KAPITEL 13

»Warum?« Sharpes Frage war sowohl eine Herausforderung als auch ein Protest.

»Sie wollte behilflich sein«, sagte Vivar fröhlich. »Sie wollte unbedingt helfen, und ich sah keinen Grund, warum sie es nicht tun sollte. Miss Parker hat tagelang meine Mahlzeiten gegessen und meinen Wein getrunken, warum also sollte sie sich nicht für die erwiesene Gastfreundschaft erkenntlich zeigen?«

»Ich habe ihr gesagt, es sei Unsinn! Die Franzosen werden binnen Minuten ihre Geschichte durchschaut haben!«

»Meinen Sie?« Vivar saß in der Nähe eines Wasserfasses direkt hinter dem inneren Festungstor und bestrich Fußlappen mit dem Fett, das zum Schutz gegen Blasen an jeden Soldaten ausgegeben wurde. Er unterbrach diese unangenehme Aufgabe und starrte Sharpe indigniert an. »Warum sollte es den Franzosen seltsam vorkommen, dass ein junges Mädchen den Wunsch hat, sich mit seiner Familie zu vereinen? Ich kann daran nichts Seltsames finden. Außerdem, Lieutenant, hatte ich es nicht für nötig befunden, Ihre Zustimmung oder Ihre Meinung einzuholen.«

Sharpe ignorierte seinen Tadel. »Sie haben sie einfach in die Nacht hinausgeschickt?«

»Seien Sie nicht albern. Zwei meiner Männer begleiten Miss Parker so weit wie möglich. Dann kann sie den Rest des Weges in die Stadt zu Fuß zurücklegen.« Vivar wickelte einen der fertig beschmierten Lappen um seinen rechten Fuß, dann wandte er sich mit gespieltem Erstaunen um, als habe er soeben erst den wahren Grund für Sharpes Missvergnügen erkannt. »Sie sind in sie verliebt!«

»Nein!«, protestierte Sharpe.

»Dann kann ich mir Ihre Besorgnis nicht erklären. Eigentlich müssten Sie entzückt sein. Miss Parker wird die Franzosen mit gut gespieltem Widerstreben informieren, dass unser Angriff abgeblasen wurde.« Vivar zog den rechten Stiefel hoch.

Sharpe war verblüfft. »Sie haben ihr erzählt, der Angriff sei abgeblasen worden?«

Vivar begann seinen linken Fuß einzuwickeln. »Außerdem habe ich ihr erzählt, wir würden morgen früh in der Dämmerung die Stadt Padron erobern. Diese Stadt liegt etwa fünfzehn Meilen südlich von Santiago de Compostela.«

»Das werden sie niemals glauben!«

»Im Gegenteil, Lieutenant, sie werden die Geschichte für höchst glaubwürdig halten, wesentlich glaubwürdiger als den hirnrissigen Überfall auf Santiago de Compostela! Sie werden sich amüsieren, dass ich einen derartigen Überfall jemals in Betracht gezogen habe, aber mein Bruder wird volles Verständnis dafür haben, dass ich die kleinere Stadt Padron gewählt habe. Dort ist nämlich Santiagos Bestattungsschiff an der Küste gelandet, daher gilt sie als heilige Stätte. Zugegeben, sie ist nicht so heilig wie Santiagos Grabmal, aber Louisas weitere Indiskretionen werden erklären, warum Padron mir genügt.«

»Was für weitere Indiskretionen?«

»Sie wird ihnen erzählen, dass das Gonfalon durch Zeit und Verfall so weit zerstört sei, dass es sich nicht mehr entfalten lässt. Deshalb lautet mein Plan, dass ich seine Fetzen zu Staub zerkrümeln und diesen ins Meer streuen werde. So kann ich zwar nicht das gewünschte Wunder vollbringen, aber zumindest dafür sorgen, dass das Gonfalon niemals den Feinden Spaniens in die Hände fällt. Kurz gesagt, Lieutenant, Miss Parker wird Oberst de l'Eclin mitteilen, dass ich den Angriff aufgegeben habe, weil ich die Stärke ihrer Verteidigungsmaßnahmen fürchte. Dieses Argument müsste ihnen doch auch einleuchten, habe ich recht? Sie versichern mir doch ständig, wie übermächtig unser Feind ist.« Vivar hatte seinen linken Stiefel angezogen und stand auf. »Meine Hoffnung besteht darin, dass Oberst de l'Eclin heute Abend die Stadt verlassen wird, um unserem Anmarsch auf Padron eine Falle zu stellen.«

Wenigstens besaß Vivars falsche Fährte eine Glaubwürdigkeit, die Louisas enthusiastischen Ideen gefehlt hatte. Dennoch war Sharpe erstaunt, dass der Spanier bereit war, das Leben des Mädchens aufs Spiel zu setzen. Er zerbrach die dünne Eisschicht auf dem Wasserfass, holte sein Rasiermesser heraus und legte es auf den Rand des Fasses.

