»Niederlagen«, sagte Blas Vivar, »zerstören die Disziplin. Man bringt einer Armee bei, zu marschieren, zu kämpfen, Befehle zu befolgen.« Jede dieser Tugenden wurde mit einem Abschlag des Rasiermessers betont, wobei Seifenwasser auf den Küchenboden spritzte. »Aber die Niederlage«, er zuckte mit den Schultern, »löst alle Ordnung auf.«
Sharpe, der seine Wunde am Arm hatte verarzten lassen, war sich darüber im Klaren, dass der Spanier nach Entschuldigungen für das unwürdige Schauspiel in dem verfallenen Gehöft suchte. Das war zwar freundlich von ihm, aber Sharpe war nicht auf Freundlichkeit eingestimmt. Außerdem fiel ihm keine Erwiderung ein.
»Hinzu kommt, dass dieses Gehöft Unglück bringt«, sagte Vivar, der sich wieder der Spiegelscherbe zuwandte, die er auf dem Fenstersims platziert hatte. »Das war schon immer so, zu Lebzeiten meines Großvaters hat es hier einen Mord gegeben. Natürlich war eine Frau im Spiel. Und zu Zeiten meines Vaters hat hier jemand Selbstmord begangen.« Er bekreuzigte sich mit dem Rasiermesser, dann rasierte er sorgfältig unterm Kinn aus. »Hier spukt es, Lieutenant. Bei Nacht lassen sich Gespenster sehen. Ein Ort des Grauens. Was für ein Glück, dass ich Sie gefunden habe. Wollen Sie das Rasiermesser benutzen?«
»Ich habe selbst eins.«
Vivar trocknete die Klinge ab und verstaute sie zusammen mit dem Spiegel in einem Lederetui. Dann sah er nachdenklich zu, wie Sharpe Bohnen und Schweineohren löffelte, die der Dorfpriester zum Abendessen serviert hatte. »Glauben Sie«, fragte Vivar leise, »dass die Dragoner nach Ihrem Scharmützel dem britischen Heer gefolgt sind?«
»Ich habe nichts gesehen.«
»Hoffen wir, dass sie es getan haben.« Vivar schöpfte etwas von dem Gericht auf den eigenen Teller. »Vielleicht glauben sie, ich hätte mich dem britischen Rückzug angeschlossen, was meinen Sie?«
»Kann sein.« Sharpe fragte sich, warum Vivar so starkes Interesse an den französischen Dragonern zeigte, die von dem Gardeoffizier in der roten Pelisse und dem schwarz gekleideten Zivilisten angeführt wurden. Er hatte Sharpe eifrig nach jedem Detail des Kampfes an der Brücke ausgefragt, aber das besondere Interesse des Spaniers galt der Richtung, die die feindlichen Reiter nach der Auseinandersetzung eingeschlagen hatten. Sharpe konnte jedoch als Antwort auf seine Fragen nur die Mutmaßung bieten, sie hätten anschließend die Verfolgung von Sir John Moores Heer aufgenommen.
»Wenn Sie recht haben, Lieutenant ...«, Vivar hob seinen Weinbecher zu einem ironischen Trinkspruch, »... ist das die beste Nachricht, die ich in den letzten zwei Wochen erhalten habe.«
»Warum waren sie hinter Ihnen her?«
»Sie waren nicht hinter mir her«, sagte Vivar. »Sie sind hinter allem her, was eine Uniform anhat. Vor zwei Tagen sind sie mir zufällig auf die Spur gekommen. Ich möchte nur sichergehen, dass sie nicht im nächsten Tal auf mich warten.« Vivar erklärte Sharpe, er sei in westlicher Richtung unterwegs gewesen und habe, als er in die Berge abgedrängt wurde, sowohl alle Pferde als auch eine beträchtliche Zahl seiner Männer eingebüßt. Erst das verzweifelte Bedürfnis nach Nahrung und Zuflucht habe ihn in dieses kleine Dorf getrieben.
Nahrung hatte man ihm bereitwillig gegeben. Als die Soldaten in die kleine Siedlung einmarschierten, war Sharpe aufgefallen, wie froh die Dorfbewohner waren, Major Blas Vivar zu sehen. Einige der Männer hatten sogar versucht, dem Major die Hand zu küssen, während der Dorfpriester aus seinem Haus geeilt war und die Frauen angewiesen hatte, ihre Herde zu befeuern und an ihre Wintervorräte zu gehen. Die Soldaten, spanische ebenso wie britische, wurden herzlich willkommen geheißen. »Mein Vater«, erklärte Vivar nun Sharpe, »war der Herr dieses Berglands.«
»Heißt das, Sie sind von Adel?«
»Ich bin der jüngere Sohn. Mein Bruder ist der neue Graf.« Vivar bekreuzigte sich, als er seinen Bruder erwähnte, und Sharpe sah darin eine besondere Respektsbezeugung. »Ich bin natürlich ein Hidalgo«, fuhr Vivar fort, »deshalb nennen mich die Leute Don Blas.«
Sharpe zuckte mit den Schultern. »Hidalgo?«
Vivar verbarg höflich seine Überraschung über Sharpes Unwissenheit. »Ein Hidalgo, Lieutenant, ist ein Mann, der seine Abstammung auf die alten Christen Spaniens zurückführen kann. Reines Blut, Sie verstehen schon, das nicht durch Mauren- oder Judenblut besudelt ist. Ich bin ein Hidalgo.« Er sagte dies mit schlichtem Stolz und natürlichem Selbstbewusstsein. »Und Ihr Vater? Ist er auch von Adel?«
»Ich weiß nicht, wer mein Vater ist oder war.«
»Sie wissen nicht ...« Vivar reagierte zunächst mit Neugier, dann veranlasste ihn der Gedanke an eine uneheliche Geburt, das Thema fallen zu lassen. Es war nicht zu übersehen, dass Sharpes Ansehen in den Augen des Spaniers noch mehr gesunken war. Der Major spähte aus dem Fenster, beurteilte den Sonnenstand. »Und was werden Sie jetzt unternehmen, Lieutenant?«
»Ich gehe nach Süden. Nach Lissabon.«
»Dann suchen Sie sich ein Schiff in die Heimat?«
Sharpe ging nicht auf den Anflug von Verachtung ein, der andeuten sollte, dass er sich dem Konflikt entziehe. »Dann suche ich mir ein Schiff in die Heimat«, bestätigte er.
