In derselben Nacht führte Lieutenant Sharpe eine Patrouille über den Hügelkamm nach Westen. Er hatte gehofft, feststellen zu können, ob die Franzosen jene Stelle besetzt hielten, wo die Straße die Hügelkette durchquerte, doch in der eisigen Dunkelheit verlor er inmitten des Felsengewirrs die Orientierung und kehrte widerstrebend zu der Höhlung zurück, in der die Schützen Unterschlupf gefunden hatten.
Die Wolken verzogen sich noch vor Morgengrauen, sodass im ersten fahlen Licht der Hauptverband der französischen Verfolger im südlich gelegenen Tal zu erkennen war. Die feindliche Kavallerie war bereits gen Westen davongeritten. Was Sharpe zu sehen bekam, war Marschall Soults Infanterie, die sich hartnäckig an die Fersen von Sir John Moores Heer geheftet hatte.
»Himmeldonnerwetter, wir sind abgeschnitten.« Sergeant Williams äußerte diese pessimistische Einschätzung gegenüber Sharpe, der, statt ihm zu antworten, zu den Verwundeten trat.
Captain Murray lag zitternd unter einem halben Dutzend Mänteln in unruhigem Schlaf. Der Sergeant mit den Wunden an Hals und Schulter war in der Nacht gestorben. Sharpe bedeckte das Gesicht des Mannes mit einem Tschako.
»Das is' ein nichtsnutziger Emporkömmling.« Williams warf einen abschätzigen Blick auf Lieutenant Sharpes Rücken. »Das is' kein Offizier, Harps. Jedenfalls kein richtiger.«
Schütze Harper war dabei, sein Schwertbajonett zu schärfen, und er tat das mit der besessenen Konzentration eines Mannes, der weiß, dass sein Leben vom Zustand seiner Waffen abhängt.
»Kein echter Offizier«, fuhr Williams fort. »Kein Gentleman. Bloß ein Emporkömmling von einem Sergeant, stimmt's?«
»Das ist er.« Harper sah den Lieutenant an und bemerkte die Narben im Gesicht des Offiziers und das entschlossene Kinn.
»Wenn der meint, er könnte mir befehlen, hat er sich verrechnet. Er is' doch nicht besser als ich, oder?«
Harper antwortete bloß mit einem Grunzen und blieb dem Sergeant so die ersehnte Ermunterung schuldig. Williams wartete auf Harpers Unterstützung, doch der Ire beschränkte sich darauf, die Schneide seines Schwertbajonetts in Augenschein zu nehmen und dann die lange Klinge sorgfältig wegzustecken.
Williams spuckte aus. »Man braucht denen bloß eine verdammte Schärpe und einen Säbel umzuhängen, und schon halten sie sich für den lieben Gott persönlich. Der is' nicht mal ein richtiger Schütze, bloß ein verdammter Quartiermeister, Harps!«
»Das ist er«, stimmte Harper zu.
»Ein Emporkömmling von einem Erbsenzähler, stimmt's?«
Sharpe drehte sich rasch nach ihm um, und obwohl das völlig unmöglich war, hatte Williams das Gefühl, belauscht worden zu sein. Der Blick des Lieutenants war stahlhart. »Sergeant Williams!«
»Sir.« Obwohl er soeben verkündet hatte, er werde ihm nicht gehorchen, trat Williams eilfertig zu Lieutenant Sharpe.
»Wetterschutz.« Sharpe deutete ins nördliche Tal hinab, wo weit unter ihnen die Steinbauten eines Gehöfts allmählich aus dem abziehenden Nebel auftauchten. »Schafft die Verwundeten dorthinunter.«
Williams sog wie zweifelnd die Luft durch seine gelben Zähne ein. »Ich weiß nich' recht, ob die Leute bewegt werden dürfen, Sir. Der Captain is'...«
»Ich habe gesagt, Sie sollen die Verwundeten dort runterschaffen, Sergeant.« Sharpe hatte sich bereits entfernt, doch nun drehte er sich noch einmal um. »Von einer gottverdammten Diskussion war nicht die Rede. Also los.«
Sie brauchten einen Großteil des Morgens, aber dann war es ihnen gelungen, die Verwundeten zu dem verlassenen Gehöft hinunterzutragen. Das trockenste Gebäude war die steinerne Scheune, die auf Pfeilern errichtet war, um Ungeziefer fernzuhalten. Auf dem Dachfirst befanden sich Kreuze, sodass die Scheune aus der Entfernung wie eine kleine schmucklose Kirche aussah. Das eingefallene Wohnhaus und die Viehställe boten feuchtes, wurmstichiges Holz, das sich, klein gehackt und mit Schwarzpulver versetzt, zu einem Feuer entfachen ließ, an dem sich die Verwundeten wieder aufwärmen konnten. Schütze Hagman, ein zahnloser Mann im mittleren Alter, der aus der Grafschaft Cheshire stammte, machte sich auf die Suche nach Nahrung, während Sharpe auf den nach Osten und Westen verlaufenden Ziegenpfaden Posten aufstellte.