»Die Franzosen werden nicht so unvernünftig sein, nachts die Stadt zu verlassen.«

»Wenn sie der Meinung sind, sie könnten unseren Anmarsch aufhalten oder das Gonfalon an sich bringen? Ich halte es für denkbar. Louisa wird sie außerdem informieren, dass Sie und ich uns zerstritten haben und dass Sie mit Ihren Rifles nach Süden aufgebrochen sind, in Richtung Lissabon. Sie wird sagen, es seien Ihre unziemlichen Aufmerksamkeiten, die sie veranlasst hätten, den Schutz ihrer Familie zu suchen. Also wird de l'Eclin Ihre Rifles nicht fürchten und sich möglicherweise aus seinem Bau locken lassen. Und wenn sie nicht abziehen? Was haben wir dann verloren?«

»Wir könnten Louisa verloren haben!«, sagte Sharpe ein wenig zu heftig. »Sie könnte dabei umkommen!«

»Stimmt, aber es sterben viele Frauen für Spanien, warum sollte nicht Miss Parker für Britannien sterben?« Vivar zog sein Hemd aus und holte sein Rasiermesser und eine Spiegelscherbe hervor. »Ich glaube, Sie sind in sie vernarrt«, sagte er anklagend.

»Nicht sonderlich.« Sharpe gab sich Mühe, in beiläufigem Ton zu sprechen. »Aber ich fühle mich für sie verantwortlich.«

»Das ist eine höchst gefährliche Empfindung gegenüber einer jungen Frau. Verantwortungsgefühl kann zu Zuneigung führen, und Zuneigung, denke ich, die daraus entsteht, ist nicht so dauerhaft wie ...« Vivars Stimme versiegte. Sharpe hatte sich das abgewetzte, zerrissene Hemd über den Kopf gezogen, und der Spanier starrte entsetzt auf seinen nackten Rücken. »Lieutenant?«

»Ich wurde ausgepeitscht.« Sharpe, der den Anblick seiner schrecklichen Narben gewohnt war, empfand jedes Mal Überraschung, wenn andere Leute sie bemerkenswert fanden. »Das war in Indien.«

»Was hatten Sie denn verbrochen?«

»Nichts. Ein Sergeant hatte etwas gegen mich, das ist alles. Der Schweinehund hat gelogen.« Sharpe steckte den Kopf in das eiskalte Wasser, dann tauchte er prustend und tropfend wieder auf. Er bog das Rasiermesser auf und begann seine dunklen Bartstoppeln am Kinn zu bearbeiten. »Das ist sehr lange her.«

Vivar erschauerte. Er spürte, dass Sharpe nicht mehr darüber reden wollte, und tauchte sein eigenes Rasiermesser ins Wasser. »Ich persönlich glaube nicht, dass die Franzosen Louisa umbringen werden.«

Sharpe grunzte, als wolle er andeuten, dass es ihm so oder so gleichgültig sei.

»Die Franzosen, denke ich«, fuhr Vivar fort, »hassen die Engländer nicht so sehr wie die Spanier. Außerdem ist Louisa ein Mädchen von großer Schönheit, und solche Mädchen rufen bei den Männern Verantwortungsgefühl hervor.« Vivar zeigte mit seinem Rasiermesser auf Sharpe, als sei damit seine Behauptung erwiesen. »Sie besitzt außerdem eine Aura der Unschuld, die dafür sorgen wird, dass de l'Eclin sie beschützen und ihr glauben wird.« Er verstummte, um sich seitlich am Unterkiefer zu rasieren. »Ich habe ihr gesagt, sie solle in Tränen ausbrechen. Männer glauben weinenden Frauen alles.«

»Er könnte sich veranlasst sehen, ihr den verdammten Kopf abzuhacken«, sagte Sharpe brüsk.

»Es würde mir leidtun, wenn es dazu käme«, sagte Vivar langsam. »Sehr leid.«

»Wirklich?« Zum ersten Mal hatte die Stimme des Spaniers eine echte Gefühlsregung verraten. Sharpe starrte Vivar an und wiederholte seine vorwurfsvolle Frage: »Wirklich?«

»Warum denn nicht? Natürlich kenne ich sie kaum, aber sie erscheint mir als höchst bewundernswerte junge Dame.« Vivar hielt inne, offenbar um Louisas Tugenden zu überdenken, dann zuckte er mit den Schultern. »Zu schade, dass sie eine Ketzerin ist, aber besser eine Methodistin als ein Ungläubiger wie Sie. Wenigstens ist sie auf halbem Wege in den Himmel.«

Sharpe empfand einen Anflug von Eifersucht. Es war nicht zu übersehen, dass Blas Vivar sich mehr für Louisa interessierte, als er bisher geglaubt oder für möglich gehalten hatte.

»Nicht, dass es darauf ankäme«, sagte Vivar lässig. »Ich hoffe, dass sie am Leben bleibt. Und wenn sie stirbt? Dann werde ich für ihre Seele beten.«

Sharpe erschauerte in der Kälte und fragte sich, wie viele Seelen wohl Gebete brauchen würden, wenn die nächsten zwei Tage verstrichen waren.


Vivars Truppe schleppte sich durch einen kalten Nieselregen, der gegen Ende des Tages seinen Höhepunkt erreicht hatte.

Sie folgten Gebirgspfaden, die sich über kahle Ausläufer schlängelten und durch wilde Täler führten. Einmal passierten sie ein Dorf, das die Franzosen geplündert hatten. Kein Gebäude war intakt, kein Mensch zu sehen, kein Tier am Leben geblieben. Vivars Männer sagten nichts, als sie an den verkohlten Balken vorbeikamen, von denen langsam der Regen tropfte.

