Sie marschierten die ganze Nacht, stiegen immer höher hinauf und hatten dabei einen Wind im Gesicht, der die Kälte des Schnees in den Senken der unteren Hänge mit sich führte. Nach Mitternacht sah Sharpe von einem bewaldeten Vorsprung aus das ferne Glitzern des Meeres im Westen. Viel näher und unter ihm auf den dunklen Gefilden der Tiefebene verrieten fahle Lagerfeuer, wo Männer ihre Zelte aufgeschlagen hatten.
»Die Franzosen«, bemerkte Vivar leise.
»Die der Meinung waren, ich würde Sie nach Süden begleiten«, sagte Sharpe vorwurfsvoll.
»Später! Später!«, erwiderte Vivar, wie jedes Mal, wenn Sharpe versuchte, aus dem Spanier eine Erklärung für sein Verhalten herauszuholen.
Hinter Vivar schleppten sich die Rifles, gebeugt von der Last ihrer schweren Tornister, den Bergpfad herauf. Die Cazadores führten ihre Pferde, um die Kräfte der Tiere für die lange Reise zu bewahren, die vor ihnen lag. Nur die Verwundeten durften aufsitzen. Sogar Louisa Parker hatte sich damit abfinden müssen, zu Fuß zu gehen. Vivar, der das Mädchen vorbeigehen sah, wandte sich stirnrunzelnd an Sharpe.
»Ich lasse Sie zwei Tage allein, und Sie finden ein englisches Mädchen?«
Sharpe hörte die Abneigung des Spaniers heraus und beschloss, mit Sanftmut zu antworten. »Sie ist ihrer Tante und ihrem Onkel davongelaufen.«
Vivar spuckte den Hang hinab. »Von denen habe ich schon gehört. Die Parkers, nicht wahr? Sie nennen sich Missionare, aber ich nenne sie englische Wichtigtuer. Man hat mir erzählt, der Bischof habe sie aus Santiago de Compostela vertreiben wollen, ich sehe jedoch, dass uns die Franzosen bereits den Gefallen getan haben. Warum ist sie davongelaufen?«
»Ich glaube, sie ist auf Abenteuer aus.«
»Das können wir ihr bieten«, sagte Vivar säuerlich, »aber ich war noch nie der Meinung, dass Soldaten die richtige Gesellschaft für ein junges Mädchen sind, nicht einmal für ein protestantisches junges Mädchen.«
»Soll ich sie erschießen?«, erbot sich Sharpe gehässig.
Vivar wandte sich wieder dem Pfad zu. »Das besorge ich schon selbst, Lieutenant, wenn sie irgendwelche Schwierigkeiten macht. Wir haben unsere eigene Mission, und die darf nicht aufs Spiel gesetzt werden.«
»Was für eine Mission?«
»Später! Später!«
Sie kletterten immer höher, verließen den Schutz der Bäume und erreichten einen windigen Abhang mit spärlichem Gras und ausgehöhlten Felsbrocken. Die Nacht war dunkel, doch die Kavalleristen kannten sich aus. Sie überquerten ein Gebirgstal, durchwateten einen Wasserlauf und setzten ihren Aufstieg fort.
»Ich bin unterwegs«, sagte Vivar, »an einen fernen Ort. Irgendwohin, wo uns die Franzosen nichts anhaben können.« Sie gingen schweigend ein paar Schritte weiter. »Sie sind also Tomas begegnet?«
Sharpe spürte, dass es Vivar sehr schwerfiel, diese Frage beiläufig zu stellen. Er versuchte, seine Antwort ebenso gleichmütig klingen zu lassen. »So heißt also Ihr Bruder?«
»Wenn er mein Bruder ist. Ich kann einen Verräter nicht zu meinen Brüdern zählen.« Vivar machte nun keinen Hehl mehr aus seiner Scham und Erbitterung. Er war bisher nicht bereit gewesen, über den Grafen von Mouromorto zu sprechen, aber das ließ sich auf Dauer nicht totschweigen. Sharpe hatte den Grafen kennengelernt, und das bedurfte einer Erklärung. »Wie ist er Ihnen vorgekommen?«
»Wütend«, lautete Sharpes unzulängliche Beschreibung.
»Wütend? Schämen sollte er sich. Er glaubt, es sei Spaniens einzige Hoffnung, sich mit Frankreich zu verbünden.« Sie gingen auf einem hohen Grat dahin, und Vivar musste seine Stimme erheben, so laut brauste der Wind. »Wir nennen solche Männer afrancesados, Französlinge. Sie haben sich französische Ideen zu eigen gemacht, aber in Wahrheit sind sie gottlose Verräter. Tomas hat sich schon immer gern von nördlichem Gedankengut hinreißen lassen, aber daraus erwächst kein Lebensglück, Lieutenant, nur eine große Unzufriedenheit. Er wäre bereit, Spanien das Herz aus dem Leibe zu reißen und durch eine französische Enzyklopädie zu ersetzen. Er möchte Gott vergessen und Vernunft, Tugend, Gleichheit, Freiheit und all den anderen Unsinn auf den Thron erheben, der Männer vergessen lässt, dass sich der Brotpreis verdoppelt hat und nur Tränen im Überfluss zu haben sind.«
»Sie glauben also nicht an die Vernunft?« Sharpe lenkte das Gespräch ab von dem schmerzlichen Thema der Loyalität des Grafen Mouromorto.
»Vernunft ist die Mathematik des Denkens, nicht mehr. Man lebt sein Leben nicht nach derart trockenen Regeln. Mathematik weiß keine Erklärung für Gott, auch nicht die Vernunft, und ich glaube an Gott! Ohne ihn sind wir nichts als verderbt. Aber ich habe vergessen, dass Sie ja auch keinen Glauben haben.«
»Nein«, sagte Sharpe schlicht.
