KAPITEL 9

In der Scheune lagen ein Dutzend französische Verwundete und erfüllten den geräumigen Innenraum mit dem Gestank von Blut, Eiter und Kampferessig. In einer Ecke lagen die Verletzten auf unbequemen Betten aus Heu, in einer anderen hatten die Offiziere ein umgestülptes Wasserfass in einen Kommandoposten umfunktioniert. Ein halbes Dutzend Offiziere umstand das Fass, darunter der Oberst im roten Husarenpelz. Er begrüßte Sharpe freundlich und in fließendem Englisch.

»Ich bin Oberst Pierre de l'Eclin, und ich habe die Ehre, Jäger der Kaiserlichen Garde Seiner Majestät zu sein.«

Sharpe erwiderte seine angedeutete Verbeugung. »Lieutenant Richard Sharpe von den 95th Rifles.«

»Den Rifles, wie? Aus Ihrem Mund hört sich das an wie ein Grund, sehr stolz zu sein.« De l'Eclin war ein gut aussehender Mann, so groß wie Sharpe, kräftig gebaut, mit kantigem Gesicht und goldblondem Haar. Er wies auf eine Karaffe Wein, die auf dem provisorischen Tisch stand. »Ob ein Angehöriger der Rifles wohl bereit wäre, etwas Wein zu nehmen?«

Sharpe war nicht sicher, ob man ihn verspotten oder ehren wollte. »Ich danke Ihnen, Sir.«

Der Oberst winkte einen Leutnant beiseite und bestand darauf, die beiden kleinen Silberkelche selbst zu füllen. Einen davon hielt er Sharpe hin, zog ihn jedoch, noch ehe der Schütze zugreifen konnte, wieder leicht zurück, als wolle er die Gelegenheit wahrnehmen, das narbenbedeckte Gesicht des Briten zu studieren. »Sind wir uns schon einmal begegnet, Lieutenant?«

»An einer Brücke, Sir. Sie haben meinen Säbel zerbrochen.«

De l'Eclin schien das zu freuen. Er überreichte Sharpe den Kelch und schnippte mit den Fingern, als die Erinnerung zurückkehrte. »Sie haben pariert! Eine bemerkenswerte Parade! Oder war es reines Glück?«

»Vermutlich Glück, Sir.«

»Soldaten brauchen Glück, und Sie können sich glücklich schätzen, dass ich Sie nicht auf offenem Gelände eingeholt habe. Wie auch immer, Lieutenant, ich muss die ausgezeichnete Verteidigung Ihrer Rifles loben. Wie schade, dass es so enden muss.«

Sharpe trank den Wein, um den säuerlichen Geschmack des Schießpulvers aus seinem Mund zu vertreiben. »Das ist nicht das Ende, Sir.«

»Nein?« De l'Eclin zog höflich die Brauen hoch.

»Ich, Sir, bin nur um einiger englischer Zivilisten willen hier, die auf dem Bauernhof festsitzen und den Wunsch haben abzureisen. Sie sind bereit, auf Ihre Güte zu vertrauen, Sir.«

»Meine Güte?« De l'Eclin lachte vergnügt auf. »Ich sagte Ihnen doch, ich bin Jäger der Kaiserlichen Garde, Lieutenant. Ein Mann erlangt diesen außergewöhnlichen Ehrentitel oder gar den Rang eines Obersten nicht dadurch, dass er sich in Güte und Mildtätigkeit übt. Dennoch weiß ich zu schätzen, was zweifellos als Kompliment gemeint war. Wer sind diese Zivilisten?«

»Englische Reisende, Sir.«

»Und das sind ihre Bücher?« De l'Eclin zeigte auf zwei verschmutzte Ausgaben des Neuen Testaments in spanischer Sprache, die auf dem umgekehrten Fass lagen. Die zurückgebliebenen Bücher hatten offensichtlich die Neugier der Franzosen erregt, eine Neugier, die Sharpe zu befriedigen versuchte. »Es handelt sich um methodistische Missionare, Sir, die Spanien vom Papsttum abbringen wollen.«

De l'Eclin musterte Sharpe, um festzustellen, ob er sich auch keinen Spaß erlaube, fand dafür keine Anzeichen und brach in Gelächter aus. »Ebenso gut könnten sie darauf hoffen, Lieutenant, aus Tigern Kühe zu machen! Es ist das Privileg des Soldaten, den seltsamsten Menschen zu begegnen. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, dass diese Methodisten keine Waffen mitführen?«

Sharpe gefiel es, Louisas kleine Pistole zu vergessen. »Mein Ehrenwort, Sir.«

»Sie können sie auf den Weg schicken. Gott weiß, was wir mit ihnen anfangen werden, erschießen werden wir sie jedenfalls nicht.«

»Danke, Sir.« Sharpe wandte sich zum Gehen.