»Captain Murray geht's nicht gut, Sir.« Sergeant Williams trat Sharpe in den Weg, als dieser zur Scheune zurückkehrte. »Er braucht einen Arzt, Sir.«
»Das wird sich kaum machen lassen, oder?«
»Es sei denn, wir - will sagen ...« Der Sergeant, ein gedrungener, rotgesichtiger Mann, schaffte es nicht zu sagen, was er auf dem Herzen hatte.
»Es sei denn, wir ergeben uns den Franzosen?«, fragte Sharpe mit bitterer Stimme.
Williams blickte dem Lieutenant in die Augen. Es waren seltsame Augen, deren eisiger Blick in diesem Moment geradezu etwas Reptilhaftes hatte. Der Sergeant brachte genug Widerstandsgeist auf, seine Argumentation fortzuführen. »Die Froschfresser haben immerhin Feldärzte dabei, Sir.«
»In einer Stunde ...«, Sharpes Stimme ließ erkennen, dass er Williams' Worte überhört hatte, »... werde ich die Gewehre der Männer inspizieren. Stellen Sie sicher, dass sie bereit sind.«
Williams starrte den Offizier streitlustig an, brachte jedoch nicht den Mut auf, sich ihm zu widersetzen. Er nickte knapp und wandte sich ab.
Captain Murray saß in der Scheune, den Rücken an einen Haufen Säcke gelehnt. Er schenkte Sharpe ein schwaches Lächeln. »Was haben Sie vor?«
»Sergeant Williams meint, ich sollte Sie einem französischen Feldarzt übergeben.«
Murray schnitt eine Grimasse. »Ich habe gefragt, was Sie vorhaben.«
Sharpe ließ sich neben dem Captain nieder. »Den Anschluss suchen.«
Murray nickte. Er hatte einen Becher Tee in der Hand, das kostbare Geschenk eines der Schützen, der die Teeblätter in den Tiefen seiner Munitionstasche gehortet hatte. »Sie können mich hier zurücklassen.«
»Ich kann doch nicht einfach ...«
»Ich werde sterben.« Murray zuckte mit den Schultern, um anzudeuten, dass er auf Sympathiebezeugungen verzichten konnte. Seine Wunde blutete nicht allzu stark, aber sein Bauch war inzwischen blau angeschwollen, was bedeutete, dass der Captain innere Blutungen hatte. Er wies mit dem Kopf auf die anderen drei Schwerverwundeten, alle mit tiefen Säbelverletzungen an Gesicht oder Rumpf. »Lassen Sie die ebenfalls zurück. Wohin werden Sie sich wenden? In Richtung Küste?«
Sharpe schüttelte den Kopf. »Wir können das Heer jetzt nicht mehr einholen.«
»Wahrscheinlich nicht.« Murray schloss die Augen.
Sharpe wartete. Es hatte wieder zu regnen begonnen, und durch ein Loch im Dach tropfte es unaufhörlich ins Feuer. Er überlegte, welche Möglichkeiten ihm noch blieben. Am Erfolg versprechendsten erschien ihm der Versuch, Sir John Moores Heer zu folgen, aber das zog sich in aller Eile zurück, und die Franzosen kontrollierten inzwischen die Straße, die Sharpe hätte nehmen müssen. Er war sich darüber im Klaren, dass er dieser Versuchung widerstehen musste, weil sie nur in Gefangenschaft enden konnte. Stattdessen musste er sich nach Süden wenden. Sir John war aus Lissabon aufgebrochen und hatte einige Einheiten zurückgelassen, um die portugiesische Hauptstadt zu beschützen. Vielleicht gab es diese Garnison noch, und vielleicht konnte Sharpe sie erreichen.
»Wie weit ist es nach Lissabon?«, fragte er Murray.
