whisky mit Eis und wartete geduldig, bis er ihn dort verstaut hatte, wo er ihm am meisten nützte. Seufzend fuhr er sich dann mit dem Handrücken über die Augen, holte ein zerknittertes Stück Papier aus der Jackentasche und strich es auf der Bartheke glatt. In angeekeltem Ton sagte er:»Zunächst einmal: Es ist gar nicht der >Yogi-Bär<.«
Ich wartete in schweigendem Mitgefühl und bestellte ihm eine zweite Runde. Auf der Liste hatte er ungefähr acht Hersteller von Souvenirs ausgestrichen. Durch jeden Namen führte eine einzige, kräftige Linie. Die oberen Linien waren noch gerade und ordentlich, bei der letzten hatte er beinahe das Papier zerfetzt. Es war schon ein sehr schlechter Tag für Walt.
«Wie Sie schon sagten, stammt das Taschentuch aus Japan. «Nach einem kräftigen Schluck von seinem zweiten Whisky lebte er etwas auf.»Einige der Firmen riefen mir zu Gefallen ihre Niederlassungen an der Westküste an. Nichts zu machen. Anscheinend stammen mindestens die Hälfte aller im Westen der Staaten verkauften Souvenirs aus Japan, aber alle Lizenzträger für >Yogi-Bären< sagten übereinstimmend, er ist es nicht. Die Kopfform stimmt nicht.«
Aus dem reichlich abgegriffenen Umschlag zog er ein kläglich aussehendes, einstmals weißes Taschentuch heraus und streifte es mit einem haßerfüllten Blick.
«Wenn das Ding da im Yellowstone Park oder in der Nähe verkauft wurde, kann es aus jeder Waschküchenfirma stammen. Da es nicht der >Yogi-Bär< ist, braucht auch niemand Lizenzgebühren dafür zu bezahlen. Es ist demnach nicht möglich, herauszufinden, wer es ins Land eingeschleppt hat und wo es an wen verkauft wurde.«
Ich überlegte zehn Sekunden lang und schlug gleichmütig vor:»Wir könnten es einmal vom anderen Ende her versuchen.«
Er starrte mich ungläubig an.»Sind Sie übergeschnappt? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«
Die Eisstücke in meinem Whisky waren zu kleinen Plättchen zusammengeschmolzen. Ich nippte an dem ertrunkenen Whisky und stellte das Glas rasch wieder hin.
Ich fuhr fort:»Einer der Möbelwagen wurde in Rock Springs im Bundesstaat Wyoming abgegeben und befindet sich auch noch dort. Es hat sich dafür noch kein anderer geeigneter Kunde gefunden. Ich habe die Firma gebeten, den Wagen festzuhalten, bis ich ihn mir angesehen habe.«
«Warum denn? Warum ausgerechnet der?«fragte Walt. Er gab sich kaum noch Mühe, den gereizten Ton seiner Stimme zu unterdrücken.
«Weil’s einer von den dreien ohne Telefonnummer ist. Weil im gleichen Staat der Yellowstone Park liegt. Und weil’s mich einfach dabei juckt.«
«Der Yellowstone Park liegt doch genau am entgegengesetzten Ende von Wyoming. Müssen mindestens vierhundert Meilen dazwischen sein.«
«Dreihundert. Ich habe auf der Landkarte nachgesehen.«
Er trank einen Schluck und rieb sich viel schneller als gewöhnlich mit dem Daumen über die Fingerkuppen. Rings um seine Augen tauchten winzige Fältchen auf.
«Ich halte das für unnütze Zeitvergeudung«, sagte er.
«Ich habe genügend Zeit.«
«Aber ich nicht.«
Er stellte das Glas hart auf die Theke, griff in die Innentasche und holte ein weißes Päckchen heraus. Er warf es mir hin.
«Ihre Fotos.«
«Danke.«
Der Blick, mit dem er mich bedachte, hatte mit dem Lächeln von heute morgen nicht mehr viel gemein. Ich fragte mich, ob ich ihn wohl losgeschickt hätte, wenn ich gewußt hätte, daß er so wenig Ausdauer besaß. Wahrscheinlich hätte ich es trotzdem getan. Schließlich hatte er nicht auf halbem Wege aufgegeben, sondern erst ganz am Schluß.
