Kapitel 2

Sie gaben sich auf ihre subtile Art furchtbare Mühe, aber mir kam die Sache doch lächerlich vor.

«Sie verstehen doch etwas von Pferden«, sagte Keeble.

«Ihr Vater hat doch Pferde trainiert.«

«Da ist einmal die Polizei«, sagte ich bescheiden.»Dann die Versicherungsgesellschaft. Außerdem jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in ganz Kentucky, die ein Auge für Pferde haben. Schließlich nehme ich an, daß eine Belohnung ausgesetzt worden ist?«

Teller nickte.

«Warum ausgerechnet ich?«

«Die beiden anderen Pferde wurden nie gefunden.«

«Amerika ist groß«, sagte ich.»Wahrscheinlich laufen die beiden irgendwo frei auf der Prärie herum und lassen es sich als Stammväter ganzer wilder Mustangherden gutgehen.«

Teller knurrte:»Der erste Hengst wurde zwei Jahre nach seinem Verschwinden in einem Kanal tot aufgefunden.«

«Damit war der Fall ja dann erledigt.«

«Aber der zweite — den hab’ ich auch gekauft. Mir gehörte ein Zehntel. Für mich ist es also das zweitemal.«

Ich starrte ihn an.»Dieselben Begleitumstände?«

Widerwillig schüttelte er den Kopf.»Nein — bis auf den Umstand, daß sie beide ausbrachen. Allyx wurde nie gefunden. Deshalb möchte ich, daß im Fall Chrysalis etwas unternommen wird.«

Ich schwieg.

Keeble wurde unruhig.»Gene, Sie haben doch sonst nichts

vor. Warum machen Sie nicht in den Staaten Urlaub? Wie wollen Sie sich denn die Zeit vertreiben, wenn Sie in Putney bleiben?«

Er blinzelte nun nicht mehr. Das legte sich immer, wenn er sehr gespannt war. Es war der sicherste Hinweis auf die komplizierten Überlegungen, die sich manchmal hinter seinen nichtssagenden Bemerkungen verbargen. Er kann’s doch nicht ahnen, fuhr es mir durch den Kopf. Er konnte zwar mit Menschen umgehen, aber Hellseher war er doch auch nicht. Ich zuckte die Achseln und antwortete gleichmütig:»Im Kew Garden Spazierengehen und Orchideen schnuppern.«

«Orchideen haben keinen Geruch«, erklärte Teller überflüssigerweise.

«Das weiß er«, sagte Keeble. Er blinzelte immer noch nicht.»Er meint damit nur, daß er sich auf unnütze Art und Weise die Zeit vertreiben will.«

«Mir scheint, ihr beide sendet auf einer eigenen, ganz privaten Wellenlänge. «Teller seufzte.»Aber ich möchte gern, Gene, daß Sie mit mir in die USA zurückkehren und sich wenigstens einmal umsehen. Was kann das schon schaden?«

«Und was kann es nützen? Das liegt nicht auf meiner Linie. «Ich wandte den Blick ab und starrte ins grüne Wasser.»Außerdem — bin ich schrecklich müde.«

Darauf fiel den beiden nicht so rasch eine Antwort ein. Es wäre so einfach gewesen, wenn mir nichts weiter gefehlt hätte als schlichte Überarbeitung und nicht die tödliche Müdigkeit von einem Kampf, bei dem ich nicht wußte, ob ich ihn gewonnen hatte. Einen wahnsinnig gewordenen Gaul auf einem Gelände von ein paar tausend Quadratmeilen zu suchen erschien mir auch nicht die richtige Kur.

Joan kam aus der Kabine und unterbrach unser bedrücktes Schweigen mit einer Schüssel Salat und lautem, fröhlichem Geschnatter. Ein Falttisch wurde aufgestellt und gedeckt, dann saßen wir beisammen in der Sonne und genossen kaltes Huhn und warmes Stangenbrot. Es gab angenehm schmeckenden Vin Rose zu trinken und Erdbeeren mit Schlagsahne zum Nachtisch. Peter, der trotz der Anweisung seiner Mutter immer noch in seiner nassen Badehose herumlief, nahm immer abwechselnd einen Bissen und knipste dann wieder. Lynnie neben mir erzählte Dave Teller eine lustige Geschichte aus der Schule. Ihr warmer bloßer Arm streifte mich ab und zu unbeabsichtigt. Eigentlich hätte ich dieses gemütliche Sonntagspicknick am Fluß genießen sollen. Ich gab mir alle Mühe. Ich lächelte und antwortete, wenn ich angesprochen wurde. Außerdem konzentrierte ich mich auf Geschmack und Geruch des köstlichen Essens, aber der dicke schwarze Klumpen von Niedergeschlagenheit in mir wuchs und wuchs trotzdem.

