KAPITEL 4

Sharpe sah Vivar auf den rechten Straßenrand zuhechten und warf sich nach links. Der große Degen, mit dem er noch nicht vertraut war, rasselte gegen einen Felsen, dann hob er das Gewehr an die Schulter und riss den Fetzen Stoff herunter, der den Regen vom Pulver in der Zündpfanne der Waffe fernhielt. Eine feindliche Kugel ließ rechts von ihm den nassen Schnee aufspritzen, eine weitere schlug mit einem hässlichen Krachen über ihm in die Felswand ein. Hinter ihm schrie ein Mann vor Schmerz auf.

Dragoner. Gottverdammte Dragoner. Grüne Röcke mit rosa Besatz. Keine Pferde. Abgesessene Dragoner mit Musketen. Sharpe, der sich allmählich von seiner Überraschung über den Hinterhalt erholte, versuchte das Chaos aus Entsetzen und Lärm zu ergründen, das in der winterlichen Kälte entstanden war. Er sah graue Rauchwölkchen, schmutzig wie der tauende Schnee, im Bogen vor sich aufsteigen.

Die Franzosen hatten etwa sechzig Schritt hinter dem Ausgang der Schlucht quer über die Straße eine niedrige Barrikade errichtet. Das war für die französischen Musketen eine große Entfernung, aber darauf kam es nicht an. Es waren die abgesessenen Dragoner in ihren Stellungen oben auf den hohen kahlen Felswänden zu beiden Seiten der Schlucht, die den eigentlichen Schaden anrichteten.

Sharpe rollte auf den Rücken herum. Eine Kugel bohrte sich genau an der Stelle in den Schnee, wo noch vor einer Sekunde sein Kopf gewesen war. Er sah die Dragoner am Rande des Abgrunds stehen und in die tödliche Falle der Straße herabfeuern, auf der man vor neunhundert Jahren die Mauren abgeschlachtet hatte.

Vivars Männer hatten sich verteilt. Sie kauerten am Fuß der Felsen und schossen nach oben. Vivar brüllte sie an, rief ihnen zu, sie sollten eine Linie bilden und dann vorrücken. Er hatte vor, jene anzugreifen, die die Straße versperrten. Instinktiv wusste Sharpe, dass die Franzosen genau mit dieser Taktik rechneten. Deshalb hatten sie ihre Barrikade nicht in der Schlucht, sondern dahinter aufgebaut. Sie wollten die in den Hinterhalt gegangenen Soldaten auf die Ebene locken, und dafür konnte es nur einen Grund geben. Die Franzosen hatten Kavallerie bereitgestellt, Reiter mit langen Kavalleriedegen, die der ungeschützten Infanterie des Feindes den Garaus machen würden.

Im selben Augenblick, als ihm die Erkenntnis kam, merkte Sharpe außerdem, dass er wie ein Schütze handelte, nicht wie ein Offizier. Er war in Deckung gegangen, er hielt Ausschau nach einem Ziel, und er wusste nicht, wie es seinen Männern im hinteren Teil der Schlucht erging. Nicht dass er den Wunsch gehabt hätte, in diese Falle zwischen Fels und schwirrenden Kugeln zurückzukehren, aber genau das war die Pflicht eines Offiziers. Er raffte sich auf und rannte los.

Er drängte sich zwischen den Spaniern hindurch, die dabei waren, sich zu sammeln, sah das Maultier, das zappelnd und blutend am Boden lag, bemerkte das Pfeifen und Krachen rund um seine Ohren. Die Musketenkugeln ergossen sich in die Schlucht, sausten als Querschläger hin und her und woben ein tödliches Netz in der Luft. Er sah einen Grünrock auf dem Bauch liegen. Blut war aus dem Mund des Mannes gequollen und hatte einen großen Fleck schmelzenden Schnees verfärbt. Eine Büchse krachte links von Sharpe, dann eine zweite zu seiner Rechten. Die Grünjacken waren, so gut es ging, in Deckung gegangen und versuchten, die Franzosen über ihnen abzuschießen. Sharpe ging auf, dass die Franzosen mehr Männer in der Höhe hätten postieren müssen, dass die Gewalt ihres Feuers zu gering war, um die Straße zu beherrschen. Dieser Gedanke kam so überraschend, dass er stehen blieb und zum hohen Horizont hinaufstarrte.

