KAPITEL 6

Die Cazadores und Rifles marschierten weiterhin in westlicher Richtung, allerdings mied Vivar aus Angst vor den französischen Dragonern die weniger beschwerlichen Pfade der Pilgerstraße. Er war immer noch davon überzeugt, dass sie im Bergland sicher seien. Die Straße, wenn man sie überhaupt eine Straße nennen konnte, quälte sich über die Pässe hoher Berge und durch kalte Bäche, die vom Schmelzwasser angeschwollen waren sowie vom beißend kalten Dauerregen, der den Weg schlüpfrig machte wie Wagenschmiere. Die Verwundeten und jene, die sich in der Kälte ein Fieber zugezogen hatten, wurden von den erbeuteten französischen Pferden getragen, aber diese kostbaren Tiere mussten mit äußerster Vorsicht geführt werden, wenn sie bei diesem morastigen Boden überleben sollten. Eines der Pferde trug die Schatztruhe.

Die Franzosen wurden nicht mehr gesichtet. Während der ersten beiden Marschtage rechnete Sharpe jeden Augenblick damit, die bedrohlichen Silhouetten der Dragoner am Horizont zu entdecken, doch der Gardeoffizier und seine Männer schienen vom Erdboden verschluckt zu sein.

Die wenigen Bauern, die in den Bergdörfern lebten, versicherten Vivar, keine Franzosen gesehen zu haben. Einige von ihnen wussten nicht einmal, dass sich ein Feind aus dem Ausland in Spanien aufhielt, und starrten jedes Mal, wenn sie die seltsame Sprache von Sharpes Schützen hörten, die Fremden misstrauisch und feindselig an.

»Als wenn ihr eigener Dialekt nicht auch seltsam wäre«, bemerkte Vivar fröhlich, der galicischen Sprache ebenso mächtig wie der höfischen Zunge Spaniens. Er versicherte den Bauern, dass von den Männern in den zerlumpten grünen Jacken nichts zu befürchten sei.

Nach einigen Tagen konnte Vivar sicher sein, dass die Franzosen ihre Fährte verloren hatten, und er führte seine Männer auf die Pilgerstraße hinab. Wie sich herausstellte, war sie nichts weiter als eine Kette verschlungener Pfade, die sich durch die tieferen Täler schlängelten. Die größten waren mit Feuersteinsplitt befestigt, sodass Karren und Kutschen sie befahren konnten, und obwohl der Winter dafür gesorgt hatte, dass die Steine im Morast versanken, kamen die Männer auf diesem Boden schnell und mühelos voran. Kastanienbäume und Ulmen wuchsen dicht an dicht am Rand des Weges, der durch eine Landschaft führte, die von plündernden Heerscharen noch unberührt war. Die Männer bekamen gut zu essen: Mais, Roggen, Kartoffeln, Kastanien und Geselchtes aus dem Wintervorrat. An einem Abend gab es sogar frisches Hammelfleisch.

Doch trotz des Essens und der leichteren Strecke war dies kein friedliches Land. Eines Mittags sah Sharpe neben einer Brücke, die einen tiefen, dunklen Wasserlauf überquerte, drei Totenköpfe auf den Spitzen hoher Holzpfähle. Diese Köpfe mussten schon vor Monaten aufgespießt worden sein. Ihre Augen, Zungen und das weichere Fleisch hatten die Raben gefressen, und die Hautfetzen, die noch an den abscheulichen Schädeln hingen, hatten sich pechschwarz verfärbt. »Rateros«, erklärte Vivar den Briten, »Straßenräuber. Die haben geglaubt, Pilger seien leichte Beute.«

»Ziehen viele Pilger nach Santiago de Compostela?«, wollte Sharpe wissen.

»Nicht mehr so viele wie früher. Einige Leprakranke gehen nach wie vor hin, um geheilt zu werden, aber selbst dem wird der Krieg ein Ende machen.« Vivar wies mit dem Kopf auf die strähnig behaarten Schädel. »Deshalb müssen diese Herren ihre Mordkünste gegen die Franzosen einsetzen.« Diese Vorstellung erheiterte den Spanier, genau wie das leichtere Vorankommen auf der Pilgerstraße die Laune von Sharpes Männern hob. Hin und wieder stimmten sie beim Marschieren ein Lied an und genossen die altbekannten Freuden des Soldatenalltags.

Vivar kaufte große Ballen Tabak, der nur zu Fäden zerkleinert zu werden brauchte, ehe er geraucht werden konnte. Einige der Schützen taten es den spanischen Soldaten nach, indem sie den Tabak in Papier einrollten, statt ihn aus Tonpfeifen zu rauchen. Außerdem gab es in den kleinen Dörfern immer großzügige Mengen herben, starken Apfelweins zu holen. Vivar war erstaunt über die Mengen, die die Rifles von diesem Getränk in sich hineinschütteten, und er war noch mehr erstaunt, als Sharpe ihm erzählte, dass die meisten Briten sich nur zum Heer gemeldet hätten, um die tägliche Ration von einem Fünftel Liter Rum zu erhalten.

Rum gab es nicht, aber die Männer waren, nicht zuletzt dank des Apfelweins, guter Dinge. Das ging so weit, dass sie Sharpe behutsame Anerkennung spüren ließen.

Die Grünjacken hatten mit unverhohlener Freude Harpers Rückkehr in ihre Reihen begrüßt, und Sharpe war erneut aufgefallen, dass der hünenhafte Mann der wahre Anführer der Männer war. Sie mochten Sergeant Williams, erwarteten jedoch instinktiv, dass Harper für sie die nötigen Entscheidungen traf, und Sharpe stellte erbittert fest, dass es Harper war und nicht er selbst, der diese Überlebenden aus vier verschiedenen Kompanien zu einer Einheit verschmolz.