Sie waren lange vor Mittag aufgebrochen, denn sie mussten vor Einbruch der Dunkelheit viele Meilen zurücklegen. Vivars Cazadores waren vorn. Eine Schwadron berittener Kavalleristen patrouillierte vor der Marschkolonne das Land. Hinter dieser Vorhut kamen jene Cazadores, die ihre Pferde führten. Dahinter marschierten die Freiwilligen. Die beiden Priester ritten direkt vor Sharpe und seinen Rifles her, die die Nachhut bildeten. Die Truhe reiste mit den beiden Priestern. Man hatte die kostbare Fracht auf einem macho festgebunden, einem Maultier, dessen Stimmbänder durchschnitten waren, damit es nicht schreien und den Feind warnen konnte.

Sergeant Patrick Harper freute sich, in den Kampf ziehen zu können. An seinem abgewetzten Ärmel leuchteten die weißseidenen Streifen. »Den Burschen geht es gut, Sir. Meine Jungs sind entzückt, wahrhaftig.«»Sie alle sind Ihre Jungs«, sagte Sharpe. Damit meinte er, dass Harpers besondere Verpflichtung über die Gruppe irischer Soldaten hinausging.

Harper nickte. »So ist es, Sir, wahrhaftig.« Er warf einen raschen Seitenblick auf die marschierenden Grünjacken und war eindeutig der Meinung, dass es keines weiteren Ansporns bedurfte, um ihre Schritte zu beschleunigen. »Sie werden froh sein, gegen die Schweinehunde antreten zu können, wahrhaftig.«

»Einige werden sich doch sicher Sorgen machen?«, fragte Sharpe in der Hoffnung, Harper über einen angeblichen Vorfall zu Anfang der Woche auszuhorchen, doch der Sergeant ging wohlgemut über seine Andeutung hinweg.

»Man bekämpft diese verfluchten Froschfresser nicht, ohne sich Sorgen zu machen, Sir, aber denken Sie nur, wie groß die Sorgen der Franzosen wären, wenn sie wüssten, dass die Rifles kommen. Noch dazu irische Rifles!«

Sharpe beschloss, ihn direkt zu fragen. »Was ist zwischen dir und Gataker vorgefallen?«

Harper warf ihm einen durch und durch unschuldigen Blick zu. »Nichts, Sir.«

Sharpe drang nicht in ihn. Er hatte gehört, dass Gataker, ein schlauer und gerissener Mann, sich gegen ihre Einbeziehung in Vivars Plan ausgesprochen hatte. Die Grünjacken seien nicht dazu da, Privatfehden auszutragen, hatte er angeführt, vor allem solche, bei denen mit einiger Sicherheit die meisten von ihnen umkommen oder verwundet würden. Sein Pessimismus hätte sich leicht ausbreiten können, aber Harper hatte ihm rücksichtslos Einhalt geboten, und Gatakers blaues Auge war mit einem Sturz von der Treppe im Torhaus erklärt worden. »Ungeheuer dunkles Treppenhaus«, mehr hatte Harper nicht dazu gesagt.

Es waren genau diese raschen Lösungen, um derentwillen Sharpe die Beförderung des Iren betrieben hatte, und sie hatte sich augenblicklich bezahlt gemacht. Harper hatte ohne Aufhebens die Befehlsgewalt übernommen, und wenn seine Autorität eher auf seine starke Persönlichkeit zurückzuführen war als auf die seidenen Streifen an seinem rechten Ärmel, umso besser. Captain Murrays letzte Worte hatten sich bestätigt. Mit Harper an seiner Seite hatte Sharpe nur halb so viele Probleme.

Die Schützen marschierten in die Nacht hinein. Es wurde dunkel wie im Hades, und obwohl gelegentlich ein Granitausläufer noch schwärzer aufragte als die umgebende Finsternis, kam es Sharpe so vor, als würden sie blind durch ein einförmiges Land ziehen.

Aber es war das Land der Freiwilligen von Blas Vivar. Unter ihnen gab es Hirten, die diese Hügel so gut kannten, wie Sharpe in seiner Kindheit die Gassen um St. Giles in London gekannt hatte. Diese Männer waren nun als Führer über die gesamte Kolonne verteilt und wurden mithilfe der Zigarren, die Vivar an seine kleine Streitmacht verteilt hatte, dazu ermuntert, ihren Dienst auszuüben. Er war sicher, dass es so tief in den Bergen keine Franzosen gab, die den Tabak hätten riechen können, und die kleinen glühenden Punkte dienten als winzige Leuchtfeuer, um die Marschierenden zusammenzuhalten.

Trotz der Führer und der Zigarren verlangsamten sich in der Nacht ihre Schritte, und sie wurden noch langsamer, als der Regen die Pfade schlüpfrig machte. Die zahlreichen Wasserläufe waren angeschwollen, und Vivar bestand darauf, dass jeder von ihnen mit Weihwasser besprüht wurde, ehe die Vorhut sie überquerte. Die Männer waren müde und hungrig, und in der Dunkelheit machten ihnen ihre Ängste zu schaffen, die Ängste von Männern, die in einen ungleichen Kampf ziehen und in denen Besorgnis schwelt, die leicht in pures Entsetzen umschlägt.

Zwei Stunden vor Morgengrauen hörte der Regen auf. Es war windstill. Der Frost machte das Gras brüchig. Die Zigarren waren aufgeraucht, aber mit ihrer Nützlichkeit war es ohnehin vorbei, denn die letzten Täler vor der Stadt waren in Nebel gehüllt.

Als der Regen aufhörte, gab Vivar den Befehl zum Anhalten.