Um vier Uhr nachmittags, nach dem Geschirrspülen und einer ausgiebigen Siesta, fuhren wir nach Henley zurück. Meine Weigerung schien weder Keeble noch Teller sehr zu stören. Daraus schloß ich, daß ihr Beweggrund zu diesem Vorschlag — wie immer er auch aussehen mochte — sicherlich nicht die felsenfeste Überzeugung war, ich und nur ich allein könnte den verschwundenen Gaul finden. Ich vergaß die ganze Geschichte. Es fiel mir nicht einmal schwer.

In der Einfahrt zur Schleuse Harbour hatte ein breiter, flacher Flußkahn Schwierigkeiten. Teller, der wieder mit der Leine im Bug stand, rief Keeble etwas zu und streckte die Hand aus. Wir alle folgten mit den Blicken seiner ausgestreckten Hand.

An der Stelle, wo der Fluß sich gabelte und wo es links um eine Biegung gemächlich zur Schleuse, rechts aber ziemlich reißend genau zum Wehr ging, stand mitten in der Strömung ein starker, viereckiger Pfahl mit einem Schild: GEFAHR!

Ein Mädchen lag flach in dem Kahn, den Oberkörper über dem Wasser, und umklammerte den Pfahl. Sie versuchte, eine Leine um den Pfahl zu schlingen, indem sie mit beiden Händen daran herumfummelte, aber es schien ihr nicht zu gelingen. Im Heck stand mit besorgter Miene, eine Ruderstange in der Hand, ein junger Mann in einem rotgelben Hemd. Als er uns kommen sah, winkte er uns zu. Keeble drosselte die Maschine und ließ das Boot nähergleitend.

«Könnten Sie uns helfen, Sir?«rief der junge Mann.

Der Flußkahn war voll in die starke Strömung geraten, und nur die schmächtigen Arme des Mädchens bewahrten ihn vor der Katastrophe; dafür machte der junge Mann einen bemerkenswert kühlen Eindruck. Keeble verfluchte die ungeschickten Greenhorns, schaltete in den Rückwärtsgang und ließ das Schiff vorsichtig nähergleiten. Im Gegensatz zu dem flachen Kahn war die >Flying Linnet< zu groß, um über dieses Wehr zu gehen, das aus einer ganzen Reihe einzeln regulierbarer Öffnungen bestand. Die starke, sommerliche Strömung hätte aber ausgereicht, uns böse an die Betonmauer zu drücken, und uns in die peinliche Lage gebracht, fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen.

Keeble rief dem Mädchen zu, wir würden sie wegschleppen. Sie solle mir oder Lynnie die Leine reichen, je nachdem, wen sie leichter erwischen könne. Das Mädchen nickte und umklammerte immer noch, vor Anstrengung zitternd, den Pfahl. Ihr Haar hing dabei bis fast ins Wasser.

«Festhalten!«rief ihr Lynnie beschwörend zu.»Bitte, nur festhalten! Einen Augenblick noch, gleich haben wir’s!«Sie beugte sich über Bord, als wollte sie die kurze Strecke dadurch noch verringern. Je näher wir kamen, um so besorgter und ängstlicher wurde sie. Die Maschine tuckerte langsam und so leise, daß das drohende Rauschen des Wehrs unsere Ohren erfüllte, aber Keeble blieb ruhig und gelassen. Er war in jeder Hinsicht Herr des Bootes und der Situation. Als wir noch zwei Meter entfernt waren, nahm das Mädchen eine Hand von dem Pfahl und reichte Lynnie das Tau entgegen. Dann klatschte die Leine ins Wasser. Das Mädchen im Boot schrie auf und schlug mit der Hand aufs Wasser, erwischte die Leine aber nicht mehr und bemühte sich nun, den Arm wieder um den Pfahl zu schlingen. Lynnie rief ihr zu, sie solle nach der Leine greifen, die genau unter ihrer Brust an dem Flußkahn festgemacht war, und sie noch einmal herüberreichen. Doch das Mädchen geriet in Panik und hörte nicht mehr zu. Es getraute sich nicht, den Pfahl noch einmal loszulassen, und schrie in nacktem Entsetzen auf.

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie der junge Mann zum Bug ging, um ihr zu helfen. Endlich schien auch er zu erkennen, wie bedrohlich die Lage war. Die Ruderstange schwankte in seiner Hand, beschrieb einen Halbkreis und traf Dave Teller am Kopf. Die Knie des Amerikaners gaben nach, er kippte vom Bug ins Wasser.