»Aber Sie dürfen mich noch nicht verlassen, Lieutenant. Ich habe mit Ihnen zu reden.« De l'Eclin sah die Besorgnis, die in Sharpes Gesicht aufflackerte, und schüttelte den Kopf. »Ich halte Sie nicht gegen Ihren Willen fest, Lieutenant. Ich weiß eine Parlamentärsflagge durchaus zu respektieren.«

Sharpe trat ans Scheunentor und rief zum Bauernhaus hinüber, dass die Parkers abziehen könnten. Außerdem schlug er vor, dass die drei Spanier auf dem Bauernhof diese Gelegenheit zur Flucht nutzen sollten. Aber es hatte den Anschein, als wolle keiner von ihnen sich auf französische Gastfreundschaft verlassen, denn nur die Familie Parker verließ das umzingelte Haus. Mrs Parker erschien als Erste. Sie stapfte durch Schlamm und Regen und trug ihren Schirm wie eine Waffe.

»Mon dieu«, murmelte de l'Eclin, der hinter Sharpe getreten war. »Warum rekrutiert man sie nicht?«

George Parker trat zögernd in den Regen, dann kam Louisa zum Vorschein, und de l'Eclin seufzte anerkennend. »Es scheint, als hätten wir Ihnen zu danken.«

»Vielleicht verzichten Sie darauf, Sir, wenn Sie die Tante kennenlernen.«

»Ich habe nicht vor, mein Lager mit der Tante zu teilen.« De l'Eclin befahl einem Hauptmann, sich der Zivilisten anzunehmen, dann zog er Sharpe zurück in die Scheune. »Nun, Lieutenant von den Rifles, was haben Sie als Nächstes vor?«

Sharpe überhörte seinen herablassenden Tonfall und tat so, als verstehe er nicht. »Sir?«

»Lassen Sie mich Ihnen erzählen, wie Ihre Pläne aussehen.« Der hochgewachsene Franzose, dessen Pelisse so elegant von seiner rechten Schulter hing, ging in der Scheune auf und ab. »Es ist Ihnen gelungen, im Obergeschoss des Bauernhauses vorn und hinten Schießscharten zu schlagen, daher kann ich Sie erst nach Einbruch der Dunkelheit überraschen. Ein nächtlicher Überfall könnte zum Erfolg führen, ist aber gefährlich, da Sie im Innern des Hauses zweifellos einen Brennstoffvorrat angelegt haben, mit dem Sie die Umgebung zu erhellen gedenken.«

Er bedachte den Schützen mit einem amüsierten Seitenblick, um seine Reaktion festzustellen, doch Sharpe ließ sich nichts anmerken. De l'Eclin unterbrach sich, um Sharpes Kelch aufzufüllen.

»Ich habe den Verdacht, dass Sie glauben, wenigstens noch einen Angriff überstehen zu können. Außerdem rechnen Sie damit, dass ich bis zum Morgengrauen abwarten werde, falls mein Angriff fehlgeschlagen ist. Daher wollen Sie gegen zwei oder drei Uhr morgens, wenn meine Männer besonders ermüdet sind, einen Ausfall wagen. Ich denke, Sie werden gen Westen vordringen, weil sich dort wenige hundert Schritte entfernt ein Abzugsgraben mit Gestrüpp befindet. Dort angekommen, werden Sie relativ ungefährdet sein, und es gibt dort bewaldete Pfade, die ins Hügelland hinaufführen.« De l'Eclin war wieder auf und ab gegangen, doch nun wirbelte er herum und starrte Sharpe ins Gesicht. »Habe ich recht?«

Der Gardeoffizier hatte ganz richtig geraten. Sharpe hatte von dem Abzugsgraben nichts gewusst, aber von dem Loch im Dach aus hätte er ihn sicher noch entdeckt, und dann hätte er zweifellos beschlossen, seinen Angriff in diese Richtung auszuführen.

»Nun?«, beharrte de l'Eclin.

»Ich hatte andere Pläne«, sagte Sharpe.

»Oh?« Der Oberst war von ausgesuchter Höflichkeit.