Er zog nicht weiter, weil Gefahr bestand, dass die Franzosen in den Bergdörfern um die Stadt stark bemannte Wachtposten stationiert hatten. Die Flüchtlinge aus Santiago de Compostela wussten nichts von solchen Vorsichtsmaßnahmen, aber Vivar wollte sichergehen, indem er befahl, jedes Ausrüstungsteil festzuzurren, das eventuell rasseln oder klappern könnte. Musketen und Gewehrgurte, Feldflaschen und Kochgeschirr, alles wurde umwickelt. Als sie endlich weitermarschierten, kam es Sharpe dennoch vor, als würde die Truppe genügend Lärm veranstalten, um die Toten aufzuwecken: Hufe klapperten auf Stein und eisenbeschlagene Stiefelabsätze stampften die gefrorene Erde. Doch kein französischer Vorposten durchbrach die Finsternis mit einer Salve Musketenfeuer, das die ferne Stadt gewarnt hätte.

Nun gingen die Schützen voran. Vivar folgte mit seiner Kavallerie, aber die Grünjacken übernahmen die Führung, weil sie die erfahrenen Infanteristen waren, die in vorderster Linie angreifen sollten. Die Kavallerie war nicht in der Lage, eine befestigte Stadt zu überfallen. Nur die Infanterie konnte so etwas wagen, und diesmal mussten sie es ohne geladene Schusswaffen tun. Sharpe hatte widerstrebend eingewilligt, dass seine Schützen den Angriff allein mit dem Schwertbajonett ausführen würden.

Ein Steinschloss war eine gefährliche Sache. Selbst wenn der Hahn nicht gespannt war, konnte es vorkommen, dass die Waffe schoss, falls die Spitze des Feuersteins an einem Zweig hängen blieb, sich verschob und dann wieder loskam. Jeder Schuss, und sei es aus Versehen, würde die französischen Wachen alarmieren.

Seinen Männern zu befehlen, sie sollten nicht schießen, war eine Sache. Man konnte ihnen sagen, dass von einer lautlosen Annäherung ihr Leben abhing, aber in der nebligen Finsternis kurz vor Morgengrauen, wenn das Blut eines Mannes gefror und seine Ängste ihn zugleich schwitzen ließen, konnte bloßes Katzengeheul genügen, um einen Schützen so zu erschrecken, dass er blind in die Nacht feuerte. Ein einziger derartiger Schuss konnte dafür sorgen, dass die Franzosen aus ihren Wachhäusern stolperten.

Daher hatte Sharpe, obwohl sein Zugeständnis in dieser Sache seine Besorgnis vergrößert hatte, die Vernunft von Vivars Ansinnen erkannt und sich bereit erklärt, mit ungeladenen Waffen anzutreten. Somit konnte kein Schuss die Stille der Nacht zerreißen.

Dennoch war es möglich, dass die Franzosen auf sie aufmerksam wurden. Derlei Befürchtungen waren Sharpes unruhige Begleiter auf dem langen und immer zögerlicher verlaufenden Marsch. Vielleicht hatten die Franzosen ihre eigenen Spione in den Bergen, die Vivars Kommen in ähnlicher Weise verrieten, wie die Flüchtlinge Informationen an Vivar weitergegeben hatten. Oder vielleicht hatte de l'Eclin, ein Mann, dessen Rücksichtslosigkeit keine Grenzen kannte, die Wahrheit aus Louisa herausgeprügelt? Vielleicht hatte man Artillerie aus La Coruña geholt, die jetzt, mit Kartätschen geladen, darauf wartete, die jämmerlichen Angreifer zu begrüßen? Noch dazu Angreifer, die müde und durchgefroren waren und keine geladenen Gewehre hatten. Die ersten Momente eines solchen Kampfes wären ein Gemetzel.

Sharpes Befürchtungen keimten weiter auf, und fern von Vivars unverbrüchlicher Fröhlichkeit ließ er zu, dass die Zweifel an ihm nagten. Er durfte diese Zweifel nicht äußern, denn das hieße, das ganze Vertrauen zu zerstören, das seine Männer in seine Führerschaft setzten. Er konnte nur hoffen, dass er die gleiche Zuversicht ausstrahlte wie Patrick Harper, der die letzten Meilen den Hang hinab mit Feuereifer zu bewältigen schien. Einmal, als sie gerade eine feuchte Wiese unterhalb der dunklen Linie eines Kiefernwäldchens überquerten, sprach Harper begeistert davon, wie sehr er sich darauf freute, Miss Louisa wiederzusehen.

»Sie ist ein tapferes Mädel, Sir.«

»Und ein törichtes dazu«, erwiderte Sharpe mürrisch, denn er konnte nicht verwinden, dass man ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte.

Und doch war Louisa das Gegengift zu Sharpes Befürchtungen, der Trost, der ihn wie ein Leitstern in tiefster Finsternis in Bewegung hielt. Sie war seine ganze Hoffnung, aber gegen diese Hoffnung waren die Dämonen der Angst aufmarschiert. Mit jedem erzwungenen Aufenthalt plagten ihn diese Dämonen schlimmer. Sharpes Führer, ein Schmied aus der Stadt, führte sie auf Umwegen um die Dörfer herum. Außerdem blieb der Mann des Öfteren stehen und schnupperte, als könne er sich allein mit dem Geruchssinn zurechtfinden.

Endlich zufrieden, beschleunigte er seine Schritte. Die Rifles rutschten einen steilen Abhang hinab, erreichten einen Bach, der die Wiesen überflutet und den Talboden in einen Morast aus dünnem Eis und flachem Wasser verwandelt hatte. Am Rande dieses Sumpfs blieb Sharpes Führer stehen. »Agua, Señor.«

»Was will er?«, zischte Sharpe.