Der Captain öffnete die Augen und runzelte die Stirn. »Keine Ahnung. Vier-, fünfhundert Meilen?« Er zuckte zusammen, als ihn der Schmerz durchfuhr. »Wahrscheinlich sind es auf diesen Straßen eher sechshundert. Meinen Sie, wir haben da noch Soldaten?«
»Schlimmstenfalls könnten wir dort ein Schiff finden.«
»Wenn die Franzosen nicht vor Ihnen ankommen. Was halten Sie von Vigo?«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass die Franzosen schon dort sind, ist größer als bei Lissabon.«
»Stimmt.« Die leichte Division war auf einer südlicher gelegenen Straße nach Vigo entsandt worden. Nur ein Teil der Truppe, darunter auch die Schützen, war zurückgeblieben, um Sir John Moores Rückzug abzusichern. »Vielleicht ist Lissabon doch am geeignetsten.« Murray blickte an Sharpe vorbei und sah, wie die Männer ihre Gewehrschlösser säuberten und ölten. Er seufzte. »Gehen Sie nicht zu hart mit ihnen um.«
»Tu ich nicht.« Sofort ging Sharpe in die Defensive.
Ein Lächeln huschte über Murrays Gesicht. »Haben Sie jemals unter dem Kommando eines Offiziers gestanden, der aus den Mannschaftsdienstgraden hervorgegangen war?«
Sharpe vermutete darin eine Kritik an seiner Person und war einen Moment lang beleidigt. Dann erkannte er jedoch, dass Murray ihm nur helfen wollte. »Nein, Sir, nie.«
»Die Männer sträuben sich dagegen. Eigentlich dumm von ihnen. Sie meinen, man würde nicht zum Offizier ernannt, sondern als Offizier geboren.« Murray hielt inne, um Atem zu schöpfen, und zitterte vor Schmerzen. Er merkte, dass Sharpe ihn zum Schweigen auffordern wollte, und schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht mehr viel Zeit. Also muss ich die verbleibende gut nutzen. Sie halten mich hoffentlich nicht für unverschämt?«
»Nein, Sir.«
Murray unterbrach sich, um einen Schluck Tee zu nehmen. »Es sind gute Männer.«
»Ja.«
»Aber sie haben seltsame Vorstellungen davon, was gut und richtig ist. Wissen Sie, sie erwarten von Offizieren, dass sie anders sind. Ihrer Meinung nach haben sie privilegiert zu sein. Offiziere sind Männer, die aus freien Stücken in den Kampf ziehen, nicht weil die Armut sie dazu zwingt. Begreifen Sie das?«
»Ja.«
»Sie halten Sie im Grunde für einen der ihren, für einen der Verdammten. Sie wollen, dass ihre Offiziere anders dastehen.« Murray schüttelte traurig den Kopf. »Kein besonders guter Rat, stimmt's?«
»Doch, sehr gut«, log Sharpe.
Der Wind seufzte um die Ecken der steinernen Scheune und ließ die Flammen des kleinen Feuers flackern. Murray lächelte traurig. »Ich will mir einen Rat ausdenken, der Ihnen praktische Unterstützung bietet. Einen, der Sie nach Lissabon bringt.« Er runzelte kurz die Stirn, dann richtete er die rot geränderten Augen auf Sharpe. »Machen Sie sich Patrick Harper zum Freund.«
Sharpe warf einen Seitenblick auf die Männer, die am anderen Ende der Scheune zusammensaßen. Der hünenhafte Ire schien zu spüren, dass von ihm die Rede war, denn er bedachte Sharpe mit einem feindseligen Blick.
»Er ist ein Unruhestifter, aber die Männer hören auf ihn. Ich habe einmal versucht, ihn zum Auserwählten zu machen.« Murray benutzte instinktiv den alten Ausdruck der Schützen für einen Corporal. »Aber er wollte nichts davon hören. Er würde einen guten Sergeant abgeben. Ach was! Sogar einen guten Offizier, wenn er nur lesen könnte. Doch er will von alledem nichts wissen. Andererseits hören die Männer auf ihn. Er hat Sergeant Williams in der Tasche.«
»Mit Harper werde ich schon fertig.« Sharpe sprach die Worte mit einer aufgesetzten Selbstsicherheit. In seiner Zeit bei den 95th Rifles war ihm der Ire schon des Öfteren aufgefallen, und er hatte sich aus eigener Anschauung überzeugen können, dass Captain Murrays Behauptung zutraf. Harper war der geborene Anführer. Um Harpers Lagerfeuer drängten sich die Männer, sei es, um sich an seinen Geschichten zu erfreuen, oder weil sie seine Anerkennung suchten. Offiziere, die er mochte, genossen die humorvolle Gefolgschaft des Iren, während jene, die er ablehnte, nichts als Verachtung ernteten. Hinzu kam, dass Schütze Harper etwas Einschüchterndes an sich hatte, das nicht nur auf seine Körpergröße zurückzuführen war, sondern auch auf seine Aura weiser Selbstgenügsamkeit.