»Ich hatte vor, Ihre Männer gefangen zu nehmen und ihnen heimzuzahlen, was sie im Hügelland den spanischen Dorfbewohnern angetan haben.«

»Vergewaltigen wollten Sie sie?«, präzisierte de l'Eclin, dann lachte er. »Das könnte einigen meiner Männer sogar gefallen, doch ich versichere Ihnen, dass sich die überwältigende Mehrzahl Ihren bestialischen, aber sicher typisch englischen Gelüsten widersetzen wird.«

Sharpe, der sich angesichts der gelassenen Reaktion des Franzosen äußerst dumm vorkam, sagte nichts. Ihm wurde plötzlich bewusst, in was für einem abgerissenen Aufzug er hier auftreten musste. Seine Jacke war zerschlissen und blutbefleckt, er besaß keine Kopfbedeckung, seine Hose stand offen, weil er die Silberknöpfe als Zahlungsmittel benutzt hatte, und seine billigen Stiefel waren zerfetzt.

Im Gegensatz dazu war de l'Eclins Uniform geradezu prächtig. Der Jäger trug eine enge grüne Husarenjacke mit goldenen Schlaufen und Knöpfen. Darüber hing die scharlachrote Pelisse, ein gänzlich nutzloses Kleidungsstück, das bei der leichten Kavallerie jedoch sehr beliebt war. Die Pelisse war eigentlich eine zweite Jacke, die wie ein Mantel über eine Schulter gehängt wurde. De l'Eclins Pelisse hatte goldene Tressen, hing an einer Goldkette um seinen Hals und war mit weichem weißem Lammfell besetzt. Die leeren Ärmel reichten bis zu den goldfarbenen Ketten herab, mit denen sein Säbel befestigt war. Die Hosenbeine seiner dunkelgrünen Uniform waren innen an Schenkel und Wade mit schwarzem Leder verstärkt, um dem Scheuern eines Sattels standzuhalten, während die äußeren Säume aus roten Tuchstreifen bestanden, die mit goldenen Knöpfen geschmückt waren. Seine kurzen Stiefel waren aus weichem schwarzem Leder. Sharpe fragte sich, wie viel so eine Uniform kosten mochte. Er wusste, dass es vermutlich mehr war als sein Sold für ein ganzes Jahr.

De l'Eclin öffnete seine Säbeltasche und holte zwei Zigarren heraus. Eine davon bot er dem Engländer an, der keinen Grund sah, das Angebot abzulehnen. Die beiden Männer beugten sich einträchtig über die Flamme einer Kerze, dann paffte der Franzose seufzend Rauchschwaden über Sharpes Kopf hinweg. »Ich denke, Lieutenant, Sie und Ihre Rifles sollten sich ergeben.«

Sharpe brach sein eigensinniges Schweigen nicht.

De l'Eclin zuckte mit den Schultern. »Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Lieutenant.« Er hielt inne. »Sharpe, sagten Sie?«

»Jawohl, Sir.«

»Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Lieutenant Sharpe. Ich wünsche nicht, dass meine Männer die Nacht an diesem Ort verbringen. Wir haben die Ehre, Vortrupp unseres Heeres zu sein, und sind daher in exponierter Lage. Das spanische Bauernvolk lässt sich gelegentlich dazu hinreißen, uns zu belästigen. Wenn ich heute Nacht hierbleibe, könnte ich in der Dunkelheit eine Handvoll Männer ans Messer liefern, und ich bin nicht der Meinung, dass die besten Kavalleristen der Welt einen so ehrlosen und schmerzhaften Tod erleiden sollten. Daher erwarte ich von Ihnen, dass Sie sich rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit ergeben. Sollten Sie es nicht gleich tun, gedenke ich mich später sogar zu weigern, Ihre Kapitulation zu akzeptieren. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Sharpe verbarg sein Erstaunen ob dieser Drohung. »Ich habe verstanden, Sir.«

Trotz Sharpes Zusagen konnte de l'Eclin nicht widerstehen, seine Nötigung ein wenig auszuschmücken. »Sie werden allesamt sterben, Lieutenant. Nicht langsam, wie wir die spanischen Bauern töten, aber dennoch sterben. Morgen wird das Heer mich einholen, und ich werde Artillerie haben, um Ihre Schützen niederzumachen. Das wird anderen Feinden Frankreichs eine Lehre sein, des Kaisers Zeit nicht zu vergeuden.«

»Jawohl, Sir.«

De l'Eclin lächelte liebenswürdig. »Bedeutet dieses Ja, dass Sie sich ergeben wollen?«

»Nein, Sir. Sehen Sie, Sir, ich glaube nicht an Ihre Kanonen. Sie führen Futternetze mit sich.« Sharpe zeigte durch die offene Hintertür der Scheune auf die Pferde der Offiziere. Sie waren außer Sichtweite der Schützen festgebunden, und jedes einzelne hatte schwere Netze voller Heu um den Sattelknauf geschlungen. »Wenn Ihr Heer tatsächlich zu Ihnen aufholen würde, Sir, ließen Sie Ihr Futter auf Karren transportieren. Sie sind auf Patrouille, nicht mehr, und wenn ich lange genug Widerstand leiste, werden Sie abziehen.«

Der französische Oberst blickte ihn einige Sekunden lang nachdenklich an. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass Sharpe, nachdem de l'Eclin einen Moment zuvor Sharpes Taktik erraten hatte, nun die des Franzosen vorausgeahnt hatte. De l'Eclin zuckte mit den Schultern.

