Die Dorfbewohner hatten sie nicht vor den Franzosen warnen können, denn ein Dorf gab es nicht mehr und auch keine Dorfbewohner.
Die Feuer mussten im selben Augenblick gelegt worden sein, als in der Schlucht die Falle zugeschnappt war, denn die Häuser brannten immer noch lichterloh. Die Franzosen hatten die Menschen umgebracht und dann Schutz in ihren Häusern gesucht, während sie darauf warteten, dass Vivars kleine Marschsäule die tiefe Schlucht erreichte.
Ein prächtiges Dorf war es nie gewesen: ein armseliger Ort mit Ziegen und Schafen und Leuten, die sich auf den Hochweiden ihren kärglichen Lebensunterhalt verdienten. Die Häuser standen in einer Mulde im Schatten verkrüppelter Eichen und Kastanienbäume. Auf einigen kleinen Feldern, die von wilden Maulbeerbäumen und Stechginster gesäumt wurden, waren Kartoffeln angebaut worden. Diese Nahrung und die Häuser hatten sich Mensch und Tier geteilt. Sie ähnelten den Hütten, die Sharpes Schützen aus Irland kannten, und die Erinnerung an die Heimat steigerte die Erbitterung, die sie an diesem Tag empfanden.
Sofern sich Erbitterung, ausgelöst durch getötete Kinder und Säuglinge, vergewaltigte Frauen oder gekreuzigte Männer, überhaupt noch steigern ließ. Sergeant Williams, der in einer schlechten Welt viel Grauen erlebt hatte, übergab sich. Einer der spanischen Infanteristen wandte sich schweigend einem französischen Gefangenen zu und schlitzte dem Mann den Bauch auf, noch ehe Vivar Einspruch erheben konnte. Erst dann tat der Cazador heulend seinen Hass kund.
Vivar zog es vor, den Mord und das Geheul zu ignorieren. Stattdessen schritt er mit seltsamer Förmlichkeit auf Sharpe zu.
»Könnten Sie ...«, begann er, doch es fiel ihm schwer, den Satz zu beenden. Der Gestank der Leichen, die in den Häusern verbrannten, war überwältigend. Er schluckte. »Könnten Sie wohl Posten aufstellen, Lieutenant?«
»Jawohl, Sir.«
Dadurch konnten sich die Rifles wenigstens von den Leichen abgeschlachteter Kinder und den brennenden Hütten entfernen. Von den Gebäuden des Dorfes waren nur die Steinmauern der Kirche übrig, die sich nicht verbrennen ließen, während vom Holzdach der Kirche immer noch hohe Flammen und Rauch emporstiegen, über den Rand des Tals hinaus, wo Sharpe nun seine Posten aufstellte. Die Franzosen, falls sie noch da waren, ließen sich nicht blicken.
»Warum haben die das getan, Sir?«, wandte sich Dodd, ein wortkarger Mann, an Sharpe.
Sharpe wusste darauf keine Antwort.
Gataker, ein gerissener Schurke, wie es ihn im Heer kaum ein zweites Mal gab, starrte mit leerem Blick in die Runde. Isaiah Tongue, dessen Laufbahn als Schullehrer am Gin gescheitert war, zuckte zusammen, als vom Dorf her ein entsetzlicher Schrei ertönte. Als ihm klar wurde, dass es sich um den Schrei eines gefangenen Franzosen gehandelt haben musste, spuckte er aus, um zu demonstrieren, dass er sich nichts daraus machte.
Sharpe ging weiter, stellte die übrigen Posten auf und erreichte schließlich eine Stelle, von der aus er zwischen zwei mächtigen Granitfelsen hindurch weit gen Süden blicken konnte. Dort ließ er sich allein nieder und starrte zum weiten Himmel empor, der noch mehr schlechtes Wetter verhieß.
Er hatte nach wie vor seinen Degen in der Hand. Nun versuchte er, ihn geistesabwesend in die metallene Scheide zu stecken. Die Klinge, die immer noch klebrig war vom Blut, blieb auf halbem Wege stecken. Da sah er zu seinem Erstaunen, dass eine Kugel die Scheide durchbohrt und die metallenen Ränder des Einschusslochs nach innen gebogen hatte.
»Sir?«
Sharpe sah sich um und entdeckte einen nervösen Sergeant Williams. »Sergeant?«
»Wir haben vier Männer verloren, Sir.«
Sharpe hatte vergessen zu fragen, und er verfluchte sich, weil er es versäumt hatte. »Wen?«
Williams nannte die Namen der Toten, obwohl Sharpe nichts mit ihnen anfangen konnte. »Ich dachte, wir hätten mehr eingebüßt«, sagte er verwundert.
»Sims is' verwundet, Sir. Und Cameron. Und noch einige der anderen, Sir, aber die beiden sind am schlimmsten dran.« Der Sergeant tat nur seine Pflicht, aber er zitterte vor Beklemmung, als er mit seinem Offizier sprach.
Sharpe versuchte seine Gedanken zu ordnen, aber die Erinnerung an die toten Kinder verwirrte ihm die Sinne. Er hatte oft genug tote Kinder zu sehen bekommen, wer hatte das nicht? In den vergangenen Wochen waren sie an etwa zwanzig Kindern vorbeigekommen, die zum Heer gehörten und auf dem grauenvollen Rückzug erfroren waren. Allerdings war keines von ihnen Opfer eines Mordes gewesen. Er hatte mit angesehen, wie Kinder blutig geschlagen wurden, aber nicht bis zum Tod. Wie konnten die Franzosen im Dorf gewartet haben, ohne zunächst die Spuren ihres obszönen Gemetzels zu beseitigen? Wie konnten sie so eine Tat überhaupt begehen?