Bevor die anderen kapiert hatten, was geschehen war, stand ich schon auf dem Kabinendach, hatte die Schuhe ausgezogen und war ins Wasser getaucht. Ich hörte noch Keebles verzweifelten Aufschrei» Gene!«, dann brauste mir schon das Wasser in den Ohren. Ich dachte nur an eines: Wenn ich Teller finden wollte, dann mußte ich mich beeilen. Was in einen Fluß wie die Themse fällt, ist rasch außer Sicht. Algen machen das Wasser trüb.

Ich tauchte möglichst nahe der Stelle, an der er verschwunden war, ein und stieß mit kräftigen Armstößen nach unten. Ich war schneller als Teller, ich mußte einfach schneller sein. Ich war ziemlich sicher, daß die Ruderstange ihn bewußtlos geschlagen hatte, dann sank er sicher nur langsam unter.

In einer Tiefe von etwas mehr als zwei Metern stießen meine Finger auf Stoff. Selbst mit geöffneten Augen hätte ich nichts sehen können. Während ich versuchte, mit kräftigen Schwimmstößen wieder nach oben zu gelangen, tastete ich mit der Rechten nach seinem Gesicht. Ich fand es, klemmte ihm die Nase mit zwei Fingern zu und preßte den Handballen gegen seinen Mund. Dann drehte ich ihn so herum, daß ich ihn vor der Brust hatte. Er wehrte sich nicht. Er spürte nichts.

Von da an verlief die Rettung nicht mehr nach Plan. Ich kam nicht wieder an die Wasseroberfläche. Die Unterströmung war zu reißend und kalt, sie zog uns nach unten. Mit unwiderstehlicher Gewalt hielt sie unsere beiden Körper umklammert. Ein Gedanke schoß mir durch den Kopf: Wir werden gegen das Wehr schlagen und dort unten festgehalten — aus. Einen heimtückischen Augenblick lang war mir das sogar gleichgültig. Damit wären alle meine Probleme gelöst. Genau das wollte ich doch. Aber nicht mit einem anderen Leben in meinen Armen, für das ich buchstäblich die einzige Hoffnung darstellte.

Meine Lungen begannen vor Luftmangel zu schmerzen. Wenn wir gegen das Wehr stoßen, dachte ich, dann klettere ich hinauf. Die Oberfläche ist vielleicht nicht glatt und schlüpfrig. Es mußte möglich sein…

Plötzlich gab es einen Ruck, als ob ein Fischer uns geangelt hätte. Ich spürte, wie wir die Richtung etwas änderten, dann erfolgte ein zweiter Ruck. Diesmal war er kräftiger, und auch der Zug danach war stärker. Keine wunderbare Errettung. Das Wasser war es, das uns in den Klauen hatte, fester, unerbittlich, das uns aufs Wehr zu zog. Seine überwältigende Kraft spottete kleinen Menschenkräften und ließ mein Strampeln wie das Flattern eines Falters im Wirbelsturm wirken. Plötzlich saugte uns die ziehende Kraft noch schneller an, und wir prallten gegen ein Hindernis. Vielmehr war es Teller, der anschlug, und zwar mit einer Wucht, daß er mir beinahe aus den Armen gerissen wurde. Wir drehten uns im Strudel, meine Schulter stieß gegen Beton, dann drehten wir uns wieder und prallten noch einmal dagegen. Es gelang mir nicht, mich mit meiner freien Hand irgendwo festzuklammern. Das Wirbeln und Aufprallen ging weiter, und der Schmerz in meiner Brust drang immer tiefer ein. Ich wußte, daß ich kein Wehr emporklettern können würde. Ich konnte es nur finden, wenn ich dagegenprallte, und wenn ich danach griff, dann traf es mich schon wieder an einer anderen Stelle.

Das Aufschlagen hörte auf, aber wir trudelten weiter. In meinen Ohren toste es, als wollte mir der Schädel platzen. In meiner Brust war ein Schwert eingebettet. Stärker noch als vorhin überkam mich die Versuchung, einfach den Mund aufzumachen und alles zu beenden. Aber daran hinderten mich meine eigenen, seltsamen Regeln und Grundsätze: Ich brachte es nicht fertig, wenn ein anderer in die Sache verwickelt war und wenn ich etwas zu tun hatte, wofür ich ausgebildet worden war. Ein andermal, dachte ich benommen, ein andermal werde ich mich einfach ertränken. Diesmal warte ich, bis mein Verstand aus Sauerstoffmangel von allem aufgibt, was auch nicht mehr lange auf sich warten lassen wird; wenn ich daran nichts ändern kann, dann trifft mich auch keine Schuld.