»Besitzen Sie denn eine Landkarte?«
»Nein.«
Vivar brach ein Stück Brot ab, um damit die Soßenreste aufzunehmen. »Sie werden feststellen, dass es in diesem Bergland keine Straßen in den Süden gibt.«
»Überhaupt keine?«
»Keine, die im Winter passierbar wären, gewiss nicht in diesem Winter. Sie müssen in östlicher Richtung nach Astorga gehen oder in westlicher Richtung ans Meer, ehe Sie eine offene Straße nach Süden finden.«
»Die Franzosen sind doch im Osten?«
»Die Franzosen sind überall.« Vivar lehnte sich zurück und sah Sharpe unverwandt an. »Ich wende mich nach Westen. Wollen Sie sich mir anschließen?«
Sharpe wusste, dass es schlecht bestellt war um seine Chancen, in diesem seltsamen Land zu überleben. Er besaß keine Karte, verstand kein Spanisch und hatte nur eine ungefähre Vorstellung von der Geografie dieses Landes. Andererseits verlangte es Sharpe nicht danach, sich mit diesem aristokratischen Spanier zusammenzutun, der seine Blamage mit angesehen hatte. Einen vernichtenderen Beweis für das Versagen der Autorität eines Offiziers konnte es nicht geben, als bei einer Rauferei mit einem seiner eigenen Männer erwischt zu werden, und das Schandgefühl ließ ihn zögern.
»Oder spielen Sie etwa mit dem Gedanken, sich zu ergeben?«, fragte Vivar schroff.
»Niemals.« Sharpes Antwort war nicht minder schroff.
Sein unerwartet bestimmter Tonfall entlockte dem Spanier ein Lächeln. Dann spähte Vivar erneut aus dem Fenster. »Wir brechen in einer Stunde auf, Lieutenant. Heute Nacht überqueren wir die Hauptstraße, und das muss im Schutz der Dunkelheit geschehen.« Er wandte sich wieder dem Engländer zu. »Unterwerfen Sie sich meinem Kommando?«
Und Sharpe, dem wahrhaft nichts anderes übrig blieb, willigte ein.
Was Sharpe am meisten ärgerte, war, dass seine Rifles Vivars Kommando augenblicklich akzeptierten. In der Abenddämmerung traten die Grünjacken im zertrampelten Schnee vor der winzigen Kirche an und lauschten den Erklärungen des Spaniers. Es sei töricht, sagte Vivar, zu versuchen, sich nach Norden durchzuschlagen, denn dort sei der Feind auf dem Vormarsch, um die Häfen an der Küste abzusichern. Zu versuchen, das zurückweichende britische Heer einzuholen, sei ebenso töricht, denn das hieße, den Franzosen auf den Fersen zu bleiben, und der Feind hätte nur kurz kehrtmachen müssen, um sie gefangen zu nehmen. Der beste Fluchtweg sei der nach Süden, aber zunächst sei es erforderlich, nach Westen zu marschieren. Sharpe beobachtete die Gesichter der Rifles und empfand einen Moment lang regelrechten Hass auf sie, weil sie so bereitwillig und verständnisvoll nickten.
Deshalb müssten sie, fuhr Vivar fort, in dieser Nacht die Straße überqueren, auf der die Hauptstreitmacht der Franzosen anrücke. Er bezweifle, dass die Straße besetzt sei, aber die Schützen müssten sich auf eine kurze Auseinandersetzung gefasst machen. Er wisse, dass sie zu kämpfen verstünden. Schließlich seien sie die vielgerühmten britischen Grünjacken. Er sei stolz, an ihrer Seite kämpfen zu können. Sharpe sah die Rifles grinsen. Außerdem sah er, dass Vivar die lockere Art eines geborenen Offiziers hatte, und einen Moment lang hasste Sharpe auch ihn.
Schütze Harper fehlte bei diesem Appell. Der Ire stand unter Arrest. Sharpe hatte befohlen, ihm zunächst die Hände zusammenzuschnüren und ihn dann mit einem Seil am Schwanz eines Maultiers festzubinden, das der Major bei einem der Dorfbewohner aufgetrieben hatte. Das Maultier trug eine große, vierkantige Truhe, die in Öltuch gewickelt war und von vier spanischen Soldaten aus Vivars Truppe bewacht wurde, die nun auch noch den Gefangenen zu bewachen hatten.
»Er stammt aus Irland?«, erkundigte sich Vivar bei Sharpe.