»Er redet von Wasser«, antwortete Harper.

»Ich weiß, dass das gottverdammtes Wasser ist.« Sharpe wollte weitergehen, doch der Führer wagte es, den Schützen am Ärmel zu zupfen.

»Agua bendita, Señor!«

»Ach so!« Es war Harper, der ihn verstand. »Er verlangt nach dem Weihwasser, Sir, wahrhaftig.«

Sharpe verfluchte die Idiotie dieses Verlangens. Die Schützen waren spät dran, und dieser Narr forderte ihn auf, einen Morast mit Weihwasser zu beträufeln? »Kommt schon!«

»Sind Sie sicher ...«, hob Harper an.

»Kommt schon!« Sharpes Stimme klang wegen der Ängste, die in ihm brodelten, ungewöhnlich barsch. Dieser gesamte Feldzug war ein Wahnsinn! Doch der Stolz ließ ihn weder umkehren noch Vivars Wassergeistern seine Ehrerbietung erweisen. »Ich habe kein verdammtes Weihwasser!«, knurrte er. »Außerdem handelt es sich um abergläubischen Unsinn, Sergeant, das weißt du selbst am besten.«

»Ich weiß es keineswegs, Sir.«

»Kommt!« Sharpe watete allen voran durch den Bach und fluchte, weil seine zerrissenen Stiefel kaltes Wasser einließen. Die Rifles folgten ihm, ohne den Grund für die kurze Verzögerung am Ufer zu kennen. Am Boden des Tals wirkte der Nebel dichter, und der Führer, der neben Sharpe den Bach durchquert hatte, blieb zögernd am anderen Ufer stehen.

»Beeilung!«, knurrte Sharpe, obwohl das eine sinnlose Mahnung war, denn der Schmied sprach kein Englisch. »Beeilung! Beeilung!«

Der Führer, der nun eindeutig nervös wurde, wies auf einen schmalen Schafspfad, der am gegenüberliegenden Hang nach oben führte. Während er ihn erklomm, wurde Sharpe klar, dass sie der Stadt sehr nahe sein mussten. Sie verriet sich durch den Pestgestank ihrer Straßen, der ihm wie ein Vorgeschmack auf die Schrecken erschien, die auf seine Männer warteten.

Plötzlich bemerkte Sharpe, dass sie das Geklapper und Gerassel der Kavallerie hinter sich gelassen hatten, und wusste, dass Vivar die Cazadores auf ihren Umweg nach Norden geschickt haben musste, der verhindern sollte, dass sie von den französischen Spähern gehört wurden. Die schlecht ausgebildete Infanterie der Freiwilligen musste jetzt zwei- bis dreihundert Schritt hinter Sharpe zurückgeblieben sein. Die Schützen waren allein in vorderster Front und der Stadt des heiligen Jakob inzwischen sehr nahe.

Und sie waren spät dran, denn der Nebel wurde von der ersten Andeutung des Morgengrauens versilbert. Sharpe konnte Harper neben sich erkennen, er sah sogar die Tautropfen am oberen Rand von Harpers Tschako. Seine eigene Kopfbedeckung hatte Sharpe im Kampf um den Bauernhof verloren. Stattdessen trug er jetzt die Feldmütze eines Cazadors. Die Mütze war grün und rot, und Sharpe wurde gepackt von der plötzlichen irrationalen Gewissheit, dass das bunte Tuch seinen Kopf zur Zielscheibe für einen französischen Heckenschützen über ihm am Hang machte. Er riss die Mütze herunter und warf sie in ein Dornengebüsch. Er konnte den eigenen Herzschlag hören. Seine Eingeweide schmerzten, und sein Mund war trocken.

Der Schmied bewegte sich jetzt sehr vorsichtig. Er führte die Schützen über eine holprige Weide und dann in einen Ulmenhain, der auf dem Hügelgrat wuchs. Die kahlen Zweige tropften, und die Nebelschwaden waberten in der Dunkelheit. Sharpe roch ein Feuer, obwohl er es nicht sehen konnte. Er fragte sich, ob es zu einem der französischen Wachtposten gehörte, und der Gedanke an die wartenden Späher veranlasste ihn, sich schrecklich allein und verwundbar zu fühlen.

Der Morgen graute. Dies war der Moment, in dem der Angriff stattfinden sollte. Aber der Nebel verbarg die Wegzeichen, die zu beachten Vivar ihm eingeschärft hatte. Zu seiner Rechten hätte sich eine Kirche befinden müssen, zu seiner Linken die aufragende Stadt, und er hätte nicht auf einer Hügelkuppe stehen dürfen, sondern in einem tiefen Einschnitt, der die Annäherung der Schützen verbergen sollte.

Ohne diese Wegzeichen ging Sharpe davon aus, dass er noch ein Stück zu gehen hatte, dass sie noch in den Einschnitt hinabsteigen mussten. Aber der Schmied blieb unter den Bäumen stehen und bedeutete ihm mithilfe der Zeichensprache, dass links von ihnen die Stadt liege. Sharpe antwortete nicht, und der Führer zupfte wieder am grünen Ärmel des Schützen und zeigte nach links. »Santiago! Santiago!«

»Großer Gott.« Sharpe ging in die Knie.

»Sir?« Harper kniete sich neben ihn.

»Wir sind, verdammt noch mal, am falschen Ort!«

»Gott schütze Irland!« Die Stimme des Sergeants war kaum mehr als ein Flüstern. Als der Führer den Grünjacken keine verständliche Antwort entlocken konnte, verschwand er in der Dunkelheit.