»Aber dieser Unglaube ist besser als Tomas' Stolz. Er hält sich für größer als Gott, aber noch ehe dieses Jahr um ist, Lieutenant, werde ich ihn der Gerechtigkeit Gottes ausliefern.«
»Und wenn die Franzosen etwas anderes im Sinn haben?«
»Auf die Absichten der Franzosen pfeife ich. Mir geht es nur um den Sieg. Deshalb habe ich Sie gerettet. Deshalb marschieren wir heute Nacht durch die Dunkelheit.« Vivar gab keine weiteren Erklärungen ab, denn er brauchte all seine Kraft, um die müde werdenden Männer immer weiter und höher hinaufzutreiben.
Louisa Parker, so erschöpft, dass sie kein Wort mehr hervorbrachte, wurde auf ein Pferd gehoben. Der Pfad führte weiter bergan.
Im Morgengrauen sah Sharpe unter einem wolkenlosen Himmel, an dem der Morgenstern über dem bereiften Land verblasste, dass sie auf eine Festung zu marschierten, die auf einem Berggipfel errichtet worden war.
Es war keine moderne Festung mit niedrigen Bauten hinter steilen Erdwällen, wo die Kanonen hoch über Gräben und Schanzen hinwegfeuern konnten, sondern eine hohe Festung von uralter und finsterer Bedrohlichkeit. Sie sah nicht gerade einladend aus. Es war nicht der Sitz eines prunksüchtigen Herrschers, sondern ein Bollwerk, erbaut, um bis ans Ende aller Zeiten das Land zu verteidigen.
Die Festung stand seit hundert Jahren leer. Sie war zu entlegen und zu hoch, um sich leicht versorgen zu lassen, und Spanien hatte Orte wie diesen nicht nötig gehabt. Nun jedoch führte Blas Vivar die ermatteten Cazadores im kalten Morgengrauen unter dem alten, moosbewachsenen Torbogen hindurch auf einen Innenhof mit Kopfsteinpflaster und üppigem Bewuchs aus Unkraut und Gräsern. Einige seiner Männer hatten unter dem Kommando eines Unteroffiziers die alte Festung besetzt gehalten, während der Major fort war, und der Geruch ihrer Herdfeuer war nach der Kälte der Nacht sehr einladend. Sonst wirkte die Festung eher abschreckend: Die Wälle waren von Unkraut überwuchert, im Hauptturm nisteten die Raben und Fledermäuse, und die Keller standen unter Wasser. Doch die Begeisterung, mit der Vivar nun Sharpe überall herumführte, wirkte ansteckend.
»Der Ahnherr der Vivars hat vor beinahe tausend Jahren diesen Bau errichtet! Er war unsere Heimstatt, Lieutenant. Unsere Fahne wehte von jenem Turm, und die Mauren haben ihn niemals eingenommen.«
Er geleitete Sharpe zur nördlichen Bastion, die wie der Horst eines großen Raubvogels über unermessliche Tiefen hinausragte. Tief drunten im Tal waren verschwommen Bäche und bereifte Pfade auszumachen. Von hier aus hatten jahrhundertelang Männer in stählernen Helmen Ausschau gehalten nach dem Glitzern reflektierten Sonnenlichts auf fernen heidnischen Schilden. Vivar zeigte auf eine tief verschattete Kluft im nördlichen Gebirge, wo der Reif wie Schnee ganze Flächen bedeckte.
»Sehen Sie diesen Pass? Ein Graf Mouromorto hat diese Straße einst drei Tage gegen eine muslimische Horde gehalten. Er hat die Hölle mit ihren jämmerlichen Seelen gefüllt, Lieutenant. Es heißt, man könne dort in den Felsspalten immer noch verrostete Pfeilspitzen und Teile ihrer Kettenhemden finden.«
Sharpe drehte sich um und blickte zum Turm hinauf. »Jetzt gehört die Burg Ihrem Bruder?«
Vivar nahm die Frage als Angriff auf seinen Stolz. »Er hat den Namen der Familie entehrt. Daher ist es meine Pflicht, ihre Ehre wiederherzustellen. Mit Gottes Hilfe wird es mir gelingen.«
Diese Worte waren ein unzweideutiger Hinweis auf den Ehrgeiz, der den Spanier trieb, doch Sharpe war es um ein ganz anderes Problem gegangen, das er nun auf direktem Wege ansteuerte.
»Wird Ihr Bruder nicht wissen, dass Sie hier sind?«
»Oh, sicher. Aber die Franzosen würden zehntausend Mann brauchen, um diesen Hügel zu umzingeln, und noch einmal fünftausend, um die Festung anzugreifen. Sie werden nicht kommen. Sie fangen gerade erst an zu begreifen, was für Probleme ihnen ihr Sieg bereiten wird.«
»Probleme?«, fragte Sharpe.
Vivar lächelte. »Die Franzosen, Lieutenant, stellen fest, dass in Spanien große Heere verhungern und kleine Heere geschlagen werden. Hier kann man nur siegen, wenn man vom Volk ernährt wird, und das Volk lernt derzeit, die Franzosen aus ganzem Herzen zu hassen.« Er ging voran, von der Wallanlage herunter. »Versetzen Sie sich in die Lage der Franzosen! Marshall Soult hat Ihr Heer nach Nordwesten verfolgt, und wohin? Nirgendwohin! Er hat sich in den Bergen verirrt und ist von nichts umgeben als von Schnee, schlechten Straßen und rachsüchtigen Bauern. Alles, was er isst, muss er selber finden, und im galicischen Winter gibt es nicht viel zu finden, wenn es dem Volk gefällt, es zu verbergen. Nein, seine Lage ist ziemlich hoffnungslos. Seine Boten werden umgebracht, seine Patrouillen in Hinterhalte gelockt, und bisher ist nur ein Bruchteil des Volkes am Widerstand beteiligt! Wenn sich erst das ganze Land gegen ihn erhebt, wird sein Leben zur blutigen Quälerei werden.«
Diese Prophezeiung sprach der Major mit solchem Nachdruck aus, dass Sharpe von ihrer Richtigkeit überzeugt war. Er erinnerte sich, wie de l'Eclin freimütig seine Angst vor der Nacht gestanden hatte, seine Angst vor den Messern der Bauern in der Dunkelheit.