Lynnie tauchte in ihrem orangefarbenen Kleid in der Tür zur Bar auf. Sofort strafften sich die müden Männergestalten. Sie wollte nicht hereinkommen. Ich zog Walt mit mir über den dicken Teppich und machte die beiden miteinander bekannt. Wir standen draußen in der Hotelhalle. Er machte ein paar gleichgültige Bemerkungen und verabschiedete sich. Seine Miene war düster, sein Rücken drückte Ablehnung aus.
«Was ist denn dem für eine Laus über die Leber gelaufen?«fragte Lynnie.
«Er hat einen anstrengenden Tag hinter sich und muß nach Hause zu seiner Frau.«
Sie warf mir einen raschen belustigten Blick zu.»Wissen Sie eigentlich immer, was Sie daherreden?«
«Häufig.«
Sie kicherte.»Sie jedenfalls sehen viel müder aus als er.«
Wir gingen zum Empfang, um unsere Schlüssel zu holen.
«Sehr ermutigend.«
«Was machen wir heute abend? Oder wollen Sie lieber schlafen?«Sie war selbstlos genug, diese Frage ohne einen Unterton von Besorgnis zu stellen, aber als ich antwortete, ich würde sie überallhin führen, wohin sie auch wolle, da bekam ihr Schritt eine ganz besondere Elastizität. Sie entschied sich für eine zweistündige Taxifahrt zu allen Stellen der Stadt, von denen sie gehört, die sie aber am Nachmittag nicht geschafft hatte. Danach Dinner in einem Restaurant im zweiten Stock mit Glaswänden, durch die man auf die Lichter des Broadway und des Times Square hinunterschauen konnte. Um 23.30 Uhr waren wir wieder im >Biltmore<, und sie zeigte sich immer noch hellwach.
«Was für ein phantastischer, herrlicher Tag!«rief sie im Lift.
«Fein.«
«Ich werde ihn mein Leben lang nicht vergessen.«
Ich mußte über ihre kindliche Begeisterung lächeln. Es war tausend Jahre her, seit ich das letztemal so glücklich war, aber manchmal erinnerte ich mich noch daran, wie das ist. Diesen Abend fiel mir das nicht schwer.
«Sie sind ganz und gar nicht miesepetrig«, sagte sie mit breitem, zufriedenem Lachen.
«Sie wären auch nicht gerade langweilig, wenn der Lift jetzt steckenbliebe.«
Aber dem Lift fehlte die Phantasie. Er hielt vorschriftsmäßig im achten Stock, und wir gingen zu unseren Zimmern. Ihre Tür lag der meinen genau gegenüber.
Ich gab ihr einen Kuß auf die Wange.»Gute Nacht, kleine Lynnie.«
Ihre braunen Augen strahlten mich heiter an.»Gute Nacht, Gene. Schlafen Sie gut.«
«Sie auch«, sagte ich.»Morgen früh heißt unsere nächste Station Kentucky.«
Ich brauchte vier Tage, um das Mädchen auf dem Foto zu finden. Ohne Lynnie hätte ich es vielleicht in zwei Tagen geschafft. Mir war insgeheim zwar klar, daß mich nichts dazu verpflichtete, aber ich erfand triftige Gründe dafür, daß ich sie persönlich nach Lexington begleiten müsse. Wir flogen via Washington hin; in der Hauptstadt überbrückten wir die Wartezeit mit einer weiteren ausgedehnten Stadtrundfahrt per Taxi. Lynnie wollte nichts versäumen.
Eunice holte uns am Flughafen von Lexington ab und fuhr uns nach Midway. Nach einem raschen Mittagessen lieh sie mir ihren Wagen. Ich bestach Chrysalis’ ehemaligen Pfleger mit zwanzig Dollar, mich zu Sam Hengelman zu begleiten. Sam saß vor einem Farbfernseher, schaute sich einen uralten Film an und erklärte aus dem Mundwinkel, der Pferdetransporter sei von der Polizei noch nicht freigegeben. Wenn ich ihn mir ansehen wolle, so solle ich mich an die Polizei wenden.
Im Polizeirevier hörte sich ein Beamter der Staatspolizei meine Geschichte an, murmelte ein paarmal» Yeah!«, beriet sich mit seinem Vorgesetzten und förderte sodann ein paar Schlüssel zutage. Der Vorgesetzte entpuppte sich als ein gut aussehender Kriminalbeamter von Mitte zwanzig. Zu viert begaben wir uns auf den Parkplatz hinter dem Polizeirevier. Dort stand der Transporter in einer Ecke.