Williams, den Sharpes brütendes Schweigen beunruhigte, murmelte etwas von einem Bach, den er ausfindig machen wolle, damit die Männer ihre Feldflaschen auffüllen konnten. Sharpe nickte.
»Vergewissere dich erst, dass die Franzosen das Wasser nicht vergiftet haben, Sergeant.«
»Selbstverständlich, Sir.«
Sharpe drehte sich nach dem vierschrötigen Mann um. »Übrigens, die Männer haben ihre Sache gut gemacht. Sehr gut.«
»Danke, Sir.« Williams hörte sich erleichtert an. Er verzog das Gesicht, als wieder ein Schrei vom Dorf herüberdrang.
»Sie haben ihre Sache sehr gut gemacht.« Er sagte dies allzu hastig, als versuche er, ihrer beider Gedanken von dem Schrei abzulenken. Die französischen Gefangenen wurden verhört und dann starben sie.
Sharpe starrte gen Süden und fragte sich, ob die Wolken Regen bringen würden oder Schnee. Er dachte an den Mann in der roten Pelisse, den Oberst der Kaiserlichen Garde, und an den Mann im schwarzen Mantel neben ihm. Warum die erneute Begegnung mit diesen beiden Männern? Weil sie, überlegte er, gewusst hatten, dass Vivar kommen würde. Allerdings hatten die Franzosen mit einem nicht gerechnet: den Rifles. Sharpe erinnerte sich an jenen Moment am Rand der Klippe, als der erste Schütze mit aufgepflanztem Schwertbajonett an ihm vorbeigekommen war, und dabei fiel ihm ein, was er noch zu tun versäumt hatte. Er hatte nicht befohlen, die Bajonette aufzusetzen. Die Männer hatten es von selbst getan.
»Die Männer haben ihre Sache sehr gut gemacht«, wiederholte Sharpe, »sag ihnen das.«
Williams zögerte. »Sir? Wär's nicht besser, Sie würden's ihnen selbst sagen?«
»Ich?« Sharpe drehte sich abrupt nach dem Sergeant um.
»Sie haben's für Sie getan, Sir.« Williams war verlegen, und das um so mehr, weil Sharpe mit seinen ungeschickten Worten offenbar nichts anfangen konnte. »Sie haben versucht, was zu beweisen, Sir. Wir alle haben's versucht. Und gehofft, Sie würden ...«
»Was habt ihr gehofft?« Die Frage klang zu barsch, Sharpe merkte es selbst. »Tut mir leid.«
»Wir haben gehofft, Sie würden Harps gehen lassen, Sir. Die Männer mögen ihn, und das Heer hat schon immer die Bestrafung von Männern ausgesetzt, Sir, wenn ihre Kameraden sich wacker geschlagen haben.«
Die Erbitterung, die Sharpe gegenüber dem Iren empfand, war zu stark, als dass er die Bitte sofort gewährt hätte. »Ich werde den Männern sagen, dass sie ihre Sache gut gemacht haben, Sergeant.« Er hielt inne. »Und was aus Harper wird, will ich mir überlegen.«
»Jawohl, Sir.« Offenkundig war Sergeant Williams dankbar, dass ihm der Lieutenant zum ersten Mal, seit er unter Sharpes Befehlsgewalt geraten war, eine gewisse Höflichkeit entgegenbrachte.
Sharpe fiel es auf, und er war schockiert. Er hatte nicht gewusst, wie er diese Männer führen sollte, hatte sich vor ihrer Aufsässigkeit gefürchtet. Aber ihm war nicht klar gewesen, dass sie sich auch vor ihm fürchteten. Sharpe sah sich als harten Mann, aber er hatte sich immer auch für einen vernünftigen Mann gehalten. Nun jedoch, im Spiegel von Williams' Nervosität, erhielt er ein viel weniger erfreuliches Bild von sich. Er kam sich vor wie ein tyrannischer Mann, der die Autorität seines Ranges einsetzte, um anderen Männern Angst einzujagen: genau die Sorte Offizier also, die Sharpe am meisten gehasst hatte, als er selbst noch ihrem verbitterten Kommando unterworfen gewesen war.
Er empfand Reue wegen der vielen Fehler, die er gegenüber diesen Männern begangen hatte, und fragte sich, wie er sie wieder gutmachen sollte. Er war zu stolz, um sich zu entschuldigen, deshalb legte er vor Sergeant Williams ein peinliches Geständnis ab. »Ich war nicht sicher, ob auch nur einer der Männer mir den Hang hinauf folgen würde.«
Williams grunzte, halb amüsiert und halb verständnisvoll. »So sind sie nun mal, Sir. Sie haben es mit der Elite des Bataillons zu tun.«
»Der Elite?« Sharpe konnte seine Überraschung nicht verbergen.