»Harps is' ein anständiger Kerl, Sir.« Sergeant Williams behielt seine Rolle als Friedensstifter zwischen den beiden Männern bei. »Er gibt jetzt zu, dass er im Unrecht war.«

Sharpe reagierte gereizt auf dieses Kompliment aus zweiter Hand. »Es ist mir verdammt egal, was er sagt.«

»Er sagt, er wäre noch nie im Leben so hart rangenommen worden.«

»Ich weiß, was er sagt.« Sharpe fragte sich, ob der Sergeant auch mit anderen Offizieren in diesem Ton reden würde, und gelangte zu dem Schluss, dass er es nicht wagen würde. Ihm gegenüber aber wagte er, den vertraulichen Ton anzuschlagen, weil er wusste, dass Sharpe früher auch Sergeant gewesen war. »Du kannst Harper mitteilen«, sagte Sharpe absichtlich barsch, »dass er, wenn er noch mal aus der Reihe tanzt, so hart rangenommen wird, dass er sich an nichts mehr erinnern kann.«

Williams schmunzelte. »Harps wird nicht noch einmal aus der Reihe tanzen, Sir. Major Vivar hat ihn sich vorgeknöpft, Sir. Gott weiß, was er gesagt hat, aber er hat ihm eine Heidenangst gemacht.« Er schüttelte voller Bewunderung für den Spanier den Kopf. »Der Major is' ein zäher Bursche, Sir, und obendrein ein reicher Mann. In dieser Truhe schleppt er ein verdammtes Vermögen mit sich rum!«

»Ich sagte dir doch, da sind nur Papiere drin«, entgegnete Sharpe lässig.

»Nein, Juwelen, Sir.« Es bereitete Williams sichtliches Vergnügen, ihn in dieses Geheimnis einzuweihen. »Genau wie ich vermutet hatte. Der Major hat Harps davon erzählt, Sir. Harps sagt, der Schatz gehört der Familie des Majors, und wenn wir ihn heil nach Santi-Dingsda schaffen, gibt der Major jedem von uns einen Klumpen Gold ab!«

»Unsinn!«, sagte Sharpe ungehalten und war sich bewusst, dass sein Ärger von purer Eifersucht hervorgerufen wurde. Wie kam Vivar dazu, dem Schützen Harper in Geheimnisse einzuweihen, die er ihm, dem Lieutenant, nicht preisgeben wollte? Lag es daran, dass der Ire Katholik war? Und wie kam Vivar dazu, seinen Familienschmuck ehrfürchtig in einer Kirche aufzubauen? Und waren ein paar Juwelen Grund genug, dass feindliche Dragoner ins winterliche Bergland eindrangen, um einen Hinterhalt zu legen?

»Der Schatz stammt aus uralter Zeit.« Sergeant Williams spürte nichts von Sharpes Zweifeln. »Dazu gehört eine Halskette aus den Diamanten einer Krone. Einer Mohrenkrone, Sir. Von einem alten König, Sir. Einem Heidnischen.« Es war offensichtlich, dass die Grünjacken höchst beeindruckt waren. Die Schützen mochten auf schlechten Straßen durch den Regen marschieren, aber ihre Mühsal wurde nun durch die Würde versüßt, die heidnischen Juwelen eines alten Königreichs zu eskortieren.

»Ich glaube davon verdammt noch mal kein einziges Wort«, beteuerte Sharpe.

»Das hat der Major vorausgesagt«, erwiderte Williams respektvoll.

»Hat Harper diesen Schatz gesehen?«

»Das hätte Unglück bedeutet, Sir.« Williams hatte heute offenbar auf jeden Einwand eine Antwort parat. »Wenn die Truhe zum Beispiel ohne Zustimmung der ganzen Familie aufgemacht wird, holen einen die bösen Geister. Verstehen Sie, Sir?«

»Oh, durchaus«, spottete Sharpe, aber der Glaube des Sergeants an die Juwelen war über Sharpes ironischen Zweifel erhaben.

Am selben Nachmittag sah Sharpe zwei Möwen, die von Westen her ein überschwemmtes, vom Regen zerfurchtes Feld überflogen. Dieser Anblick versprach zwar noch nicht das Ende seiner Irrfahrt, löste jedoch allerlei Hoffnungen aus. Das Meer zu erreichen hätte einen Fortschritt bedeutet - das Ende des Marsches nach Westen und den Anfang der Reise nach Süden. In seinem Eifer bildete er sich sogar ein, das Salz in der regennassen Luft zu riechen.

Eine Stunde vor Sonnenuntergang erreichten sie eine kleine Stadt, die um eine Brücke über einen tiefen, reißenden Fluss herumgebaut war. Eine alte Festungsruine beherrschte das Stadtbild, aber diese Bastion war seit Langem verlassen. Der alcalde, also der Bürgermeister der Stadt, versicherte Vivar, dass es hier im Umkreis von fünf Wegstunden keine Franzosen gäbe, und diese Versicherung veranlasste den Major, in der Stadt Rast zu machen.