Er hatte recht. Die Franzosen hatten dort oben gerade genug Männer aufgestellt, um den Hinterhalt zu vervollständigen, aber den Todesstoß sollten ihnen nicht diese Männer versetzen, sondern andere. Die Erkenntnis verlieh Sharpe Hoffnung und sagte ihm, was er zu tun hatte. Er begann, indem er die Straße abschritt, nach seinen Männern zu rufen. »Rifles! Zu mir! Zu mir!«

Die Männer rührten sich nicht vom Fleck. Eine Kugel klatschte neben Sharpe in den Schnee. Die französischen Kavalleristen, die besser mit dem Degen als mit der Muskete umgehen konnten, zielten zu hoch, aber das war im Gewirr ihrer Kugeln ein schwacher Trost.

Wieder rief Sharpe den Schützen zu, sich um ihn zu sammeln, aber sie zogen selbstverständlich das bisschen Deckung vor, das sich am Fuß der Klippen bot. Er zerrte einen Mann aus einer Felsspalte. »Dort entlang! Schnell! Warte am Ende der Schlucht auf mich.« Er fuhr fort, den Übrigen Beine zu machen. »Aufstehen! Bewegung!« Er traktierte die Männer mit Fußtritten, bis sie sich erhoben. »Sergeant Williams!«

»Sir?« Die Antwort ertönte aus der Tiefe der Schlucht, irgendwo hinter den Rauchfäden aus den Gewehren, die sich zwischen den Felswänden fingen.

»Wenn wir hierbleiben, sind wir dem Tod geweiht! Rifles, mir nach!«

Sie folgten ihm. Sharpe hatte keine Zeit, über die Ironie nachzudenken, dass dieselben Männer, die ihm vor Kurzem nach dem Leben getrachtet hatten, nun seinen Befehlen gehorchten. Sie gehorchten, weil Sharpe wusste, was zu tun war, weil er sich seiner gewiss war. Es war diese Gewissheit, die die Schützen aus ihrer spärlichen Deckung herausholte. Außerdem folgten sie ihm, weil der einzige andere Mann, dem sie vertraut hätten, nämlich Harper, nicht bei ihnen, sondern immer noch am Schwanz des verletzten Maultieres festgebunden war.

»Mir nach! Mir nach!« Sharpe sprang über einen verwundeten Spanier hinweg, wich aus, als eine Kugel an seinem Gesicht vorbeisauste, wandte sich dann nach rechts. Er hatte die Männer fast bis zum Ausgang der Schlucht geführt, dorthin, wo Vivar immer noch seine eigenen unberittenen Kavalleristen zum Kampf formierte.

Hier hatte einmal vor Jahren ein Bergrutsch stattgefunden und eine Halde aus Geröll und Tonerde gebildet, und obwohl der Abhang gefährlich steil war und durch den schmelzenden Schnee noch gefährlicher wurde, bot sich hier eine Abkürzung nach oben, über die man den Rand der Klippen erreichen konnte.

Sharpe kletterte die Halde hinauf, indem er sein Gewehr als Stock einsetzte, und hinter ihm her kamen allein oder zu zweit die Rifles.

»In Schützenlinie!« Sharpe blieb am oberen Ende des ersten steilen Hangs stehen, um seinen beschwerlichen Tornister abzulegen. »Verteilt euch!«

Einige der Schützen merkten plötzlich, was von ihnen erwartet wurde. Sie sollten einen steilen und schlüpfrigen Hang hinauf angreifen, an dessen Gipfel die Franzosen durch die natürlichen Bastionen verstreuter Felsen geschützt wurden. Der eine oder andere zögerte und hielt Ausschau nach Deckung.

»Weiter!« Sharpes Stimme war lauter als das Gewehrfeuer. »Weiter! In Schützenlinie! Weiter!«

Sie rückten weiter vor, nicht weil sie Sharpe vertraut hätten, sondern weil tief in ihnen die Gewohnheit verwurzelt war zu gehorchen, sobald sie unter Feuer standen.