»Ich bewundere Ihre Courage, Lieutenant. Aber Sie wird Ihnen nichts nützen. Sie haben keine andere Wahl. Ihr Heer ist geschlagen und in die Heimat geflohen. Die spanischen Heere sind zerschlagen und versprengt. Niemand wird Ihnen zu Hilfe kommen. Sie können sich jetzt gleich ergeben oder Sie können eigensinnig sein. Das aber hieße, dass unsere Klingen Sie zerfetzen werden.« Seine Stimme hatte ihren gefälligen Plauderton verloren und war nun todernst. »So oder so, Lieutenant, ich werde dafür sorgen, dass Sie alle sterben.«

Sharpe wusste, dass er keine Chance hatte, die Belagerung zu überstehen, war jedoch zu dickköpfig, um nachzugeben. »Ich brauche Zeit, darüber nachzudenken, Sir.«

»Zeit, um Ihr Schicksal hinauszuzögern, meinen Sie?« Der Oberst zuckte verächtlich mit den Schultern. »Das wird Ihnen nicht helfen, Lieutenant. Glauben Sie, wir wären so weit gekommen, nur um Major Vivar entkommen zu lassen?«

Sharpe starrte ihn verständnislos an. De l'Eclin deutete Sharpes Ausdruck gründlich falsch. Er hielt das Unverständnis des Schützen für schuldbewusstes Erstaunen. »Wir wissen, dass er sich bei Ihnen aufhält, Lieutenant. Er und seine kostbare Truhe!«

»Er ...« Sharpe wusste nicht, was er sagen sollte.

»Sie sehen ein, Lieutenant, dass ich nicht ausgerechnet jetzt die Jagd aufgeben werde. Ich bin vom Kaiser persönlich beauftragt worden, die Truhe nach Paris zu schaffen, und ich habe nicht vor, ihn zu enttäuschen.« De l'Eclin lächelte herablassend. »Wenn Sie mir den Major samt seiner Truhe ausliefern, könnte es natürlich sein, dass ich Sie Ihren Weg nach Süden fortsetzen lasse. Ich bezweifle, dass ein paar abgerissene Rifles imstande wären, das Kaiserreich zu gefährden.«

»Er hält sich nicht bei uns auf!«, protestierte Sharpe.

»Lieutenant!«, rief de l'Eclin tadelnd.

»Fragen Sie die Methodisten! Ich habe Major Vivar seit zwei Tagen nicht gesehen!«

»Er lügt!« Die Stimme erklang hinter einem Stapel von Matten aus Birkenreisig, die als Schafshürden dienten. Dann kam der hochgewachsene Zivilist mit dem schwarzen Mantel und den hellen Reitstiefeln dahinter hervor. »Sie lügen, Engländer.«

»Zur Hölle mit Ihnen, Sie Schweinehund«, knurrte Sharpe angesichts dieser Beleidigung seiner Ehre.

Oberst de l'Eclin warf sich hastig zwischen die beiden aufgebrachten Männer. Er sprach den Mann im schwarzen Mantel auf Englisch an, behielt dabei jedoch den Schützen im Auge. »Es will mir scheinen, mein lieber Graf, als hätte Ihr Bruder mit Erfolg ein Gerücht in Umlauf gesetzt. Vielleicht ist er doch nicht gen Süden unterwegs, um Ersatzpferde zu finden?«

»Vivar ist sein Bruder?« Nun war Sharpes Verwirrung vollkommen. Vivar, dessen Hass auf die Franzosen so blindwütig war, hatte einen Bruder, der mit dem Feind ritt? Der mit angesehen haben musste, wie die Dragoner spanische Frauen und Kinder vergewaltigt und getötet hatten?

Seine Ungläubigkeit war offenbar an seinem Gesicht abzulesen. De l'Eclin, eindeutig erstaunt, dass Sharpe von dieser Verwandtschaft nichts gewusst hatte, übernahm nun die offizielle Vorstellung.

»Erlauben Sie, dass ich Ihnen den Grafen von Mouromorto vorstelle, Lieutenant? Er ist in der Tat Major Vivars Bruder. Sie müssen verstehen, dass es im Gegensatz zu den Lügen, die in den englischen Zeitungen stehen, viele Spanier gibt, die unsere Anwesenheit begrüßen. Sie halten es für an der Zeit, den alten Aberglauben und gewisse Praktiken zu beseitigen, die Spanien so lange gelähmt haben. Der Graf ist einer dieser Männer.« De l'Eclin verneigte sich vor dem Spanier, als er seine Erläuterung abgeschlossen hatte, doch der Graf starrte weiterhin grimmig den Engländer an.