»Wir werden früh aufbrechen«, schlug er Sharpe vor. »Wenn das Wetter anhält, werden wir morgen um diese Zeit Santiago de Compostela erreichen.«

»Wo ich mich nach Süden wende.«

»Wo Sie sich nach Süden wenden.«

Der alcalde bot Vivar sein eigenes Haus an und den Cazadores seine Stallungen, während die Schützen in einem Zisterzienserkloster einquartiert wurden, das darauf eingerichtet war, Pilgern Gastfreundschaft zu gewähren, sich jedoch den fremden Soldaten gegenüber nicht minder großzügig erwies. Es gab frisch geschlachtetes Schweinefleisch, dazu Bohnen, Brot und Rotwein aus Schläuchen. Außerdem wurde ihnen von einem muskelbepackten Mönch, dessen Narben und Tätowierungen ihm das Aussehen eines ehemaligen Soldaten verliehen, aus schwarzen Flaschen ein scharf schmeckender Branntwein ausgeschenkt, den die Spanier aguardiente nannten. Derselbe Mönch schleppte einen Sack Zwiebäcke heran und zeigte mit ausgestrecktem Daumen an, dass er als Proviant für den morgigen Marsch gedacht sei.

Die Großzügigkeit der Mönche überzeugte Sharpe, dass er und die Schützen nach den kalten Gräueln der vergangenen Wochen wahrhaftig sichere Gefilde erreichen würden. Endlich schien die Gefahr einer Begegnung mit dem Feind gebannt. Der Notwendigkeit enthoben, für den Fall eines nächtlichen Alarms Posten aufzustellen, konnte Sharpe ruhig schlafen.

Nur um mitten in der Nacht geweckt zu werden.

Ein Mönch in weißer Kutte ging mit einer Laterne in der Hand zwischen den Schützen hin und her, die im dunklen Kreuzgang des Klosters schliefen. Sharpe grunzte und richtete sich auf einen Ellbogen gestützt auf. Draußen auf der Straße waren Geräusche zu hören: das Rumpeln von Rädern und Hufgetrappel.

»Senor! Senior!« Der Mönch winkte Sharpe eifrig zu, der daraufhin, fluchend über die Unterbrechung seiner Nachtruhe, seine Stiefel ergriff und dem Mönch über den vereisten Hof in die von Kerzen erleuchtete Vorhalle des Klosters folgte.

In dieser Vorhalle stand, ein Taschentuch vor den Mund gehalten, als fürchte sie sich vor Ansteckung, eine Frau von Furcht erregendem Körperumfang. Sie war so groß wie Sharpe, um die Schultern so breit wie Harper und um die Taille herum so dick wie ein Weinfass. Sie war in eine Vielzahl von Mänteln und Umhängen gehüllt, die sie noch stämmiger erscheinen ließen. Ihr Gesicht mit den Schweinsaugen und dünnen Lippen aber wurde durch ein lächerlich zartes, winziges Hütchen gekrönt.

Sie ignorierte die zudringlichen Mönche, die laut und flehentlich auf sie einredeten. Hinter ihr stand das mächtige Eingangstor des Klosters offen, und Sharpe konnte im Licht der Fackeln, die draußen auf der Straße in Halterungen angebracht waren, eine Kutsche erkennen. Als er eintrat, stopfte die Frau ihr Taschentuch in den Ärmel.

»Sind Sie ein englischer Offizier?«

Sharpe war so verblüfft, dass er keine Antwort gab. Es war nicht die barsche Frage, die ihn überraschte, nicht einmal die Stentorstimme, mit der sie gestellt wurde, sondern die Tatsache, dass diese Riesenfrau eindeutig Engländerin war.

»Nun?«, beharrte sie.

»Jawohl.«

»Ich kann nicht behaupten, dass ich froh bin, einen Offizier, der einem protestantischen König den Fahneneid geleistet hat, an einem Ort wie diesem vorzufinden. Nun ziehen Sie endlich Ihre Stiefel an. Beeilen Sie sich, Mann!« Die Frau schüttelte die Mönche ab, die versuchten, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wie eine wuchtige Milchkuh, die das Blöken einer Schafherde ignoriert. »Sagen Sie mir, wie Sie heißen«, forderte sie.

»Sharpe, Madam. Lieutenant Richard Sharpe von den 95th Rifles.«

»Holen Sie mir den ranghöchsten englischen Offizier her. Und knöpfen Sie Ihre Jacke zu.«

»Ich bin der ranghöchste Offizier.«

Die Frau starrte ihn mit bösen Blicken misstrauisch an. »Sie?«

»Jawohl, Madam.«

»Dann müssen Sie eben herhalten. Lass gefälligst deine schmutzigen Finger von mir!« Letzteres war an den Abt gerichtet, der mit ausgesuchter Höflichkeit versucht hatte, die Aufmerksamkeit der Frau auf sich zu ziehen, indem er behutsam eine zittrige Hand auf den Saum eines ihrer weiten Mäntel legte. »Holen Sie mir ein paar Männer her!« Das galt Sharpe.

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Ich bin Mrs Parker. Von Admiral Sir Hyde Parker haben Sie doch sicher gehört?«

»Gewiss.«

»Er war ein Verwandter meines Mannes, ehe Gottes Wille ihn in die jenseitige Herrlichkeit eingehen ließ.« Nachdem sie so klargestellt hatte, dass sie Sharpe, und sei es durch Heirat, vom Rang her überlegen war, schlug Mrs Parker erneut ihren herrischen Ton an. »Beeilen Sie sich, Mann!«

Sharpe zog die zerrissenen Stiefel hoch und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, wie eine Engländerin mitten in der Nacht in einem spanischen Kloster auftauchen konnte. »Sie brauchen Soldaten, Madam?«

Mrs Parker sah ihn an, als wolle sie ihm den Hals umdrehen. »Sind Sie taub, Mann? Nicht ganz bei Trost? Oder bloß einfältig? Nimm deine papistischen Finger weg!« Dieser Tadel ging wieder an die Adresse des Zisterzienserabtes, der jetzt wie von einer Wespe gestochen zurückwich. »Ich werde in der Kutsche warten, Lieutenant! Beeilung!« Unter den deutlich erleichterten Blicken der Mönche stolzierte Mrs Parker zurück zu ihrer Kutsche.