Das Trudeln hörte mit einemmal auf, die übermächtige Strömung ließ nach und lockerte ihren tödlichen Griff. Ich war nur noch Sekunden von der Ohnmacht entfernt und kapierte zuerst nicht. Dann stieß ich mich mit den Beinen, die ich halb um Teller gewickelt hatte, leicht ab, und wir schossen nach oben, wie von einer Feder geschnellt. Mein Kopf durchstieß die Wasseroberfläche, ich sah den Sonnenschein, und wie silbernes Feuer strömte die Luft in meine verkrampften Lungen.

Das Wehr, das mörderische Wehr, war fünfzig Meter entfernt. Aber fünfzig Meter stromaufwärts! Wir waren glatt darunter weggetaucht.

Ich nahm meine steifgefrorenen Finger aus Tellers Gesicht, hob seinen Kopf an und blies Luft in seinen schlaffen Mund. Die nun sanfte, verhältnismäßig warme Strömung trug uns gemächlich davon. Kühle Bläschen sprudelten uns gegen das Genick. Ich trat mit den Beinen das Wasser, hielt Teller hoch und blies ihm weiter die kläglichen Reste meiner Puste in die

Lungen. Er reagierte nicht. Resigniert dachte ich, wie außerordentlich unzuvorkommend das doch von ihm wäre, wenn er gleich am Anfang schon gestorben wäre und ich mich ganz umsonst abgestrampelt hätte.

Plötzlich hörte ich Rufe vom Ufer her. Leute zeigten auf uns, und jemand kam in einem kleinen Boot mit Außenborder auf uns zugeschossen. Der Motor tuckerte geräuschvoll neben meinem Ohr. Jemand streckte die Hand über Bord.

Ich schüttelte den Kopf.»Ein Seil!«rief ich und beatm ete wieder Teller.»Los, ein Seil. Und dann langsam ziehen.«

Einer der beiden Männer war anderer Meinung, aber der zweite tat, was ich verlangte. Ich wand mir das Seil zweimal um den Arm und packte es. Als ich nickte, ließen sie das Boot weggleiten, bis ich von der Schraube weit genug entfernt war. Dann zogen sie uns langsam aufs Ufer zu.

Unterwegs verpaßte ich Teller über zehn meiner reichlich verbrauchten Atemzüge. Sie schienen ihm nicht zu helfen.

Das kleine Boot zog uns aus der gischtenden Hälfte des Flusses unterhalb des Wehrs ins ruhige Wasser auf der Schleusenseite. Eine ganze Traube hilfreicher Leute erschien. Zweifellos war Hilfe vonnöten, aber ich ließ Teller nur ungern los, bis schließlich ein hochgewachsener, ruhiger Mann aus der Menge auftauchte, sich flach auf den Bauch legte und seine Hände unter die Schultern des Amerikaners schob.

«Keine Sorge«, sagte er,»wir beatmen ihn gleich weiter.«

Ich nickte, nahm meinen Mund von Tellers Lippen und überließ sein Gewicht dem Fremden. Er zog ihn so rasch wie möglich aus dem Wasser. Ich stützte dabei Tellers Brustkasten und spürte unter meiner Hand plötzlich einen tiefen Atemzug. Meine Luft reichte nicht mehr aus, es dem Fremden mitzuteilen, aber Teller machte sich selbst durch ein halbersticktes Husten bemerkbar, als er schon halb aus dem Wasser war. Er schlug die Augen auf. Der Fremde zerrte ihn noch rascher hinauf aufs Gras. Als Tellers Knöchel hart gegen die Betonkante schlugen, machte sich sein wiederkehrendes Bewußtsein auf eine Weise Luft, die nichts mit Erleichterung über das knappe Entrinnen vom Tod durch Ertrinken zu tun hatte. Mitten zwischen einem Seufzer und einem Aufstöhnen murmelte er» Jesus!«und wurde wieder schlaff.

Ein zweites kräftiges Händepaar zerrte mich an Land. Ich kniete neben ihm nieder und befühlte die glücklicherweise nur kleine Schwellung an der Schläfe. Sein gurgelndes, mühsames Atmen machte mir allerdings Kummer.

«Umdrehen«, sagte ich.»Vorsichtig, damit er nicht seine Zunge verschluckt.«

Wir legten ihn auf die Seite. Sofort atmete er leichter, aber ich ließ nicht zu, daß man ihn hochhob und zur Schleuse trug. Fast jede Verletzung wird nur schlimmer, wenn man den Verletzten transportiert, und er war schon genug herumgezerrt worden. Der ruhige Fremde stimmte mir zu und rannte nach einem Arzt.

