KAPITEL 17

Der Schuss kündete nicht vom Eintreffen de l'Eclins, sondern vom Herannahen einer Patrouille der Cazadores. Ihre Pferde waren in Blut und Schweiß gebadet, so heftig hatten sie von der Peitsche Gebrauch gemacht. Vivar, der Sharpe begleitet hatte, übersetzte die Nachricht der Patrouille. »Sie haben französische Dragoner gesehen.«

»Wo?«

»Etwa zwei Meilen in Richtung Südwest.«

»Wie viele?«

»Hunderte.« Vivar übersetzte den eifrigen Bericht seiner Patrouille. »Die Franzosen haben sie verfolgt, und es war reines Glück, dass sie entkommen sind.« Er hörte zu, als weitere aufgeregte Worte fielen. »Und sie haben den Gardejäger gesehen.« Vivar lächelte. »So! Wir wissen, wo sie im Augenblick sind. Nun müssen wir sie nur noch von der Stadt fernhalten.«

»Ja.« Die Nachricht, dass der Feind endlich nahte, lenkte Sharpe von seinen bösen Vorahnungen ab. Seine Nervosität hatte sich hauptsächlich auf Oberst de l'Eclins Gerissenheit konzentriert, doch das prosaische Wissen, auf welcher Straße der Feind herankam und wie weit seine Streitmacht noch entfernt war, ließ ihn als eine weniger dämonische Macht erscheinen.

Vivar folgte den erschöpften Reitern durch die Bresche in der Barrikade. »Hören Sie die Hämmer?«, rief er zurück.

»Hämmer?« Sharpe runzelte die Stirn, dann hörte er tatsächlich das Echo von Hammerschlägen auf Ambossen. »Fußangeln?«

»Ich werde sie Ihnen schicken, Lieutenant.« Vivar machte sich bergan auf den Weg. »Viel Spaß!«

Sharpe sah dem Major nach, dann folgte er einer Eingebung, schlängelte sich um die Barrikade herum und rannte ihm die gepflasterte Straße entlang nach. »Sir?«

»Lieutenant?«

Sharpe vergewisserte sich, dass seine Männer ihn nicht hören konnten. »Ich möchte mich dafür entschuldigen, was in der Taverne vorgefallen ist, Sir. Ich ...«

»Was für eine Taverne? Ich war den ganzen Tag noch nicht in einer Taverne. Morgen vielleicht, wenn wir diesen Hundesöhnen entkommen sind, werden wir uns eine Taverne suchen. Aber heute?« Vivars Gesicht war todernst. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Lieutenant.«

»Jawohl, Sir. Danke, Sir.«

»Es gefällt mir nicht, wenn Sie mich ›Sir‹ nennen«, sagte Vivar lächelnd. »Das bedeutet, dass Sie nicht streitlustig sind. Aber ich brauche Sie in streitlustiger Stimmung, Lieutenant. Ich muss sicher sein, dass die Franzosen sterben werden.«

»Sie werden sterben, Sir.«

»Sie haben Männer in den Häusern postiert?« Vivar meinte die Häuser an der Straße außerhalb der Stadtgrenzen.

»Jawohl, Sir.«

»Sie können uns dort nicht vor einem Angriff aus dem Westen verteidigen, oder?«

»Er wird nicht von Westen her erfolgen, Sir. Wir werden den Feind als Erstes im Westen zu sehen bekommen, aber angreifen wird er von Süden her.«

Es war nicht zu übersehen, dass Vivar über Sharpes Vorkehrungen nicht glücklich war, aber er hatte Vertrauen in das Können des Schützen, und dieses Vertrauen veranlasste ihn, seinen Protest herunterzuschlucken.

»Sie sind der typische britische Soldat«, sagte er, »sprechen von Tavernen, wenn Sie zu arbeiten haben.« Er lachte und wandte sich ab.

Mit dem Gefühl, dass ihm verziehen sei, kehrte Sharpe auf die befestigte Hügelkuppe zurück, wo hinter einer Brustwehr aus Gestrüpp, das zwischen drei Baumstümpfen verteilt worden war, zwei Dutzend Schützen warteten. Sie hatten von der Hügelkuppe eine schöne Aussicht, aber Sharpe war überzeugt, dass dieser stark besetzte Wachtposten, sobald der Feind zum Angriff übergegangen war, hinunter in die Häuser beordert werden musste, wo die übrigen Rifles warteten. Der Angriff würde im Süden erfolgen, nicht im Westen.

»Ihr habt den Major gehört!«, ermahnte er die Schützen. »Die Schweinehunde sind im Anmarsch! Noch eine Stunde, dann sind sie da.«

Tatsächlich sollte es fast noch drei Stunden dauern. Drei Stunden wachsender Besorgnis, dass die Dragoner etwas Gemeines im Schilde führen könnten, drei Stunden, während deren die ersten klirrenden Säcke voller Fußangeln auf die Hügelkuppe gebracht wurden. Erst dann gaben die beiden Cazadores, die am Rand der Senke postiert waren, ihren Pferden die Sporen und kamen zurück in die Stadt geritten. »Dragóns! Dragóns!« Sie hoben die Hände über den Kopf, um die Form französischer Helme nachzuzeichnen, und zeigten gen Westen in die Senke.

»Sí!«, rief Sharpe. »Gracias!«

Die Rifles, von denen sich einige über die bösartigen kleinen Dorne der Fußangeln amüsiert hatten, bezogen wieder hinter den Barrikaden Stellung. Die Landschaft blieb leer. Sharpe hielt Ausschau nach Süden, erwartete den Rückzug der anderen nahen Patrouille zu sehen, doch die Cazadores, die abgeordnet worden waren, den südlichen Zugang zur Stadt zu bewachen, ließen sich nicht blicken.

»Himmeldonnerwetter!« Hagman spuckte bei dem plötzlichen Gestank, der über das Grasland heranzog, angewidert aus. Es war der ranzige Geruch wund geriebener Stellen an Sattel und Schwanzriemen, der mit dem kalten Westwind aus der Senke herüberdrang. Die Schützen rümpften die Nasen über diesen grässlichen Gestank.