Wieder fluchte Sharpe. Er war am falschen Ort. Dieser Fehler besorgte und irritierte ihn, aber am meisten ärgerte er sich darüber, dass Vivar sicherlich sagen würde, es sei deshalb passiert, weil er die Wassergeister, die Xanas, missachtet hatte. Gottverdammt, was für ein Unsinn! Dennoch war Sharpe vom Weg abgekommen, er würde zu spät kommen, und er wusste nicht, wo Vivars andere Truppen waren. Die Angst überwältigte ihn. So durfte kein Angriff beginnen! Es verlangte ihn nach Trompeten und Bannern im Nebel! Stattdessen war er allein, verloren, den Cazadores und Freiwilligen weit voraus. Er redete sich ein, er habe gewusst, dass so etwas passieren würde! Er hatte es schon einmal erlebt, in Indien. Damals hatten sich gute Soldaten, die zu einem nächtlichen Angriff gezwungen wurden, verirrt und in ihre Ängste verstrickt und waren geschlagen worden.

»Was sollen wir tun, Sir?«, fragte Harper.

Sharpe antwortete nicht, denn er wusste es selbst nicht. Er war versucht zu sagen, sie sollten sich zurückziehen und den ganzen Überfall aufgeben, doch dann bewegte sich zu seiner Linken eine Gestalt, Stiefel raschelten auf dem gefrorenen Gras, und der Schmied tauchte wieder aus dem Nebel auf, Blas Vivar an seiner Seite. »Sie sind zu weit marschiert«, flüsterte Vivar.

»Gottverdammt, das weiß ich!«

Der Schmied versuchte offensichtlich zu erklären, dass die Schützen die Possen der Xanas herausgefordert hatten, aber Vivar hatte keine Zeit für seine Beteuerungen. »Bis zur Kirche sind es zweihundert Schritte. In diese Richtung.« Vivar zeigte nach links. Die Kirche hätte sich rechts von ihnen befinden müssen.

Vivars Streitmacht hatte im Schutz der Dunkelheit die Stadt umrundet und näherte sich nun von Norden her. Die nördliche Stadtmauer war seit Langem zerstört, und man hatte ihre Steine verwandt, um die neueren Häuser zu errichten, die sich entlang der Straße nach La Coruña über die Grenzen der mittelalterlichen Befestigung hinaus ausgebreitet hatten. Er hatte diese Straße nicht nur deshalb für seinen Anmarsch ausgewählt, weil sie nicht durch die uralte Mauer versperrt war, sondern auch, weil die dort aufgestellten Wachen annehmen würden, dass es sich bei sämtlichen herannahenden Truppen um Franzosen aus Soults Heer handeln musste.

Die Kirche, die zu dem neueren Vorort gehörte, war zum Wachtposten der Franzosen ausgebaut worden. Sie lag dreihundert Yards außerhalb der Hauptverteidigungslinie, die aus Barrikaden bestand. An jeder Straße, die in die Stadt führte, gab es so ein Wachlokal, das dazu gedacht war, frühzeitig Alarm zu geben, falls Santiago überfallen wurde. Die Wachen, die dort stationiert waren, mochten bei einem Angriff umkommen, aber der Lärm, der dabei entstand, würde die Hauptverteidigung der Stadt alarmieren.

»Ich glaube«, flüsterte Vivar Sharpe zu, »dass Gott auf unserer Seite ist. Er hat den Nebel geschickt.«

»Er hat uns, verdammt noch mal, an den falschen Ort geschickt.«

Die Rifles hätten eine Viertelmeile weiter südlich in der sumpfigen Mulde bleiben müssen, und sie hätten eine Stunde früher dort ankommen sollen. Die Mulde verlief hinter der Kirche und reichte bis an die Häuser direkt außerhalb der Hauptverteidigungslinie. Sie hatten die Chance eingebüßt, sich unerkannt zu nähern. Außerdem konnten sie so dicht am Feind und dem trüben Dämmerlicht des Morgengrauens so nahe keine Zeit erübrigen, im Schutze des Nebels zurückzuschleichen.

»Überlassen Sie das Wachhaus mir«, sagte Vivar.

»Sie wollen, dass ich geradewegs daran vorbeistürme?«

»Ja.«

Für Vivar war das kein Problem, aber es bedeutete eine Änderung gegenüber dem Plan, die den gesamten Angriff gefährdete. Weil sie zu spät und am falschen Ort angekommen waren, verloren die Rifles das Überraschungsmoment. Vivar schlug vor, Sharpes Attacke solle das Wachlokal außer Acht lassen. Das war möglich, nur dass die französischen Wachposten sie nicht übersehen würden. Ihre Reaktion würde Zeit brauchen. Verblüffte Männer verlieren wertvolle Sekunden, und weitere Sekunden würden verloren gehen, falls die feindlichen Musketen, feucht geworden vom Nebel, Fehlschüsse produzierten. Es mochte sogar passieren, dass die Dunkelheit die Rifles verschluckt haben würde, ehe die Franzosen zum Schuss kamen, aber schießen würden sie und das Morgengrauen mit ihrem Lärm erfüllen, ehe die Grünjacken die dreihundert Yards von der Kirche bis zu den Verteidigungsanlagen der Stadt zurückgelegt hatten. Die Wachtposten auf den Barrikaden würden gewarnt sein. Sie würden warten, und Vivars Truppe konnte bestenfalls ein paar Häuser an der Nordseite der Stadt besetzt halten. Wenn dann der Tag heller wurde und der Nebel sich zerstreute, würde ihnen die Kavallerie den Rückzug abschneiden. Um Mittag, dessen war sich Sharpe sicher, würden sie allesamt Gefangene der Franzosen sein.