Der Schleusenwärter kam den Fußweg entlang. In seinem Kielwasser folgte die Familie Keeble. Ihre Gesichter waren vom Schreck gezeichnet, und Lynnie hatte geweint.

«Gott sei Dank!«rief Keeble und ging neben mir in die Hocke.»Ihr seid beide noch da!«Das klang mehr ungläubig als erleichtert.

Ich schüttelte den Kopf.»Er hat sich irgendeine Verletzung zugezogen.«

«Schlimm?«

«Weiß nicht. Er ist gegen das Wehr gekracht.«

«Wir haben euch gar nicht über das Wehr gehen sehen. Wir beobachteten.«

«Sie müssen drunter hergetaucht sein«, sagte der Schleusenwärter.»Durch eines der Schleusentore. Die Teile des Wehrs lassen sich wie Schiebefenster nach oben ziehen. Heute hatten wir zwei davon ein Stück hochgekurbelt, weil der Fluß nach dem vielen Regen ‘ne Menge Wasser führt.«

Ich nickte.

Dave Teller würgte und kam wieder zu sich. Das Wasser in seinen Lungen löste einen heftigen Hustenanfall aus. Jede Erschütterung bereitete ihm sichtlich Schmerzen. Eine flüchtige Handbewegung machte deutlich, wo der Kummer zu suchen war.

«Sein Bein«, sagte Keeble.»Es blutet nicht — vielleicht gebrochen?«

Der Ruck, als wir gegen das Wehr krachten, hätte dazu ausgereicht. Ich sagte es ihm.»Wir können momentan nichts für ihn tun«, meinte Keeble und betrachtete Dave Teller mit hilfloser Miene.

Die Menge ringsum wartete wie ein Mann. Sie murmelten mitfühlend, aber dabei genossen sie das Unglück. Sie lauschten Tellers Husten und sahen zu, wie er vor Schmerzen die Hände ins Gras krallte. Sinnlos, diese Leute zu ersuchen, wegzugehen.

«Was ist aus dem Flachboot geworden?«fragte ich Keeble.

«Wir haben es ans Ufer geschleppt. Lynnie hat das Seil erwischt. Die beiden jungen Leute waren zu Tode erschrocken. «Er schaute sich flüchtig nach ihnen um, aber sie befanden sich nicht in der Menschenmenge.»Sind vermutlich hinten an der Schleuse geblieben. Das Mädchen hat fast einen hysterischen Anfall bekommen, als Sie und Dave nicht mehr auftauchten. «In der Erinnerung wurde sein Gesicht ausdruckslos.»Wir haben sie in die Fahrrinne geschleppt und dort festgemacht. Dann sind wir die Schleusenkammer entlanggelaufen, um den Schleusenwärter zu holen, aber der war bereits hier unten. «Er blickte über den Fluß zu dem hübschen Wehr hinüber.»Wie lang wart ihr unter Wasser?«

«Ein paar Jahrhunderte.«»Nein, im Ernst.«

«Kann ich nicht genau sagen. Vielleicht drei Minuten.«

«Das reicht.«

«Mhm.«

Er betrachtete mich sachlich, wieder ganz der Chef. Mein grünes Jerseyhemd war auf einer Schulter eingerissen.

«Verletzt«, stellte er nüchtern fest.

«Das Wehr hat ein paar Buckel«, pflichtete ich ihm bei.

«Da unten sieht’s aus wie eine richtige Treppe«, erklärte der Schleusenwärter ernsthaft.»Sie führen vom oberen Niveau bis zum unteren herab, wissen Sie. Ich nehme an, die Strömung muß Sie diese Stufen runtergerollt haben. Wenn Sie mich fragen — ein wahres Wunder, daß Sie überhaupt wieder hochgekommen sind! Jedes Jahr fallen ein paar Leute in den Fluß, und die kriegt man nie wieder zu sehen. Die Strömung nimmt sie dicht über dem Grund mit bis hinaus ins Meer.«

«Wie reizend«, murmelte Keeble.

Dave Teller hörte zu husten auf, rollte sich auf den Rücken und biß sich in den Handrücken. Seine kräftige Hakennase ragte schroff in den Himmel, und die Feuchtigkeit auf seinem Gesicht stammte nicht von der Themse. Nach einer Weile ließ er die Hand sinken und erkundigte sich bei Keeble, was eigentlich geschehen sei. Keeble erklärte es ihm mit wenigen Worten, und die halb geschlossenen Augen wandten sich mir zu.