Sharpe wusste, dass in der Schlucht zu bleiben den Tod bedeutet hätte. Die Franzosen wollten sie dort von oben mit ihren Musketen festnageln, bis die Dragoner von der Straßensperre her angreifen würden. Die einzige Möglichkeit, diesen Hinterhalt zu brechen, war die, einen seiner Ansatzpunkte anzugreifen. Bei dem Versuch würden Männer zu Tode kommen, aber nicht so viele wie andernfalls im Blut und Gemetzel auf der matschigen Straße.

Sharpe hörte Vivar auf Spanisch ein Kommando brüllen, aber er achtete nicht darauf. Der Major musste tun, was er für richtig hielt, und Sharpe würde tun, was er für das Beste hielt. Plötzlich wurde er von seltsamer Kampffreude gepackt. Hier im Gestank des Pulverdampfs fühlte er sich daheim. Dies war seit fünfzehn Jahren sein Leben. Andere Männer lernten, wie man Felder pflügt oder Holz bearbeitet, er hingegen hatte gelernt, Muskete und Gewehr, Degen und Bajonett zu handhaben, einem Feind in die Flanke zu fallen und eine Festung zu nehmen. Er hatte die Angst kennengelernt. Sie war der vertraute Gefährte eines jeden Soldaten. Aber zugleich wusste Sharpe, wie man sich die Angst des Feindes zunutze macht.

Hoch über ihm sandte ein französischer Offizier, als Silhouette vor den grauen Wolken erkennbar, seine Männer aus, um sich der neuen Bedrohung zu stellen. Die Dragoner, die den Rand der Klippen besetzt gehalten hatten, mussten sich nun nach rechts orientieren, um diesem unerwarteten Flankenangriff zu begegnen. Sie beeilten sich sehr, und gleich darauf peitschten die ersten französischen Kugeln durch die eisige Luft.

»Feuer! Feuer!«, brüllte Sharpe im Hinaufklettern und wurde mit dem Krachen einzelner Baker-Büchsen belohnt. Die Schützen taten, wozu man sie ausgebildet hatte. Ein Mann schoss, während sein Kamerad weiterlief. Den Dragonern, die immer noch nach neuen Positionen hoch oben auf dem Fels suchten, würden die Kugeln um die Ohren sausen. Die Franzosen benutzten keine Büchsen, sondern zogen die rascher zu handhabende Muskete vor, aber die Muskete war eine ungenaue Waffe, verglichen mit der langsamer zu ladenden Baker-Büchse.

Eine Kugel zischte an Sharpe vorbei. Er nahm an, es müsse sich um eine Büchsenkugel gehandelt haben, die hinter ihm abgeschossen worden war. Er fragte sich, ob einer seiner Männer ihn so sehr hassen mochte, dass er auf seinen Rücken gezielt hatte. Sich mit dieser Angst aufzuhalten hatte er jedoch nun keine Zeit, auch wenn es eine höchst reale Angst schien. In Indien hatte er mehr als einmal erlebt, dass ein unbeliebter Offizier durch einen Schuss in den Rücken umkam. »Schneller! Schneller! Links halten! Links halten!«

Sharpe verließ sich auf seinen Instinkt, dass die Männer, die man auf der Klippe postiert hatte, gerade ausreichten, um den Hinterhalt wirksam zu machen, und er hoffte darauf, dass diese Männer mit ihrer Aufgabe überfordert waren. Er wich nach links aus, zwang die Franzosen, erneut die Stellung zu wechseln.

Er entdeckte vor sich zwischen den Felsen ein Gesicht, ein schnurrbärtiges Gesicht. Dragons, also Drachen, so hießen sie auf Französisch und Spanisch. Der Gedanke ging Sharpe durch den Kopf, während das Gesicht hinter einer Rauchwolke verschwand und er wieder das charakteristische Krachen eines bestimmten Gewehrs hörte. Einer Baker-Büchse! Da erkannte er, dass es sich um dieselben Männer handeln musste, die an der Brücke Dunnetts vier Kompanien aufgerieben hatten: Sie benutzten erbeutete britische Waffen. Die Erinnerung an diese Niederlage ließ frische Wut in ihm aufsteigen, die ihn vorantrieb.