»Den Raufbolden, könnte man auch sagen.« Williams grinste. »Ich gehöre nicht dazu, Sir. Für Prügeleien war ich nie recht zu haben. Ich hab immer gehofft, mir meinen Sold nicht auf die Weise verdienen zu müssen.« Er lachte. »Aber diese Jungs, Sir, die meisten von ihnen sind regelrechte Halunken.« Er sagte das mit einem Anflug von Bewunderung. »'s leuchtet ein, Sir, wenn man darüber nachdenkt. Ich hab die Jungs beobachtet, als die Froschfresser bei der Brücke angegriffen haben, Sir. Der eine oder andere stand kurz davor aufzugeben, aber nicht diese Jungs. Die haben dafür gesorgt, dass sie ungeschoren davonkamen. Sie haben es mit den wirklich Zähen zu tun, Sir. Abgesehen von mir. Ich hatte reines Glück. Aber wenn Sie diesen Jungs Gelegenheit geben zu kämpfen, Sir, werden sie Ihnen folgen.«
»Dir sind sie auch gefolgt«, sagte Sharpe. »Ich habe dich auf der Klippe gesehen. Du hast dich tapfer geschlagen.«
Williams berührte die Winkelabzeichen an seinem rechten Ärmel. »Ich würde mich meiner Streifen schämen, wenn ich nicht selbst Hand anlege. Nein, Sir, das war Ihnen zuzuschreiben. Verdammter Irrsinn war das, den Hang hinauf anzugreifen. Aber es hat sich ausgezahlt!«
Sharpe tat das Kompliment mit einem Schulterzucken ab, erkannte es jedoch als solches und freute sich insgeheim darüber. Er mochte kein geborener Offizier sein, aber bei Gott, er war der geborene Soldat. Er war der Sohn einer gottlosen Hure, aber ein gottverdammt guter Soldat.
Im Dorf fanden sich Schaufeln und Spaten, die dazu benutzt wurden, am Ausgang der Schlucht Gräber für die französischen Gefallenen auszuheben.
Vivar begab sich mit Sharpe dorthin, wo dem harten Boden die flachen Gräber abgetrotzt wurden. Der Spanier blieb neben einem der Dragoner stehen, der bei dem Reiterangriff ums Leben gekommen war und dessen Leichnam man inzwischen nackt ausgezogen hatte. Die Haut am Körper des Toten war so weiß wie der aufgewühlte Schnee, während sein Gesicht gebräunt war von Sonne und Wind. Der buschige Schnurrbart war blutverschmiert.
»Die Bärte sind ihr Erkennungszeichen.« Seine Stimme klang bitter. »Das Symbol dafür, dass sie etwas Besonderes sind, eine Elite.«
»Wie der Rosmarin an den Kappen Ihrer Männer?«
»Nein, das ist etwas ganz anderes.« Vivars schroffe Verneinung ließ das Gespräch zwischen den beiden Männern verstummen. Sie standen in verlegenem Schweigen über dem Leichnam des Feindes.
Sharpe, der sich dabei unbehaglich fühlte, brach das Schweigen. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass unberittene Kavallerie fähig wäre, mit Berittenen fertig zu werden.«
Das Lob freute den Major. »Und ich hätte nicht für möglich gehalten, dass Infanteristen fähig wären, diese Klippe zu erobern. Es war töricht von Ihnen, Lieutenant, sehr töricht, und tapferer, als ich mir je erträumt hätte. Ich danke Ihnen.«
Sharpe, der über Komplimente jedes Mal in Verlegenheit geriet, versuchte es mit einem Schulterzucken abzutun. »Das lag an meinen Schützen.«
»Sie haben es getan, um Ihnen zu imponieren, glauben Sie nicht auch?«, sagte Vivar mit bedeutungsvoller Stimme. Er versuchte Sharpe Mut zu machen. Als der Engländer nicht darauf reagierte, fuhr der Spanier in eindringlicherem Ton fort: »Soldaten benehmen sich dann am besten, wenn sie wissen, was von ihnen erwartet wird. Heute haben Sie ihnen gezeigt, was Sie wollten, und das hat den Sieg bedeutet.«
Sharpe murmelte etwas von glücklichen Umständen.
Vivar ging nicht auf seine Ausflüchte ein. »Sie haben sie geführt, Lieutenant, und Ihre Rifles wussten, was von ihnen erwartet wurde. Die Männer müssen immer wissen, was ihre Offiziere von ihnen erwarten. Ich gebe meinen Cazadores immer drei Regeln mit auf den Weg. Sie dürfen nicht stehlen, es sei denn, sie müssten sterben, wenn sie nicht stehlen. Sie müssen sich erst um ihre Pferde kümmern und dann um sich selbst. Und sie müssen kämpfen wie die Helden. Ganze drei Regeln, aber sie funktionieren. Geben Sie den Männern feste Regeln, Lieutenant, dann werden sie Ihnen folgen.«
Sharpe wusste, wie er so dastand auf der einsamen, windigen Hochebene, dass ihm von Major Vivar ein Geschenk dargeboten wurde. Möglich, dass es keine Richtlinien für das Verhalten eines Offiziers gab, dass den besten Offizieren ihre hervorstechenden Fähigkeiten angeboren waren, aber der Spanier bot Sharpe einen Schlüssel zum Erfolg an. Er spürte den Wert dieses Geschenks und lächelte. »Danke.«
»Spielregeln!«, fuhr Vivar fort, als habe Sharpe nichts gesagt. »Spielregeln machen aus den Männern wahre Soldaten, nicht Kindesmörder wie diese Schweinehunde.« Er versetzte dem toten Franzosen einen Tritt, dann erschauerte er. Andere französische Gefallene wurden über den Schneematsch gezerrt, ihrem flachen Grab entgegen. »Ich werde veranlassen, dass einer meiner Männer aus angesengtem Holz ein paar Kreuze herstellt.«
Wieder war Sharpe von diesem Mann überrascht. Im einen Moment trat er nach dem nackten Leichnam eines Feindes und im nächsten traf er Vorsorge, dass die Gräber eben dieser Feinde mit Kreuzen bestückt wurden.