»Ja.«
»Ich habe viel für die Iren übrig. Was werden Sie mit ihm anfangen?«
»Ich weiß nicht.« Sharpe hätte Harper am liebsten auf der Stelle erschießen lassen, aber dann hätte sich die Abneigung der übrigen Schützen in blanken Hass verwandelt. Überdies hätte er, wenn er die ausgeklügelten Disziplinarverfahren des Heeres umgangen und ihn einfach erschossen hätte, eine Missachtung der Autorität bewiesen, die ebenso schwerwiegend war wie jene, um derentwillen Harper bestraft werden musste.
»Kämen wir nicht schneller voran, wenn man ihn losbinden würde?«, fragte Vivar.
»Sie wollen ihn wohl ermutigen, zu den Franzosen überzulaufen?«
»Die Disziplin Ihrer Männer ist Ihre Sache«, sagte Vivar taktvoll und unterstellte damit, dass Sharpe die ganze Angelegenheit falsch angepackt habe.
Sharpe gab vor, den Tadel zu überhören. Er wusste, dass der Spanier ihn verachtete, denn bisher hatte Vivar bei Sharpe nichts als Inkompetenz entdeckt, ein Eindruck, der durch den Kontrast zu seiner eigenen mühelosen Autorität noch verschärft wurde. Vivar hatte die britischen Soldaten nicht nur aus ihrer unsicheren Zuflucht in dem verfallenen Gehöft erlöst, sondern auch von ihrem Offizier, und jeder Schütze in dieser zusammengewürfelten Truppe war sich dieser Tatsache bewusst.
Sharpe stand isoliert da, während sich die Soldaten für den Marsch zu Kompanien formierten. Die Spanier sollten vorausgehen, dann sollte das Maultier mit seiner kastenförmigen Last folgen, und die Schützen würden die Nachhut bilden. Sharpe wusste, er hätte etwas zu seinen Männern sagen müssen, er hätte ihnen Mut zusprechen oder ihre Ausrüstung inspizieren oder sonst etwas tun müssen, das seine Autorität bekräftigte, aber er hatte nicht den Mut, sich ihren spöttischen Blicken zu stellen, und hielt sich von ihnen fern.
Major Vivar merkte offenbar nichts von Sharpes Verdruss. Er trat zu dem Dorfpriester und kniete vor ihm im Schnee nieder, um sich segnen zu lassen. Dann ließ er sich von dem Priester einen kleinen Gegenstand überreichen. Worum es sich handelte, konnte Sharpe allerdings nicht erkennen.
Die Nacht war bitterkalt. Der spärliche Schneefall hatte bei Sonnenuntergang aufgehört. Allmählich verzogen sich auch die Wolken am östlichen Horizont und offenbarten kaltes Sternengefunkel. Ein böiger Wind peitschte den gefallenen Schnee zu luftigen Fantasiegebilden auf, die sich glitzernd über dem Pfad auftürmten, auf dem sich die Männer wie Tiere auf dem Weg zur Schlachtbank dahinschleppten. Ihre Gesichter waren zum Schutz gegen die gnadenlose Kälte in Lumpen gehüllt, und ihre Tornister rieben ihnen die Schultern wund. Nur Major Vivar schien unerschöpfliche Energie zu besitzen. Er schritt ein ums andere Mal die Marschsäule ab, ermutigte die Männer auf Spanisch oder Englisch und versicherte ihnen, sie seien die besten Soldaten der Welt. Sein Enthusiasmus wirkte ansteckend und nötigte Richard Sharpe, der bemerkte, dass die Kavalleristen ihren Offizier geradezu anbeteten, widerwillige Bewunderung ab.
»Sie sind Galicier.«
Vivar zeigte auf seine Cazadores.
»Aus dieser Region?«, fragte Sharpe.
»Die Besten in Spanien.« Sein Stolz war nicht zu übersehen. »In Madrid verspottet man uns, Lieutenant. Man sagt, wir Galicier wären Bauerntölpel, aber ich führe lieber einen Bauerntölpel in die Schlacht als zehn Männer aus der Stadt.«
»Ich stamme aus einer Stadt«, konterte Sharpe beleidigt.
Vivar lachte, sagte jedoch nichts.
Um Mitternacht überquerten sie die Straße, die zum Meer führte, und entdeckten Anzeichen dafür, dass die Franzosen dort bereits vorbeigekommen waren. Die morastige Oberfläche der Straße war von den Kanonenlafetten zerfurcht worden und dann festgefroren. Zu beiden Seiten zeigten weiße Erhebungen an, wo man Leichen unbestattet zurückgelassen hatte. Kein Feind ließ sich blicken, keine Lichter einer Stadt oder eines Dorfes waren im Tal zu sehen. Die Soldaten waren in der unendlichen weißen Kälte allein.
Eine Stunde darauf gelangten sie an einen Fluss, an dessen Ufern niedrige, kahle Eichen wuchsen. Vivar ging in östlicher Richtung auf Kundschaft, bis er eine Stelle gefunden hatte, wo das eiskalte Wasser flach über ein von Felsen gesäumtes Kiesbett floss, das den erschöpften Männern einen gewissen Halt bot. Ehe er jedoch auch nur einem Mann gestattete, die Überquerung zu versuchen, zog er eine kleine Phiole aus seinem Beutel. Er entkorkte sie, dann träufelte er daraus eine Flüssigkeit in den Fluss. »Jetzt ist die Gefahr gebannt.«
»Gefahr?« Sharpe war verblüfft.