Sharpe ließ seinen Blick über die unschuldig leere Landschaft schweifen, die jetzt irgendwo die Angreifer verbergen musste. Und umgekehrt würden in diesem Moment auch die französischen Offiziere aus ihrem Versteck hinter den Dornbüschen am Rand des Tals die Stadt beobachten. Und hinter diesen Offizieren bereiteten sich die Dragoner auf die Schlacht vor.

Er stellte sich vor, wie Helme auf die Schädel gestülpt und lange Säbel aus metallenen Scheiden gezogen wurden. Die Pferde würden wissen, was ihnen bevorstand, und ungeduldig scharren. Ihre Reiter würden mit fahrigen Bewegungen Sattelgurte fester ziehen oder Schweiß von ihren Zügeln wischen.

Sharpe fragte sich, ob er wohl doch unrecht hatte, ob die Franzosen, anstatt von Westen her eine Finte auszuführen und von Süden her anzugreifen, einfach auf die Barrikaden einstürmen und versuchen würden, die Verteidigung zu zerschlagen.

»Jesus Christus!«, entfuhr es Hagman, als aus der verborgenen Senke plötzlich eine Linie Kavallerie auftauchte, eine einzige breite Front von Dragonern, die mit gezogenen Degen herantrabten. Sie hatten die Stoffüberzüge von ihren Helmen entfernt, sodass das Metall im nachmittäglichen Licht golden schimmerte. »Diese Halunken sind zu Tausenden gekommen!« Hagman schob seine Büchse vor.

»Nicht schießen!«, rief Sharpe. Er wollte nicht, dass die Rifles das Feuer eröffneten, weil er befürchtete, dass dann auch Cazadores hinter den Barrikaden schießen würden. Die spanischen Musketen und Karabiner mit ihren glatten Läufen waren weit weniger zielgenau als die Gewehre, und eine Salve, die auf diese Entfernung abgefeuert wurde, war reine Verschwendung.

Sharpe hätte sich seine Worte sparen können, denn wenige Sekunden nach dem Erscheinen der Kavallerie bellten die ersten Musketen. Er fluchte, drehte sich um und sah, dass sich auf den Dächern der Stadt Zivilisten drängten, die allesamt die Franzosen vernichten wollten. Sobald die ersten Schüsse fielen, begannen auch die Männer hinter den Barrikaden zu feuern. Eine mächtige Salve krachte und spuckte Feuer. Rauch stieg auf, verbarg die Flanke der Stadt, und kaum ein Franzose kam zu Fall. Die Entfernung von mehr als dreihundert Yards war viel zu weit. Selbst wenn eine Kugel traf, war es wahrscheinlich, dass ihre Stoßkraft verbraucht war und sie, ohne Schaden anzurichten, von einem dicken Uniformrock oder dem Winterfell eines Pferdes abprallen würde.

Die Reiter rückten nicht weiter vor. Sharpe hielt Ausschau nach der roten Pelisse de l'Eclins, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Im Geiste teilte er die Front in Viertel auf und zählte rasch ein Viertel durch, dann multiplizierte er das Ergebnis mit vier und kam auf dreihundert Mann. Dies war nicht die Angriffslinie. Dies war eine Zurschaustellung der Stärke, eine eindrucksvolle Linie, nur dazu gedacht, aller Augen nach Westen zu richten.

»Behaltet den Süden im Auge!«, rief Sharpe seinen Männern zu. »Beobachtet den Süden!«

Die Schüsse aus der Stadt hatten Sergeant Harper veranlasst, von den Häusern heraufzukommen, die an der südlichen Straße standen. Er sah sich die Front der Dragoner an und pfiff. »Ein seltener Haufen Unheil, Sir.«

»Es sind nur dreihundert Mann«, sagte Sharpe ruhig.

»Das soll alles sein?«

Ein französischer Offizier zog seinen Säbel und kanterte vorwärts. Nach wenigen Schritten spornte er sein Pferd zum Galopp an und beschrieb einen Bogen, der ihn bis auf einhundert Yards an die Verteidigungslinie heranführte. Auf den Barrikaden krachten die Musketen, doch er galoppierte unversehrt durch den Geschosshagel. Ein weiterer Offizier machte sich auf den Weg, und Sharpe vermutete, dass die Franzosen vorhatten, die Verteidiger zu reizen, bis der eigentliche Angriff erfolgte.

Hagman spannte den Hahn seiner Büchse, als der zweite französische Offizier sein Tempo erhöhte. »Darf ich dem Halunken eine Lehre erteilen, Sir?«

»Nein. Lass ihn. Das ist nur eine Finte. Die glauben, sie hätten Erfolg, also lass sie ruhig spielen.«

Minuten vergingen. Eine ganze Schwadron von Dragonern trabte vor der Verteidigung auf und ab, um dann verachtungsvoll umzukehren. Ihre Kühnheit löste von den Gebäuden im Westen der Stadt her eine weitere riesige Salve aus. Sharpe sah, wie der Boden vom Einschlag der Kugeln zerfetzt wurde. Die Schüsse der Spanier reichten nicht weit genug. Eine zweite Schwadron trabte mit hochgehaltener Standarte in nördliche Richtung davon. Einige der Franzosen steckten ihre Säbel weg und schossen aus dem Sattel ihre Musketen ab, und jeder französische Schuss provozierte eine sinnlose Salve aus der Stadt.

Ein weiterer Offizier bewies seine Tapferkeit, indem er so dicht an die Befestigungen der Stadt heranritt, wie er es gerade noch wagen konnte. Doch er hatte weniger Glück. Sein Pferd stürzte, Blut und Schlamm spritzten auf. An den Barrikaden kam mächtiges Jubelgeschrei auf, aber der Franzose rannte unversehrt zu seinen Kameraden zurück. Sharpe bewunderte den Mann, ermahnte sich jedoch zugleich, weiter nach Süden Ausschau zu halten.