Vivar bemerkte seine Überraschung. »Das hat mit Respekt nichts zu tun, Lieutenant.«
»Nicht?«
»Ich fürchte ihre estadeas, ihre Seelen. Die Kreuze werden dafür sorgen, dass ihre schurkischen Seelen unter den Erdboden gebannt bleiben.« Vivar spuckte den Leichnam an. »Sie mögen mich für einen Narren halten, aber ich habe sie gesehen, Lieutenant. Die estadeas sind die verlorenen Seelen der Verdammten, und im nächtlichen Dunst sehen sie aus wie eine Myriade Kerzen. Ihr Stöhnen ist noch entsetzlicher als dies.« Er wies mit dem Kopf in Richtung Dorf, wo ein weiterer Todesschrei ertönte. »Um dessentwillen, was sie den Kindern angetan haben, Engländer, haben sie Schlimmeres verdient.«
Sharpe hatte keine Einwände gegen die Rechtfertigung, die der Major vorbrachte. »Warum haben sie das nur getan?« Er konnte sich nicht vorstellen, selbst jemals ein Kind zu töten, und ihm blieb unbegreiflich, wie einem Mann eine solche Tat auch nur im Traum einfallen konnte.
Vivar entfernte sich von den Leichen der Franzosen und trat an den Rand des kleinen Plateaus, auf dem die Kavallerie zum Sturmangriff angesetzt hatte. »Als die Franzosen hierherkamen, Lieutenant, waren sie unsere Verbündeten. Gott möge unsere Torheit strafen, aber wir haben sie hereingebeten. Sie kamen, um unsere Feinde anzugreifen, die Portugiesen. Doch einmal im Land, beschlossen sie zu bleiben. Sie dachten, Spanien sei schwach, dekadent, wehrlos.« Vivar unterbrach sich und blickte unverwandt in die große Leere, die vor ihm im Tal herrschte. »Und vielleicht waren wir wirklich dekadent. Nicht das Volk, Lieutenant. Glauben Sie das nicht, niemals! Sondern die Regierung.« Er spuckte aus. »Aus diesem Grund haben uns die Franzosen verachtet. Sie dachten, wir wären eine reife Frucht, die es zu pflücken galt, und vielleicht waren wir genau das. Unsere Armeen?« Vivar zuckte hoffnungslos mit den Schultern. »Soldaten können nicht kämpfen, wenn sie schlecht geführt werden. Aber das Volk ist nicht dekadent. Das Land ist nicht dekadent.« Er rammte den Absatz in den schneebedeckten Boden. »Dies ist Spanien, Lieutenant, an dem Gott Wohlgefallen hat, und Gott wird uns nicht im Stich lassen. Warum, glauben Sie, haben Sie und ich heute gesiegt?«
Das war eine Frage, auf die keine Antwort erwartet wurde, also verzichtete Sharpe darauf.
Vivar spähte zu den fernen Hügeln hinüber, wo sich die ersten Schauer als dunkle Stellen am Horizont abzeichneten.
»Die Franzosen haben uns verachtet«, nahm er seinen Gedanken wieder auf, »aber sie haben gelernt, uns zu hassen. Sie haben festgestellt, dass man in Spanien keine leichten Siege erringt. Sie haben sogar gelernt, Niederlagen einzustecken. Wir haben in Bailen ein ganzes Heer zur Kapitulation gezwungen, und als sie Saragossa belagert haben, wurden sie vom Volk in die Knie gezwungen. Das werden die Franzosen uns niemals verzeihen. Nun überfluten sie uns mit Heerscharen und glauben, uns schlagen zu können, indem sie uns alle umbringen.«
»Aber warum töten sie die Kinder?« Sharpe konnte die Erinnerung an die kleinen, verstümmelten Körper nicht loswerden.
Vivar verzog bei dieser Frage das Gesicht. »Sie kämpfen gegen Männer in Uniform, Lieutenant. Sie wissen, wer Ihr Feind ist, weil er Ihnen zuliebe einen blauen Rock anzieht und als Zielscheibe für Ihre Gewehre goldene Tressen an diesen Rock hängt. Die Franzosen dagegen wissen nicht, wer ihre Feinde sind. Jeder Mann, der ein Messer besitzt, könnte ihr Feind sein, und daher fürchten sie uns. Und um uns im Zaum zu halten, lassen sie sich hinreißen, den Preis für feindseliges Verhalten zu hoch anzusetzen. Sie lassen sich hinreißen, in Spanien immer größere Angst zu verbreiten, Angst vor dem hier!« Er drehte sich um und deutete auf die Rauchfahne, die nach wie vor aus dem Dorf aufstieg. »Sie fürchten uns, aber sie versuchen, uns noch größere Furcht vor ihnen einzuflößen. Und wer weiß, vielleicht gelingt es ihnen noch.«
Der plötzliche Pessimismus kam überraschend bei einem Mann, der sonst so selbstbewusst war wie Blas Vivar.
»Glauben Sie wirklich?«, fragte Sharpe.