»Weihwasser, Lieutenant. Der Dorfpriester hat es mir gegeben.« Vivar schien anzunehmen, dass diese Erklärung ausreichte, aber Sharpe wollte mehr wissen.
»Natürlich geht es um die Xanas«, sagte der Spanier. Dann drehte er sich um und befahl seinem Sergeant vorauszugehen.
»Xanas?« Sharpe verhaspelte sich beim Aussprechen des seltsamen Wortes.
»Wassergeister.« Vivars Stimme klang todernst. »Sie leben in jedem Wasserlauf, Lieutenant, und können Unheil stiften. Wenn wir sie nicht verjagen würden, könnte es sein, dass sie uns in die Irre führen.«
»Gespenster?« Sharpe konnte sein Erstaunen nicht verbergen.
»Nein. Ein Gespenst, Lieutenant, ist ein Geschöpf, das nicht von der Erde loskommt. Ein Gespenst ist eine gepeinigte Seele, jemand, der sich zu Lebzeiten gegen die heiligen Sakramente vergangen hat. Eine Xana war nie ein Mensch. Eine Xana ist ...«, er zuckte mit den Schultern, »... ein Lebewesen. Wie ein Marder oder eine Wasserratte. Etwas, das im Wasser lebt. So etwas muss es doch in England gewiss auch geben?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Vivar blickte entsetzt drein, dann bekreuzigte er sich. »Wollen Sie als Nächster gehen?«
Sharpe überquerte ungefährdet von bösen Geistern den reißenden Fluss und sah anschließend zu, wie seine Rifles folgten. Sie vermieden es, ihn anzusehen. Sergeant Williams, der den Tornister eines Verwundeten trug, nahm lieber den Weg durch tieferes Wasser, als dort die Böschung zu erklimmen, wo der Offizier stand.
Das Maultier wurde über den Fluss getrieben, und Sharpe fiel auf, mit welcher Umsicht die Soldaten die mit Öltuch umwickelte Truhe bewachten. Er nahm an, dass sie Major Vivars Kleider und Habseligkeiten enthielt. Harper, der immer noch an dem Packtier festgebunden war, spuckte ihm vor die Füße, eine Geste, die zu ignorieren Sharpe vorzog.
»Nun geht es bergan«, sagte Vivar mit einem Anflug von Befriedigung, als müsse man sich auf die bevorstehenden Strapazen freuen.
Sie marschierten bergan. Sie kämpften sich ein steil ansteigendes Tal empor, wo Steine vom Eis glänzten und die Bäume Schnee auf ihre Köpfe herabrieseln ließen. Der Wind frischte auf, und der Himmel bewölkte sich erneut.
Schneeregen setzte ein. Der Wind heulte ihnen um die verhüllten Ohren. Einzelne Männer schluchzten vor Elend und Anstrengung, aber irgendwie hielt Vivar sie auf Trab.
»Aufwärts! Aufwärts! Wo die Kavallerie nicht hinkann, hab ich recht? Weiter! Höher! Gesellen wir uns zu den Engeln! Was ist los mit dir, Marcos? Dein Vater wäre diesen Hang hinaufgetanzt, als er doppelt so alt war wie du! Willst du die Engländer glauben lassen, ein Spanier hätte keine Kraft? Schäm dich! Weitersteigen!«
Gegen Morgengrauen hatten sie einen Bergsattel erreicht. Vivar führte die ermüdeten Männer zu einer Höhle, die von vereisten Lorbeerbäumen verborgen wurde.
»Hier habe ich einen Bären erlegt«, teilte er Sharpe voller Stolz mit. »Ich war zwölf, und mein Vater hat mich auf eigene Faust losgeschickt, einen Bären zu töten.« Er riss einen Zweig ab und warf ihn den Männern zu, die dabei waren, eine Feuerstelle zu errichten. »Das war vor zwanzig Jahren.« Er sagte dies mit einer Art Verwunderung darüber, dass seither so viel Zeit vergangen war.
Sharpe überlegte, dass Vivar genauso alt war wie er selbst, dass er es jedoch, weil er von Adel war, bereits zum Major gebracht hatte, während Sharpe aus der Gosse kam und nur durch eine außergewöhnliche Fügung des Schicksals zum Lieutenant ernannt worden war. Er bezweifelte, dass er eine weitere Beförderung erleben würde. Und angesichts seines Versagens im Umgang mit diesen Grünjacken glaubte er auch nicht, dass er eine Beförderung verdient habe.
Vivar überwachte, wie die Kiste vom Rücken des Maultiers genommen und am Eingang der Höhle abgestellt wurde. Er setzte sich neben sie und legte schützend den Arm um ihren bauchigen Deckel. Seine Haltung gegenüber der Truhe hatte, wie Sharpe nun auffiel, beinahe etwas Ehrfürchtiges. Gewiss, dachte Sharpe, würde kein Mann, nachdem er die eisige Hölle ertragen hatte, durch die Vivar gegangen war, mit so viel Sorgfalt eine Truhe schützen, wenn diese nichts als Kleider enthielt.
»Was ist da drin?«, fragte Sharpe.
»Nur Papiere.« Vivar blickte hinaus in den heranbrechenden Morgen. »Der moderne Krieg bedeutet Papierkrieg, nicht wahr?«
Das war keine Frage, die eine Antwort verlangte, sondern ein Kommentar, der geeignet war, weitere Fragen im Keim zu ersticken. Sharpe stellte jedenfalls keine mehr.