Vivar wandte sich erneut der Kluft zwischen den Bergen zu, wo einst sein Urahn ein islamisches Heer niedergemetzelt hatte. »Einige aus dem Volk kämpfen bereits, Lieutenant, aber die Übrigen sind verängstigt. Sie sehen die Franzosen siegen und fühlen sich von Gott verlassen. Sie brauchen ein Zeichen. Sie brauchen, wenn man es so nennen will, ein Wunder. Es handelt sich um einfache Bauern. Sie kennen keine Vernunft, aber sie kennen ihre Kirche und ihr Land.«
Sharpe spürte, wie seine Haut kribbelte, nicht von der morgendlichen Kälte, nicht vor Angst, sondern weil er etwas kommen sah, das sein Vorstellungsvermögen überstieg. »Ein Wunder?«
»Später, mein Freund, später!« Vivar lachte über die Verwirrung, die er mit voller Absicht gestiftet hatte. Dann stieg er die Stufen hinab auf den Innenhof. Seine Stimme klang plötzlich schelmisch, voller Lust und Laune. »Sie haben sich noch gar nicht dafür bedankt, dass ich Sie gerettet habe!«
»Mich gerettet? Guter Gott! Ich war dabei, diese Schweinehunde zu vernichten, aber Sie mussten sich einmischen!« Sharpe folgte ihm die Stufen hinab. »Sie haben sich noch gar nicht dafür entschuldigt, dass Sie mich belogen haben.«
»Das habe ich auch nicht vor. Andererseits verzeihe ich Ihnen, dass Sie bei unserer letzten Begegnung mir gegenüber aus der Haut gefahren sind. Ich hab Ihnen ja gesagt, Sie würden ohne mich keinen Tag überstehen.«
»Hätten Sie mir nicht die verdammten Franzosen auf den Hals gehetzt, wäre ich inzwischen auf halbem Wege nach Oporto!«
»Aber ich hatte guten Grund, sie hinter Ihnen herzuschicken.« Vivar war am Fuß der Treppe angelangt, die vom Festungswall herabführte, und wartete dort auf Sharpe. »Ich wollte die Franzosen aus Santiago de Compostela weglocken. Ich dachte mir, wenn sie Sie verfolgen, könnte ich in ihrer Abwesenheit die Stadt betreten. Deshalb habe ich das Gerücht verbreitet. Man hat mir geglaubt, aber die Stadt blieb trotzdem besetzt. Nun ja.« Er zuckte mit den Schultern.
»Mit anderen Worten, Sie können ohne mich keinen Krieg gewinnen.«
»Überlegen Sie doch, wie sehr Sie sich in Lissabon gelangweilt hätten! Keine Franzosen zum Töten, kein Blas Vivar zum Bewundern!« Vivar hakte sich freundschaftlich bei Sharpe unter, wie es in Spanien der Brauch war. »Allen Ernstes, Lieutenant, ich bitte um Verzeihung für mein Verhalten. Ich kann meine Lügen rechtfertigen, nicht aber meine Beschimpfungen. Dafür entschuldige ich mich.«
Sharpe wurde von peinlicher Verlegenheit gepackt. »Ich habe mich auch schlecht benommen. Das tut mir leid.« Dann erinnerte er sich noch einer anderen Pflicht. »Und ich danke Ihnen für unsere Rettung. Ohne Sie wären wir zum Tode verurteilt gewesen.«
Vivars Überschwang kehrte zurück. »Nun muss ich noch ein Wunder herbeiführen. Wir müssen uns an die Arbeit machen, Lieutenant! Arbeit! Arbeit! Arbeit!«
»Ein Wunder?«
Vivar löste seinen Arm, damit er Sharpe ins Gesicht sehen konnte. »Mein Freund, ich will Ihnen gern alles erzählen, wenn ich kann. Ich will es Ihnen sogar noch heute nach dem Abendessen erzählen, wenn ich kann. Aber es sind ein paar Männer hierher unterwegs, und ich bedarf ihrer Erlaubnis, zu verraten, was die Truhe enthält. Sind Sie bereit, mir zu vertrauen, bis ich mit diesen Männern gesprochen habe?«
Sharpe hatte keine andere Wahl. »Natürlich.«
»Dann machen wir uns an die Arbeit.« Vivar klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit seiner Männer zu erregen. »Arbeit! Arbeit! Arbeit!«
Alles, was Vivars Männer brauchten, musste den Berg hinaufgetragen werden. Aus Kavalleriepferden wurden Packpferde für Feuerholz, Brennstoff und Futter, Nahrungsmittel kamen aus den Bergdörfern, wurden zum Teil meilenweit auf den Rücken von Maultieren oder Menschen herangeschleppt. Der Major hatte im Land seiner Väter verbreiten lassen, dass Vorräte gebraucht wurden, und Sharpe beobachtete mit Erstaunen die Reaktion.
»Mein Bruder«, sagte Vivar mit grimmiger Befriedigung, »hat seinen Untertanen befohlen, nichts zu unternehmen, was die Franzosen behindert. Ha!«
Den ganzen Tag über trafen die Vorräte in der Festung ein: Töpfe voller Getreide und Bohnen, Kisten voll mit Käse, Netze voller Brot und Häute voller Wein. Für die Pferde gab es Heu. Klafterweise wurde das Holz den steilen Pfad hinaufgezogen, wurden Reisigbündel gebracht, die als Zunder verwendet werden konnten. Ein Teil des Reisigs wurde zu Besen verarbeitet, um damit den Turm auszufegen. Aus Satteldecken wurden Vorhänge und Teppiche, und Feuerstellen erwärmten das kalte Gemäuer.