Im Süden! Von dort würde der Angriff heranrollen. De l'Eclins Abwesenheit im Westen bedeutete, dass der Jäger bei den Männern war, die kriechend die südliche Flanke der Stadt umrundeten. Dessen war sich Sharpe nun sicher. Die Franzosen warteten darauf, dass die Sonne noch niedriger sank und im unebenen Gelände des Südens die Schatten lang wurden. Die Ablenkung im Westen sollte nur dazu dienen, die Nerven der Verteidiger zu strapazieren und das Pulver der Stadt zu vergeuden, aber der eigentliche Angriff würde von Süden her erfolgen.

Sharpe wusste es, und er starrte gebannt in diese Richtung, wo sich auf dem abfallenden Boden nichts regte. Irgendwo dahinter befand sich die südliche Patrouille berittener Cazadores, und der Lieutenant befürchtete, dass die Spanier von den Franzosen überwältigt worden seien. Dort konnten sich siebenhundert Dragoner verbergen. Er spielte mit dem Gedanken, eine Patrouille der Rifles auszusenden, damit sie die schattigen Gefilde erkundeten.

»Sir?« Harper war auf der Hügelkuppe geblieben und rief nun eindringlich nach ihm. »Sir!«

Sharpe wandte sich wieder gen Westen und fluchte.

Eine weitere Schwadron der Dragoner war aus der Senke aufgetaucht. Sie wurde angeführt von einem Reiter, der eine rote Pelisse und eine schwarze Pelzmütze trug. Von einem Reiter auf einem großen schwarzen Pferd. De l'Eclin. Nicht im Süden, wo die Mehrzahl von Sharpes Rifles stationiert war, sondern im Westen, wo der Franzose warten konnte, bis die sinkende Sonne als blendend heller Feuerball in die Augen der Verteidiger strahlte.

»Soll ich die Jungs aus den Gebäuden holen?«, fragte Harper nervös.

»Warte.« Sharpe fand den Gedanken, dass de l'Eclin so schlau war, sich selbst in das Täuschungsmanöver einzubeziehen, sehr einleuchtend.

Die Franzosen warteten. Wenn dies der Hauptangriff war, fragte sich Sharpe, warum kündigten sie ihn dann so offen an? Er blickte wieder gen Süden und sah, wie die Schatten immer dunkler und länger wurden. Er starrte auf die zerfurchte Straße, ließ seinen Blick über die Hecken schweifen. An einer schattigen Stelle bewegte sich etwas, bewegte sich wieder, und Sharpe klatschte triumphierend in die Hände.

»Dort!«

Die Rifles verrenkten sich die Hälse.

»Cazadores, Sir«, sagte Harper mit gedämpfter Stimme, denn er wusste, dass er Sharpes Erwartungen enttäuschen musste.

Sharpe holte sein Fernrohr heraus. Die herannahenden Männer trugen spanische Uniformen, als handelte es sich entweder um die südliche Patrouille, die mit Neuigkeiten kam, oder um einen der Trupps, die nach Südosten gezogen waren, um die Brücke über den Fluss zu zerstören. Oder waren es verkleidete Franzosen?

Sharpe sah sich erneut nach dem französischen Gardeoffizier um, doch de l'Eclin rührte sich nicht. Seine absolute Reglosigkeit hatte etwas sehr Bedrohliches, etwas, das von uneingeschränktem, beängstigendem Selbstvertrauen sprach.

Sharpe klammerte sich hartnäckig an seine Gewissheit. Er wusste, dass seine Männer ihm längst nicht mehr glaubten, dass sie sich darauf vorbereiteten, den Feind zu bekämpfen, der so kühn im Westen aufmarschiert war, doch er konnte seine fixe Idee vom Angriff aus dem Süden einfach nicht aufgeben. Auch wurde er die Überzeugung nicht los, dass de l'Eclin ein zu besonnener Soldat sei, um all seine Hoffnungen auf einen direkten, vorab angekündigten Angriff zu setzen.

Sharpe zog sein Fernrohr aus, um die Reiter in Augenschein zu nehmen, die langsam aus südlicher Richtung herankamen. Er fluchte leise. Das waren tatsächlich Spanier. Er erkannte einen von Vivars Feldwebeln, der einen weißen Backenbart hatte. Der verkrustete Schlamm an den Beinen der Pferde und die Spitzhacken, die an den Sätteln der Cazadores befestigt waren, bewiesen, dass es sich um einen Trupp handelte, der vom Brückenabbruch zurückkehrte.

»Verdammt! Hölle und Verdammnis!« Er hatte sich geirrt, gründlich geirrt! Die Spanier, die sich von Süden näherten, waren soeben unbeschadet durch eine Gegend geritten, in der es nach Sharpes Auffassung von de l'Eclins restlichen siebenhundert Männern wimmeln musste. Er hatte sich verkalkuliert. »Hol die Männer aus den Häusern heraus, Sergeant.«

Harper rannte, erleichtert über diesen Befehl, den Hang hinab, und Sharpe wandte sich mit seinem Fernrohr nach Westen. Während er noch das lange Rohr ausrichtete und die Linsen auf das Bild einstellte, zog Oberst de l'Eclin seinen Säbel, und Sharpe war momentan geblendet von dem Sonnenlicht, das vom gekrümmten Stahl reflektiert wurde.

Er blinzelte und dachte an den Augenblick, als de l'Eclin ihn an der Brücke beinahe niedergemacht hätte. Das erschien ihm jetzt so lange her, hatte er doch erst später Vivar und Louisa kennengelernt. Sharpe erinnerte sich an das heranstürmende schwarze Pferd, das zu seiner Verblüffung nach rechts abgeschwenkt war, sodass der Oberst mit der Linken zuschlagen konnte. Wer rechnet schon damit, einem linkshändigen Fechter gegenüberzutreten? Vielleicht war das die Erklärung dafür, warum so viele Soldaten abergläubisch wurden, wenn es darum ging, gegen einen Linkshänder anzutreten.