»Ich glaube, dass die Menschen Grund haben, den Tod ihrer Kinder zu fürchten.« Vivar, der seine eigenen Kinder hatte begraben müssen, sprach mit tonloser Stimme. »Andererseits glaube ich nicht, dass die Franzosen Erfolg haben werden. Im Augenblick sind sie siegreich, und das spanische Volk betrauert seine Kinder und fragt sich, ob es noch Hoffnung gibt. Wenn man diesem Volk jedoch nur einen kleinen Funken Hoffnung eingeben kann, wird es sich zur Wehr setzen!« Die letzten Worte stieß er wütend hervor, dann überkam ihn ein blitzartiger Stimmungswechsel. Er lächelte Sharpe kleinlaut an. »Ich muss Sie um einen Gefallen bitten.«
»Aber natürlich.«
»Der Ire, Patrick Harper. Lassen Sie ihn frei.«
»Frei?« Sharpe war verblüfft, weniger über die geäußerte Bitte als vielmehr über die plötzliche Veränderung in Vivars Benehmen. Noch vor einem Moment war er rachgierig und stahlhart gewesen, und nun verhielt er sich zaghaft höflich wie ein Bittsteller.
»Ich weiß«, fügte Vivar hastig hinzu, »dass das Vergehen des Iren schwerwiegend ist. Er verdient es, halb zu Tode geprügelt zu werden, wenn nicht darüber hinaus, aber er hat eine Heldentat vollbracht, der ich großen Wert beimesse.«
Peinlich berührt von Vivars unterwürfigem Tonfall, räusperte sich Sharpe. »Aber natürlich.«
»Ich werde mit ihm sprechen und ihn auf seine Gehorsamspflicht aufmerksam machen.«
»Er kann freigelassen werden.« Sharpe war ohnehin schon halb überzeugt von der Notwendigkeit, Harper laufen zu lassen, und sei es nur, um Sergeant Williams zu beweisen, wie vernünftig sein Vorgesetzter sein konnte.
»Ich habe ihn bereits freigelassen«, gab Vivar zu, »aber ich hielt es für angebracht, Ihre Zustimmung einzuholen.« Er grinste, merkte, dass Sharpe keinen Einspruch erhob, und bückte sich nach einem herumliegenden französischen Helm. Er riss den Überzug aus Leinwand herunter, der das edle Messing schützte und außerdem verhinderte, dass es das Sonnenlicht reflektierte und die Position der Dragoner verriet. »Schöner Tand«, sagte er mit schneidender Stimme, »den können Sie sich ins Treppenhaus hängen, wenn der Krieg vorbei ist.«
Sharpe hatte kein Interesse an einem verbeulten Dragonerhelm. Ihm wurde soeben bewusst, dass die »Heldentat von großem Wert«, die Harper in Vivars Augen begangen hatte, darin bestand, die Truhe zu beschützen. Er erinnerte sich an das Entsetzen im Gesicht des Spaniers, als dieser geglaubt hatte, die Truhe könne verloren sein. Wie ein Sonnenstrahl, der durch eine Lücke zwischen dunklen Wolken bricht, dämmerte bei Sharpe endlich die Erkenntnis. Der Gardeoffizier war auf der Jagd nach Vivar gewesen, und diese Jagd hatte die Dragoner gegen ihren Willen auf die Nachhut des britischen Heers treffen lassen. Bei der Gelegenheit hatten sie nebenbei vier Schützenkompanien aufgerieben, und dann hatten sie ihren Weg fortgesetzt. Nicht hinter den zurückweichenden Briten, sondern hinter der Schatztruhe her.
»Was ist in der Kiste, Major?«, fragte er mit anklagender Stimme.
»Ich sagte Ihnen doch, es sind Papiere«, erwiderte Vivar lässig, während er die letzten Fetzen Leinwand von dem Helm entfernte.
»Die Franzosen waren hier, um die Schatztruhe zu erobern.«
»Die Gefangenen haben mir mitgeteilt, sie seien auf der Suche nach Lebensmitteln gewesen. Ich bin sicher, dass sie die Wahrheit gesagt haben, Lieutenant. Männer, die dem Tod ins Auge sehen, sagen normalerweise die Wahrheit, und sie haben alle dieselbe Geschichte erzählt. Sie haben einem Stoßtrupp angehört.« Vivar polierte mit dem Ärmel das Messing des Helms, dann hielt er ihn Sharpe zur Begutachtung hin. »Schäbige Handwerksarbeit. Sehen Sie, wie schlecht der Kinnriemen vernietet ist?«
Wieder ignorierte Sharpe den Helm. »Die Dragoner waren wegen der Kiste hier, nicht wahr? Sie haben Sie verfolgt und wussten, dass Sie durch diese Berge mussten.«
Vivar betrachtete stirnrunzelnd den Helm. »Ich denke, ich werde ihn doch nicht behalten. Ich finde bestimmt einen besseren, ehe das Morden vorbei ist.«
»Das waren dieselben Männer, die unsere Nachhut angegriffen haben. Wir hatten Glück, dass sie nicht das ganze Regiment hier heraufgeschickt haben, Major!«
»Die Gefangenen haben gesagt, dass nur die Männer mit gesunden Pferden so weit kommen konnten.« Das hörte sich an wie eine teilweise Bestätigung von Sharpes Verdacht, aber alles andere stritt Vivar augenblicklich ab. »Ich versichere Ihnen, dass sie nur gekommen sind, um Futter und Lebensmittel zu erbeuten. Sie haben mir mitgeteilt, sie hätten die Dörfer in der Ebene ausgeraubt, deshalb müssten sie nun, um Nahrung zu finden, immer höher hinauf.«
»Was ist in der Kiste, Major?«, beharrte Sharpe.