Die Männer, die Vivar erwartete, trafen um die Mittagszeit ein. Ein Trompetensignal kündete mit feierlichem Klang vom Herannahen der Besucher. Einige der Cazadores gingen den steilen Pfad hinab, um die beiden Männer in die Festung zu eskortieren.
Die Neuankömmlinge waren Priester.
Sharpe beobachtete ihre Ankunft vom Fenster in Louisa Parkers Kammer. Er hatte die junge Engländerin aufgesucht, um zu erfahren, warum sie ihrer Familie entflohen war. Sie hatte den ganzen Morgen geschlafen und schien sich vollständig von den Anstrengungen der Nacht erholt zu haben. Sie blickte an ihm vorbei auf die Priester, die soeben von ihren Pferden stiegen, und erschauderte mit vorgetäuschtem Entsetzen.
»Ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass das römische Priestertum etwas äußerst Unheimliches an sich hat. Meine Tante ist davon überzeugt, dass sie Schwänze und Hörner haben.« Sie sah zu, wie die Priester durch ein Ehrenspalier dorthin traten, wo Blas Vivar darauf wartete, sie zu begrüßen. »Ich denke, sie haben tatsächlich Schwänze und Hörner und obendrein gespaltene Hufe. Meinen Sie nicht auch?«
Sharpe wandte sich vom Fenster ab. Er war verlegen, und ihm war unbehaglich zumute. »Sie dürften überhaupt nicht hier sein.«
Louisa riss die Augen auf. »Was für ein grimmiger Tonfall.«
»Tut mir leid.« Sharpe drückte sich schroffer aus, als ihm lieb war. »Es geht nur darum, dass ...« Seine Stimme verklang.
»Sie glauben, Ihre Soldaten würden durch meine Gegenwart in Unruhe versetzt?«
Sharpe war nicht gewillt, ihr zu erzählen, dass Blas Vivar durch Louisas impulsives Verhalten bereits in Unruhe versetzt war. »Dies ist kein schicklicher Ort für Sie«, sagte er stattdessen. »Sie sind so etwas nicht gewohnt.« Er deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf die Kammer, als wolle er deren Mängel demonstrieren. In Wahrheit hatten Vivars Cazadores alles, was in ihrer Macht stand, getan, um es der schönen Ausländerin bequem zu machen. Der Raum war zwar klein, es gab jedoch einen Kamin, in dem Holzscheite glühten. Außerdem gab es ein Bett aus Farnkraut und karmesinroten Satteldecken. Andere Habseligkeiten hatte sie keine, nicht einmal Wäsche zum Wechseln.
Sharpes strenger Ton schien sie zu bestürzen. »Es tut mir leid, Lieutenant.«
»Nein.« Sharpe versuchte, ihre Entschuldigung abzutun, obwohl er sie herausgefordert hatte.
»Meine Gegenwart bringt Sie in Verlegenheit?«
Sharpe wandte sich erneut dem Fenster zu und beobachtete, wie sich die Cazadores um die beiden Priester scharten. Einige seiner Rifles sahen neugierig zu.
»Wäre es Ihnen vielleicht lieber, wenn ich zu den Franzosen zurückginge?«, fragte Louisa kokett.
»Natürlich nicht.«
»Ich glaube doch, es wäre Ihnen lieber.«
»Seien Sie doch nicht so verdammt töricht!«, fuhr Sharpe sie an, schämte sich jedoch gleich darauf. Er wollte verhindern, dass sie merkte, wie froh er darüber war, dass sie ihrer Tante und ihrem Onkel davongelaufen war. In seinem Bemühen, diese Freude zu verbergen, hatte er die Beherrschung über seine Stimme verloren. »Es tut mir leid, Miss.«
Louisa stand ihm an Zerknirschung nicht nach. »Nein, mir tut es leid.«
»Ich hätte nicht fluchen dürfen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das Fluchen aufgeben könnten, nicht einmal mir zuliebe.« Sie sagte es mit einer Spur ihrer gewohnten Schalkhaftigkeit, einem angedeuteten Lächeln, und Sharpe war hocherfreut.
»Es geht nur darum, dass sich Ihre Tante und Ihr Onkel um Sie sorgen werden«, versuchte er zu argumentieren. »Und wir müssen wahrscheinlich wieder kämpfen, und auf dem Schlachtfeld ist für eine Frau kein Platz.«
Louisa sagte einen Moment lang nichts, dann zuckte sie mit den Schultern. »Der Franzose, de l'Eclin hieß er? Er hat mich beleidigt. Ich glaube, er hat mich als Kriegsbeute betrachtet.«
»Er wurde Ihnen gegenüber ausfallend?«
»Wahrscheinlich hielt er sich für sehr galant.« Louisa ging in ihrem blauen Rock und Mantel, den Kleidungsstücken, die sie seit ihrer Flucht aus der Reisekutsche trug, in ihrer Kammer auf und ab. »Würde es Sie erzürnen, wenn ich sage, dass ich Ihren Schutz dem seinen vorziehe?«
»Ich bin geschmeichelt, Miss.« Sharpe hatte das Gefühl, in eine Verschwörung hineingezogen zu werden. Er war gekommen, um Louisa zu warnen, dass Blas Vivar ihre Gegenwart missfiel, und um ihr zu sagen, sie solle dem Spanier so gut wie möglich aus dem Weg gehen. Stattdessen spürte er den Reiz ihrer Munterkeit.
»Ich war versucht, bei den Franzosen zu bleiben«, gestand Louisa, »nicht wegen der inneren Werte des Obersten, sondern weil man in Godalming sicherlich sehr interessiert gewesen wäre, von meinen Abenteuern beim Heer des korsischen Ungeheuers zu hören, oder etwa nicht? Vielleicht wären wir nach Paris geschickt und der Meute vorgeführt worden, wie die alten Briten den Römern vorgezeigt wurden.«
»Das bezweifle ich«, sagte Sharpe.