Sharpe spähte wieder durch sein Fernrohr. Oberst de l'Eclin hatte seine gebogene Klinge auf den Sattelknauf gelegt und wartete. Die Pferde hinter ihm bewegten sich rastlos auf und ab. Die Sonne sank, ein Ball, der immer rötlicher wurde. Bald würde man in Santiagos Kathedrale ein Banner entfalten und die Gläubigen würden einen toten Heiligen anflehen, ihrem Land zu Hilfe zu eilen. Mittlerweile aber wartete ein Soldat aus des Kaisers bester Elitetruppe auf den Angriff, der die Verteidigungslinien der Stadt durchbrechen würde. Sowohl die Finte als auch der Angriff, erkannte Sharpe, würden von Westen erfolgen. Die dreihundert Reiter sollten das Feuer der Verteidiger auf sich ziehen, während die übrigen Dragoner, die noch in der Senke verborgen waren, einen plötzlichen Ausfall vorbereiteten, der aus dem Dunst des Pulverdampfs hervorbrechen würde wie ein Blitzschlag.

Harper hetzte die Schützen den Hügel hinauf. »Wo sollen sie in Stellung gehen, Sir?«

Aber Sharpe antwortete nicht. Er beobachtete Oberst de l'Eclin, der mit seinem Säbel eindrucksvolle Übungsschläge ausführte, als würde er sich langweilen. Der Widerschein der Sonne auf der schimmernden Klinge provozierte die Verteidigung der Stadt zu einer unregelmäßigen und ungenauen Salve. De l'Eclin nahm keine Notiz davon. Er wartete darauf, dass die Sonne zu einer Waffe wurde, die mit ihrer Grellheit den Verteidigern die Sicht nahm. Dieser Augenblick war jetzt nicht mehr fern.

»Sir?«, fragte Harper nach.

Aber Sharpe antwortete immer noch nicht, denn in diesem Moment kam ihm eine neue Gewissheit. Endlich wusste er, was die Franzosen vorhatten. Er hatte sich geirrt, was den Angriff von Süden her anging, und wenn er sich jetzt wieder irrte, waren die Stadt, das Gonfalon und all seine Männer verloren. Er fühlte sich geneigt, die neue Erkenntnis außer Acht zu lassen, doch jetzt zu zögern konnte fatale Folgen haben, und die Entscheidung musste fallen. Er schob das Fernrohr zusammen und steckte es in die Tasche. Er versetzte den Säcken voller Fußangeln einen Tritt. »Nehmt euch die Säcke und folgt mir. Ihr alle!«

»Auf die Beine!«, bellte Harper die Schützen an.

Sharpe begann zu rennen. »Folgt mir! Beeilt euch! Kommt!« Er verfluchte sich, dass ihm die Wahrheit nicht schon früher eingefallen war. Es war so gottverdammt einfach! Warum hatten die Franzosen die Vorräte in den Palast geschafft? Und warum hatte Oberst Coursot Getreide und Heu in den Kellern gelagert? Ein Keller war nicht der geeignete Ort, um ein bis zwei Tage vor ihrer Verteilung Futtermittel zu lagern! Und dann die eintausend Reiter. Selbst ein so erfahrener Soldat wie Harper hatte die Dragoner angestarrt und war beeindruckt gewesen von ihrer Zahl. Männer sahen häufig eine Horde, wo es nur eine kleine Schar gab, und wie viel eher konnte ein Zivilist mitten in der Nacht dem gleichen Irrtum erliegen. Sharpe rannte noch schneller. »Kommt schon! Beeilung!«

Denn die Stadt war beinahe verloren.


Das Mittelschiff der Kathedrale war schlichter, als die Fassade des Gebäudes erkennen ließ, doch diese Schlichtheit lenkte nicht von der Erhabenheit seiner von Säulen gestützten Höhe ab. Jenseits des langen Mittelschiffs, der Seitenschiffe mit ihren Kuppeldecken und der Zwischenwand lag ein Sanktuarium, so üppig ausgestattet wie nur irgendeines im christlichen Abendland, und das, obwohl die Franzosen die Versilberungen heruntergerissen, die Statuen vom Sockel gestoßen und die Triptychen aus ihren Rahmen gezerrt hatten. Hinter dem Altar befand sich ein leerer Raum, der Hort Gottes. Das Dämmerlicht wurde von den scharlachroten Strahlen der untergehenden Sonne erhellt, die das staubige, verrauchte Innere der Kathedrale durchdrangen.

Vor dem Altar und über der Krypta, in welcher der Heilige begraben lag, stand die geöffnete Truhe.

Am höchsten Punkt der Kuppel, dort wo die Seitenschiffe auf den Mittelgang trafen, hing an Seilen eine große Silberschale herab. Sie enthielt Weihrauch, der das riesige Gotteshaus mit seinem süßlich dumpfen Geruch erfüllte. Tausend Kerzen trugen mit ihrem Rauch dazu bei, den Heiligenschrein zu einem Ort voller Geheimnisse, Düfte und Schatten zu machen, zum geeigneten Ort für ein Wunder.

In den Seitenschiffen hatten sich etwa zweihundert Leute auf die Knie fallen lassen. Man sah Priester und Soldaten, Mönche und Kaufleute, Gelehrte und Klosterbrüder. Das waren die Männer, die in Spanien die Nachricht verbreiten sollten, dass Santiago Matamoros auferstanden sei. Sie würden einem unterworfenen Volk erzählen, dass man seinen Schutzmächten die gebührende Huldigung erwiesen, die gebührenden Worte gesprochen hatte, indem man das mächtige Gonfalon, das einst über dem Massaker der Heiden geweht hatte, aufs Neue entfaltete.

Es war, als hätte man endlich Drakes Trommel geschlagen, als sei der Boden von Avalon in stürmischer Finsternis geborsten, um eine Schar wieder erwachter Ritter zu entlassen, als habe Karl der Große, geweckt aus jahrhundertelangem Schlaf, sein Schwert gezogen, um die Feinde Christi zu vertreiben. Jede Nation hatte ihre Legende, und an diesem Abend sollte im mächtigen, hallenden Dom der Kathedrale die tausendjährige Stille um Spaniens Legende gebrochen werden. Die Kerzen erzitterten von einem kalten Luftstrom, während sich die Priester in ihren Roben vor dem Altar verneigten.