Sharpe gürtete seinen Degen um und schlang sich das Gewehr über die Schulter. Er dachte nicht daran, irgendwelche Männer zu holen, sondern trat allein auf die Straße, wo es von Karren, Kutschen und Reitern wimmelte. In der Menge hatte sich ein Gefühl der Panik ausgebreitet. Die Leute schienen zu spüren, dass sie hier nicht bleiben konnten, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden sollten. Mit bösen Vorahnungen näherte sich Sharpe der Kutsche, deren üppig gepolsterter Innenraum von einer abgeschirmten Laterne erleuchtet wurde. In ihrem Licht sah er einen hochgewachsenen, entsetzlich mageren Mann, der dabei war, Mrs Parker zurück auf ihren Sitz zu helfen.

»Da sind Sie ja!« Die Frau, der es endlich gelungen war, ihren feisten Rumpf auf die lederbezogene Bank zu zwängen, sah Sharpe stirnrunzelnd an. »Und die Männer?«

»Wozu brauchen Sie sie, Madam?«

»Wozu ich sie brauche? Hast du das gehört, George? Ein Offizier Seiner Majestät begegnet einer schutzlosen englischen Frau, die in einem papistischen Land gestrandet ist, das voller Franzosen steckt, und er stellt ihr Fragen!« Mrs Parker beugte sich vor und füllte mit ihrem Leib die offene Kutschtür aus. »Holen Sie sie her!«

»Warum?«, bellte Sharpe und löste damit erneut hohes Erstaunen bei Mrs Parker aus, die Widerspruch offensichtlich nicht gewohnt war.

»Wegen der Bibeln!« Es war der Mann, der diese Antwort gab. Er spähte an Mrs Parker vorbei und schenkte Sharpe ein sehr vorsichtiges Lächeln. »Ich heiße Parker, George Parker. Ich habe die Ehre, ein Vetter des verstorbenen Admirals Sir Hyde Parker zu sein.« Der resignierte Ton, in dem er das sagte, ließ erkennen, dass alles, was Mr George Parker im Laufe seines Lebens zustande gebracht haben mochte, allein auf den Ruhm seines Vetters zurückzuführen war. »Meine Frau und ich brauchen Ihre Hilfe.«

»Wir haben spanische Übersetzungen des Neuen Testaments dabei«, unterbrach ihn Mrs Parker, »in einem Versteck hier in der Stadt, Lieutenant. Die Spanier konfiszieren dergleichen Schriften, wenn wir sie nicht verbergen. Wir brauchen Ihre Männer, um sie zu retten.« Diese Erklärung erfüllte eindeutig die Funktion einer Versöhnungsansprache, und sie wurde dafür mit einem eifrigen Nicken ihres Mannes belohnt.

»Sie verlangen, dass meine Schützen Ihre Bibeln vor den Spaniern in Sicherheit bringen?«, fragte Sharpe restlos verwirrt.

»Vor den Franzosen, Sie Narr!«, bellte Mrs Parker aus dem Innern der Kutsche.

»Demnach sind sie hier?«

»Sie sind gestern in Santiago de Compostela einmarschiert«, entgegnete Mr Parker traurig.

»Großer Gott im Himmel!«

Dieser Fluch hatte die glückliche Wirkung, Mrs Parker zum Schweigen zu bringen. Ihr Mann sah Sharpes Entsetzen. Er beugte sich vor und fragte: »Haben Sie nicht gehört, was sich in La Coruña zugetragen hat?«

Sharpe wäre fast lieber gewesen, davon gar nichts zu erfahren. »Ich habe nichts gehört, Sir.«

»Dort hat eine Schlacht stattgefunden, Lieutenant. Wie es scheint, ist es dem britischen Heer gelungen, sich aufs Meer zu retten, allerdings um den Preis zahlreicher Menschenleben. Sir John Moore soll gefallen sein. Die Franzosen, scheint es, sind nun die Herren über diesen Teil Spaniens.«

»Gütiger Himmel.«

»Als wir hier ankamen, hat man uns von Ihrer Gegenwart unterrichtet«, erläuterte George Parker, »und nun bitten wir um Ihren Schutz.«

»Selbstverständlich.« Sharpe warf einen Blick auf die Straße. Jetzt verstand er die Panik. Die Franzosen hatten die Atlantikhäfen an der Nordwestgrenze Spaniens eingenommen. Die Briten waren abgezogen, die spanischen Armeen aufgerieben, und bald würden Napoleons Heerscharen sich gen Süden wenden, um ihren Sieg zu vollenden. »Wie weit ist es von hier nach La Coruña?« »Elf Meilen? Zwölf?« George Parkers Gesicht wirkte im Kerzenlicht blass und verhärmt. Kein Wunder, dachte Sharpe. Die Franzosen waren kaum einen Tagesmarsch entfernt.

»Werden Sie sich jetzt wohl beeilen?« Mrs Parker hatte sich von ihrem Schock über Sharpes Blasphemie erholt und lehnte sich hasserfüllt aus der Kutsche.

»Warten Sie, gnädige Frau.« Sharpe rannte zurück ins Kloster. »Sergeant Williams! Sergeant Williams!«

Es dauerte zehn Minuten, die Rifles zu wecken und antreten zu lassen. Schlaftrunken torkelten sie auf die Straße, wo Sharpe sie im Fackelschein anbrüllte, sich in Reihen aufzustellen. Der Atem der Männer dampfte im Licht der Flammen, und Sharpe spürte die ersten beißend kalten Regentropfen. Die Mönche in ihrer Großzügigkeit brachten den Soldaten, die nicht schlau zu werden schienen aus dem lärmenden Chaos, kleine Säcke mit Brot heraus.