»Neugierde!« Vivar wandte sich ab und begann auf das Dorf zuzugehen. »Neugierde!« Er holte aus und schleuderte den Helm in den Abgrund, in den das Plateau steil abfiel. Der Helm glitzerte, drehte sich, dann landete er scheppernd im Gebüsch. »Neugierde! Eine englische Krankheit, Lieutenant, die zum Tode führen kann. Meiden Sie sie!«
Während der Nacht erloschen die Brände, bis auf ein Haus, dessen Feuer Vivars Männer mit Holz von den Bäumen der Umgebung speisten. Sie brieten darin, aufgespießt auf ihre Säbel, große Brocken Pferdefleisch. Die Schützen benutzten zu diesem Zweck ihre Schwertbajonette. Alle waren froh, dass die Leichen der Dorfbewohner begraben waren. Die Posten wurden an den Rand des gebrandschatzten Dorfs zurückgezogen, wo sie fröstelnd im kalten Wind ausharrten. Als die Abenddämmerung hereinbrach, hörte es endlich auf zu regnen, und in der Nacht zeigten sich zwischen den hoch fliegenden Wolken Lücken, durch die hindurch ein blasser Mond die schroffen Hänge erleuchtete, auf denen der Schnee teilweise geschmolzen war, sodass die Landschaft seltsam pockennarbig anmutete. Irgendwo in den Bergen heulte ein Wolf.
Sharpes Grünjacken stellten während der ersten Hälfte der Nacht die Posten. Um Mitternacht ging er noch einmal durchs Dorf und richtete ein paar ungeschickte Worte an jeden einzelnen der Männer. Die Gespräche mit ihnen wirkten gestelzt, weil keiner der Rifles den Morgen vergessen konnte, als sie alle sich verschworen hatten, Sharpe zu ermorden. Nur der Waliser Jenkins war gesprächiger als die anderen und warf die Frage auf, wo Sir John Moores Heer wohl jetzt sei.
»Das weiß Gott allein«, sagte Sharpe. »Weit weg.«
»Geschlagen, Sir?«
»Kann sein.«
»Aber Boney ist fort, Sir?« Die Frage wurde mit einem gewissen Eifer gestellt, als könnte die Abwesenheit des Kaisers der Franzosen den Schützen auf ihrer Flucht neue Hoffnung einflößen.
»Das hat man uns jedenfalls gesagt.« Napoleon hatte Spanien angeblich bereits verlassen, aber das war kaum ein Grund, optimistisch zu sein. Seine Gegenwart war nicht erforderlich gewesen. Überall befanden sich seine Feinde auf dem Rückzug und er konnte sich darauf verlassen, dass seine Marschälle, die ganz Europa erobert hatten, Spanien und Portugal den Rest geben würden.
Sharpe ging weiter, vorbei an den ausgebrannten Häusern. Die Sohle seines rechten Stiefels hing lose herab, und seine Hose klaffte am Schenkel auf. Nur die durchlöcherte Scheide seines Degens hatte er repariert. Ansonsten hing seine Uniform an ihm herab wie die Lumpen an einer Vogelscheuche.
Der Schmerz der Wunde am Arm, die Harper ihm zugefügt hatte, war mittlerweile abgeklungen. Er begab sich dorthin, wo die Straße in Richtung Schlucht anstieg. Dort war neben einem Steintrog, den die Frauen, die einst in diesem Dorf gewohnt hatten, als Waschplatz benutzt hatten, eine dreiköpfige Wachmannschaft postiert.
»Was zu sehen?«
»Nichts, Sir. Still wie ein Schankhaus, in dem es nichts mehr zu trinken gibt.«
Es war Harper, der seine Frage beantwortet hatte und der sich nun hünenhaft und stattlich aus dem Schatten des Troges erhob. Die beiden Männer starrten einander an, dann zog der Ire unbeholfen zum Gruß den Tschako. »Nehmen Sie's mir nicht übel, Sir.«
»Lass gut sein.«
»Der Major hat mir ins Gewissen geredet, wahrhaftig. Wir hatten Angst, Sir, Sie verstehen, und ...«
»Ich sagte doch, lass gut sein!«
Harper nickte. Seine gebrochene Nase war noch geschwollen und hatte keine Aussicht, je wieder gerade zu werden. Der große Ire grinste. »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Sie können zuschlagen, Sir, so kräftig wie eine Ballinderry-Kuh.«
Die Bemerkung mochte als Friedensangebot gedacht gewesen sein, aber Sharpes Erinnerung an die Auseinandersetzung in der verfallenen Kate war noch zu frisch und schmerzlich, um es anzunehmen.
»Ich habe dich von einem verdammt scharfen Haken gelassen, Schütze Harper, aber das gibt dir nicht das gottverdammte Recht herauszuplappern, was dir in den Sinn kommt. Also setz deinen verdammten Tschako auf und geh wieder auf deinen Posten.«
Sharpe drehte sich um und ging davon, bereit, sofort herumzuwirbeln, wenn auch nur ein einziges unverschämtes Wort fiel. Aber Harper war vernünftig genug, den Mund zu halten. Nur der Wind war zu hören. Er strich mit einem seufzenden Laut durch die Bäume und ließ Funken hoch über das große Feuer in die Nacht aufsteigen.