Und als sie sich verneigten, ging eines der westlichen Portale der Kirche auf, als habe sich ein heftiger Wind der hölzernen Türflügel bemächtigt und sie gegen die Steinmauer geschlagen. Jene Soldaten, die vor dem Altar knieten, drehten sich nach dem Geräusch um und griffen nach ihren Degen. Louisa, die verschleiert neben Blas Vivar kniete, keuchte auf. Die Priester unterbrachen ihren Redestrom, um festzustellen, wer es wagte, die Anrufung zu unterbrechen.

Vivar stand auf. Sharpe war in die Kathedrale gestürmt und erschien nun unter dem Himmelstor. Der Spanier rannte den langen Mittelgang entlang.

»Warum sind Sie hier?«, rief er aufgebracht.

Sharpe sah sich mit irrem Blick um und antwortete nicht. Er spähte in jeden Winkel der Kathedrale, als rechne er damit, dort Feinde vorzufinden. Als er keine entdeckte, wandte er sich wieder dem westlichen Portal zu.

Vivar streckte die Hand aus und hielt den Schützen auf. »Warum sind Sie nicht bei den Barrikaden?«

»Er hat seinen Säbel in der rechten Hand gehalten!«, rief Sharpe. »Verstehen Sie denn nicht? In der rechten Hand! Oberst de l'Eclin ist Linkshänder!«

Vivar starrte ihn verständnislos an. »Wovon reden Sie?«

»Dort draußen sind dreihundert dieser Schweinehunde versammelt.« Sharpes Stimme erhob sich und hallte vom hohen Gemäuer des Mittelschiffs wider. »Nur dreihundert! Und keine im Süden. Wo sind also die Übrigen? Haben Sie hinter den Säcken im Keller nachgesehen?«

Vivar sagte nichts. Das war auch nicht nötig.

»Haben Sie die Keller durchsucht?«, beharrte Sharpe.

»Nein.«

»Deshalb hält sich Ihr Bruder dort auf! Deshalb haben sie sich auf eine Waffenruhe eingelassen! Deshalb haben sie die Vorräte dorthin gerettet! Deshalb haben sie alles vorbereitet! Verstehen Sie denn nicht? De l'Eclin ist im Palast! Er ist den ganzen Tag über dort gewesen und hat sich über uns lustig gemacht! Und er wird hierher kommen!«

»Nein!« Vivars Tonfall ließ Entsetzen durchblicken.

»Ja!« Sharpe riss sich von Vivar los. Er überquerte erneut die Schwelle des Himmelstors, ohne seine Erhabenheit wahrzunehmen, und riss die Außentür der Kathedrale auf.

Ein Triumphgeschrei und die Siegesfanfare einer Trompete hielten ihn zurück. Sharpe sah, wie verhüllt durch Kerzenqualm und Weihrauch ein Banner entfaltet wurde. Kein altes, zerschlissenes, von Motten zerfressenes Banner, das an der Luft zu Staub zerfiel, sondern ein neues, herrlich weißes Banner aus schimmernder Seide mit einem roten Kreuzzeichen: das Gonfalon Santiagos. Und als es ausgebreitet wurde, begannen die Glocken zu läuten.

Das war der Moment, in dem die Vorschlaghämmer jene Planken niederrissen, mit denen man die Franzosen im Palast eingeschlossen hatte. Die Glocken läuteten, auf dass ein Wunder geschehe, und die Franzosen brachen, wie es immer ihre Absicht gewesen war, die Waffenruhe.

Von beiden Seiten des Palastes griffen französische Dragoner an. Sie mussten aus dem rückwärtigen Tor des Gebäudes gekommen sein, wo die Ställe lagen, und während die Infanteristen aus dem zentralen Portal strömten, stürmten die Reiter den westlichen Vorplatz. Das einzige Hindernis, das ihrem Angriff entgegenstand, war die niedrige Barrikade, von der aus eine Hand voll unberittener Cazadores eine klägliche Salve abschoss und dann die Flucht ergriff.

»Sergeant! Die Fußangeln!« Sharpe schob Harper zur südlichen Flanke der Kathedrale, dann nahm er selbst zwei Säcke in die Hand und brüllte seinen Männern zu, ihm auf den nördlichen Vorplatz zu folgen.

Die komplizierte Treppenflucht an der Westfront der Kathedrale konnte die Kavallerie nicht überwinden. Stattdessen hatten die Dragoner vor, das Heiligtum zu umzingeln, sodass niemand entkommen konnte, der sich drinnen aufhielt. »Rifles! Nicht schießen! Nicht schießen!« Sharpe wusste, dass es keinen Sinn hatte, eine Salve zu verschwenden. Die Fußangeln mussten diesen ersten französischen Ansturm aufhalten.

Es war ein bedrohlich tiefer Sprung von der Steinfläche an der Fassade der Kathedrale hinab auf die Plaza, aber Sharpe hatte keine Zeit, die Stufen zu benutzen. Er sprang und kam so heftig auf, dass ihm vom linken Knöchel ein stechender Schmerz ins Bein fuhr. Diesem Schmerz durfte er keine Beachtung schenken, denn die Niederlage war in eine Nähe gerückt, die der Reichweite eines Dragonersäbels entsprach.

Seine Männer folgten ihm. Als sie auf die Steinplatten auftrafen, ging ein Stöhnen durch ihre Reihen.

Sharpe zerrte die Säcke in nördliche Richtung. Er konnte die Reiter zu seiner Linken sehen und wusste, dass ihm nur noch Sekunden blieben, die grässlichen Dorne im Engpass unter der Brücke auszustreuen, die zum Bischofspalast führte.