Vivar nahm seinen Dreispitz ab und zog vorsichtig eine halb gerauchte Zigarre aus dem Schweißleder. Er zuckte entschuldigend mit den Schultern, weil er keine weitere Zigarre besaß, die er Sharpe anbieten konnte, dann steckte er sie mithilfe seiner Zunderbüchse an. Der scharfe Tabakgeruch kitzelte Sharpe in der Nase.
»Die hab ich mir aufgehoben«, sagte Vivar, »bis ich der Heimat nahe bin.«
»Sehr nahe?«
Vivar schwenkte die Zigarre so, dass der gesamte Ausblick einbezogen wurde. »Mein Vater hat über dieses ganze Land geherrscht.«
»Werden wir zum Haus Ihres Vaters marschieren?«
»Ich hoffe, Sie vorher noch sicher auf den Weg nach Süden zu bringen.«
Sharpe, den die Neugierde der Armen auf die adligen Reichen plagte, fühlte sich eigenartig enttäuscht. »Ist es ein großes Haus?«
»Welches Haus?«, fragte Vivar trocken. »Es sind drei, und jedes ist groß. Eines ist eine Burg, eines steht in der Stadt Orense und eines auf dem Land. Sie alle gehören meinem Bruder, aber Tomas hat Galicien nie geliebt. Er zieht es vor, dort zu leben, wo es Könige und Höflinge gibt, deshalb kann ich mit seiner stillschweigenden Duldung behaupten, dass diese Häuser mir gehören.«
»Sie Glücklicher«, sagte Sharpe verdrossen.
»Weil ich in einem großen Haus lebe?« Vivar schüttelte den Kopf. »Ihr Haus mag kleiner sein, Lieutenant, aber wenigstens können Sie es Ihr eigen nennen. Meines steht in einem Land, das die Franzosen erobert haben.« Er richtete den Blick auf den Schützen Harper, der immer noch, am Schwanz des Maultiers festgebunden, im feuchten Schnee kauerte. »Genau wie sein Land von den Engländern erobert wurde.«
Die Bitterkeit dieser Anschuldigung überraschte Sharpe, der angefangen hatte, den Spanier zu bewundern, und über seine plötzliche Feindseligkeit aus der Fassung geriet.
Vielleicht war Vivar selbst der Meinung, dass er zu schroff geworden sei, jedenfalls bedachte er Sharpe mit einem reuigen Schulterzucken. »Sie müssen verstehen, die Mutter meiner Gemahlin war Irin. Ihre Familie hatte sich hier niedergelassen, um Ihrer Gerichtsbarkeit zu entgehen.«
»Haben Sie so Englisch gelernt?«
»So und bei guten Lehrern.« Vivar zog an seiner Zigarre. Ein Schneerutsch, ausgelöst von dem Feuer in der Höhle, glitt vom Felsvorsprung über dem Eingang. »Mein Vater war der Ansicht, wir müssten die Sprache des Feindes sprechen«, sagte er mit gequält wirkender Belustigung. »Es erscheint seltsam, dass Sie und ich jetzt auf einer Seite kämpfen sollen, nicht wahr? Ich wurde im Glauben erzogen, die Engländer seien heidnische Barbaren, Feinde Gottes und des wahren Glaubens, und nun muss ich mir einreden, dass sie unsere Freunde sind.«
»Zumindest haben wir dieselben Feinde«, gab Sharpe zur Antwort.
»Vielleicht ist das eine genauere Definition«, stimmte Vivar zu.
Die beiden Offiziere saßen in unbehaglichem Schweigen beisammen. Der Rauch von Vivars Zigarre wirbelte über den Schnee und verschwand im zunehmenden Dunst des Morgengrauens. Sharpe, der das Gefühl hatte, dass dieses Schweigen schwer auf ihnen lastete, fragte den Major, ob seine Gemahlin in einem der drei Häuser auf ihn warte.
Vivar zögerte, ehe er ihm antwortete, und als er es tat, war seine Stimme so trostlos wie das Land, das sie vor sich sahen. »Meine Gemahlin ist vor sieben Jahren gestorben. Ich war damals auf Garnisonsdienst in Florida. Das Gelbfieber hat sie dahingerafft.«
Wie die meisten Männer, denen eine derartige Enthüllung gemacht wird, hatte Sharpe nicht die leiseste Ahnung, wie er reagieren sollte.
»Tut mir leid«, sagte er unbeholfen.
»Sie ist gestorben«, fuhr Vivar unbarmherzig fort, »ebenso meine beiden kleinen Kinder. Ich hatte gehofft, mein Sohn würde hierher zurückkehren, um seinen ersten Bären zu erlegen, wie ich es getan habe, aber Gott hat es anders gewollt.« Wieder herrschte Schweigen, noch unangenehmer als beim ersten Mal. »Und Sie, Lieutenant? Sind Sie verheiratet?«
»Ich kann es mir nicht leisten zu heiraten.«
»Dann suchen Sie sich doch eine reiche Frau«, sagte Vivar mit grimmigem Ernst.
»Keine reiche Frau würde mich haben wollen«, erwiderte Sharpe. Als er daraufhin die Verwirrung im Gesicht des Spaniers sah, erklärte er: »Ich bin nicht in die richtige Familie hineingeboren, Major. Meine Mutter war eine Hure. Was Sie hier eine puta nennen.«
»Ich kenne den Begriff, Lieutenant.« Vivars Tonfall war gefasst, aber er konnte seinen Widerwillen nicht ganz verbergen. »Ich weiß nicht recht, ob ich Ihnen glauben soll«, sagte er schließlich.