Sharpe erwiderte seinen feindseligen Blick. »Sie lassen zu, dass diese Schweinehunde Ihr eigenes Volk umbringen?«

Eine Sekunde lang sah es so aus, als wolle der Graf nach ihm schlagen. Er war größer als Blas Vivar, aber aus der Nähe konnte Sharpe die Familienähnlichkeit erkennen. Er hatte die gleiche streitlustig wirkende Kinnpartie, die gleichen feurigen Augen, die Sharpe nun voller Abneigung musterten.

»Was wissen Sie schon von Spanien, Lieutenant«, fragte der Graf, »oder von Spaniens verzweifelten Nöten? Oder von den Opfern, die sein Volk bringen muss, um seine Freiheit zu erlangen?«

»Was wissen Sie von Freiheit? Sie sind nichts als ein verdammter, mörderischer Schweinehund.«

»Genug!« De l'Eclin hob die linke Hand, um Sharpes Wut im Zaum zu halten. »Sie behaupten also, Major Vivar sei nicht bei Ihnen?«

»Er ist nicht bei mir, auch nicht seine verdammte Truhe. Falls es Sie etwas angeht, und es geht Sie nichts an: Ich habe mich im Streit von Major Vivar getrennt, und es würde mir nichts ausmachen, ihn nie wiederzusehen! Aber Sie hat er ganz schön an der Nase herumgeführt, hab ich recht?«

De l'Eclin schien sich über Sharpes Wut zu amüsieren. »Mag sein, aber Sie sind nun das Opferlamm, Lieutenant, und Sie werden büßen müssen. Sie und Ihre Rifles.« Der Oberst schien von dieser Bezeichnung fasziniert zu sein. Er kannte Husaren, Jäger, Ulanen, Dragoner und Kanoniere, er war vertraut mit Pionieren und Kürassieren, Grenadieren und Füsilieren, doch von den »Rifles« hatte er noch nie gehört. »Andererseits«, fuhr de l'Eclin fort, »würden Sie, sollte Major Vivar doch bei Ihnen sein, seine Gegenwart bestimmt abstreiten, nicht wahr? Und Sie würden ihn verteidigen, was Ihre Beharrlichkeit in diesem aussichtslosen Kampf erklären würde.«

»Er ist nicht hier«, wiederholte Sharpe ungeduldig. »Fragen Sie die Methodisten.«

»Ich werde gewiss das Mädchen fragen«, versicherte de l'Eclin fröhlich.

»Tun Sie das«, konterte Sharpe. Blas Vivar, dachte er, hatte sich ungeheuer schlau verhalten, hatte ein Gerücht ausgenutzt, um die Franzosen zu überzeugen, dass er mit den Engländern nach Süden geflohen sei, und hatte sie dadurch geopfert. Aber das konnte Sharpe dem Spanier nicht einmal verargen, er empfand nur widerstrebende Bewunderung. Er warf seine Zigarre auf den Scheunenboden. »Ich gehe jetzt zurück.«

De l'Eclin nickte. »Ich gebe Ihnen zehn Minuten, um sich hinsichtlich der Kapitulation zu entscheiden. Au revoir, Lieutenant.«

»Zur Hölle mit Ihnen.«

Sharpe begab sich zurück ins Bauernhaus. Sie saßen in der Falle und würden als Opferlämmer sterben. Das war sozusagen Vivars Rache dafür, dass Sharpe ihn im Stich gelassen hatte, und Sharpe lachte darüber, denn es blieb ihm nichts anderes übrig. Außer zu kämpfen.


»Was hat der Kerl denn gewollt?«, erkundigte sich Harper.

»Er will, dass wir uns ergeben.«

»Sieht ihm ähnlich.« Harper spuckte ins Feuer.