Sharpe wandte sich abrupt dem Zentrum der geschwächten Front des Feindes zu. Irgendwo hinter sich am Hang hatte er sein geladenes Gewehr zurückgelassen und seinen neuen Degen gezogen. Die Waffe machte ihn zur Zielscheibe der Dragoner, als Offizier, den es abzuschießen galt, aber zugleich machte sie ihn sichtbar für seine Männer.

Seine Beine schmerzten vom anstrengenden Aufstieg. Der Hang war steil und schlüpfrig, und er rutschte bei jedem Schritt zurück, ehe seine Füße Halt fanden. Die Wut hatte ihn hinaufgetrieben, nun setzte ihm die Angst zu.

Sharpe keuchte, zu sehr außer Atem, um seine Zurufe fortzusetzen, und war einzig darauf bedacht, die Distanz zwischen sich und den Franzosen zu überwinden.

Plötzlich kam ihm die Gewissheit, dass er sterben würde. Er würde hier sterben, weil selbst ein Dragon nicht umhin konnte, ihn auf diese kurze Entfernung zu töten. Dennoch kletterte er weiter. Es kam allein darauf an, diesen Teil der Falle aufzubrechen, damit Vivars Männer in die Berge entkommen konnten.

Sharpes Herz hämmerte in seiner Brust, seine Muskeln brannten, seine Prellungen schmerzten. Er fragte sich, ob er die Kugel spüren würde, die ihn tötete. Würde sie ein sauberer Treffer sein, sodass er rückwärts umfallen und inmitten von Blut und tauendem Schnee den Hang hinabrutschen würde? Wenigstens würden dann seine Männer wissen, dass er kein Feigling war. Er würde den Hundesöhnen zeigen, wie ein wahrer Soldat starb.

Unter ihm war eine spanische Salve zu hören, aber dieser Kampf ging ihn nichts an. In einiger Entfernung erklang eine Trompete, aber auch sie hatte nichts mit Sharpe zu tun. Seine Welt bestand aus wenigen Yards Schneematsch, der von Felsbrocken begrenzt war. Er sah, wie ein weißer Brocken von einer Kugel aus einem Felsen herausgehauen wurde, und da wusste er, dass einige seiner Männer schossen, um ihm Deckung zu geben. Er konnte die anderen Schützen hören, wie sie ihm folgten. Sie fluchten, wenn sie auf dem eisigen Hang ausrutschten. Er entdeckte Fetzen dunkelgrünen Tuchs zwischen den Felsen - Dragoner - und wich ruckartig aus, als eine Rauchwolke aufstieg und ihm das Krachen der Muskete in den Ohren gellte. Er fragte sich, ob er wohl träume, ob er in Wahrheit vielleicht längst tot sei. Dann fand sein linker Stiefel festen Halt an einem Felsvorsprung, und er setzte seinen verzweifelten Aufstieg fort.

Zwei Musketen schossen gleichzeitig auf ihn. Nun brüllte Sharpe unverständliche Worte. Er schrie seine Angst hinaus, verkehrte sie in mörderische Wut. Er hasste die ganze Welt. Er sah, wie sich ein Dragoner eilig zurückzog, einen Ladestock in der Hand, und der große Degen, Murrays Geschenk, stieß vor und bohrte sich zwischen die Rippen des Mannes. Einen Moment lang blieb die Klinge im Fleisch stecken, aber Sharpe riss sie mit einer Drehbewegung los und schwang sie nach links.

Blutstropfen sprühten ins Gesicht eines französischen Offiziers, der mit seinem Degen einen gegen Sharpes Bauch gezielten Ausfall machte. Sharpe ließ die feindliche Klinge kommen, drehte ab, rammte das Stichblatt seines mächtigen Degens in das Gesicht des Franzosen. Ein Knochen knackte, weiteres Blut strömte, dann lag der Offizier am Boden und Sharpe drosch mit dem Degen auf ihn ein. Ein Schütze rannte mit schon blutverschmiertem Schwertbajonett an ihm vorbei, ein anderer verschwand zwischen den Felsen.