Sharpe war aufgebracht durch die Unterstellung, er könne gelogen haben. »Was, zum Teufel, kümmert's mich, was Sie glauben?«
»Vermutlich sollten Sie sich in der Tat nicht darum kümmern.« Vivar steckte sorgsam die Überreste seiner Zigarre weg, dann lehnte er sich mit dem Rücken an die Truhe. »Halten Sie jetzt Wache, Lieutenant, während ich eine Stunde schlafe.« Er zog sich den Hut über die Augen, und Sharpe entdeckte den verwelkten Rosmarinzweig, der an seiner Spitze befestigt war. Vivars Männer trugen samt und sonders einen Rosmarinzweig. Sharpe ging davon aus, dass es sich um eine Regimentstradition handelte.
Weiter unten regte sich der Ire. Sharpe hoffte, dass die Kälte Harper bis ins Mark drang. Er hoffte, dass ihm die gebrochene Nase, die unter einem vom Schnee weiß verfärbten Schal verborgen war, höllische Schmerzen bereite. Als habe er diese bösen Gedanken wahrgenommen, drehte sich Harper um und starrte den Offizier an. Der Ausdruck seiner Augen unter den vereisten Brauen machte Sharpe klar, dass er sich, solange Harper lebte und die Nächte dunkel waren, in Acht nehmen musste.
Zwei Stunden nach Morgengrauen ging der Schneeregen in einen Dauerregen über, der Rinnen in den Schnee pflügte, von den Bäumen tropfte und die weiße Welt in eine graue, schmutzige Stätte kalten Elends verwandelte. Die Truhe wurde wieder auf das Maultier gehoben, zu beiden Seiten wurden Bewacher postiert. Harper, dem man schließlich doch noch erlaubt hatte, in der Höhle Schutz zu suchen, wurde erneut am Schwanz des Tieres festgebunden.
Der Weg verlief nun bergab. Die Männer folgten dem Bett eines Baches, der dem Boden eines ausladenden Tals entgegenrieselte, dessen Weite die einhundert Soldaten nur noch wie winzige dunkle Punkte erscheinen ließ. Vor ihnen lag ein weiteres, tieferes Tal, das quer zu dem ersten lag. Es bildete eine immense Fläche aus Wind und nassem Schnee.
»Dieses Tal überqueren wir«, erläuterte Vivar, »steigen am anderen Ende in die Berge hinauf und dann wieder hinab, bis wir die Pilgerstraße erreichen. Sie wird Sie nach Westen führen, zur Küstenstraße.«
Jetzt zogen die beiden Offiziere ihre Fernrohre hervor, um das weite Tal abzusuchen. Keine Reiter tummelten sich dort, kein einziges Lebewesen durchbrach die graue Monotonie der Landschaft.
»Was hat es mit der Pilgerstraße auf sich?«, fragte Sharpe.
»Das ist die Straße nach Santiago de Compostela. Sie haben davon gehört?«
»Noch nie.«
Vivar war sichtbar aufgebracht über die Unwissenheit des Engländers. »Aber vom heiligen Jakobus haben Sie gehört?«
»Kann sein.«
»Er war ein Apostel, Lieutenant, und er ist in Santiago de Compostela begraben. Santiago heißt er hier. Er ist der Schutzheilige Spaniens, und in alter Zeit haben Abertausende von Christen seinen Schrein besucht. Nicht nur Spanier, sondern Gläubige der gesamten Christenheit.«
»In alter Zeit?«, wiederholte Sharpe.
»Einige wenige pilgern heute noch dorthin, aber die Welt ist nicht mehr, was sie einmal war. Der Teufel durchstreift ungehindert das Land, Lieutenant.«
Sie wateten durch einen Bach, und Sharpe fiel auf, dass Vivar diesmal keine Vorsichtsmaßnahmen gegen die Wassergeister ergriff. Er fragte, warum, und der Spanier erklärte, die Xanas seien nur des Nachts lästig.
Sharpe konnte nicht umhin, mit Spott auf diese Zusicherung zu reagieren. »Ich habe nachtsüber schon tausend Bäche überquert und bin nie belästigt worden.«
»Woher wissen Sie das? Möglicherweise sind Sie daraufhin tausendmal vom rechten Weg abgekommen! Sie gleichen einem Blinden, der beschreibt, was Farbe ist!«
Sharpe hörte die Verärgerung des Spaniers, gab jedoch nicht nach. »Möglicherweise wird man nur belästigt, wenn man an die Geister glaubt. Ich glaube nicht an sie.«
Vivar spuckte nach rechts und links aus, um das Böse zu bannen. »Wissen Sie, wie Voltaire die Engländer genannt hat?«
Sharpe hatte noch nicht einmal von Voltaire gehört, aber ein einfacher Mann, der in die Offiziersmesse aufgestiegen ist, lernt, seine Unwissenheit zu verbergen. »Sicherlich wird er uns verehrt haben.«
Vivar grinste höhnisch über diese Bemerkung. »Er hat gesagt, die Engländer seien ein gottloses Volk. Ich denke, das ist wahr. Glauben Sie an Gott, Lieutenant?«
Sharpe nahm die Intensität wahr, mit der die Frage gestellt wurde, schaffte es jedoch nicht, entsprechend großes Interesse aufzubringen. »Darüber mache ich mir keine Gedanken.«
»Sie machen sich darüber keine Gedanken?« Vivar war entsetzt.