»Zweifellos meint Harper, er würde mit Ihnen schon fertig. Er ist ein harter Mann ...«, Murray hielt inne, dann lächelte er, »... aber er ist durch und durch sentimental.«
»Also hat er eine Schwäche«, sagte Sharpe barsch.
»Ist das eine Schwäche?« Murray zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht. Aber nun werden Sie mich für schwach halten. Wenn ich tot bin ...« Wieder musste er den Kopf schütteln, um Sharpe am Widerspruch zu hindern. »Wenn ich tot bin«, wiederholte er, »möchte ich, dass Sie meinen Degen an sich nehmen. Ich sage Williams Bescheid, dass Sie ihn haben sollen.«
Sharpe betrachtete den schweren Kavalleriedegen, der in seiner metallenen Scheide an die Wand gelehnt stand. Er sah plump und schwerfällig aus, aber Sharpe konnte in diesem Moment keine Einwände gegen ein solches Geschenk vorbringen. »Danke.« Das klang unbeholfen. Er war es nicht gewohnt, persönliche Gefälligkeiten zu erhalten, noch hatte er gelernt, wie man sie geziemend entgegennimmt.
»Er ist nichts Besonderes«, sagte Murray, »aber er kann den Degen ersetzen, den Sie verloren haben. Und wenn die Männer ihn in Ihrer Hand sehen ...« Er konnte den Satz nicht beenden.
»Werden sie mich für einen richtigen Offizier halten?« Sharpes Stimme klang bedrückt.
»Werden sie glauben, dass ich Sie gern hatte«, sagte Murray in milder Zurechtweisung, »und das wird Ihnen zugute kommen.«
Sharpe spürte den Tadel im Tonfall des sterbenden Mannes und murmelte noch einmal seinen Dank.
Murray atmete flach. »Ich habe Sie gestern beobachtet. Sie sind ein guter Kämpfer, stimmt's?«
»Für einen Quartiermeister?«
Murray ignorierte das Selbstmitleid. »Sie haben schon viele Schlachten geschlagen?«
»Ja.«
»Es war nicht sehr klug von Ihnen, jemanden das wissen oder auch nur spüren zu lassen.« Murray lächelte. »Von Lieutenants aus dem Mannschaftsstand wird nicht erwartet, dass sie erfahrener sind als ihre Vorgesetzten.« Der Captain blickte zum löchrigen Dach hinauf. »Ein verdammt unpassender Ort zum Sterben, wie?«
»Ich werde Sie am Leben halten.«
»Ich traue Ihnen alles Mögliche zu, Lieutenant Sharpe, aber Wunder können auch Sie nicht vollbringen.«
Daraufhin schlief Murray ein.
Alle Schützen ruhten sich den Tag über aus. Der Regen ließ nicht nach, und am Nachmittag verwandelte er sich in schweren, nassen Schnee, der bis zum Abend die nächstgelegenen Hügelkuppen bedeckte.
Hagman hatte mithilfe von Fallen zwei Hasen gefangen, schmale Kost, doch konnte man damit den wenigen Bohnen und Brotkrusten, die die Männer in ihren Tornistern gehortet hatten, etwas Geschmack verleihen. Einen großen Topf gab es nicht, aber die Männer verwendeten ihre Blechnäpfe als Kochgeschirr.
Sharpe verließ in der Dämmerung die Scheune und begab sich in die kalte Ruine des Wohngebäudes.