»Wenn wir uns jetzt nicht ergeben, werden sie es später nicht mehr zulassen.«

»Dem geht wohl der Arsch auf Grundeis, stimmt's? Hat er Angst vor der Nacht?«

»Ja, so ist es.«

»Und was haben Sie nun vor, Sir?«

»Ich sagte ihm, er soll zur Hölle gehen. Und dich ernenne ich zum Sergeant.«

Harper verzog das Gesicht. »Nein, Sir.«

»Wieso nicht, zum Teufel?«

Der Ire schüttelte den Kopf. »Es macht mir nichts aus, unseren Männern zu sagen, was sie im Kampf zu tun haben, Sir. Captain Murray hat mir immer erlaubt, das zu tun, wahrhaftig. Und genau das tue ich, ob es Ihnen recht ist oder nicht. Aber weiter gehe ich nicht. Ich nehme Ihnen nicht ab, die Männer zu bestrafen, und lasse mir von Ihnen nicht so ein Abzeichen verpassen.«

»Um Himmels willen, wieso denn nicht?«

»Warum, zur Hölle, sollte ich?«

»Warum, zur Hölle, hast du mir vorhin das Leben gerettet?« Sharpe wies auf das Gelände jenseits des Bauernhofs, wo ihn bei der panischen Flucht vor den Dragonern einzig Harpers Salven gerettet hatten.

Der große Ire blickte verlegen drein. »Daran wird Major Vivar schuld gewesen sein, Sir.«

»Was, zum Teufel, soll das heißen?«

»Nun ja, Sir, er hat zu mir gesagt, Sie seien mit einer Ausnahme der beste Mann im Kampf, den er je gesehen hat. Und dass ich Sie, Sir, solange die heidnischen Engländer für ein freies katholisches Spanien kämpfen, am Leben erhalten soll.«

»Der Beste?«

»Mit einer Ausnahme.«

»Und wer ist das?«

»Ich, Sir.«

»Der Major ist ein verlogener Schweinehund«, sagte Sharpe, dem allmählich dämmerte, dass er nehmen musste, was ihm angeboten wurde, nämlich Harpers Unterstützung auf dem Schlachtfeld. Das war immerhin besser als gar keine Unterstützung. »Wenn du so ein gottverdammt guter Kämpfer bist, dann sag mir gefälligst, wie wir aus diesem gottverdammten Loch herauskommen!«

»Vermutlich werden wir nicht herauskommen, Sir, und das ist die Wahrheit. Aber wir werden dem Gesindel einen teuflisch guten Kampf liefern, damit es beim nächsten Mal, wenn es auf die Rifles trifft, nicht mehr so verflucht selbstsicher ist.«

Durch das Küchenfenster pfiff ein Geschoss herein. Die Zehn-Minuten-Frist war verstrichen, und de l'Eclin nahm den Kampf wieder auf.


Durch eines der Löcher im Dach sah Sharpe den dicht bewachsenen Abzugsgraben, von dem der französische Oberst gesprochen hatte. Direkt nördlich davon, in einem ummauerten Pferch, weideten die meisten Dragonerpferde.

»Hagman!«

Der ehemalige Wilderer kletterte die Leiter herauf. »Sir?«

»Such dir eine Feuerstellung und fang an, Pferde abzuschießen. Damit halten wir das Gesindel auf Trab.«

Drunten war die Bauersfrau mit der Essensausgabe beschäftigt. Sie schleppte eine Kiste mit gesalzenen Makrelen und Weißfischen heran, Beweis für die Tatsache, dass das Meer nicht weit sein konnte, und verteilte sie unter die Soldaten. Ihr Mann hatte, nachdem seine Schießscharte fertig war, eine Vogelflinte mit Schießpulver und Schrot geladen, das er mit ohrenbetäubendem Krachen gen Osten verschoss.

Die Franzosen verlegten ihre Pferde weiter nach Norden. Aus der Scheune drang der quälend köstliche Duft von gebratenem Schweinefleisch. Während es langsam zu regnen aufhörte, setzten die Franzosen das Gehöft weiter unter Beschuss, richteten jedoch nicht viel Schaden an. Ein Schütze erlitt eine Fleischwunde am Arm und musste sich, als er aufschrie, von seinen Kameraden verspotten lassen.

Am Spätnachmittag unternahmen einige Dragoner einen halbherzigen Vorstoß durch den Obstgarten im Norden, ließen sich aber leicht entmutigen.

Sharpe ging von einem Fenster zum anderen und fragte sich, was für eine Teufelei de l'Eclin ausgeheckt haben mochte. Außerdem fragte er sich, wie Blas Vivar die Zeit nutzen würde, die er gewonnen hatte, als er de l'Eclin auf die falsche Fährte gelockt hatte. Die Truhe war offenbar von noch größerer Wichtigkeit, als Sharpe angenommen hatte. So wichtig, dass der Kaiser persönlich den Oberst entsandt hatte, um sie an sich zu bringen. Sharpe ging davon aus, dass er nie erfahren würde, was sie enthielt. Entweder würde er hier gefangen genommen oder getötet werden, oder sie würden, sobald die Franzosen in ihrer Wachsamkeit nachließen, von hier abziehen, und Sharpe würde sich nach Süden wenden. Er würde sich ein Schiff in die Heimat suchen und sich erneut dem Hauptheer anschließen.