Sharpe richtete sich auf, hob den Degen an und stach zu. Auf dem langen Hang konnte er unter sich zwei Männer erkennen, die in ihren grünen Jacken dalagen wie weggeworfene Stoffpuppen. Links von Sharpe wurde eine Muskete abgefeuert und hier oben, wo es keinen Windschutz gab, verflüchtigte sich der Rauch augenblicklich und gab den Blick auf einen verängstigten Dragoner frei, der dabei war, die Flucht anzutreten.

Sergeant Williams schoss auf den Mann, dann bearbeitete er ihn mit dem Schwertbajonett. Er brüllte wie ein Berserker. Andere Schützen erreichten den Gipfel. Eine Schar Franzosen versuchte, am Rand der Schlucht einen Haufen zu bilden, und Sharpe rief seine Männer zum Angriff. Die Grünjacken hasteten über den stellenweise weggetauten und rot gesprenkelten Schnee. Ihre Gesichter waren vom Pulver geschwärzt, ihre Lippen zu einem Knurren gefletscht, als sie einer Wolfsmeute gleich auf die Dragoner zurannten. Die jedoch warteten den Angriff nicht ab, sondern stoben in alle Himmelsrichtungen auseinander und flohen.

Die Dragoner, die am gegenüberliegenden Rand der Klippe postiert waren, ließen ihre Kugeln herüberzischen. Ein Schütze wirbelte herum, stürzte und spuckte Blut, als er wieder hochkam auf Hände und Knie.

»Sergeant Williams! Bringt die Schweinehunde um!« Sharpe wies auf die andere Seite der Schlucht. »Seht zu, dass sie die verdammten Köpfe einziehen!«

»Sir!«

Wieder erklang die Trompete, und Sharpe drehte sich hastig zum Hang um, den er soeben erstiegen hatte. An seinem Fuß hatte Vivar seine Männer aufgestellt, aber damit hatten die Franzosen gerechnet. Ihre Hauptstreitmacht hatte sich auf der Straße verbarrikadiert, und nun stand an der linken Flanke der Spanier eine Kompanie von Dragonern zur Attacke bereit.

»Du!« Sharpe packte einen der Schützen. »Du!« Noch einen. »Gebt diesen Halunken Saures.«

Die Schützen feuerten auf die Reiter.

»Tiefer zielen!« Sharpes Stimme wurde vom Wind verschluckt. »Tiefer!« Ein Pferd ging zu Boden. Ein Mann fiel rücklings aus dem Sattel. Sharpe entdeckte eine Büchse zwischen den Felsen, lud sie und schoss nach unten.

Sergeant Williams hatte ein Dutzend Männer abgestellt, die andere Seite der Schlucht zu beschießen, doch die übrigen Grünjacken nahmen nun die Kavallerie unter Feuer. Sie konnten die Attacke nicht aufhalten, aber sie konnten sie aus dem Gleichgewicht bringen. Ein reiterloses Pferd ging im Tiefschnee durch, während ein anderes einen blutenden Mann mitriss, quer über die Front des Reiterangriffs.

Vivar zog sich zurück. Seine spärlich aufgereihten Männer wären unter den Säbeln der Dragoner gefallen, daher suchte der Major Zuflucht in der Schlucht.

Der französische Befehlshaber musste gemerkt haben, dass seine Attacke zum Scheitern verurteilt war, denn die Reiter wurden zurückgerufen. Wäre die Kavallerie zwischen die Felswände vorgedrungen, und zwar ohne Schutz von oben, wäre sie vom Büchsenfeuer niedergemetzelt worden.

Eine Pattsituation. Irgendwo schluchzte mit schrecklich klagender Stimme ein Verwundeter. Ein lahmendes Pferd versuchte, sich wieder in die Reihen der Kavallerie einzuordnen, fiel jedoch hin. Patronenreste qualmten im Schnee.