»Lieutenant! Wollen Sie sich gefälligst beeilen!« Mrs Parker brachte die Federung der Kutsche zum Quietschen, als sie sich abermals herauslehnte. An diesem Punkt stieß Schütze Harper einen durchdringenden Pfiff aus, und die übrigen Männer schrien Hurra. Sharpe wirbelte herum und machte eine äußerst unwillkommene Entdeckung.

In der Kutsche befand sich ein dritter Fahrgast, ein Fahrgast, der bis jetzt hinter Mrs Parkers fülligem Leib verborgen gewesen war. Mrs Parker schien eine Zofe, eine Reisebegleiterin, wenn nicht gar eine Tochter zu haben, und dieses Mädchen, falls es sich wirklich um Mrs Parkers Tochter handelte, sah seiner Mutter überhaupt nicht ähnlich. Nicht im Mindesten. Sharpe erblickte ein Gesicht mit strahlenden Augen, dunklen Locken und einem schelmischen Lächeln, das unter den Soldaten nur Unruhe stiften konnte.

»Ach, Scheiße«, murmelte er.


Sharpe hatte seine Männer geweckt und antreten lassen, ohne zu wissen, was er danach mit ihnen anfangen sollte. Während er darauf wartete, dass Vivar aus dem Haus des alcalde erschien, wo man eilig eine Versammlung der Stadtältesten einberufen hatte, ließ er die Rifles zunächst einmal die Neuen Testamente in spanischer Sprache aus dem Lager jenes Buchhändlers holen, der die Bücher George Parker zuliebe versteckt hatte.

»Die römische Kirche ist dagegen, verstehen Sie?« George Parker erwies sich in Abwesenheit seiner Frau als ein ebenso vornehmer wie trauriger Gentleman. »Sie will, dass ihre Untertanen in finsterer Ignoranz verharren. Der Erzbischof von Sevilla hat eintausend Bibeln konfisziert und verbrennen lassen. Können Sie sich so ein Benehmen vorstellen? Deshalb sind wir in den Norden gekommen. Ich war der Ansicht, dass wir in Salamanca fruchtbareren Boden für unsere Bemühungen vorfinden würden. Aber der dortige Erzbischof hat ebenfalls die Beschlagnahme angedroht. Daher sind wir nach Santiago aufgebrochen und haben unterwegs unsere kostbaren Bücher diesem guten Mann anvertraut.« Parker zeigte auf das Haus des Buchhändlers. »Ich glaube, er verkauft ein paar davon zum eigenen Nutzen, aber ich kann es ihm kaum verdenken. Wahrhaftig nicht. Und wenn er die Verbreitung des Evangeliums besorgt, Lieutenant, unverfälscht durch die Priester Roms, kann das Gott nur zur Ehre geraten, meinen Sie nicht auch?«

Sharpe war von den seltsamen Ereignissen dieser Nacht zu verwirrt, um ihm zustimmen zu können. Er sah zu, wie ein weiterer Stapel schwarz eingebundener Bücher auf die Straße geschleppt und in die rückwärtige Gepäckkiste der Kutsche verladen wurde. »Sie sind also in Spanien, um Bibeln zu verteilen?«

»Erst seit der Friedensvertrag zwischen unseren beiden Ländern unterzeichnet ist«, antwortete Parker, als sei damit alles erklärt. Als er jedoch sah, dass die Verwirrung nicht aus Sharpes Miene weichen wollte, lieferte er weitere Informationen nach. »Meine liebe Frau und ich, müssen Sie wissen, sind Anhänger des verblichenen John Wesley.«

»Des Methodisten?«

»Exakt und haargenau.« Parker nickte eifrig. »Und als mein verstorbener Vetter, der Admiral, so gütig war, mich in seinem Testament zu bedenken, war meine liebe Frau der Ansicht, das Geld sei womöglich am schicklichsten auf die Erleuchtung der vom Papst herbeigeführten Finsternis verwandt, die das ganze südliche Europa einhüllt. Wir sahen den Friedensschluss zwischen England und Spanien als göttliche Fügung, die unsere Schritte an diesen Ort gelenkt hat.«

»Mit großem Erfolg?« Sharpe konnte der Versuchung, diese Frage zu stellen, nicht widerstehen, obwohl die Antwort an Parkers kummervollem Gesicht deutlich abzulesen war.

»Leider nicht, Lieutenant. Das Volk Spaniens hält hartnäckig an seiner römischen Ketzerei fest. Aber wenn auch nur einer Seele das Wissen um Gottes Erlösung und die Gnade des Protestantismus nahegebracht wird, werde ich mich in meinen Anstrengungen mehr als bestätigt fühlen.« Parker verstummte. »Und Sie, Lieutenant? Dürfte ich fragen, ob Sie persönlich von unserem Herrn und Erlöser wissen?«

»Ich bin Schütze, Sir«, sagte Sharpe entschieden, darauf bedacht, einen protestantischen Angriff auf seine bereits vom Katholizismus bestürmte Seele zu umgehen. »Unsere Religion ist das Töten von Froschfressern und anderen heidnischen Hundesöhnen, die etwas gegen unseren guten König George haben.«

Die Entschiedenheit, mit der Sharpe seine Antwort vortrug, brachte Parker vorübergehend zum Schweigen. Betrübt beobachtete der alte Mann die Flüchtlinge auf der Straße. Dann seufzte er. »Natürlich, Sie sind Soldat. Aber vielleicht verzeihen Sie mir, Lieutenant?«

»Ihnen verzeihen, Sir?«

»Mein Vetter, der verstorbene Admiral, hat immer zu heftigen Flüchen geneigt. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Lieutenant, aber meine liebe Frau und meine Nichte sind die Kraftausdrücke des Militärs nicht gewöhnt, und ...« Seine Stimme versagte.