«Ein Glück, daß wir Sie dabei hatten«, sagte er matt. In seiner Stimme lag ein Lächeln, aber es schaffte den Weg bis auf sein Gesicht nicht. Behutsam betastete er seinen Schädel und ächzte, als er die Beule erreichte.»Ich kann mich an nichts mehr erinnern.«

«Auch nicht daran, daß Sie mich baten, Ihr Pferd zu suchen?«

Er nickte langsam und sehr vorsichtig.»Doch. Sie haben nein gesagt.«

«Ich hab’s mir anders überlegt. Ich tu’s.«

Keeble schaute mir in der Kabine der >Flying Linnet< zu, wie ich langsam meine durchnäßten Sachen abstreifte. Ich hatte unter dem Wehr anscheinend gut die Hälfte meiner Muskeln eingebüßt. Die Knöpfe wollten nicht aus ihren Löchern schlüpfen.

«Sie haben gehört, was er sagte«, bemerkte Keeble.»Es war ein Glück, daß wir Sie bei uns hatten.«

Ich gab ihm keine Antwort.

«Das sollten Sie sich hinter die Ohren schreiben«, fuhr Keeble fort.»Bleiben Sie. Man weiß nie, wann man gebraucht wird.«

«Klar«, murmelte ich und wollte nicht zugeben, daß ich genau verstanden hatte, worauf er anspielte.

Er ließ sich nicht ablenken.»Sie sind ebenso unersetzlich wie Daves Pferd.«

Meine Lippen zuckten. Genau das war es. Er würde es etwas schwerer haben. Mit persönlichen Gefühlen hatte das nichts zu tun.

Ich wand mich aus dem Hemd. Er reichte mir ein Handtuch und betrachtete ausdruckslos die Male dieser und früherer Aktionen.

«Ich meine es ernst, Gene.«

«Ja. «Ich seufzte.»Na ja, ich bin ja noch da.«

Das war schon fast zuviel des Zugeständnisses, aber es schien ihn zumindest so weit zu beruhigen, daß er das Thema wechselte.

«Warum fliegen Sie nun doch in die Staaten?«

«Weil ich es ihm schuldig bin — vielleicht.«»Wem? Dave?«

Ich nickte.

«Versteh’ ich nicht«, sagte er stirnrunzelnd.»Wenn einer einem etwas schuldig ist, dann doch sicher er Ihnen, oder?«

«Nein. Wenn ich schneller gewesen wäre, so wäre er gar nicht über Bord gefallen und hätte sich nicht die Hüfte zerquetscht. Zuviel Whisky und Wein, zuviel Dösen in der Sonne. Ich war viel zu langsam. Miserabel und schandbar langsam!«

Er machte eine ungeduldige Handbewegung.»Machen Sie sich nicht lächerlich, Gene. Mit Schnelligkeit läßt sich so ein Unfall nicht verhüten.«

Ich schlang mir das Handtuch um den Hals und begann meine Hose auszuziehen.

«Dieser Unfall war ein Mordversuch«, sagte ich knapp.

Er starrte mich an. Dabei blinzelte er langsam hinter der Brille. Dann wandte er sich ab, öffnete die Kabinentür und trat hinaus ins Cockpit. Ich hörte, wie er nach Peter rief.

«Komm sofort aus dem Kahn! So ist’s recht. Und laß keinen anderen hinein, das ist wichtig!«

«Nicht einmal Lynnie?«

«Nicht einmal Lynnie.«

«Fällt mir auch gar nicht ein«, hörte ich Lynnie kläglich vom Cockpit her sagen.»Ich hab’ die Nase von solchen Flußkähnen voll.«

Sie hatte nicht viel von ihrem Vater mitbekommen. Er war so zäh wie altes Leder. Nun schob er seine untersetzte Gestalt wieder in die Kabine und schloß die Tür.

«Überzeugen Sie mich«, forderte er mich auf.

«Die beiden haben sich dünngemacht.«

Er hob die Augenbrauen und wehrte ab.»Sie hatten Angst.«

«Sie haben keinerlei Fragen abgewartet. Sie müssen damit gerechnet haben, daß Dave und ich tot waren, da sie nicht einmal lange genug warteten, sich zu vergewissern. Ich würde sagen, sie hatten nur keine Lust, sich vernehmen zu lassen.«

Er schwieg und überlegte. Als wir nämlich zu der Schleuse zurückkehrten, waren die beiden verschwunden. Sie hatten sich unbemerkt verzogen und den Flußkahn zurückgelassen. Keiner hatte an sie gedacht, bis der Arzt Dave Tellers Bein geschient hatte und der Patient auf einer Trage zu dem wartenden Ambulanzwagen gebracht worden war. Als der Arzt sich erkundigte, wie es zu dem Unfall gekommen sei, war die Ursache nicht mehr vorhanden.