»Ich habe es auch bezweifelt. Stattdessen sah ich äußerst ermüdende Zeiten auf mich zukommen, in denen ich gezwungen sein würde, mir die endlosen Klagen meiner Tante anzuhören, über den Krieg, die verlorenen Ausgaben des Neuen Testaments, die Furchtsamkeit ihres Gemahls, meine Dreistigkeit, das Wetter, ihre Hühneraugen - wünschen Sie, dass ich fortfahre?«
Sharpe lächelte. »Nein.«
Louisa entwirrte mit den Fingern ihre dunklen Locken. »Ich bin, Lieutenant, aus einer Laune heraus mitgekommen. Wenn ich schon in einen Krieg verwickelt sein soll, dann lieber auf meiner eigenen Seite als unter Feinden.«
»Major Vivar befürchtet wohl, dass Sie uns behindern werden, Miss.«
»Oh«, sagte Louisa mit gespieltem Entsetzen. Dann trat sie ans Fenster und blickte stirnrunzelnd auf den Spanier hinab, der immer noch bei den beiden Priestern stand. »Hat Major Vivar etwas gegen Frauen?«
»Ich glaube nicht.«
»Er ist nur der Meinung, sie seien hinderlich?«
»In der Schlacht sind sie es. Wenn Sie mir verzeihen, Miss.«
Louisa verspottete Sharpe mit einem abschätzigen Lächeln. »Ich verspreche Ihnen, ich werde Ihrem Degen nicht im Wege sein, Lieutenant. Und es tut mir leid, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe. So, nun erzählen Sie mir, warum wir hier sind und was Sie vorhaben. Ich kann Ihnen nicht aus dem Weg gehen, es sei denn, ich wüsste genauestens Bescheid, wohin der Weg führt, nicht wahr?«
»Ich weiß selbst nicht, was vorgeht, Miss.«
Louisa schnitt eine Grimasse. »Heißt das, Sie trauen mir nicht?«
»Es heißt, dass ich nicht Bescheid weiß.« Sharpe erzählte ihr von der Truhe und Vivars Geheimnistuerei und von ihrer langen Reise, auf der sie von den französischen Dragonern verfolgt worden waren. »Ich weiß nur, dass der Major die Truhe nach Santiago schaffen will. Warum, das weiß ich nicht, und was sie enthält, weiß ich auch nicht.«
Louisa war entzückt über dieses Geheimnis. »Aber Sie werden es irgendwann erfahren?«
»Ich hoffe es.«
»Ich werde Major Vivar direkt danach fragen!«
»Ich finde, das sollten Sie sein lassen, Miss.«
»Natürlich werde ich es sein lassen. Dieser Menschen fressende papistische Spanier will mich nicht an seinem Abenteuer teilhaben lassen.«
»Es geht nicht um Abenteuer, Miss, sondern um Krieg.«
»Krieg ist der Moment, Mister Sharpe, wenn wir die Fesseln der Konvention ablegen, finden Sie nicht auch? Ich schon. Und diese Fesseln sind sehr eng, besonders in Godalming. Ich bestehe darauf zu erfahren, was sich in Major Vivars Truhe befindet! Glauben Sie, es handelt sich um Juwelen?«
»Nein, Miss.«
»Die Krone Spaniens! Zepter und Reichsapfel! Das muss es sein, Mister Sharpe. Napoleon wünscht sich, die Krone aufs eigene Haupt zu setzen, und Ihr Freund verweigert sie ihm!« Sie klatschte vor Vergnügen in die Hände. »Ich werde darauf bestehen, diese Schätze zu sehen. Major Vivar wird Ihnen alles anvertrauen, nicht wahr?«
»Er hat gesagt, nach dem Abendessen werde er mir möglicherweise davon erzählen. Ob es dazu kommt, hängt wohl von diesen Priestern ab.«
»In dem Fall werden wir es vielleicht nie erfahren.« Louisa verzog das Gesicht. »Kann ich wohl mit Ihnen zu Abend essen?«
Die Bitte brachte Sharpe in Verlegenheit, denn er bezweifelte, dass der Major Louisas Gegenwart dulden würde. Andererseits wusste er nicht, wie er dem Mädchen taktvoll beibringen sollte, dass es zu vorwitzig sei. »Ich kann nicht«, sagte er kläglich.
»Natürlich kann ich mit Ihnen zum Dinner gehen! Sie können doch nicht von mir erwarten, dass ich verhungere, oder? Heute Abend, Mister Sharpe, werden wir die Juwelen eines Königreichs sehen!« Louisa war von dem Gedanken wie besessen. »Ach, wenn mich jetzt Mister Bufford sehen könnte!«
Sharpe erinnerte sich, dass Mr Bufford der methodistische Tintenfabrikant war, der darauf hoffte, Louisa zu ehelichen. »Er würde bestimmt für Sie beten.«
»In tiefster Demut.« Sie lachte. »Aber es ist grausam, ihn zu verspotten, Mister Sharpe, insbesondere dann, wenn ich nur den Zeitpunkt aufschiebe, an dem ich seine Hand akzeptieren muss.« Angesichts dieser Aussicht verflüchtigte sich eindeutig ihre Begeisterung. »Darf ich annehmen, dass Sie nach Lissabon gehen werden, sobald Sie dieses Rätsel gelöst haben?«
»Wenn es dort immer noch eine Garnison gibt, ja.«
»Und ich muss mit Ihnen gehen.« Sie seufzte wie ein Kind, dem ein Vergnügen genommen wird, noch ehe es begonnen hat. Dann hellte sich ihr Gesicht auf, nahm erneut einen Ausdruck schalkhaften Vergnügens an. »Aber Sie werden Major Vivars Erlaubnis einholen, dass ich mit den Herren speise? Ich verspreche, mich gesittet zu benehmen.«
Sharpe war überrascht, dass Blas Vivar sich von Louisas Ansinnen nicht aus der Fassung bringen ließ. »Natürlich kann sie mit uns zu Abend essen.«
»Sie ist sehr neugierig bezüglich der Truhe«, warnte Sharpe.