Sharpe wusste nicht, ob zwei Minuten oder zwei Stunden vergangen waren, seit die Franzosen das Feuer eröffnet hatten. Er spürte, wie ihm die Kälte tief in die Knochen drang, eine Kälte, die der plötzliche Notstand vorübergehend gebannt hatte. Er lächelte in sich hinein, stolz auf die Leistungen seiner Grünjacken. Sie waren mit rücksichtsloser Schnelligkeit vorgegangen, die den Feind aus dem Gleichgewicht gebracht und ihm den Vorteil genommen hatte, und nun war ein Patt eingetreten.

Oben am Klippenrand waren zwei Franzosen gefangen genommen worden, zwei kläglich wirkende Dragoner, die in einer Höhlung zwischen den Felsen gestoßen und von einem finster dreinblickenden Schützen bewacht wurden. Sharpe schätzte, dass sich nicht mehr als drei Dutzend Dragoner auf jeder Seite der Schlucht aufgehalten hatten, und hinter der Barrikade sowie in den Reihen derer, die ihren Reiterangriff aufgegeben hatten, zählte er auch nur sechzig bis siebzig Mann. Es musste sich demnach um einen Vortrupp der Dragoner handeln, eine Hand voll Männer, die in die Berge ausgesandt worden waren.

Die Franzosen versperrten immer noch die Straße, aber Sharpes Schützen konnten jene, die hinter der niedrigen Barrikade Schutz gesucht hatten, unter Störfeuer nehmen, und das taten sie nun mit dem grimmigen Vergnügen von Männern, die sich rächen wollen.

»Lieutenant!«, rief Vivar von unten. Der Spanier war hinter den emporragenden Felsbrocken nicht zu sehen. »Wenn ich die Barrikade erreiche, können Sie mir dann Feuerschutz geben?«

»Das schaffen Sie nicht!«

Wenn Vivar die Barrikade angriff, würde er den Berittenen erneut eine offene Flanke bieten. Sharpe hatte erlebt, was Dragoner einer zerstreuten Infanterieeinheit antun konnten, und er fürchtete um Vivars Cazadores. Die Muskete war nicht die wichtigste Waffe der Dragoner. Sie begeisterten sich für die Stoßkraft ihrer langen Kavalleriesäbel, und sie beteten geradezu um unbesonnene Narren, gegen die sie ihre tödlichen Klingen einsetzen konnten.

»Engländer!«, meldete sich Vivar erneut zu Wort.

»Major?«

»Ich pfeife auf Ihre Meinung! Geben Sie mir Feuerschutz!«

»Narr«, murmelte Sharpe, dann rief er seinen Männern zu: »Sorgt dafür, dass sie die Köpfe einziehen!«

Vivars Männer stürmten, jeweils drei nebeneinander, aus ihrer Deckung. Beim ersten Vorstoß hatte Vivar eine Linie bilden lassen, nun jedoch ließ er seine Männer wie einen menschlichen Rammbock auf die Straßensperre los. Die Galicier marschierten nicht, sie rannten. Von der Barrikade stieg Rauch auf, und Sharpes Männer eröffneten das Feuer.

Die vierzig berittenen Dragoner sahen den Feind hervorkommen. Die Pferde wurden herumgerissen und trabten an. Vivar ignorierte sie. Ein Spanier fiel. Seine Kameraden umrundeten ihn und formierten sich danach neu. Eine Trompete ertönte hoch und schrill, dann endlich gebot der Major seinen Männern Einhalt und richtete sie auf die gefährdete Flanke aus.

Nun erkannte Sharpe, was Vivar vorhatte, und er erkannte, dass sein Vorhaben geradezu idiotisch tapfer war. Er wollte den Dragonern hinter der Barrikade keine Beachtung schenken und stattdessen sein Feuer auf die Reiter konzentrieren. Er vertraute darauf, dass die Schützen die unberittenen Dragoner in Schach halten würden.

Sharpe schritt die Linie seiner Scharfschützen ab und teilte ihnen per Zuruf ihre Ziele aus. »Der Halunke dort am Baum. Bring ihn um!« Er sah einen Mann in Eile schießen und trat ihm gegen das Schienbein. »Ziel gefälligst richtig, du Hundesohn!«

Sharpe hielt Ausschau nach den Spuren ausgestreuten Pulvers, das jeden verriet, der nur die halbe Menge lud, um seiner Schulter den harten Rückstoß des Gewehrkolbens zu ersparen. Aber keiner der Rifles bediente sich dieses billigen Auswegs.