Chrysalis’ Betreuer zeigte mir die Box, in der das Pferd gestanden hatte, und der Polizeibeamte steuerte den Beweis bei: vier lange, glänzende Pferdehaare.
«Aus seiner Mähne«, erklärte der Pfleger selbstsicher.
Der Kriminalist behielt zwei Haare für seine Akten und schickte die beiden anderen per Eilboten an Walt bei der >Buttress<-Versicherung, dann fuhren der Pferdepfleger und ich wieder nach Midway zurück.
Eunice und Lynnie aalten sich im Swimmingpool. Der Rest des Tages und der Abend entwickelten sich fast so, wie ich es mir in meinem Tagtraum im Flugzeug vorgestellt hatte, nur daß die sechzehn Stunden Schlaf auf sechs zusammenschrumpften. Aber für mich war selbst das recht zufriedenstellend.
Als Lynnie mir am nächsten Morgen beim Frühstück sagte, ihr wäre es lieber, wenn ich nicht fort müßte, da wäre ich um ein Haar geblieben. In diesem Falle hätte >Buttress< die Versicherungssumme auszahlen müssen, und uns wäre eine Menge Kummer erspart geblieben. Aber wenn ich heute noch einmal vor dieser Entscheidung stünde, so würde ich mich wieder genauso entscheiden. Die Katze läßt das Mausen nicht. Der innere Zwang ließ mich nicht los. Ich hatte etwas an mir, weswegen sie mich aus der Armee weggeholt hatten, und diese Eigenschaft lag tief in meiner Natur verankert. Mir war es einfach nicht möglich, die Jagd jetzt aufzugeben. Das wußte Keeble, wie ich mir eingestehen mußte. Er brauchte nichts weiter zu tun als mich anbeißen lassen.
«Wenn ich das Pferd finden will, muß ich jetzt gehen«, sagte ich.
«Der Teufel soll das Pferd holen«, bemerkte Lynnie.
Ich lachte.»Sie haben rasch gelernt.«
«Ich mag Eunice!«verteidigte sie sich.»Mich schockiert ihre Art nicht.«
Daraus entnahm ich, daß Lynnie zwar schockiert war, es aber nie zugeben würde.
«Aber Sie kommen doch hierher zurück? Ich meine, ehe Sie nach England zurückfliegen?«
«Ich denke schon.«
Sie spielte mit ihrer Kaffeetasse und betrachtete den Inhalt.»Es ist erst eine Woche her, seit ich Sie letzten Sonntag in Ihrer Wohnung abholte.«
«Und Sie sind in dieser Zeit um ein Jahr älter geworden.«
Sie warf mir einen verwunderten Blick zu.»Warum sagen Sie das?«
«Weil Sie es gerade gedacht haben.«
«Ich weiß«, sagte sie verwirrt.»Aber woher wissen Sie es denn?«
«Irgendein Kristall im Oberstübchen. Funktioniert aber leider mit Unterbrechungen.«
«Das macht nichts, wenn Sie mich fragen. «In ihrem Lachen lag leiser Spott.»Stellen Sie sich vor, Sie wären ununterbrochen auf Eunices Sender eingestellt.«
In diesem Augenblick kam Eunice aus dem Haus geschlendert. Sie trug einen stahlblauen Morgenmantel und einen erträglichen Katzenjammer. Beides war noch vorhanden, als sie nach zwei Tassen Kaffee und einer Zigarette Lynnie und mich zum Flughafen fuhr.
«Wiedersehen, Sie Hundesohn«, sagte sie, als ich neben ihrem Fenster stand.»Ich hab’ das Gefühl, Sie können jederzeit wiederkommen, wenn Sie wollen.«
Lynnie warf ihr einen scharfen Blick zu, voll plötzlich auftauchenden Argwohns. Ich verabschiedete mich lächelnd von den beiden und betrat die Abfertigungshalle. Mit dem Airbus legte ich die tausend Meilen bis Denver zurück und charterte für die letzten zweihundert Meilen von einer ansässigen Firma eine zweimotorige Piper. Während des ganzen Weges nach Rock Springs hockte der Pilot neben mir und kaute seine Fingernägel wie ein Kannibale, der sich selbst
auffressen will. Bei der Landung war mir übel.