»Nun?« Vivar entnahm Sharpes Schweigen und seiner Untätigkeit, dass der Schütze die Schlacht bereits verloren glaubte.

»Wo ist Ihre Kavallerie?«, fragte Sharpe, nicht aus Interesse, sondern um die schreckliche Entscheidung aufzuschieben.

»Davila führt sie an. Sie werden am vorgesehenen Platz sein. Die Freiwilligen warten hinter Ihnen auf der Weide.« Als keine Antwort erfolgte, berührte Vivar Sharpes Arm. »Mit Ihnen oder ohne Sie, ich werde es wagen. Ich muss es wagen, Lieutenant. Es wäre mir egal, wenn der Kaiser persönlich mit allen Mächten der Hölle die Stadt bewachte. Ich müsste es dennoch wagen. Es gibt keine andere Möglichkeit, die Schande meiner Familie auszulöschen. Ich habe einen Bruder, der ein Verräter ist, daher muss der Verrat mit Feindesblut fortgespült werden. Und Gott wird meinem Wunsch mit Gnade begegnen, Lieutenant. Sie sagen, Sie hätten keinen Glauben, aber ich denke, kurz vor der Schlacht spürt jeder Mann den Atem Gottes.«

Das war eine gelungene Rede, aber Sharpe fügte sich nicht. »Wird Gott dafür sorgen, dass es im Wachhaus ruhig bleibt?«

»Wenn er es so will.« Der Nebel erhellte sich. Sharpe konnte die kahlen, bleichen Äste der Ulme über sich erkennen. Jede Sekunde Verzögerung machte den Angriff gefährlicher, und Vivar wusste es. »Nun?«, fragte er wieder. Sharpe sagte immer noch nichts, worauf der Spanier mit einer verächtlichen Geste aufstand. »Wir Spanier werden es allein wagen, Lieutenant.«

»Himmel Donnerwetter, nein! Rifles!« Sharpe erhob sich. Er dachte an Louisa. Sie hatte davon gesprochen, den Augenblick zu nutzen, und trotz der Dämonen, die ihm zu schaffen machten, dachte Sharpe daran, dass er sie verlieren könnte, wenn er jetzt nicht handelte. »Mäntel und Tornister ablegen!« Die Schützen gehorchten. Auf diese Weise konnten sie ungehindert kämpfen. »Laden!«

Vivar wollte sich dagegen wehren, dass die Gewehre geladen wurden, aber Sharpe war nicht bereit, nicht nur ohne Überraschungsmoment, sondern auch ohne geladene Waffen zum Angriff überzugehen. Sie mussten das Risiko eines Fehlschusses eingehen. Er wartete, bis auch der letzte Ladestock eingeführt und die letzte Pfanne mit Zündpulver versehen war. »Schwerter aufsetzen!«

Klingen schabten, dann klickte es, als die gefederten Arretierungen der Schwertbajonette an den Gewehrmündungen einrasteten.

Sharpe schlang sich das eigene Gewehr über die Schulter und zog seinen großen, plumpen Degen. »In Reih und Glied, Sergeant! Und sag den Männern, sie sollen verdammt nur ja kein Geräusch machen!« Er blickte Vivar an. »Ich lasse nicht zu, dass Sie denken, es würde uns an Mut fehlen.«

Vivar lächelte. »Darauf wäre ich nie gekommen. Hier.« Er griff sich an den Hut, zog einen winzigen getrockneten Rosmarinzweig heraus und steckte ihn in eine lose Schlaufe an Sharpes Rock.

»Macht mich das zum Angehörigen Ihrer Elitetruppe?«, fragte Sharpe.

Vivar schüttelte den Kopf. »Dieses Kraut hält das Böse fern, Lieutenant.«

Eine Sekunde lang war Sharpe versucht, diesen Aberglauben von sich zu weisen, doch dann dachte er daran, wie er die Xanas missachtet hatte, und ließ den Rosmarinzweig, wo er war. Was sie an diesem Morgen vorhatten, war so aussichtslos, dass er sogar zu glauben bereit war, dass ihm ein vertrocknetes Kraut Schutz bieten konnte. »Vorwärts!«

Mitgefangen, mitgehangen, dachte Sharpe, und verdammt noch mal, er hatte sich damals in der Festungskapelle auf Vivars Wahnsinn eingelassen, als er sich von dem Geheimnis des Gonfalons hatte überwältigen lassen wie von den schweren Düften eines dunklen, angewärmten Weins. Jetzt war nicht die Zeit, sich von Ängsten überwältigen zu lassen.

Also vorwärts. Vorwärts durch die Bäume, vorbei an einer Steinmauer. Dann trafen Sharpes Stiefel plötzlich auf Kies, und er sah, dass sie die Straße erreicht hatten. Rechts von ihnen ragte ein dunkles Gebäude auf und vor sich konnte er endlich das Feuer des Wachlokals erkennen. Seine Flammen wirkten düster, sie verschwammen im Nebel, aber es war vor der Kirche entfacht worden und beleuchtete die Straße. Nun konnten sie jede Sekunde angerufen werden.