»Dort entlang! Wartet auf mich!«, rief er seinen Schützen zu, dann schwang er den ersten Sack, sodass sich die Fußangeln klirrend über die enge Stelle verteilten. »Zu mir, Sergeant!«, brüllte Sharpe Harper zu, doch seine Stimme wurde vom Geschrei der Franzosen übertönt und vom Gellen ihrer Trompeten. Er griff nach dem zweiten Sack und schüttete ihn aus. Die metallenen Dorne rollten und purzelten über den Boden. Sharpe hatte sie so ausgestreut, dass der enge Durchgang blockiert wurde.

Harper war verschwunden. Sharpe drehte sich um und rannte seinen Männern nach. Über ihm läuteten die Glocken. Eine Trommel schickte herausfordernde Klänge gen Himmel. Er wusste nicht, ob der Sergeant in Sicherheit war, ob er es geschafft hatte, den Zugang zur Plaza an der Südflanke der Kathedrale zu blockieren.

»Front bilden! In zwei Reihen antreten!«, rief Sharpe den Schützen zu. Hinter ihnen kamen Männer in panischer Flucht aus dem westlichen Teil der Kathedrale gerannt.

Das erste Pferd verletzte sich an einem Dorn. Das Eisen drang in die Gabel seines Hufs, und dann erschienen weitere Pferde. Sie stellten sich auf die Hinterhand, wieherten, bäumten sich verzweifelt auf vor Schmerzen. Männer wurden aus den Sätteln geworfen. Ein Pferd, das in seiner Pein die Orientierung verloren hatte, machte kehrt und stürmte quer über den Platz. Ein Zweites stieg so hoch auf, dass es rückwärts umfiel. Sein Reiter schrie auf, als er unter seinem stürzenden Pferd begraben wurde.

»Noch nicht schießen!« Die Schützen waren fünfzehn Yards hinter den Fußangeln in Linie angetreten. Nun ging es ums Ganze. Die französische Infanterie würde den westlichen Treppenaufgang stürmen und in die Kathedrale eindringen. Sie würde noch mindestens eine Minute brauchen, bis sie den Ausgang aus dem Seitenschiff erreicht hatte und hinter Sharpe ins Freie strömen würde. Dann kamen auch schon die Ersten, sahen die Pferde leiden und machten sich daran, mit Fußtritten die eisernen Dornen beiseitezuschaffen. Sie wurden von einem Unteroffizier angeführt.

»Hagman!«, rief Sharpe. »Bring den Schweinehund um!«

»Sir.« Hagman kniete nieder, zielte und schoss. Der Unteroffizier vollführte einen Salto rückwärts, und aus seiner Brust ergoss sich ein Blutstrom. Da wurden die Infanteristen zum ersten Mal auf die Schützen aufmerksam.

»Feuer!«, brüllte Sharpe.

Die Salve war nicht groß, aber sie vergrößerte an dieser engen Stelle Chaos und Schmerz. Es war überflüssig, die Grünjacken zur Eile anzuhalten. Sie wussten ebenso gut wie Sharpe, wie schmal in dieser dunkler werdenden Stadt der Grat zwischen Leben und Tod war. Sie zur Eile zu ermahnen hätte sie nur nervös gemacht.

Sharpe drehte sich um. Die letzten Teilnehmer an Vivars Gottesdienst rannten die Stufen herab. Ein spanischer Offizier trug das Gonfalon, das man hastig in schimmernde Falten gelegt hatte. Zwei Priester rafften ihre Kutten hoch und rannten in östlicher Richtung davon. Louisa erschien auf der Treppe, und Sharpe sah, wie zwei Cazadores ihr ein Pferd brachten. Auch Vivar stieg in den Sattel und zog seinen Degen.

»Sie sind in der Kathedrale!«, rief er Sharpe zu.

»Ruhig Blut, Schwerter aufsetzen!« Während die Schwertbajonette befestigt wurden, sah sich Sharpe nach Harper um, doch der Ire war immer noch nirgends zu sehen. In der Stadt wurden Schreie laut. Die Trompeten klangen schrill durch die Abendluft. Es würde kalt werden heute Nacht. Frost würde die Steinplatten versilbern, auf denen die Franzosen sich für die am Tage erlittenen Schmähungen rächen würden.

»Ruhig Blut!« Die Fußangeln hatten den Feind aufgehalten und seinen Männern ermöglicht nachzuladen. Aber die Masse der französischen Berittenen wartete immer noch jenseits der Dornspitzen, die nun in verzweifelter Hast von der Infanterie beiseitegeräumt wurden. Musketenkugeln schlugen über den Schützen ein, aber die Dragoner schossen aus dem Sattel und nahmen sich nicht genug Zeit zu zielen. Sharpe wusste, dass ihm nur noch Sekunden blieben. Er legte die Hände an den Mund. »Sergeant! Sergeant Harper!«

»Ziehen Sie sich zurück, Lieutenant!«, rief Vivar jetzt aufgeregt Sharpe zu.

»Sergeant Harper!«

»Schweinehunde!« Die Stimme kam von der Spitze jener Stufen, die zum südlichen Seitenschiff führten. Sharpe wirbelte herum. Nachdem er seine Fußangeln verteilt hatte, musste Harper erkannt haben, dass er Sharpe nicht erreichen konnte, wenn er an der Westfront der Kathedrale entlang rannte. So hatte er den kürzeren Weg durch die Kathedrale gewählt, und nun erschien er, einen französischen Offizier mit der linken Hand hinter sich herschleifend. »Dieser Schweinehund!«, rief der Ire aufgebracht. »Er hat versucht mich umzubringen, der Schweinehund!« Er trat nach dem Franzosen, drosch auf ihn ein. Dann drehte er sich um und warf den Mann zurück ins düstere Innere der Kathedrale.

Vivar, der hinter den Türflügeln weitere Gestalten ausmachte, schoss mit einer Pistole ins Seitenschiff hinein.

»Sir!« Hagman warnte ihn, dass soeben die letzten Fußangeln weggeräumt wurden.

»Anlegen!«, brüllte Sharpe. »Ich dachte schon, ich hätte dich verloren!«, rief er Harper zu.