»Entschuldigen Sie, Sir. Ich werde versuchen, daran zu denken.« Sharpe zeigte auf das Haus des Buchhändlers, in dem Mrs Parker und das Mädchen vorübergehend Schutz gesucht hatten. »Sie ist also Ihre Nichte, Sir? Ist sie nicht ein wenig jung, um durch ein unruhiges Land wie dieses zu reisen?«

Selbst wenn Parker gemerkt haben mochte, dass Sharpe nur Informationen über seine Nichte aus ihm herauslocken wollte, hätte es ihn nicht gestört. »Louisa ist neunzehn Jahre alt, Lieutenant, und leider verwaist. Meine liebe Frau hat ihr eine Stellung als Reisebegleiterin angeboten. Wir hatten natürlich keine Ahnung, dass der Krieg eine so ungünstige Wendung nehmen könnte. Wir haben geglaubt, wenn ein britisches Heer einen Feldzug nach Spanien unternimmt, würden wir sowohl willkommen als auch in Sicherheit sein.«

»Vielleicht ist Gott dieser Tage ein Franzose«, rutschte es Sharpe heraus.

Auf diese leichtfertige Äußerung ging Parker nicht ein und beobachtete wieder den Flüchtlingsstrom, der sich mit seinen Kleiderbündeln durch die Nacht vorankämpfte. Kinder weinten. Eine Frau zerrte zwei Ziegen an einem Seil hinter sich her. Ein Krüppel schwang sich auf Krücken vorbei. Parker schüttelte den Kopf. »Hier herrscht große Angst vor den Franzosen.«

»Sie benehmen sich wie die letzten Schweinehunde, Sir. Entschuldigen Sie.« Sharpe wurde rot. »Waren Sie in Santiago de Compostela, als die Franzosen dort einmarschiert sind?«

»Ihre Kavallerie hatte gestern Abend den nördlichen Stadtrand erreicht. Uns blieb noch Zeit zu fliehen. Der Herr war uns ausgesprochen gnädig, meine ich.«

»In der Tat, Sir.«

Sergeant Williams stand mit breitem Grinsen vor Sharpe stramm. »Die heiligen Bücher sind alle verladen, Sir. Soll ich die Damen holen?«

Sharpe wandte sich an Parker. »Wollen Sie heute Nacht noch weiterreisen, Sir?«

Parker wusste ganz eindeutig keine rechte Antwort auf diese Frage. »Wir tun, was immer Sie für richtig halten, Lieutenant.«

»Das müssen Sie schon selbst entscheiden, Sir.«

»Ich?«

Offensichtlich war George Parker ebenso unentschlossen wie sein Vetter Sir Hyde, der mit seinem Zaudern beinahe die Schlacht von Kopenhagen verloren hätte.

Sharpe versuchte dem Alten zu erklären, vor welche Wahl seine Familie gestellt war. »Auf dieser Straße kann man sich nur nach Osten oder Westen wenden, und in beiden Richtungen liegen die Franzosen auf der Lauer. Ich gehe davon aus, Sir, dass Sie nun, nachdem Ihre Bücher in Sicherheit sind, entweder die eine oder die andere wählen müssen. Man sagt, die Franzosen würden sich unschuldigen englischen Reisenden gegenüber recht anständig verhalten. Zweifellos wird man Sie verhören, und Sie werden einige Unannehmlichkeiten auf sich nehmen müssen. Aber vermutlich werden Sie die Erlaubnis erhalten, nach Süden zu reisen. Dürfte ich Lissabon als Reiseziel vorschlagen? Ich habe gehört, dass es dort nach wie vor eine kleine britische Garnison gibt. Und wenn die Garnison sich bereits eingeschifft hat, müssten Sie dort zumindest ein britisches Handelsschiff finden.«

Parker starrte Sharpe besorgt an. »Und Sie, Lieutenant? Was haben Sie vor?«

»Ich kann kaum mit Schonung vonseiten der Franzosen rechnen, Sir.« Er lächelte. »Nein, wir ziehen nach Süden. Wir hatten gehofft, die Straße zu nehmen, die in Santiago de Compostela beginnt, aber da die Schwei ... - da die Franzosen schon dort sind, werden wir einen Umweg über die Berge machen.« Sharpe schlug gegen eines der schlammverkrusteten Räder der großen Kutsche. »Keine Chance, diesen Karren mitzunehmen, Sir, deshalb fürchte ich, Sie werden die Erlaubnis der Franzosen einholen müssen, ihr Territorium zu durchqueren.«

Parker schüttelte bereits seit einigen Sekunden den Kopf. »Ich versichere Ihnen, Lieutenant, dass meine Frau und ich nicht die Absicht haben, uns vor dem Feind zu erniedrigen, solange uns ein Entkommen möglich ist. Wir werden mit Ihnen gen Süden reisen. Und obendrein kann ich Ihnen versichern, dass aus dieser Stadt eine durchaus brauchbare Straße in Richtung Süden führt. Dort!« Er deutete auf die Brücke. »Gleich auf der anderen Flussseite.«

Einen Moment lang verschlug es Sharpe die Sprache. »Es gibt eine Straße, die von hier nach Süden führt?«

»Exakt und haargenau. Sonst hätte ich wohl kaum gewagt, wegen meiner Testamente herzukommen.«

»Aber man hat mir gesagt ...« Sharpe wurde augenblicklich klar, dass es keinen Sinn hatte, Vivars Behauptung zu wiederholen, dass eine derartige Straße nach Süden nicht existiere. »Sind Sie sicher, Sir?«

»Ich habe sie vor einem Monat selbst befahren.« Parker sah Sharpes Zögern. »Ich habe eine Karte, Lieutenant. Wollen Sie sie sehen?«

Sharpe folgte dem Methodisten ins Haus des Buchhändlers. Mrs Parker hatte sich am Kamin breitgemacht und warf dem Lieutenant einen misstrauischen Blick zu.