Bei dem Gedanken an seinen Posten als Quartiermeister tat sein Herz einen kurzen Ruck. Erst in den letzten Tagen war ihm klar geworden, wie sehr ihm diese gottverdammte Aufgabe missfiel.

»Sir!« Die Stimme klang erschrocken. »Sir!«

Sharpe rannte zum vorderen Küchenfenster.

Die Franzosen hatten aus den Schafshürden Schutzschilde gebaut. Sie hatten sie zusammengebunden, sodass schwere Matten aus Birkenreisig entstanden, die groß genug waren, um ein halbes Dutzend Männer zu verbergen, und widerstandsfähig genug, um Kugeln abzuhalten. Die schwerfälligen Schilde rückten über den Hof hinweg immer weiter vor, und Sharpe wusste sogleich, dass die Franzosen, sobald sie das Haus erreicht hatten, von Äxten und Stangen Gebrauch machen würden, um die Türen aufzubrechen. Er schoss seine Büchse ab, obwohl ihm klar war, dass die Kugel gegen das elastische Holz nichts ausrichten konnte. Das Musketenfeuer nahm erneut zu.

Sharpe zwängte sich am Tisch vorbei zum nördlichen Fenster. Aus dem Obstgarten stieg Pulverdampf auf, der verriet, dass die Dragoner diesen Fluchtweg abgeschnitten hatten, doch er war seine einzige Hoffnung. Er trat an die Leiter und rief nach oben. »Runterkommen!«

Er wandte sich an Harper. »Wir nehmen die Spanier mit. Wir brechen nach Süden aus.«

»Sie werden uns einfangen.«

»Das ist besser, als wie die Ratten in der Falle zu sterben. Schwerter aufsetzen!« Er spähte die Leiter hinauf ins Schlafgemach. »Beeilt euch!«

»Sir!« Es war Dodd, der seinen Ruf erwiderte, der stille Dodd, der nun aus der Schießscharte im Dach starrte und ungewohnt erregt wirkte. »Sir!«

Denn nun schallte ein neues Trompetensignal gen Himmel.


Major Blas Vivar riss seinen Säbel aus der Scheide. Er hob ihn hoch und ließ ihn niedersausen, als die Trompete ihren schrillen höchsten Ton ausstieß.

Die Pferde stürmten los. Es waren einhundert Tiere: alle, die Leutnant Davila aus Orense herangeschafft hatte. Sie erklommen die Böschung des Abzugsgrabens, fanden festen Boden auf der Weide und preschten vorwärts.

»Santiago! Santiago!«

Vivar dehnte die letzte Silbe seines Kriegsgeschreis, während hinter ihm seine Cazadores herangaloppierten. Die Überlebenden seiner scharlachrot uniformierten Elitetruppe waren da, verstärkt durch ihre blauberockten Kameraden, die Leutnant Davila nach Norden begleitet hatten. Von den Hufen der Pferde spritzten Erdklumpen hoch in die Luft.

»Santiago!«

Vor ihnen befand sich eine Mulde, besetzt mit Dragonern, die bisher das Bauernhaus beschossen hatten. Nun standen sie auf, drehten sich hastig um und zielten auf die spanische Kavallerie. Eine Kugel zischte an Vivars Gesicht vorbei.

»Santiago!«

Er erreichte die Mulde, sprang darüber hinweg und schlug mit sausender Klinge einem Franzosen das Gesicht blutig.

Die Lanzenspitze des Standartenträgers traf einen Dragoner und vergrub die Standarte in seiner Brust. Der Standartenträger riss den Schaft frei, brüllte seine persönliche Herausforderung. Doch dann wurde er von einer Kugel in den Hals getroffen. Ein Reiter, der hinter ihm herkam, fing den fallenden Schaft auf und hob erneut die blutgetränkte Standarte.

»Santiago!«

Die abgesessenen Dragoner versuchten, sich auf den Hof zu retten. Die spanische Kavallerie ritt sie nieder, Klingen senkten sich herab. Verängstigte Pferde verrenkten die Hälse, schnappten mit gelblichen Zähnen zu und schlugen mit ihren Hufen aus. Säbel kreuzten sich, hell klingend wie Schmiedehämmer. Ein Spanier fiel aus dem Sattel, ein Franzose schrie auf, als ein Säbel ihn an die Scheunenwand nagelte. Die Reisigschutzwälle lagen verlassen im Schlamm.

Der Angriff hatte die Franzosen vom Hof getrieben und in der Mulde im Osten ein Blutbad angerichtet. Der Trompeter gab das Signal zum Neuformieren. Vivar zügelte sein Pferd, machte kehrt und ritt zurück. Ein französischer Dragoner, der von der ersten Attacke her auf unsicheren Beinen stand, führte einen schwachen Hieb gegen den Major aus und wurde mit einer durchgetrennten Kehle belohnt.