An Vivars rechter Angriffsreihe waren zwei Männer ausgefallen. Sie waren der Preis, den die Spanier für ihren Wagemut zu zahlen hatten. Die Kavallerie kam nun im vollen Galopp heran. Ihre Hufe warfen große Brocken aus schmutzigem Schnee und Erde auf.

»Anlegen!« Vivar stand an der exponierten rechten Flanke, jener, die der Barrikade am nächsten und folglich auch am gefährlichsten war. Er hob seinen Degen. »Abwarten, abwarten!«

Der Schnee lag dünn auf dem ebenen Gelände neben der Straße. Die Hufe der Pferde ließen die Scholle erzittern, und die langen Säbel reflektierten das blasse Sonnenlicht. Die Trompeten trieben sie voran, immer schneller voran, und die Reiter stimmten erstmals ein herausforderndes Gebrüll an.

Die Spanier hatten kein Karree gebildet, sondern setzten alles auf eine vernichtende Salve, abgegeben von Männern, die in Linie standen. Nur disziplinierte Soldaten brachten es fertig, gegen eine Kavallerieattacke in Linie zu stehen.

»Feuer!« Vivars Degen sauste herab.

Die spanischen Karabiner feuerten. Pferde kamen zu Fall. Blut, Männer und Schnee erzeugten wirbelndes Chaos. Ein Schrei war zu hören, ob von einem Mann oder einem Pferd, konnte Sharpe nicht feststellen. Dann übertönte Vivar mit seinem Kriegsruf den Schrei. »Santiago! Santiago!«

Die Galicier jubelten, dann stürmten sie los. Nicht auf die Barrikade, sondern auf die verwirrten Reiter zu.

»Jesus Christus!«, raunte dicht neben Sharpe ein Schütze, dann ließ er die Waffe sinken. »Die sind ja wahnsinnig!«

Aber ihr Wahnsinn war herrlich anzuschauen. Sharpes Männer sahen zu, und er knurrte sie an, weiter auf den Feind hinter der Barrikade zu schießen. Dann jedoch gestattete er sich selbst zuzusehen, wie die spanischen Soldaten ihre Schusswaffen ablegten und ihre Säbel zückten. Sie stiegen über die toten Pferde hinweg und hieben benommene Dragoner nieder. Andere griffen den Pferden in die Zügel oder zerrten Reiter aus dem Sattel.

Die Franzosen hinter der Barrikade erhoben sich, um in den Kampf einzugreifen. Sharpe rief Vivar eine Warnung zu, obwohl ihm bewusst war, dass der Spanier sie nicht hören würde. Er drehte sich um. »Sergeant Williams! Behalt deine Männer hier! Ihr Übrigen! Folgt mir!«

Die Schützen rannten wie besessen den Hang hinab. Sie führten einen ungestümen Angriff gegen die Flanke der letzten Dragoner aus. Die Franzosen sahen sie kommen, zögerten und ergriffen die Flucht. Vivars Männer waren damit beschäftigt, Gefangene zu machen oder reiterlose Pferde einzufangen, während sich die überlebenden Franzosen in Sicherheit brachten. Die Schlacht war geschlagen. Jene, die ihnen in die Falle gegangen, die ihnen zahlenmäßig unterlegen waren, hatten einen unmöglichen Sieg errungen, und der Schnee stank nach Blut und Rauch.

Dann war in der Schlucht hinter Sharpe Büchsenfeuer zu vernehmen.

Vivar drehte sich mit aschfahlem Gesicht danach um.

Eine Büchse wurde abgeschossen, ihr Krachen von den Felswänden vielfach verstärkt.

»Lieutenant!« Vivar wies mit ungestümer Geste in Richtung Schlucht. »Lieutenant!« In seiner Stimme lag echte Verzweiflung.