»Sämtliche Testamente sind sicher verstaut, meine Liebe«, sagte Parker unterwürfig, »und ich möchte fragen, ob wir wohl die Karte studieren dürften?«

»Louisa!«, rief Mrs Parker ihrer Nichte zu. »Die Karte.«

Das Mädchen trat gehorsam an eine lederne Reisetasche und kramte zwischen Papieren herum. Sharpe wandte bewusst die Augen ab. Nach allem, was er bisher von Louisa Parker zu sehen bekommen hatte, war sie beunruhigend hübsch. Sie war von hochgewachsener, schlanker Anmut, hatte ein hellwaches Gesicht und seidige, von Not oder Krankheit unberührte Haut. Ein Mädchen, dachte Sharpe, das geeignet war, einen Soldaten durch alle Träume zu verfolgen, auch wenn sie eine gottverdammte Methodistin war.

Louisa brachte die Karte an den Tisch. George Parker machte sich anheischig, sie in aller Förmlichkeit vorzustellen. »Louisa, meine Liebe, du bist noch nicht bekannt gemacht worden mit Lieutenant ...«

»Louisa!« Mrs Parker war sich offensichtlich der Gefahr bewusst, die Soldaten für junge Mädchen darstellten, und unterbrach deshalb ihren Mann. »Komm sofort her und setz dich!«

In dem nun einsetzenden Schweigen entfaltete Sharpe die Landkarte.

»Die Karte ist nicht sehr genau«, sagte Parker demütig, als sei er persönlich für jede Ungenauigkeit verantwortlich, »aber ich versichere Ihnen, den besagten Weg gibt es.« Er fuhr mit dem Finger über eine dünne schwarze Linie, mit der Sharpe wenig anfangen konnte, denn er war noch bemüht, den eigenen Standort auf dem schlecht gedruckten Blatt zu bestimmen. »Der Weg trifft hier auf die Küstenstraße, ein Stück südlich von Villagarcia«, fuhr Parker fort, »und ich hatte gehofft, wir könnten dort, in Pontevedra, ein Schiff finden. Ich gehe davon aus, dass die Royal Navy vor dieser Küste patrouilliert und sich, so Gott will, ein freundlicher Fischer überreden lässt, uns zu ihren Schiffen hinaus zu befördern.«

Sharpe hörte gar nicht richtig zu. Er starrte die Karte an und versuchte, die anstrengende Route zu finden, die er mit Vivar genommen hatte. Den genauen Marschweg konnte er nicht finden, aber eines war klar: In den letzten paar Tagen hatten er und seine Rifles mindestens zwei Straßen nach Süden passiert. Vivar hatte Sharpe immer wieder versichert, dass es keinen Weg nach Süden gäbe, dass die Schützen nach Santiago de Compostela müssten, ehe sie sich nach Lissabon aufmachen konnten. Der Spanier hatte gelogen.

George Parker legte Sharpes grimmige Miene als Pessimismus aus. »So glauben Sie mir doch, der Weg existiert.«

Sharpe wurde plötzlich auf den Blick des Mädchens aufmerksam, der auf ihm ruhte, und alle beschützerischen Instinkte, die er als Soldat besaß, wurden von diesem prüfenden Blick geweckt. »Sie sagen, Sie hätten die Straße vor einem Monat befahren, Sir?«

»In der Tat.«

»Und eine Kutsche kann sie im Winter bewältigen?«

»Das kann sie in der Tat.«

»Haben Sie vor, die ganze Nacht zu verplaudern?« Mrs Parker richtete sich drohend auf. »Oder kümmert britische Soldaten das Schicksal britischer Frauenzimmer nicht mehr?«

Sharpe faltete die Karte zusammen und schob sie, ohne um Erlaubnis zu bitten, in seinen Beutel. »Wir können bald aufbrechen, Madam, aber zunächst habe ich in der Stadt zu tun.«

»Zu tun!« Mrs Parker schürte unverkennbar die Flammen ihres Ehrfurcht gebietenden Zorns. »Was kann ein bloßer Lieutenant zu tun haben, Mister Sharpe, das Vorrang gegenüber unserer Sicherheit hätte?«

Sharpe riss die Tür auf. »Ich brauche höchstens eine Viertelstunde. Tun Sie mir den Gefallen und seien Sie in zehn Minuten reisefertig. Ich habe zwei Verwundete, die in Ihrer Kutsche mitfahren müssen.« Er sah neuen Widerspruch in ihr aufschäumen. »Und die Tornister meiner Männer müssen auf dem Dach mitreisen. Sonst können Sie sich ohne mich nach Süden durchschlagen.« Er deutete eine Verbeugung an. »Ihr Diener, Madam.«

Sharpe wandte sich ab, ehe Mrs Parker anfangen konnte, mit ihm zu streiten. Er hätte schwören können, dass er bei der Gelegenheit ein amüsiertes Kichern des Mädchens hörte. Verdammt noch mal! Verdammt! Verdammt! Seine Sorgen waren auch ohne dieses ewige Problem eines jeden Soldaten groß genug. Er machte sich auf die Suche nach Vivar.