An diesem heißen, ausklingenden Sonntagnachmittag wirkte die kleine Wüstenstadt wie ausgestorben. Über dem endlosen Autofriedhof mit seinem Heer rostender Wracks flimmerte die Hitze. Ein >Greyhound<-Bus rollte vorbei. Hinter den Fenstern bewegten sich die Fahrgäste wie Fische in einem Aquarium, und auf den Rasenflecken vor den Häusern der wohlhabenden Bürger hielten Rasensprenger die Hitze in Schach. An der Bushaltestelle erfuhr ich, daß >dem alten Hagstrom sein Junge< der hiesige Agent der Firma >Snail Express< sei, aber als ich den alten Hagstrom auf der vorderen Veranda seines kleinen Holzhauses fand, fächelte er sich in einem Schaukelstuhl frische Luft zu und erklärte, sein Junge sei ausgegangen.
Hagstrom schien jedoch froh über die Abwechslung zu sein. Er sagte mir, ich solle ins Haus gehen und zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank holen. Der Kühlschrank stand im Wohnzimmer; ich betrachtete das Durcheinander durchgesessener Polstermöbel, schmutziger Gardinen und Teppiche, ungespülter Tassen und Teller, Gläser und Flaschen, und mitten drin ein gewaltiges, nagelneues Fernsehgerät. Ich brachte das Bier mit auf die Veranda, setzte mich auf die oberste Stufe und trank wie mein Gastgeber direkt aus der Flasche.
Der Alte schaukelte, kratzte sich, trank und versicherte mir ganz nebenbei, ich könne mich darauf verlassen, daß sein Junge jeden Augenblick zurück sein müsse. Ich schaute die leere Straße entlang. Auf den übrigen Veranden erkannte ich andere schaukelnde Gestalten, die teilweise wegen der geschlossenen Fliegengitter kaum zu sehen waren. So saßen sie da und sahen die Welt vorüberrollen. Nur befand sich diese Welt auf Rädern und hielt niemals zu einem Plausch an.
Nach zwei weiteren Flaschen Bier — der alte Hagstrom setzte mir gerade auseinander, wie er 1967 das Vietnamproblem gelöst hätte — kam sein Junge in einem pockennarbigen alten
Chrysler angerollt. Der Junge war wirklich noch ein Junge — höchstens achtzehn, sein Enkel. Er wischte sich die Hände an seinem verschmierten Sporthemd und den Jeans ab und streckte mir dann eine davon in ebenso freundlichem und lässigem Willkommensgruß hin, wie sein Großvater ihn mir entboten hatte. Ich erklärte ihm, weshalb ich gekommen war.
«Natürlich können Sie sich den Transporter mal ansehen«, sagte er liebenswürdig.»Jetzt gleich?«
«Wenn Sie nichts dagegen haben.«
«Nicht im geringsten.«
Er lud mich in seinen Brutkasten von einem Auto, schaukelte es lässig um ein paar Ecken und hielt mit einem Ruck vor einem windschiefen Tor in einer mannshohen Mauer an. Durch das Tor sah ich vier Möbelwagen der Firma >Snail Express< in verschiedenen Größen stehen. Es waren Anhänger zum Ankuppeln.
«Der dort!«Ich deutete auf den größten.
«Der mußte letzten Samstag hereingekommen sein. Ich sehe mal nach. «Er schloß den kleinen Verschlag aus Backsteinen auf, der als Büro diente. Ich trat hinter ihm ein. Hier drin war’s so heiß, daß Satan seine helle Freude gehabt hätte.
Er schlug in einem Buch nach, dann sagte er:»Stimmt — am Samstag. Kam aus New York. Miete war für eine Woche im voraus bezahlt. Die Woche wäre erst am Montag zu Ende gewesen.«
«Wissen Sie noch, wer ihn abgeliefert hat?«
«Hm, Augenblick mal. Richtig, war so’n alter Knacker. Viel weiß ich nicht mehr von ihm, aber er hatte weißes Haar.«
«Und mit welchem Wagen hat er den Möbelanhänger gezogen?«
«Ich hab’ ihm beim Ab kuppeln geholfen — hm, es muß ein Kombi gewesen sein. Grau, wenn ich mich nicht irre.«
«Die zwei da waren es nicht?«Ich zeigte ihm das Foto.
«Nein. «Das klang sehr entschieden. Er konnte sich nicht erinnern, die beiden jemals gesehen zu haben. Ob ich seinen Großvater schon gefragt hätte? Ich hatte.
Er habe den Möbelwagen schon ausgefegt, aber ich könne gern einen Blick ins Innere werfen, wenn ich wolle.
«Warum haben Sie ihn ausgefegt?«fragte ich.