Sharpe trat dicht ans Feuer, ließ sich von seiner Hitze die kalte und nasse Uniform wärmen. Er sagte sich, dass er wohl wieder einen Fehler begangen hatte, dass er Harpers freundliche Worte als das hätte akzeptieren sollen, was sie zweifellos waren, als Friedensangebot. Aber sein Stolz hatte ihn dazu getrieben, heftig zu reagieren.
»Sie sollten auch ein wenig schlafen, Sir.« Es war Sergeant Williams, tief vermummt gegen die Kälte, der nun im Feuerschein auftauchte. »Ich kümmer' mich um die Jungs.«
»Ich kann nicht schlafen.«
»Schuld is' der Gedanke an die toten Kleinen.«
»Ja.«
»Diese Schweinehunde«, sagte Williams. Er streckte die Hände nach dem lodernden Feuer aus. »Eins davon war nicht älter als meine Mary.«
»Wie alt ist sie?«
»Fünf, Sir. Hübsches kleines Ding, das ist sie. Nicht wie ihr Vater.«
Sharpe lächelte. »Ist deine Frau mit nach Spanien gekommen?«
»Nein, Sir. Die hilft in der Bäckerei ihres Vaters aus. Der war nicht sehr erfreut, als sie einen Soldaten geheiratet hat, aber so sind die Väter nun mal.«
»Das stimmt.«
Der Sergeant reckte sich. »Aber ich werd' ihr ein paar seltsame Geschichten zu erzählen haben, wenn ich wieder daheim in Spitalfields bin.« Er schwieg einen Moment, dachte vermutlich an die Heimat. »Eigentlich komisch.«
»Was denn?«
»Dass diese Schweinehunde so weit geritten sein sollen, um Vorräte zu holen. Hat das nicht der Major gesagt, Sir?«
»Ja.« Von den französischen Truppen wurde erwartet, dass sie sich an Ort und Stelle Nahrung beschafften, dass sie stahlen, was sie konnten, um am Leben zu bleiben. Allerdings konnte Sharpe genau wie Williams nicht glauben, dass sich die feindlichen Reiter bis zu diesem entlegenen Dorf durchgeschlagen haben sollten, solange es in den Tälern andere, verlockendere Ortschaften gab. »Das waren dieselben Männer«, sagte er, »die uns auf der Straße überfallen haben.« Und das hatte sich für Sharpe in gewisser Hinsicht zum Vorteil ausgewirkt, weil die französischen Dragoner, die der Versuchung nicht widerstehen konnten, von den erbeuteten Büchsen Gebrauch zu machen, sich als unfähig erwiesen hatten, mit den fremdartigen Waffen umzugehen.
Sergeant Williams nickte. »Den Halunken im roten Rock meinen Sie?«
»Ja. Und den Burschen in Schwarz.«
»Ich bin überzeugt, dass sie hinter der Kiste her sind, die die Spanier dabeihaben.« Williams senkte die Stimme, als befürchte er, von einem der schlafenden Cazadores belauscht zu werden. »Diese Art Kisten benutzt man, um Juwelen zu transportieren, nicht wahr? Möglich, dass dieses Ding eine Riesensumme enthält, Sir.«
»Major Vivar behauptet, es sind Papiere drin.«
»Papiere!«, sagte der Sergeant verächtlich.
»Nun ja, ich denke nicht, dass wir es je herausfinden werden«, lenkte Sharpe ein. »Und an deiner Stelle wäre ich nicht zu naseweis, Sergeant. Der Major hat was gegen Neugierde.«
»Nein, Sir.« Williams schien enttäuscht zu sein über seinen Mangel an Enthusiasmus.
Aber Sharpe ging es nur darum, die eigene Neugier zu verbergen. Nach einigen Momenten unverbindlichen Geplauders und nachdem er dem Sergeant gute Nacht gewünscht hatte, entfernte er sich mit leisen, langsamen Schritten in Richtung Kirche. Dabei nutzte er die Verstohlenheit, die er als Kind in einem Londoner Elendsviertel gelernt hatte, wo ein Junge, der nicht stehlen lernte, unweigerlich verhungert wäre.
Er umrundete die Kirche, dann blieb er lange in den Schatten am Portal stehen. Er horchte. Er vernahm das Knistern des Feuers und das zunehmende Geräusch des Windes, sonst nichts. Doch er wartete und strengte sich an, wenigstens einen Laut aus dem Innern des alten Steinbaus zu hören. Immer noch nichts. Er konnte die herabgestürzten und verbrannten Balken des Gebäudes riechen, in dem nichts an die Gegenwart eines Menschen gemahnte. Die Spanier, die ihm am nächsten waren, hatten sich dreißig Schritt von ihm entfernt in ihre Mäntel eingerollt und schliefen.
Das Kirchenportal stand offen. Sharpe hatte sich durch den Spalt gezwängt und blieb stehen.
Mondlicht erhellte die heilige Stätte. Die Mauern waren vom Feuer geschwärzt, der Altar verschwunden, doch Vivars Männer hatten der Entweihung der Stätte ein Ende bereitet. Sie hatten die verbrannten Dachbalken weggeräumt, sodass ein Mittelgang entstand, der zu den Altarstufen führte. Am oberen Ende dieser Stufen stand, schwarz wie die Mauern, die Schatztruhe.
Sharpe wartete. Er sah sich in dem kleinen Innenraum um, ob sich irgendwo etwas bewegte, konnte jedoch nichts entdecken. An der südlichen Wand der Kirche befand sich eine kleine schwarze Öffnung, sonst gab es kein Fenster. Auch dort war nichts zu erkennen als Dunkelheit, und Sharpe nahm an, dass es sich um einen Schrank oder ein eingelassenes Stellbrett handle.