»Gute Neuigkeiten!«, begrüßte Vivar den Lieutenant, der das Haus des Bürgermeisters betrat. »Meine Verstärkung ist nur noch einen halben Tagesmarsch entfernt! Leutnant Davila hat frische Pferde und frische Soldaten gefunden! Hatte ich Ihnen von Davila erzählt?«

»Von der Straße haben Sie mir ja auch nichts erzählt, nicht wahr?«

»Straße?«

»Sie haben mir gesagt, wir müssten nach Westen marschieren, ehe wir nach Süden könnten!« Sharpe hatte nicht beabsichtigt, so aufgebracht zu sprechen, aber er konnte seine Erbitterung nicht verbergen. Er und seine Männer hatten ein kaltes Land durchquert, hatten feuchte Hänge erklommen und waren durch eisige Bäche gewatet, und das für nichts und wieder nichts. Er hätte schon vor Tagen nach Süden abbiegen können. Inzwischen hätten sie längst die Grenze nach Portugal hinter sich gelassen. Stattdessen waren sie wenige Marschstunden vom Feind entfernt.

»Die Straße!« Er knallte George Parkers Karte auf den Tisch. »Es gibt sehr wohl eine Straße, Vivar! Eine gottverdammte Straße! Und Sie haben uns an zwei anderen gottverdammten Straßen vorbeigeführt! Und die gottverdammten Franzosen sind einen lächerlichen Tagesmarsch weit weg. Sie haben mich, verdammt noch mal, angelogen!«

»Sie angelogen?« Blas Vivars Wut flammte ebenso ungestüm auf wie die Sharpes. »Das erbärmliche Leben habe ich Ihnen gerettet! Glauben Sie etwa, Ihre Männer hätten ohne mich in Spanien auch nur eine Woche überlebt? Wenn sie nicht gerade untereinander streiten, besaufen sie sich samt und sonders! Ich habe einen Haufen nichtsnutziger Trunkenbolde durch halb Spanien geführt und bekomme dafür keinen Dank, überhaupt keinen. Auf Ihre Karte pfeife ich!« Vivar packte die kostbare Landkarte und zerriss sie, statt darauf zu pfeifen, in kleine Fetzen, die er ins Feuer warf.

Der Bürgermeister, ein Priester und ein halbes Dutzend weiterer alter und gewichtiger Männer beobachteten in verstörtem Schweigen die Konfrontation.

»Zur Hölle mit Ihnen!« Sharpe hatte eine Sekunde zu spät nach der Karte gegriffen.

»Ich soll zur Hölle fahren?«, brüllte Vivar. »Ich kämpfe für Spanien, Lieutenant! Ich renne nicht davon wie ein verängstigter kleiner Junge. Aber so sind die Briten nun mal, nicht wahr? Ein Rückschlag, schon rennen sie nach Hause zu ihren Müttern. Sei's drum! Rennen Sie ruhig fort! Aber Sie werden in Lissabon keine Garnison vorfinden, Lieutenant. Die wird auch längst davongerannt sein!«

Sharpe ignorierte seine Schmähungen, um endlich die Frage zu stellen, die ihm auf der Zunge brannte. »Warum haben Sie uns überhaupt hierher geführt, Sie Hundesohn?«

Vivar beugte sich über den Tisch. »Weil ich geglaubt habe, Lieutenant, ein Engländer könne einmal in seinem geistig umnachteten Leben etwas für Spanien tun. Etwas für Gott tun, etwas Nützliches! Sie sind eine Nation der Piraten, der Barbaren, der Heiden! Gott allein weiß, warum er die Engländer auf diese Erde gesetzt hat, aber ich dachte, nur dieses eine Mal, Sie könnten etwas tun, das Seinem Schöpfungsauftrag nützt!«

»Wir sollten wohl Ihre kostbare Schatztruhe schützen?« Sharpe zeigte auf die geheimnisvolle Truhe, die an einer Wand aufgestellt war. »Ohne uns hätten sie das verdammte Ding verloren, ist es nicht so? Und warum, Major? Weil Ihre kostbaren spanischen Armeen zu nichts zu gebrauchen sind, deshalb!«

»Und Ihr Heer ist aufgerieben, geschlagen und geflüchtet. Es ist zu überhaupt nichts zu gebrauchen. Nun verschwinden Sie! Rennen Sie fort!«

»Ich hoffe, die Franzosen bekommen Ihre verdammte Kiste.« Sharpe wandte sich ab, dann hörte er, wie ein Säbel gezogen wurde. Er wirbelte herum und riss dabei den eigenen Degen flink aus der wiederhergestellten Scheide. Da kam Vivars Klinge auch schon im Kerzenlicht schimmernd auf ihn herabgesaust.

»Basta!« Es war der Priester, der sich zwischen die beiden wütenden Männer warf. Er redete auf Vivar ein, der Sharpe nur verachtungsvoll anstarrte. Da er das Gesagte nicht verstehen konnte, verharrte Sharpe währenddessen mit erhobenem Degen.

Vivar ließ sich widerstrebend von dem Priester überreden, seine Klinge sinken zu lassen. »Sie überstehen ohne mich keinen Tag, Lieutenant, aber gehen Sie ruhig!«

Sharpe spuckte auf den Boden, um seine Verachtung kundzutun, dann trat er, immer noch mit gezogenem Degen, in die Nacht hinaus. Die Franzosen hatten den Norden erobert und er musste fliehen.


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