»Der Halunke hat versucht, mich mit dem Säbel zu durchbohren! In einer Kirche, Gott sei's verdammt! Einer Kathedrale! Können Sie es glauben, Sir?«

»O mein Gott! Und ich dachte, ich hätte dich verloren!« Sharpes Erleichterung, dass Harper überlebt hatte, war aufrichtig und tief empfunden.

»Sir!«, wiederholte Hagman seine Warnung.

Dragoner und Infanteristen vereinigten sich zu der Attacke, die nun durch den Engpass unterhalb der Brücke ausgeführt wurde. Mit erhobenen Säbeln und lautem Kriegsgeschrei gingen die Franzosen daran, Rache zu nehmen.

»Feuer!«, rief Sharpe.

Die Salve schlug in die enge Stelle ein, ließ Pferde in Blut und Schmerz zusammensinken. Ein Säbel scharrte klirrend über die Steinplatten. Die nachfolgenden Reiter hieben mit ihren Säbeln zu, um sich zwischen den Verwundeten und Sterbenden den Weg nach vorn zu bahnen. Ganz oben am südlichen Ausgang zur Kathedrale erschienen weitere Infanteristen.

»Rückzug!«, bellte Sharpe.

Dann kam das Chaos der Flucht. Die Schützen rannten über die Plaza in den zweifelhaften Schutz einer schmalen Gasse. Louisa war vorausgeritten, und Vivar, der von einem Knäuel seiner Reiter umgeben war, rief Sharpe zu, ihr zu folgen. Die Cazadores würden zurückbleiben, um dem Angriff der Franzosen zu begegnen.

Die Schützen rannten los. Der Rückzug aus der Stadt war zu einer wilden Hetzjagd im Dämmerlicht geworden, einem rasenden Lauf bergab durch die schmalen, mittelalterlichen Gassen. Sharpe führte seine Männer auf einen kleinen Platz, den ein Brunnen und ein Steinkreuz zierten. Die Zugänge zu diesem Platz waren von Flüchtlingen versperrt.

Er wies seine Männer an haltzumachen, stellte sie in Reihen auf und gestattete der hinteren Linie, im Schnellverfahren ihre Gewehre nachzuladen. Die Männer schütteten Pulver ein, schoben die Kugel hinterher, dann schlugen sie mit dem Gewehrkolben auf den Boden, in der Hoffnung, dass der Aufprall die Kugel hineinrammen würde.

»Anlegen!«

Die Gewehre, deren Mündungen von den Schwertbajonetten herabgezogen wurden, richteten sich aus. Sie konnten noch nicht schießen, denn ihre Ziele wurden von einer Hand voll Cazadores verdeckt, die versuchten, die französischen Dragoner aufzuhalten. In der Straße trafen klirrend wie geborstene Glocken die Säbel aufeinander. Ein Spanier löste sich mit blutüberströmtem Gesicht aus dem Getümmel. Ein Dragoner schrie auf, als ihm der Bauch aufgeschlitzt wurde.

»Major!« Sharpe bedeutete Vivar, dass die Gewehre schussbereit seien.

Vivar hieb auf einen Franzosen ein, dann drehte er sich mitten in der Riposte um. »Verschwinden Sie, Lieutenant! Schnell!«

»Major!«

Ein Cazador ging unter einer französischen Klinge zu Boden. Vivar holte aus, um den Franzosen zu verwunden. Sharpe war sicher, dass der Spanier bald überwältigt sein würde, doch da strömten hinter den Dragonern plötzlich die Freiwilligen in ihren braunen Jacken heran und griffen mit Messern, Hämmern, Musketen und Degen an. Vivar riss das Pferd herum und befahl seinen Männern den Rückzug.

Sharpe hatte seine Schützen bis an den östlichen Rand des kleinen Platzes zurückbeordert. Nun ließ er sie zu beiden Seiten zurückweichen, um die Spanier durchzulassen. Die Freiwilligen dachten nicht an Flucht, aber Vivar prügelte sie mit der Kante seines Säbels aus dem Weg. Sharpe wartete, bis der Platz frei war und der erste Feind am anderen Ende erschien. »Hintere Reihe! Feuer!«

Die Salve war kläglich, aber sie hielt den französischen Ansturm auf.

»Zurück!« Sharpe zückte seinen Degen und erkannte, dass er es wahrscheinlich zu weit getrieben hatte.

Die Schützen folgten Vivar in die nächste Straße. Es wurde nun zunehmend dunkler, der Tag ging allmählich in die Winternacht über. Aus den Fenstern über Sharpe wurde mit Musketen geschossen, doch die kleine Salve konnte die Franzosen nicht davon abhalten, in die schmale Gasse einzudringen.

»Hinter Ihnen!«, rief Harper.

Sharpe fuhr herum. Er brüllte herausfordernd und hieb mit seiner schweren Klinge nach dem Kopf eines Pferdes. Das Tier wich aus, der Dragoner schlug zu, und die beiden Waffen trafen klirrend aufeinander. Harper stieß dem Pferd sein Schwertbajonett in die Brust. Es bäumte sich auf und blockierte die Gasse. Sharpe drosch auf seine Fesselgelenke ein. Sein Degen musste einen Knochen gebrochen haben, denn als das Pferd mit den Vorderhufen aufkam, brach es zusammen.

Der Dragoner versuchte im Fallen nach Sharpe zu schlagen, doch der Degen des Schützen fuhr mit voller Kraft zischend nach oben, und der Stahl bohrte sich in den Hals des Kavalleristen. Ein plötzlicher Blutstrahl spritzte vom Rinnstein bis in sechs Fuß Höhe an die weiß getünchte Mauer der Gasse. Das wiehernde Pferd mit den gebrochenen Knöcheln blockierte den Durchgang.

»Rennt!«, brüllte Sharpe.

Die Rifles rannten zur nächsten Ecke, wo Vivar auf sie wartete. »Hier entlang!« Er zeigte nach links, dann spornte er sein Pferd an und ritt mit seiner Hand voll Cazadores in entgegengesetzter Richtung davon.