«Das wissen wir nicht«, sagte Keeble.»Möglich, daß sie den Fußweg heruntergekommen sind und gesehen haben, daß ihr beide wohlbehalten gelandet wart. Dann können sie ein Dutzend verschiedener persönlicher Gründe dafür haben, daß sie nicht warten wollten.«

Ich hatte endlich die Beine aus der klammen Hose und schälte mir die Socken von den Füßen.

«Der Junge hat im Heck zu lange abgewartet. Er hätte ihr mit dem Seil helfen müssen.«

Keeble runzelte die Stirn.»Sicher machte er einen sorglosen Eindruck, aber ich meine, ihm ist nur nicht klar gewesen, in welcher Klemme sie saßen — jedenfalls nicht so klar wie dem Mädchen.«

«Und bei der ersten Bewegung, die er machte, traf er Dave genau am Kopf.«

«Diese Staken sind recht unhandlich, wenn man nicht aufpaßt. Er konnte nicht damit rechnen, daß Dave an einer so gefährlichen Stelle stand.«

«Da er sich um die Bugleine kümmerte, stand Teller doch schon die ganze Zeit über dort.«»Das konnten der Junge und das Mädchen nicht wissen.«

«Jedenfalls stand er im Bug, als wir uns dem Kahn näherten.«

«Außerdem begibt sich doch niemand in eine solche Gefahr, nur um jemandem eine Falle zu stellen!«erklärte Keeble entschieden.

Ich trocknete mir die Beine ab und überlegte, was ich mit meiner Unterhose machen sollte.

Keeble seufzte unterdrückt und machte eine unbestimmte Handbewegung.»Jedenfalls niemand außer Ihnen.«

Er holte ein Kleiderbündel aus einem Schrank.

«Notausstattung für Reingefallene«, erklärte er, als er mir das Bündel reichte.»Wahrscheinlich wird Ihnen nichts davon passen.«

Da es sich um eine Sammlung zu großer abgelegter Sachen von ihm und zu kleiner von Lynnie handelte, hatte er recht. Außerdem war mir alles viel zu kurz.

Er fuhr fort:»Noch etwas: Woher wollten der Junge und das Mädchen überhaupt wissen, daß wir auf dem Fluß waren und durch die Schleuse von Harbour zurückkommen würden? Was glauben Sie wohl, wie lange die sich an den Pfahl geklammert und so auf uns gewartet haben? Wie sollten sie wissen, welches Boot sie anrufen sollten, und daß sie nicht von einem falschen Fahrzeug gerettet würden?«

«Die besten Unfälle sehen immer danach aus, als seien sie tatsächlich nichts weiter als echte Unfälle.«

«Das will ich zugeben«, sagte er und nickte.»Ich meine nur, daß gerade dieser Unfall wirklich nicht gestellt sein konnte.«

«Doch. Und zwar mit einer sicheren Hintertür, die darin bestand, daß sie die Szene mit dem Hilferuf gar nicht zu spielen brauchten, wenn etwas nicht nach Plan verlief, wenn zum Beispiel Peter im Bug stand und nicht Dave. Natürlich warteten sie mit ihrer Szene, bis sie ganz sicher waren, daß wir es auch wirklich waren.«

«Sie schwebten doch wirklich in Gefahr«, protestierte Keeble.

«Möglich. Ich möchte mir den Pfosten gerne aus der Nähe ansehen.«

«Außerdem konnten doch noch andere Boote in der Nähe sein und ihnen zu Hilfe kommen. Oder die Sache zumindest beobachten.«

«Wenn Dave nicht in die Reichweite der Stange gelangte, so hatten sie nichts verloren außer einer Gelegenheit. Wenn noch andere Boote in der Nähe waren, so bedeutete das nicht mehr als nur eben noch ein paar Leute, die um Hilfe schrieen. Das Mädchen kreischte und plantschte herum und ließ so gekonnt das Seil ins Wasser klatschen, während der Junge Dave niederschlug. Wir alle haben nur sie beobachtet und nicht ihn. Alle anderen hätten das genauso gemacht.«

«Und woher wollten die beiden überhaupt wissen, wo sich Dave an diesem Sonntag aufhalten würde? Weshalb sollte ihn jemand umbringen wollen?«

Ich stieg in eine betagte graue Hose von Keeble, die für mich um die Taille mehr als reichlich bemessen war. Mein Chef hielt mir wortlos einen kurzen, gestreiften, elastischen Schuljungengürtel hin, der dieses Problem löste, indem er wie eine Knebelkompresse einschnitt.