Sharpe trat zwischen die herabgestürzten Dachbalken, von denen einige noch schwelten. Einmal zermalmte seine lose rechte Sohle einen Klumpen schwarz verbrannten Holzes, aber das war das einzige Geräusch, das er verursachte.
Er blieb am Fuß der beiden Stufen stehen, die zum Altar führten, und ging in die Hocke. Auf dem Deckel der Truhe lag ein Rosenkranz aus schwarzem Gagat. Das winzige Kruzifix schimmerte im Mondlicht. In dieser Kiste, dachte Sharpe, war etwas verborgen, das französische Soldaten tief ins eisige Hochland zu locken vermochte. Vivar hatte behauptet, es handle sich um Papiere, aber selbst die Frömmsten unter den Männern würden nicht darauf kommen, Papiere durch ein Kruzifix zu schützen.
Die Truhe war in Öltuch gewickelt, das fest vernäht war. Während des Kampfes hatten sich zwei Kugeln in die große Kiste eingegraben. Sharpe tastete die Löcher ab, spürte die verklumpten Kugeln und dahinter die harte Glätte des Holzes. Er zeichnete mit dem Finger die Konturen der Haspen und Vorhängeschlösser unter dem Öltuch nach. Die Schlösser hatten jene altmodische Kugelform, von der Sharpe wusste, dass man sie binnen weniger Sekunden mithilfe einer Nadel öffnen konnte, wie sie zum Reinigen der Gewehre benutzt wurde.
Er lehnte sich zurück, sodass er auf den Fersen saß, und starrte die Truhe an. Vier Schützen waren ihretwegen gefallen, und es konnte sein, dass noch mehr sterben mussten. Das, entschied Sharpe, gab ihm das Recht zu wissen, was in ihr war. Er wusste, es würde ihm nicht gelingen zu kaschieren, dass die Kiste geöffnet worden war. Aber er gedachte nicht, ihren Inhalt zu stehlen, daher hatte er keine Skrupel, zerrissenes Öltuch und aufgebrochene Schlösser zurückzulassen.
Er griff in die Jackentasche und holte das Klappmesser hervor, das er sonst zum Essen benutzte. Er bog die Klinge auf und streckte die Hand aus, um das Öltuch aufzuschlitzen.
»Eine Berührung, Engländer, und Sie sterben.«
Sharpe wandte sich nach rechts. Von der kleinen, dunklen Öffnung klang das Schnappen eines Pistolenschlosses herüber.
»Major?«
»Die Kranken konnten von diesem Fenster aus die Messe miterleben, Lieutenant«, ertönte Vivars Stimme aus der Finsternis. »Ein guter Platz für einen Wachtposten.«
»Was bewacht der Posten?«
»Nur Papiere.« Vivars Stimme war kalt. »Stecken Sie Ihr Messer ein, Lieutenant, und bleiben Sie, wo Sie sind.«
Sharpe gehorchte. Gleich darauf erschien der Major am Kirchenportal. »Tun Sie das nicht noch einmal, Lieutenant. Ich bin bereit zu töten, um den Inhalt der Truhe zu schützen.«
Sharpe kam sich vor wie ein kleiner Junge, der von einem Wachmann ertappt worden ist, aber er versuchte, die Konfrontation durchzustehen. »Papiere?«
»Papiere«, bestätigte Vivar mit tonloser Stimme. Er blickte zum Himmel auf, wo silbern angehauchte Wolken rasch am Mond vorbeizogen. »Dies ist keine Nacht zum Töten, Engländer. Die estadeas sind auch so schon rastlos genug.« Er kam den Mittelgang entlang. »Nun, ich finde, Sie sollten versuchen zu schlafen. Wir haben morgen einen weiten Weg vor uns.«
Sharpe ging beschämt an Vivar vorbei zum Portal. Mit einer Hand am Pfosten drehte er sich noch einmal nach der Kiste um. Vivar wandte ihm den Rücken zu und war vor der geheimnisvollen Schatztruhe in die Knie gegangen.
Sharpe, dem es peinlich war, einem Mann beim Beten zuzusehen, zögerte.
»Ja, Lieutenant?« Vivar hatte sich nicht umgedreht.
»Haben Ihnen Ihre Gefangenen verraten, wer der Gardeoffizier ist? Der Mann in Rot, der sie hierher geführt hat?«
»Nein, Lieutenant.« Die Stimme des Spaniers klang sehr geduldig, als würde er mit seiner Antwort auf die Launen eines Kindes eingehen. »Es ist mir nicht eingefallen, danach zu fragen.«
»Oder der Mann in Schwarz? Der Zivilist?«
Vivar verharrte einen Augenblick lang schweigend. »Kennt etwa der Wolf die Namen der Hunde?«
»Wer ist er, Major?«
Die Perlen des Rosenkranzes klickten. »Gute Nacht, Lieutenant.«
Sharpe wusste, dass es hier keine Antworten zu holen gab, nur weitere Rätsel, die es an Flüchtigkeit mit den estadeas aufnehmen konnten. Er zog das rauchgeschwärzte Portal halb zu. Dann legte er sich auf sein kaltes Bett auf dem blanken Erdboden und lauschte, wie in der gespenstischen Nacht der Wind seufzte. Irgendwo heulte ein Wolf, und eines der erbeuteten Pferde wieherte leise. In der Kirche betete ein Mann. Sharpe aber schlief.