Die Schützen rannten an einer Kirche vorbei, umrundeten eine Straßenecke und fanden sich auf dem oberen Absatz einer steilen Treppe wieder, die zu einer Straße an einem Stück der mittelalterlichen Stadtmauer hinabführte. Vivar musste gewusst haben, dass die Treppe Schutz vor der Verfolgung durch die Dragoner bot, deshalb hatte er sie losgeschickt, während er selbst zurückblieb, um den Ansturm der Franzosen aufzuhalten.

Sharpe rannte die Stufen hinab, dann führte er seine Männer die Straße entlang. Er hatte keine Ahnung, ob Vivar in Sicherheit war oder ob das Gonfalon das Getümmel in den engen Gassen überstanden hatte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten und das Beste zu hoffen.

»Dieser Schweinehund war ein schlauer Halunke!«, sagte Sharpe zu Harper. »Die ganze Zeit war er in der Stadt! Himmel, muss der über uns gelacht haben!« Es bestand kein Zweifel, dass de l'Eclin und die Mehrzahl seiner Männer, nachdem Louisa den Aufmarsch der Franzosen auf der Plaza beobachtet hatte, einfach durch das rückwärtige Tor in den Palast zurückgekehrt war, während ein paar Hundert Dragoner nach Süden geritten waren. Das war schlau gewesen, und es hatte zu diesem Durcheinander geführt. Außerdem war es ganz und gar unehrenhaft, denn die Franzosen hatten die Waffenruhe gebrochen. Aber Sharpe wusste längst, wie wenig es in diesem erbitterten Krieg zwischen Spanien und Frankreich auf die Ehre ankam.

»Kämpfen, in einer verdammten Kathedrale!« Harper war immer noch empört.

»Du hast es ihm jedenfalls heimgezahlt.«

»Ihm? Dreien von diesen Schweinehunden habe ich es heimgezahlt. Drei Schweinehunde, die in keiner Kathedrale mehr kämpfen werden.«

Sharpe konnte nicht anders, er musste lachen. Inzwischen hatten sie eine Lücke in der Stadtmauer erreicht, die auf offenes Gelände hinausführte. Dort fiel der Boden steil ab, bis er einen Bach erreichte, der sich als silbernes Band durch die zunehmende Dämmerung zog. Flüchtlinge überquerten den Bach, dann kletterten sie die Hänge hinauf, um sich im Bergland in Sicherheit zu bringen. Franzosen waren nirgends zu sehen. Sharpe ging davon aus, dass der Feind in den Straßen, wo Vivar sein hoffnungsloses Rückzugsgefecht durchführte, nach wie vor in Kampfhandlungen verwickelt war.

Die Männer machten halt und begannen ihre Büchsen zu laden. Harper, der sich offenbar von seiner Empörung über die Gottlosigkeit der Franzosen erholt hatte, verhielt mit halb eingeführtem Ladestock. Jetzt war es an ihm, unvermittelt loszulachen.

»Willst du uns sagen, was so komisch ist, Sergeant?«, fragte Sharpe.

»Haben Sie sich schon mal im Spiegel gesehen, Sir?«

Da begannen auch die Männer zu lachen. Sharpe blickte an sich hinab und sah, dass die ohnehin zerrissene Hose seinen rechten Oberschenkel freigelegt hatte. Er zerrte an den Tuchfetzen, bis sein rechtes Bein praktisch nackt war. »Na und? Meinst du etwa, wir könnten die Schweinehunde nicht auch halb bekleidet schlagen?«

»Vor lauter Angst davonrennen werden sie bei Ihrem Anblick, Sir«, sagte Gataker.

»Schon gut, Jungs.« Sharpe entnahm dem Gelächter der Männer, dass sie sich in Sicherheit wähnten. Sie waren den Franzosen entkommen, die Schlacht war geschlagen, und sie brauchten nichts weiter zu tun, als das kleine Tal zu überqueren und in die Berge hinaufzusteigen.

Er sah sich noch einmal um, in der Hoffnung, Vivar zu entdecken, doch die Straße lag verlassen da. Schreie, Rufe, Schüsse und Stahlgeklirr sprachen von den Kämpfen, die in der Innenstadt abliefen, aber die Rifles waren dem Chaos entschlüpft und hier in Sicherheit. Sich erneut in den Kampf einzumischen hatte keinen Sinn. Nun war es die Pflicht eines jeden Mannes, den Rückzug anzutreten.

»Auf geradem Weg durchs Tal, Jungs! Auf dem gegenüberliegenden Grat machen wir halt!«

Die Grünjacken verließen die Deckung der Mauer, schritten die holprige, steile Weide hinab, die zu dem sumpfigen Bach führte, wo Sharpe am selbigen Morgen versäumt hatte, die Wassergeister zu besänftigen. Vor ihnen war die Masse der Flüchtlinge dicht über das Tal verteilt. Einige davon waren Zivilisten, andere trugen die grobe braune Jacke der Freiwilligen Vivars, und einige wenige Cazadores waren von ihren Einheiten getrennt worden. Von Vivar war immer noch nichts zu sehen, auch nicht von Louisa oder dem Gonfalon. Zwei Mönche wateten mit hochgerafften Kutten durch den Bach.

»Sollten wir warten, Sir?« Harper, der um Major Vivars Sicherheit besorgt war, wollte am Bach bleiben.

»Am gegenüberliegenden Ufer«, sagte Sharpe. »Von dort aus können wir ihm Feuerschutz geben.«

Dann erklang von Süden her eine Trompete. Sharpe drehte sich um und sah, dass alles vorbei war. Das Abenteuer, die Hoffnung, all die unmöglichen Träume, die einem Triumph so nahe gekommen waren, nun war es aus mit ihnen.

Denn dort glänzten wie weiß glühendes Gold die Helme des Feindes in der ersterbenden Sonne: Dreihundert Franzosen waren um die Stadt herumgeritten. Sharpe saß in der Falle, und der Tag der Wunder war vorüber.


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