Sharpe versteifte sich. »Warum, zum Teufel, sollte ich?«
»Weil ohne Gott nichts möglich ist. Nichts, nichts, nichts!« Ungestüm und wild brach es plötzlich aus dem Spanier hervor. »Nichts!«, rief er wieder, sodass die erschöpften Männer erschraken und sich die Hälse verrenkten, um zu sehen, was diesen Ausbruch hervorgerufen hatte.
Die beiden Offiziere gingen in peinlichem Schweigen nebeneinander her, beschmutzten mit ihren Stiefeln ein jungfräuliches Schneefeld. Der Schnee war vom Regen zerfurcht und verfärbte sich gelblich, wo immer er taute und in Abflussgräben rann.
Zwei Meilen rechts von ihnen lag ein Dorf, aber Vivar hatte es jetzt eilig und war nicht bereit, einen Umweg zu machen. Sie passierten eine Baumreihe, und Sharpe fragte sich, warum der Spanier es nicht für nötig gehalten hatte, Spähtrupps vorauszuschicken. Er nahm an, Vivar sei sicher, dass kein Franzose fern der Hauptstraßen bis hierher vorgedrungen war. Er wollte ihn nicht danach fragen, denn die Atmosphäre zwischen ihnen war ohnehin angespannt genug.
Sie durchquerten das noch breitere Tal und machten sich erneut an den Aufstieg. Vivar benutzte Pfade, die er seit seiner Kindheit kannte. Diese Pfade verbanden die vereisten Felder mit einer gefährlichen Gebirgsstraße, die in halsbrecherischem Zickzack den steilen Hang hinaufführte. An einem Schrein am Wegrand bekreuzigte sich Vivar. Seine Männer und die Iren unter den Grünjacken folgten seinem Beispiel. Fünfzehn Iren waren es, fünfzehn Unruhestifter, die Sharpe schon um des Schützen Harper willen hassen mussten.
Sergeant Williams war offenbar auf den gleichen Gedanken gekommen, denn er schloss zu Sharpe auf und ging einfältig grinsend im Gleichschritt neben ihm her.
»'s war nicht die Schuld von Harps, Sir.«
»Was war nicht seine Schuld?«
»Was gestern passiert is', Sir.«
Sharpe war sich darüber im Klaren, dass der Sergeant versuchte, Frieden zu schließen, aber seine Verlegenheit darüber, dass er seine Würde eingebüßt hatte, ließ seine Antwort schroff ausfallen.
»Willst du damit sagen, ihr wärt euch einig gewesen?«
»Jawohl, Sir.«
»Ihr habt euch geeinigt, einen Offizier umzubringen?«
Williams zuckte unter dieser Anschuldigung zusammen. »So war's nicht, Sir.«
»Komm mir nicht mit Ausflüchten, du Halunke! Wenn ihr euch einig wart, Sergeant, verdient ihr samt und sonders die Peitsche, selbst wenn keiner von euch den Schneid hatte, Harper zu Hilfe zu kommen.«
Williams gefiel die Unterstellung nicht, er sei feige. »Harps hat darauf bestanden, es allein zu tun, Sir. Er hat gesagt, er will einen fairen Kampf oder gar keinen.«
Sharpe war zu wütend, um sich von diesem kuriosen Einblick in den Ehrenkodex eines Meuterers beeindrucken zu lassen. »Soll ich über ihn vielleicht Tränen vergießen?« Er wusste, er hatte diese Männer falsch angepackt, ganz und gar falsch, aber er wusste nicht, wie er sich sonst hätte verhalten sollen. Vielleicht hatte Captain Murray ja recht gehabt. Möglicherweise musste man wirklich zum Offizier geboren sein, vielleicht war eine vornehme Geburt notwendig, um wie Vivar mühelos Autorität auszustrahlen. In seiner Verstimmung begann Sharpe, die Grünjacken anzuschnauzen, die auf der nassen Straße an ihm vorbeischlurften.
»Schluss mit der Bummelei! Ihr seid, verdammt noch mal, Soldaten, nicht geschniegelte Chorknaben. Hebt eure verdammten Füße! Bewegung!«
Und sie bewegten sich. Einer der Grünjacken murmelte ein Kommando, und die Übrigen fielen in Gleichschritt mit geschulterten Waffen und marschierten, wie nur die leichte Infanterie marschieren konnte. Sie zeigten dem Lieutenant, dass sie immer noch die Besten waren. Sie zeigten ihm ihre Verachtung, indem sie ihr Können bewiesen, und Major Vivars gute Laune wurde durch diese arrogante Demonstration wieder hergestellt. Er sah zu, wie die Grünjacken seine Männer beiseite drängten, dann rief er ihnen zu, sie sollten langsamer gehen und wieder ihren Platz am Schluss der Kolonne einnehmen. Er lachte immer noch, als Sharpe ihn eingeholt hatte.
»Sie hören sich an wie ein Sergeant, Lieutenant«, sagte Vivar.