»Aber natürlich. Sie etwa nicht?«
So kam es, dass Louisa an jenem Abend zugegen war, als Sharpe endlich erfuhr, warum Blas Vivar ihn belogen hatte, warum die Cazadores herangeritten waren, um ihn zu retten, und warum der spanische Major mit solcher Beharrlichkeit durch das vom Winter und der spanischen Niederlage gestiftete Chaos gen Westen gezogen war.
An eben diesem Abend fühlte sich Sharpe außerdem immer tiefer verstrickt in eine Welt voller Geheimnisse und Merkwürdigkeiten, eine Welt, in der die estadeas wie Flammenzungen durch die Nacht schwebten und in der die Bäche voller Naturgeister waren, die Welt von Blas Vivar.
Sharpe, Louisa, Vivar und Leutnant Davila speisten in einem Saal mit dicken Säulen, die eine gewölbte Decke stützten. Zu ihnen gesellten sich die beiden Priester. Ein Feuer wurde entzündet, Decken auf dem Boden ausgebreitet und Schüsseln mit Hirse, Bohnen, Fisch und Hammelfleisch aufgetragen.
Einer der Priester, Pater Borellas, war ein kleiner, rundlicher Mann, der ein passables Englisch sprach und es zu genießen schien, sich mit Sharpe und Louisa darin zu üben. Borellas erzählte ihnen, er habe eine Gemeinde in Santiago de Compostela, eine kleine, sehr arme Gemeinde. Während er Sharpe Wein einschenkte und eifrig aufpasste, dass der Teller des Engländers niemals leer wurde, gab er sich die allergrößte Mühe, seinen niederen Rang überdeutlich werden zu lassen. Der andere Priester, erläuterte er, sei ein Mann auf dem Weg nach oben, ein wahrer Hidalgo und künftiger Kirchenfürst. Dieser andere Geistliche war Sakristan der Kathedrale von Santiago, ein Stiftsherr, der von Anfang an keine Zweifel aufkommen ließ, dass er Lieutenant Richard Sharpe nicht ausstehen konnte und ihm misstraute. Falls Pater Alzaga der englischen Sprache mächtig war, so wusste er das Sharpe gegenüber sehr gut zu verbergen. Alzaga nahm kaum von ihm Notiz und beschränkte sich auf das Gespräch mit dem Major, den er als gesellschaftlich ebenbürtig anzuerkennen schien. Seine Feindseligkeit war so offenkundig und so krass, dass Borellas sich genötigt sah, sie zu erklären. »Er hat nichts für Engländer übrig.«
»Das geht vielen Spaniern so«, bemerkte Louisa trocken, obwohl die feindselige Atmosphäre im Raum sie anscheinend bedrückte.
»Ihr seid Ketzer, müsst ihr wissen. Und euer Heer hat die Flucht ergriffen.« Der Priester sprach in sanftem, entschuldigendem Tonfall. »Ach, die Politik. Ich verstehe nichts von Politik. Ich bin nur ein bescheidener Pater, Lieutenant.«
Aber Borellas war ein bescheidener Pater, dessen Kenntnis der Gassen und Plätze von Santiago de Compostela den Sakristan vor den Franzosen gerettet hatte. Er erzählte Sharpe, wie sie sich in der Werkstatt eines Stuckateurs versteckt hatten, während die französischen Kavalleristen die Häuser durchsuchten.
»Sie haben viele Leute erschossen.« Er bekreuzigte sich. »Wenn ein Mann nur eine Vogelflinte besaß, hieß es gleich, er sei ein Feind. Peng. Wenn jemand gegen das Töten protestierte, peng.« Borellas zerkrümelte ein hart gewordenes Stück Brot. »Ich hatte nicht damit gerechnet, erleben zu müssen, dass ein feindliches Heer spanischen Boden betritt. Wir schreiben das neunzehnte Jahrhundert, nicht das zwölfte!«
Sharpe betrachtete das ausgemergelte Gesicht Alzagas, der offenbar nicht damit gerechnet oder gar darauf gehofft hatte, protestantischen Engländern auf spanischem Boden zu begegnen. »Was ist ein Sakristan?«
»Er ist Schatzmeister der Kathedrale. Kein minderer Schreiberling. Sie verstehen schon.« Borellas war sehr darauf bedacht, dass Sharpe den Priester nicht unterschätzte. »Er ist der Mann, der für die Schätze der Kathedrale verantwortlich ist. Doch er ist nicht deswegen hier, sondern weil er ein überaus wichtiger Mann der Kirche ist. Don Blas wäre es lieber gewesen, wenn der Bischof gekommen wäre, aber der Bischof war nicht bereit, mich anzuhören, und der wichtigste Mann, den ich auftreiben konnte, war Pater Alzaga. Er hasst die Franzosen, müssen Sie wissen.«
Er zuckte zusammen, als der Sakristan wütend die Stimme hob. Wie um seine Verlegenheit zu verbergen, bot er Sharpe noch eine Portion luftgetrockneten Fisch an und hob zu einer langen Erklärung über die Fischsorten an, die an der galicischen Küste gefangen wurden.
Aber keine noch so lebhafte Debatte über die schmackhaften Meerestiere konnte über die Tatsache hinwegtäuschen, dass sich Vivar und Alzaga auf einen erbitterten Wortwechsel eingelassen hatten. Sie versteiften sich auf gegensätzliche Standpunkte, bei denen es, das war offensichtlich, um Sharpe persönlich ging. Das sah so aus, dass Vivar ein Argument anführte und dabei auf den Engländer zeigte, während Alzaga es widerlegte und dabei hohnlächelnd in seine Richtung blickte. Leutnant Davila konzentrierte sich auf das Essen. Er hatte nicht die Absicht, sich in die heftige Auseinandersetzung einzumischen. Pater Borellas dagegen gab seine Versuche auf, Sharpe abzulenken, und erklärte sich widerstrebend bereit, das Gesagte zu erklären.