Sharpe machte kehrt und rannte auf die Felskluft zu. Das Büchsenfeuer klang jäh und abgehackt. Er konnte Sergeant Williams in die Tiefe schießen sehen und wusste, dass am anderen Ende der Schlucht weitere Franzosen gelauert haben mussten, Männer, die den panikartigen Rückzug abblocken sollten, den auszulösen sie vorgehabt hatten. Nun rückten diese Männer vor, um Vivar und Sharpe in den Rücken zu fallen.

Doch sie waren von einem einzelnen Mann aufgehalten worden. Schütze Harper, der die Büchse eines Gefallenen entdeckt und sich hinter dem Kadaver des Maultiers verschanzt hatte, hielt ihnen die Hand voll Dragoner vom Leib. Er hatte sich mit einem Bajonett, das tiefe Wunden an seinen Händen hinterlassen hatte, die Fesseln von den Handgelenken entfernt und lud ungeachtet seiner blutenden Schnittwunden weiter seine Büchse und feuerte sie mit Furcht erregender Präzision ab. Ein totes Franzosenpferd und ein verwundeter Dragoner zeugten von der Fertigkeit des Iren. Er rief den anderen seinen gälischen Schlachtruf zu, forderte sie auf, ruhig näher zu kommen. Als Sharpe erschien, drehte er sich mit irrem Blick um, dann wandte er sich in Todesverachtung wieder den Franzosen zu.

Sharpe verteilte seine Rifles auf der Straße. »Zielen!« Der Gardeoffizier mit der roten Pelisse und der schwarzen Pelzmütze hatte die Schlucht erreicht. Neben ihm ritt der hochgewachsene Mann im schwarzen Reitermantel und hellen Stiefeln.

»Feuer!«, brüllte Sharpe.

Ein Dutzend Büchsen flammten auf. Kugeln pfiffen, und zwei weitere Reiter kamen zu Fall. Der Mann in Rot und der Mann in Schwarz blieben unversehrt. Sie schienen Sharpe einen Augenblick lang direkt in die Augen zu blicken, dann veranlasste eine Füsillade aus der Höhe sie, ihre Pferde herumzureißen, ihnen die Sporen zu geben und sich in Sicherheit zu bringen. Die Rifles brachen in Hohngeschrei aus. Erst als Sharpe sie anschnauzte, verstummten sie. »Und laden!«

Die Franzosen waren verschwunden. Von den tauenden Eiszapfen, die an den Felsen hingen, tropfte Wasser. Ein verwundetes Pferd wieherte. Der schmutzige Rauch des Gewehrfeuers trieb durch die Schlucht. Ein Schütze spuckte Blut, dann seufzte er. Ein anderer Mann schluchzte. Das verwundete Pferd wurde von einem Gewehrschuss zum Schweigen gebracht. Sein Krachen echote gellend von den Felswänden.

Hinter Sharpe erklangen Schritte. Es war Blas Vivar, der an ihm und den Grünjacken vorbeischritt und neben dem Maultier in die Knie ging. Er löste behutsam die Truhe aus dem Tragegeschirr des toten Tiers. Dann erhob er sich und blickte zu Harper auf. »Sie haben sie gerettet, mein Freund.«

»Hab ich das, Sir?« Es war offensichtlich, dass der Ire keine Ahnung von dem Wert hatte, den Vivar der Kiste beimaß.

Der Spanier streckte die Arme nach dem hünenhaften Mann aus und küsste ihn auf beide Wangen. Einer von Sharpes Rifles kicherte, dann veranlasste ihn die Feierlichkeit des Augenblicks, beschämt zu verstummen.

»Sie haben sie gerettet«, wiederholte Vivar, und in seinen Augen standen Tränen. Dann hob er die Truhe auf und trug sie durch die Schlucht davon.

Sharpe folgte ihm. Seine Männer kamen schweigend und frierend auf die Straße herab. Sie konnten ihres Sieges nicht froh werden, denn bislang unbemerkt erhob sich in einiger Entfernung hinter der verlassenen französischen Barrikade eine graue Rauchsäule in die winterliche Luft. Sie stieg über dem Dorf auf, und der Rauch war grau wie das Gewand eines Bettlers und trug den Gestank von Tod und Feuer heran.

Und als er sich auflöste, fiel, dunklem Schnee gleich, Asche auf das blutbefleckte Land.


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