»Ich war einmal Sergeant. Ich war der beste gottverdammte Sergeant im gesamten gottverdammten Heer.«
Der Spanier war verblüfft. »Sie waren früher Sergeant?«
»Glauben Sie etwa, man würde dem Sohn einer Hure gestatten, gleich als Offizier anzufangen? Ich war Sergeant und davor war ich Schütze.«
Vivar starrte den Engländer an, als seien ihm plötzlich Hörner gewachsen. »Ich wusste gar nicht, dass man bei Ihrem Heer aus den Mannschaften befördert werden kann.« Der ganze Zorn, den er noch vor kaum einer Stunde gegenüber Sharpe empfunden hatte, verpuffte zu schierer Neugier.
»Es kommt selten vor. Aber Männer wie ich werden niemals echte Offiziere, Major. Beförderung, verstehen Sie, ist die Belohnung für Torheit. Dafür, dass man geradezu idiotisch tapfer ist. Und dann machen sie uns zum Drillmeister oder Quartiermeister. Sie glauben, diese Aufgaben könnten wir bewältigen. Ein Kommando an der Front bekommen wir nicht.« Sharpes Erbitterung drohte an diesem kalten Morgen auszuufern. Er sagte sich, dass er dabei war, ein von Selbstmitleid geprägtes Geständnis zu machen, das diesem kompetenten spanischen Offizier die Erklärung für sein Versagen lieferte. »Sie glauben, wir würden allesamt dem Trunk verfallen, und vielleicht ist dem auch so. Wer ist schon gern Offizier?«
Aber Vivar war an Sharpes Misere nicht interessiert. »Demnach haben Sie viele Schlachten erlebt?«
»In Indien.«
Vivar begann, seine Meinung über Sharpe zu ändern. Bisher hatte er den Engländer als alternden, erfolglosen Lieutenant gesehen, dem es nicht gelungen war, sich eine Beförderung zu erkaufen oder gar zu verdienen. Nun erkannte er, dass Sharpes Beförderung außergewöhnlich gewesen sein musste, dass sie mehr bedeutete, als sich ein gemeiner Mann erträumen konnte. »Kämpfen Sie gern?«
Sharpe fand diese Frage seltsam, aber er beantwortete sie, so gut er konnte. »Auf etwas anderes verstehe ich mich nicht.«
»Dann werden Sie, glaube ich, einen guten Offizier abgeben, Lieutenant. Es wird noch viele Kämpfe geben, ehe Napoleon hinab in die Hölle geschickt wird, um da zu braten.«
Sie stiegen eine weitere Meile bergan, bis der Hang flacher wurde und die Soldaten zwischen riesigen Felsbrocken marschierten, die sich über der Straße auftürmten.
Vivar, der ihm gegenüber wieder freundlich gestimmt war, erzählte Sharpe, dass in diesem Hochland, wo die Adler nisteten, dereinst eine Schlacht stattgefunden habe. Die Mauren hätten eben diese Straße benutzt und die christlichen Bogenschützen hätten ihnen in den Felsen zu beiden Seiten aufgelauert.
»Wir haben sie zurückgedrängt und dafür gesorgt, dass die Straße nach ihrem eigenen Blut stank.« Vivar starrte zu den aufragenden Findlingen empor, als enthalte das Gestein noch den Nachhall der Schreie sterbender Heiden. »Das muss vor nahezu neunhundert Jahren gewesen sein.« Er aber sprach, als sei es gestern gewesen, als sei er persönlich mit dem Schwert in die Schlacht gezogen. »Jedes Jahr zelebrieren die Dorfbewohner eine Messe zum Andenken an dieses Ereignis.«
»Demnach gibt es hier ein Dorf?«
»Eine Meile jenseits der Schlucht. Dort können wir Rast machen.«
Sharpe sah, was für einen ausgezeichneten Ort für einen Hinterhalt das Flusstal abgab. Die christlichen Heerscharen mussten in ihrem Versteck zwischen den hohen Felsen den Ausblick eines Adlers auf die Straße und die Mauren gehabt
haben, die in die Schlucht hinaufgeklettert waren, mussten jeden Schritt ihres Weges ins Schussfeld der tödlichen Pfeile beobachtet haben.
»Und woher wissen Sie, dass die Franzosen uns nicht dort erwarten?« Ermutigt durch Vivars neu erwachte Freundlichkeit, warf er endlich die Frage auf, die ihm seit einiger Zeit zu schaffen machte. »Wir haben keine Vorposten.«
»Weil die Franzosen nicht so weit ins spanische Hinterland eingedrungen sein können«, sagte Vivar voller Zuversicht, »und wenn doch, hätten die Dorfbewohner auf allen Wegen Warnungen ausgesandt, und selbst wenn wir diese Warnungen nicht erhalten hätten, würden wir doch die Pferde der Franzosen riechen.« Die Franzosen pflegten ihre Kavalleriepferde rücksichtslos wundzureiten, bis sich die aufgeriebenen Stellen an Sattel und Kruppe mit ihrem Gestank meilenweit bemerkbar machten. »Eines Tages«, fügte Vivar gut gelaunt hinzu, »werden die Franzosen ihr letztes Pferd zu Tode gepeitscht haben, und wir werden ihr widerwärtiges Land niederreiten.« Der Gedanke verlieh ihm frische Energie, und er wandte sich sogleich an die marschierenden Männer. »Nun ist es nicht mehr weit, bis ihr euch ausruhen könnt!«
In diesem Moment eröffneten oberhalb der Schlucht, in der die Mauren in den Hinterhalt geraten waren, dort, wo Sharpe vor sich den Weg erkennen konnte, der zur Pilgerstraße hinabführte, die Franzosen das Feuer.