«Gene, das war wirklich ganz einfach ein Unfall. Anders ist das gar nicht möglich.«

Die Hose hörte eine Handbreit oberhalb meiner Knöchel auf, und die Socken, in die ich mich zwängte, gaben sich auch keine Mühe, die Kluft zu überbrücken.

«Gene!«rief Keeble. Er verlor die Geduld.

Ich seufzte.»Sie müssen doch zugeben, daß ich im Arrangieren von Unfällen eine Art Spezialist bin? Es geht nur darum, die Ereignisse ganz allgemein so einzurichten, daß der Betroffene sie für reines Pech hält.«

Keeble lächelte.»Auf diese Weise haben Sie so manchen…«

«Na also«, sagte ich nüchtern.»Ich sollte eine gestellte Situation doch erkennen.«

Sein Lächeln verblaßte und machte einem nachdenklichen Ausdruck Platz.

«Falsch«, fuhr ich fort.»Bei der Bootspartie habe ich weder eine Gehirnerschütterung erlitten noch Wasser ins Gehirn bekommen.«

«Behalten Sie Ihre telepathischen Fähigkeiten für sich«, sagte er ungemütlich.»Trotzdem glaube ich, daß Sie sich irren.«

«Schön. Dann verbringe ich meine Ferien eben in Putney.«

Sein» Nein!«kam so vehement, so explosiv, daß der letzte Rest von zartfühlendem Drumherumgerede dahin war. Seinem unverhohlenen Erschrecken merkte ich an, wieviel er über meinen niedergeschlagenen Geisteszustand wußte und wie fest er davon überzeugt war, daß ich drei Wochen Alleinsein nicht überleben würde. Ich erschrak bei dem Gedanken, woher seine Erleichterung rührte, als ich am Morgen seinen Anruf beantwortete. Es ging nicht darum, daß er mich zu Hause, sondern daß er mich lebend angetroffen hatte. Er hatte mich zu der Bootsfahrt mitgeschleppt, um mich im Auge zu behalten, und er war bereit, mich sinnlos hinter irgend etwas herjagen zu lassen, solange ich nur beschäftigt war. Vielleicht hoffte er, daß ich es auf diese Weise überwinden würde.

«Die Stimmung habe ich schon lange«, sagte ich sanft.

«Aber nicht so.«

Darauf wußte ich keine Antwort.

Nach einer Weile meinte er beschwörend:»Wenn drei Weltklassehengste nacheinander verschwinden — glauben Sie dann noch an Zufall?«

«Nein. Besonders dann nicht, wenn jemand den Mann

beseitigen will, dem zwei davon gehören.«

Er machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu. Ich mußte fast lächeln.

«Es war ein höchst gekonnter Unfall«, sagte ich.»Besser ließ sich das kaum machen. Sie konnten nur nicht damit rechnen, daß ihnen jemand von meiner Sorte dazwischenfunken würde.«

Er glaubte mir immer noch nicht. Aber es stimmte ihn froh, daß wenigstens ich daran glaubte, weil ich dann in die USA reisen würde, und so erhob er keine weiteren Einwände mehr. Achselzuckend und mit bekümmertem Lächeln warf er mir einen unmöglichen Pullover zu, der wie ein Zelt an mir hing. Ich griff nach meinen nassen Sachen und folgte ihm hinaus in die Sonne.

Peter und Lynnie kicherten beim Anblick meines schlackernden Kostüms. Der überstandene Nervenschock ließ ihre Stimmen noch scharf klingen, besonders die Lynnies. Ich feixte sie an und fuhr ihr mit der Hand durchs Haar, dann tat ich, als wollte ich Peter über Bord werfen. Die Spannung in ihrem Blick löste sich ein wenig. Noch eine halbe Stunde, dann würden sie das Stadium erreichen, in dem sie unbedingt über die Sache reden mußten, und nach einer weiteren Stunde waren sie sicher wieder normal. Nette, normale Kinder mit netten, ganz normalen Reaktionen.

Müde kletterte ich aufs Kabinendach und legte meine Sachen zum Trocknen in die Sonne. Meine Schuhe standen noch da, wo ich vorhin aus ihnen herausgeschlüpft war. Gedankenverloren zog ich sie wieder an. Dann richtete ich mich auf und blickte zum Wehr hinüber. Drüben ragte der solide Pfosten mit dem Schild GEFAHR auf. Harmlos schwoite der Flußkahn hinter der >Flying Linnetc. Ich mußte unwillkürlich an die Sage von den Sirenen denken, den Seenymphen, die auf einem Felsen in der Nähe der Strudel saßen und mit ihrem schönen Gesang die vorbeifahrenden Seeleute in den Tod lockten.

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