»Pater Alzaga verlangt von Don Blas, nur spanische Soldaten einzusetzen.« Er sprach so leise, dass der andere es nicht hören konnte.
»Spanische Soldaten, wozu?«
»Das muss Ihnen Don Blas selber erklären.« Borellas hörte einen Moment lang zu. »Don Blas sagt, um spanische Infanterie zu finden, müsste er einen Generalkapitän überreden, und sämtliche Generalkapitäne halten sich versteckt. Außerdem würde ein Generalkapitän zögern oder behaupten, er brauche die Genehmigung der galicischen Junta, und die Junta ist aus La Coruña geflohen, also müsste er sich an die Zentraljunta in Sevilla wenden. Und ein bis zwei Monate später könnte der Generalkapitän sagen, er könne möglicherweise Männer zur Verfügung stellen, aber dann würde er darauf bestehen, einen seiner Lieblingsoffiziere mit dem Oberbefehl der Expedition zu betrauen. Und bis dahin, sagt Don Blas, wäre es ohnehin zu spät.« Pater Borellas zuckte mit den Schultern. »Ich denke, Don Blas hat recht.«
»Zu spät wofür?«
»Das muss Ihnen Don Blas selber erklären.«
Vivars Worte klangen jetzt unerbittlich. Er führte mit der Hand abrupte, heftige Gesten aus, die den Widerstand des Priesters zu dämpfen schienen. Als er geendet hatte, schien Alzaga, wenn auch widerstrebend, zumindest teilweise nachzugeben, und dieses Zugeständnis veranlasste Blas Vivar, sich Sharpe zuzuwenden. »Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, Ihren Werdegang zu schildern, Lieutenant?«
»Meinen Werdegang?«
»Langsam? Einer von uns wird dolmetschen.«
Sharpe zuckte verlegen mit den Schultern. »Ich bin geboren am ...«
»Das meinte ich nicht«, sagte Vivar hastig. »Ihre Laufbahn als Soldat, Lieutenant. Wo war Ihre erste Schlacht?«
»In Flandern.«
»Fangen Sie damit an.«
Zehn unbehagliche Minuten lang sprach Sharpe über die Schlachten, an denen er teilgenommen hatte. Als Erstes erzählte er von Flandern, wo er einer der unseligen Zehntausend des Herzogs von York gewesen war, aber auf dem nebligen Schlachtfeld kaum etwas vom Feind gesehen hatte. Dann breitete er mit etwas mehr Selbstvertrauen seine Abenteuer in Indien aus. Der Saal mit seinen Säulen, nur erhellt vom Kiefernholzfeuer im Kamin und von billigen Binsenlichtern, war wohl ein ungewöhnlicher Ort, um von Seringapatam, Assaye, Argaum und Gawilgarh zu sprechen. Doch die anderen hörten aufmerksam zu, und selbst Alzaga schien fasziniert von den eigens für ihn übersetzten Schilderungen ferner Schlachten auf unfruchtbaren Ebenen. Louisa folgte mit leuchtenden Augen seiner Erzählung.
Als Sharpe seine Beschreibung des stürmischen Angriffs auf die Lehmmauern von Gawilgarh beendet hatte, herrschte einen Moment lang Schweigen. Im Kamin flammte Harz auf. Alzaga brach mit seiner rauen Stimme das Schweigen und Vivar übersetzte. »Pater Alzaga sagt, ihm sei zu Ohren gekommen, Tippu Sultan habe ein Uhrwerksmodell von einem Tiger besessen, der dabei ist, einen Engländer zu zerfleischen.«
Sharpe blickte dem Priester in die Augen. »Ein Modell in Lebensgröße, ja.«Wieder übersetzte Vivar. »Dieses Modell hätte er zu gern gesehen.«
»Ich nehme an, es befindet sich jetzt in London«, sagte Sharpe.
Der Priester musste die Herausforderung wahrgenommen haben, die diese Worte enthielten, denn er sagte etwas, das Vivar nicht übersetzte.
»Was war das eben?«, erkundigte sich Sharpe.
»Ach, nichts«, sagte Vivar ein wenig zu lässig. »Wo haben Sie nach Indien gekämpft, Lieutenant?«
»Pater Alzaga hat gesagt«, verblüffte Louisa die Anwesenden, indem sie die Stimme hob, womit sie zugab, dass sie offenbar Spanisch verstand, was sie bislang für sich behalten hatte, »dass er heute Nacht für die Seele von Tippu Sultan beten wird, weil Tippu Sultan viele Engländer abgeschlachtet hat.«
Bis jetzt hatte Sharpes Verlegenheit darüber angehalten, von seiner Laufbahn erzählen zu müssen, doch der Hohn des Priesters focht seinen Soldatenstolz an. »Und ich habe Tippu Sultan getötet.«
»Tatsächlich?« Pater Borellas Stimme klang schrill vor lauter Staunen.
»Im Tunnel hinter dem Wassergraben in Seringapatam.«
»Hatte er denn keine Leibgarde?«, fragte Vivar.
»Sechs Mann«, sagte Sharpe. »Ausgesuchte Krieger.« Er sah den Anwesenden in die Gesichter und wusste, dass er nicht mehr zu sagen brauchte. Alzaga verlangte nach einer Übersetzung und grunzte, als er sie vernommen hatte.