»Rifles! Rifles!«, rief Vivar.

Aus der Scheune kamen einige französische Offiziere gerannt, und Vivar trieb sein Pferd auf sie zu, dicht gefolgt von seinen Männern. Die Franzosen drehten um und flohen. Die Cazadores ritten in gebückter Haltung, um dem Oberbalken auszuweichen, geradewegs in die Scheune, und von drinnen ertönten Schreie. Dann erschienen berittene Dragoner, und Vivar brüllte seinen Männern zu, sie sollten eine Linie bilden, angreifen und für Santiago kämpfen.

An diesem Punkt kamen die Schützen aus dem Haus. Sie rissen die von Geschossen durchlöcherte Tür nieder und rannten mit aufgesetzten Schwertbajonetten auf den Hof. Sie jubelten den Spaniern zu.

»Nach Osten!«, übertönte Vivar ihre Rufe und deutete mit dem Säbel in diese Richtung. »Nach Osten!«

Die Schützen rannten nach Osten, weg vom Meer und hinab zu dem bewaldeten Abzugsgraben, wo sie vor den französischen Dragonern vorübergehend in Sicherheit waren. Nachdem sich die Dragoner von dem Schock erholt hatten, von Vivar angegriffen zu werden, und nachdem sie begriffen hatten, dass sie gegenüber den spanischen Reitern in der Überzahl waren, formierten sie sich auf der Straße unterhalb des Bauernhofs neu. Die französische Trompete blies zum Vorrücken.

Vivar ließ den Gegenangriff kommen. Er wich zurück, zufrieden damit, dass die Franzosen den Gebäudekomplex zurückeroberten, während er sich in Richtung Abzugsgraben zurückzog. Seine Männer schossen vom Sattel aus. Beim Laden rammten sie die Kugeln mithilfe von Ladestöcken in den Karabinerlauf, die mit einer Gelenkmanschette an den Mündungen ihrer Waffen befestigt waren, damit sie nicht herunterfielen. Der Bauer, seine Frau und der Kutscher der Parkers flohen zusammen mit den Grünjacken. Der Letzte der spanischen Cazadores preschte die Böschung hinab. Sharpes Schützen hatten ihren Rand besetzt und schossen auf die Franzosen, deren Angriff, so enthusiastisch er vorgetragen wurde, zum Scheitern verurteilt war. Das Dickicht und Dornengebüsch des Abzugsgrabens würde die Dragoner zwingen, sich an die schmalen Pfade zu halten, die von den Rifles gesichert wurden. De l'Eclin, dem die Gefahr nicht entging, rief seine Männer zurück. Doch einige Franzosen galoppierten wutentbrannt weiter, und Sharpe sah zu, wie die Gewehrkugeln ihre verstreute Attacke zunichte machten. »Feuer einstellen!«

»Folgt uns!«, rief Vivar ihnen vom anderen Ufer aus zu.

»Sir!«, brüllte Harper warnend, und Sharpe drehte sich um.

Mit der Linken ihren Rock hochraffend und mit der Rechten ihren Hut festhaltend, kam Louisa Parker über die Wiese gerannt. Aus der Scheune erklang ein wütender Aufschrei, offenbar der verzweifelte Protest ihrer Tante, doch die Nichte achtete nicht darauf. Sie umrundete ein gefallenes, blutendes Pferd. Ein Franzose nahm die Verfolgung auf, doch Hagman brachte den Mann mit einem gezielten Schuss zu Fall.

»Lieutenant! Lieutenant!«, rief Louisa.

»Allmächtiger Gott!« Harper musste lachen, als die junge Frau keuchend und mit Augen, die vor Erregung weit aufgerissen waren, die Böschung herabstürzte und sich Sharpe in die Arme warf, als könne er sie vor der ganzen Welt beschützen.

Sharpe breitete überglücklich die Arme aus, um ihre kopflose Flucht zu beenden. Eine Sekunde lang klammerte sie sich lachend und atemlos an ihn, dann wich sie zurück. Sharpes Männer bejubelten die Tollkühnheit des Mädchens.

»Lieutenant!« Vivar war zurückgekommen, um die Schützen zum Rückzug anzuhalten. Nun starrte er verblüfft auf das Mädchen an Sharpes Seite. »Lieutenant?«

Doch es war keine Zeit für Erklärungen, keine Zeit für etwas anderes als panische Flucht gen Osten, weg von der trügerischen Sicherheit, die das Meer versprochen hatte, und zurück zu den Geheimnissen, die Blas Vivars Truhe barg.


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