«Das mach’ ich immer. Er war aber ziemlich sauber.«
Ich sah trotzdem nach, fand aber keine Pferdehaare. Nichts wies darauf hin, daß man Chrysalis in diesen Anhänger gezwängt hatte. Nur die Bauart gab mir einen Hinweis: Das Dach ließ sich nach außen öffnen, um das Aufladen von sperrigen Gegenständen zu erleichtern. Ich hatte mir Gedanken darüber gemacht, daß Chrysalis in einem winzigen, dunklen Wagen transportiert worden war. Mit einem offenen Dach war das natürlich schon eine ganz andere Sache.
Hagstroms Enkel rief freundlicherweise für mich den Selbstfahrerdienst an und besorgte mir einen schwarzen Chevrolet mit Klimaanlage, der nur fünftausend auf dem Tacho hatte. Als ich am Morgen zum Frühstück nach Gardiner fuhr, waren es dreihundertfünfzig Meilen mehr.
Die Straße führte genau durch den Yellowstone Park. Die Dämmerung kroch dunstig durch die Tannen, und ab und zu erblickte ich im Vorbeifahren einen See, der wie Quecksilber schimmerte. Ein häßlicher, großer Elch kam mir zu Gesicht, aber kein Bär. Yogi schlief noch.
Den ganzen Vormittag lief ich durch die Stadt. Kein einziger Laden führte die Taschentücher, niemand hatte auch nur etwas Ähnliches auf Lager. Mit dem Foto erreichte ich überhaupt nichts. Ich genehmigte mir zu Mittag ein Sandwich mit gebackenem Schinken, Tomate und Salat in einer Schnellimbiß-Gaststätte und fuhr die 54 Meilen nach West Yellowstone.
Mit meiner Nachmittagstour erreichte ich genausowenig. Erhitzt, müde und enttäuscht saß ich in meinem Chevrolet und überlegte, was ich als nächstes tun sollte. In dem Möbelanhänger war keine Spur von Chrysalis zu sehen, auch wenn es höchstwahrscheinlich der Möbelwagen war, den die beiden Fahrer unterwegs gesehen hatten. In der Gegend des Yellowstone Parks gab es keine Taschentücher, wie ich eines hatte. Walt hatte recht. Die Reise war sinnlose Zeitvergeudung.
Ich dachte an die lange Rückfahrt quer durch den Wald mit der Überquerung des Canyon in der Mitte und an die hundert Meilen am Schluß durch die Wüste bis Rock Springs und beschloß, die Fahrt bis morgen aufzuschieben. Seufzend suchte ich mir das am besten aussehende Motel und ließ mir das beste Zimmer geben. Unter der Dusche wusch ich mir den Staub des Tages vom Leib und streckte mich dann für zwei Stunden auf dem überdimensionalen Bett aus.
Die Bedienung, die mir zum Abendessen mein Steak brachte, war groß, gut gepolstert, freundlich und offenbar der Meinung, ein alleinstehender Mann sei auf ein bißchen Klatsch aus. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als daß sie abhaute und mich in Frieden essen ließe, aber es herrschte wenig Betrieb, und so erfuhr ich mehr über ihr verwickeltes Familienleben, als mir lieb war.
Schließlich wollte ich nur noch ihren Redefluß unterbrechen. Ich zog das Taschentuch heraus und fragte sie, wo ich wohl ein neues von derselben Sorte kaufen könnte.
Sie glaubte, >die Mädchen< könnten es vielleicht wissen, und ging sie fragen. Erleichtert aß ich mein Steak auf. Dann kam sie schon wieder zurück und legte mir zweifelnd das Taschentuch auf den Tisch.
«Sie sagen, man könnte vielleicht in Jackson eins bekommen. Dort findet man Bären auf Aschenbechern und anderen Sachen. Das ist unten in den Tetons. Jackson ist ein Ausflugs-ort — vielleicht hundert oder hundertfünfzig Meilen von hier.«
In der vergangenen Nacht war ich durch Jackson gekommen und hatte nichts weiter gesehen als eine schlafende kleine Stadt, wie man sie im Westen überall findet. Als ich am Dienstag auf dem Rückweg nach Rock Springs wieder durch Jackson kam, schwirrten ungezählte Einwohner und Urlauber umher. Alle trugen einheitliche Cowboykleidung. Das war also der Edel-Westen. An der Hauptstraße reihte sich ein Souvenirladen an den anderen, und schon der erste, in dem ich mein Glück versuchte, hatte einen ganzen Stapel von Taschentüchern mit Bären anzubieten.