Vivar hingegen freute sich über Sharpes Leistungen und lächelte dem Schützen zu. »Und wo haben Sie nach Indien gekämpft, Lieutenant? Waren Sie letztes Jahr in Portugal?«
Sharpe berichtete, wie er auf der Rückkehr von Indien nach England in die Schlacht von Trafalgar geraten war, was Vivar ein gequältes Lächeln abrang, dann hatte man ihn in Shorncliffe zum Quartiermeister der 95th Rifles gemacht, weil Major Dunnett, damals noch Captain, Offiziere, die aus den Mannschaftsdienstgraden aufgestiegen waren, wie die Pest hasste. Dass er auch als eine Art Geheimagent dabei gewesen war, als die britische Flotte Kopenhagen bombardiert und schließlich die dänische Flotte gekapert hatte, verschwieg er. Stattdessen berichtete er von den portugiesischen Schlachtfeldern von Rolica und Vimeiro, wo Sir Arthur Wellesley, ehe er nach England zurückbeordert wurde, die Franzosen niedergemacht hatte. »Auch dort war ich nur Quartiermeister«, sagte er, »aber ich habe einige Kämpfe miterlebt.«
Wieder herrschte Schweigen, und Sharpe, der den feindseligen Priester beobachtete, merkte, dass er eine Art Prüfung bestanden hatte. Alzaga ergriff mit deutlichem Widerwillen das Wort, und seine Worte sorgten dafür, dass Vivar wieder lächeln konnte.
»Sie müssen verstehen, Lieutenant, dass ich für mein Vorhaben den Segen der Kirche brauche, und wenn Sie mir helfen sollen, muss auch das von der Kirche genehmigt werden. Der Kirche wäre es lieber, wenn ich spanische Soldaten einsetzen würde, aber das ist leider nicht möglich. Nach einigem Zögern akzeptiert nun Pater Alzaga, dass Ihre Erfahrung im Kampf uns ein wenig zugutekommen wird.«
»Aber was ...«
»Später.« Vivar hob die Hand. »Sagen Sie mir zunächst, was Sie über Santiago de Compostela wissen.«
»Nur, was Sie mir erzählt haben.«
Daraufhin erzählte Vivar, dass vor tausend Jahren Schäfer Myriaden von Sternen in einem Nebelschleier gesehen hätten, der über dem Hügel hing, auf dem nun die Stadt erbaut sei. Die Schäfer hätten Theudemirus, dem Bischof von Iria Flavia, von ihrer Vision berichtet, und er habe sie als Zeichen des Himmels erkannt. Er habe befohlen, den Hügel auszuheben, und in seinen Eingeweiden habe man das lang vergessene Grabgewölbe Santiagos, des heiligen Jakob, entdeckt. Seitdem sei die Stadt als Santiago de Compostela bekannt, als St. Jakob vom Sternenfeld.
Vivars Stimme hatte etwas an sich, das Sharpe frösteln machte. Das Kerzenlicht ließ hinter den Säulen unheimliche Schatten flackern. Irgendwo auf der Festungsmauer waren die stampfenden Schritte eines Wachtpostens zu hören. Selbst Louisa wirkte unnatürlich bedrückt ob der Schauer, die die Stimme des Spaniers auslöste.
Über der verloren geglaubten Gruft war ein Grabmal errichtet worden, und obwohl die muslimischen Heerscharen die Stadt erobert und die erste Kathedrale zerstört hatten, war die Gruft selbst verschont geblieben. Als man die Heiden vertrieben hatte, war eine neue Kathedrale erbaut worden, und die Stadt vom Sternenfeld war ein Reiseziel für Pilger geworden, das nur Rom selbst nachstand. Vivar blickte Sharpe an. »Sie wissen, wer Santiago ist, Lieutenant?«
»Sie sagten, er sei ein Apostel gewesen.«
»Er ist weit mehr.« Vivar sprach leise und ehrfürchtig, mit einer Stimme, die Sharpes Haut zum Kribbeln brachte. »Er ist der heilige Jakobus, der Bruder von Johannes, dem Evangelisten. St. Jakob, der Schutzheilige Spaniens. St. Jakob, Kind des Donners. St. Jakob der Große, Santiago.« Seine Stimme war lauter geworden, und nun hallte sie bis an die hohe gewölbte Decke, als Vivar den letzten, den bedeutendsten, den klangvollsten Titel des Heiligen aussprach: »Santiago Matamoros!«
Sharpe blieb zunächst stumm. »Matamoros?«
»Der Schlächter der Mauren. Schlächter der Feinde Spaniens.« Aus Vivars Munde klang das wie eine Herausforderung.
Sharpe wartete. Kein Laut war zu hören, bis auf das Knistern des Feuers und das Knirschen der Stiefel auf der Festungsmauer. Davila und Borellas starrten auf ihre leeren Teller, als hätte es eine Gefährdung des magischen Augenblicks bedeutet, sich zu bewegen oder etwas zu sagen.
Es war wieder Alzaga, der das Schweigen brach. Der Sakristan erhob einen Protest, den Vivar barsch und schnell unterband. Die beiden Männer stritten sich einen Moment lang, doch es war klar ersichtlich, dass Vivar an diesem Abend den Sieg davongetragen hatte. Als wolle er seinen Sieg verkünden, stand er nun auf und begab sich zu einem dunklen Torbogen.
Hinter dem Torbogen verbarg sich die uralte Kapelle der Festung. Auf ihrem Steinaltar stand ein schlichtes Holzkreuz zwischen zwei Kerzen.
»Kommen Sie, Lieutenant.«
Louisa eilte herbei, um der Enthüllung des Geheimnisses beizuwohnen, doch Vivar verweigerte ihr den Zugang zur Kapelle, bis sie ihr Haupt bedeckt hatte. Hastig legte sie sich ein Tuch über ihre dunklen Locken.
Sharpe trat an ihr vorbei und betrachtete den Gegenstand, der vor dem Altar lag, den Gegenstand, von dem er gewusst hatte, dass er hier sein musste: der Kern des Geheimnisses, die Verlockung, die französische Dragoner bewogen hatte, über das vereiste Land zu ziehen, der Schatz, um dessentwillen man Sharpe in diese hoch gelegene Festung gebracht hatte.
Die Truhe.