»Aufschließen!«, flüsterte Sharpe Harper zu. »Finger weg vom Abzug!«

»Aufschließen!«, zischte Harper. »Und auf keinen Fall schießen!«

Sharpe wollte das Wachhaus im Laufschritt passieren. Dann würde der Lärm anheben, aber das ließ sich nicht ändern. Es würde mit vereinzelten Musketenschüssen beginnen und in der totalen Kakofonie des Todes enden. Im Augenblick jedoch war nur das Scharren von Stiefeln auf Kies zu hören, das dumpfe Geräusch sorgsam umwickelter Ausrüstungsteile und das heisere Atmen der Männer, die bereits durch stundenlanges Marschieren erschöpft waren.

Harper bekreuzigte sich. Der andere Ire in der Truppe tat es ihm nach. Sie grinsten, nicht vor Freude, sondern vor Angst. Die Schützen zitterten, und ihre Gedärme drangen darauf, sich zu entleeren. Maria, Mutter Gottes, wiederholte Harper ein ums andere Mal. Er nahm an, dass er jetzt ein Gebet an den heiligen Jakob hätte richten müssen, aber er kannte keines, daher wiederholte er in seiner Nervosität die vertrautere Anrufung. Steh uns bei, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.

Sharpe führte sie an. Er schritt langsam aus und starrte dabei unentwegt auf das verschwommene Licht des Wachfeuers. Die Flammen spiegelten sich in seiner Klinge, die er gesenkt hielt. Weit hinter dem ersten Feuer konnte er jetzt andere Feuer ausmachen, die wohl am Rand der französischen Stellungen brannten. Der Nebel wurde zunehmend silbern, hellte sich auf, und er glaubte, sogar das schwach sichtbare Gewirr von Türmen und Kuppeln zu erkennen, das die Stadt vom Himmel abhob. Es handelte sich um eine kleine Stadt, hatte Vivar gesagt, eine Hand voll Häuser um die Abtei herum, ein paar Wirtshäuser, eine Kathedrale samt Vorplatz, aber immerhin eine Stadt, die von den Franzosen besetzt gehalten wurde und von einem zusammengewürfelten kleinen Heer erobert werden musste.

Von einer zusammengewürfelten, braun gekleideten Streitmacht, die vom Glauben eines Einzelnen beflügelt wurde. Vivar, dachte Sharpe, musste gottesfürchtig sein, wenn er glaubte, der mottenzerfressene Seidenfetzen könne ein Wunder bewirken. Das war der reine Irrsinn. Hätte man beim britischen Heer gewusst, dass ein ehemaliger Sergeant Schützen in einen solchen Kampfeinsatz führte, würde man ihn vors Militärgericht stellen. Sharpe hielt sich für ebenso verrückt wie Vivar. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Vivar von Gott angestachelt wurde und Sharpe von dem eigensinnigen, törichten Stolz eines Soldaten, der seine Niederlage nicht eingestehen kann.

Allerdings, erinnerte sich Sharpe, hatten andere Männer sich mit ebenso aberwitzigen Träumen Ruhm erworben. Jene paar Ritter, die vor tausend Jahren von den übermächtigen Heerscharen Mohammeds zum Rückzug in ihre Bergfestungen gezwungen worden waren, mussten die gleiche Verzweiflung empfunden haben. Als diese Ritter ihre Gurte enger geschnallt und die Lanzen aus ihrer Halterung am Steigbügel gehoben hatten, als sie unter den flatternden Bannern das gewaltige Halbrund der Feinde erblickt hatten, mussten sie gewusst haben, dass die Stunde ihres Todes gekommen war. Dennoch hatten sie ihre Visiere heruntergeklappt, ihre Rösser angespornt und angegriffen.

Ein Stein, der unter seinem Fuß knirschte, brachte Sharpe wieder in die Gegenwart zurück. Sie befanden sich nun auf einer Straße, hatten das freie Land endgültig hinter sich gelassen. Die Fenster der umliegenden stillen Häuser hatten eiserne Gitter. Die Straße stieg zwar nicht steil, aber doch spürbar an und erschwerte den Angriff noch mehr. Am Feuer regte sich ein Schatten, dann erkannte Sharpe ein provisorisches Hindernis quer über der Straße, das seinem wilden Sturm auf die Hauptverteidigungsanlagen der Stadt ein Ende bereiten würde. Das Hindernis bestand aus zwei Handkarren und einigen Stühlen, erfüllte jedoch seinen Zweck als Barriere.

Aus dem beweglichen Schatten am Wachfeuer wurde eine menschliche Silhouette, ein Franzose, der sich soeben bückte, um mit einem brennenden Fidibus aus dem Feuer seine Pfeife anzuzünden. Der Mann hatte keinen Verdacht geschöpft und blickte auch nicht nach Norden, wo er den Widerschein des Feuers an aufgesetzten Schwertbajonetten hätte sehen können.

Dann bellte rechts in einem Haus ein Hund. Sharpe war so angespannt, dass er beiseite sprang. Der Hund stimmte ein immer wilderes Gebell an. Ein weiterer Hund nahm den Alarm auf, dann krähte herausfordernd ein Hahn. Instinktiv beschleunigten die Schützen ihre Schritte.

Der Franzose am Feuer richtete sich auf und drehte sich um. Sharpe konnte die verräterischen Umrisse der Kopfbedeckung des Mannes ausmachen: ein Infanterist. Kein unberittener Kavallerist, sondern ein gottverdammter französischer Infanterist, der auch sogleich seine Muskete abnahm und auf die Schützen richtete. »Qui vive?«

Mit diesem Ruf begann die Schlacht des Tages. Sharpe holte tief Luft und rannte los.


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