Das Haus war wenig eindrucksvoll, nichts als vier verfallene Steinmauern, die einmal ein Dach aus Holzbalken und Torfsoden gestützt hatten. Eine der Türen wies nach Osten, die andere nach Westen, und durch den östlichen Eingang konnte Sharpe tief drunten ein Tal erkennen, in dem nun der Schnee umherwirbelte. Einmal, als der Schnee vom Wind auseinandergetrieben wurde, glaubte er am Ende des Tals eine graue Rauchfahne aufsteigen zu sehen. Möglicherweise befand sich dort ein kleines Dorf, in dem sie Unterschlupf suchen konnten. Doch schon zog sich der weiße Vorhang wieder zu.
Sharpe fröstelte, und es kam ihm unglaublich vor, dass dies Spanien sein sollte.
Als er Schritte hörte, drehte er sich um. Schütze Harper trat geduckt durch die westliche Tür des kleinen Hauses, erkannte Sharpe und hielt inne. Er deutete auf einige herabgefallene Dachbalken zwischen Steintrümmern.
»Holz, Sir«, erklärte er seine Absicht, »fürs Feuer.«
»Nur zu.« Sharpe beobachtete, wie der Ire die verrotteten Balken ergriff und aus dem Schutt zog. Es schien Harper zu stören, dass man ihm dabei zusah, denn er richtete sich auf und starrte den Lieutenant an. »Und was tun wir als Nächstes, Sir?«
Einen Moment lang nahm Sharpe Anstoß an diesem mürrischen Ton, doch dann wurde ihm klar, dass Harper nur die Frage stellte, die alle Männer der Kompanie beantwortet haben wollten.
»Wir machen uns auf den Heimweg.«
»Sie meinen England?«
»Ich meine, zurück zum Heer.« Sharpe wünschte sich plötzlich, den Weg allein antreten zu können, unbehindert von aufsässigen Männern. »Wir müssen uns nach Süden wenden. Nach Lissabon.«
Harper kam an die Tür, duckte sich und starrte gen Osten. »Ich hatte sowieso nicht angenommen, dass Sie Donegal meinen.«
»Ist das deine Heimat?«
»Jawohl.« Harper sah zu, wie der Schnee sich ins dunkle Tal herabsenkte. »Das hier erinnert mich an Donegal, wahrhaftig. Nur dass dies ein besseres Land ist.«
»Besser?« Sharpe war überrascht. Es bereitete ihm eine seltsame Genugtuung, dass sich der Hüne herabgelassen hatte, dieses Gespräch zu führen, das ihn plötzlich liebenswerter erscheinen ließ. »Besser?«, musste Sharpe noch einmal fragen.
»Hier haben nie die Engländer geherrscht. Hab ich recht, Sir?« Da war sie wieder, diese Unverschämtheit. Harper stand da, starrte auf den sitzenden Sharpe hinab, und in seiner Stimme lag nichts als Verachtung. »Dies ist ein unbeflecktes Land, wahrhaftig.«
Sharpe erkannte, dass er verführt worden war, die Frage zu stellen, die nun den Hohn des Mannes auf den Plan gerufen hatte. »Ich dachte, du wolltest Holz holen.«
»Wollte ich.«
»Dann nimm es und verschwinde.«
Später, nach seinem Besuch bei den Wachtposten, kehrte Sharpe in die Scheune zurück und setzte sich an die Wand, wo er den raunenden Stimmen der Männer lauschte, die sich um Harper versammelt hatten. Sie lachten leise und ließen Sharpe wissen, dass er aus der Gemeinschaft der Soldaten ausgeschlossen war, selbst wenn sie zum Tode verdammt waren.
Er war allein.
Captain Murray starb noch in dieser Nacht. Er tat es ohne Lärm oder Aufruhr, glitt schlicht und ohne viel Aufhebens hinüber.
»Die Jungs wollen ihn begraben.« Williams sagte es zu Sharpe, als rechne er mit Widerspruch.
Sharpe stand in der Tür zur Scheune. »Natürlich.«
»Er hat gesagt, ich soll Ihnen das hier geben.« Williams hielt ihm den großen Degen hin.
Es war ein peinlicher Moment. Sharpe spürte, wie die Männer ihre Blicke auf ihn richteten, als er die schwere Waffe annahm. »Vielen Dank, Sergeant.«
»Er hat immer gesagt, dass er im Kampf einem Säbel überlegen ist, Sir«, sagte Williams. »Lehrt die verfluchten Franzmänner das Fürchten, wahrhaftig. Eine echte Schlächterklinge.«
»Sicher.«
Die momentane Vertraulichkeit, hervorgerufen durch die Überreichung des Schwerts, schien Williams Mut zu machen.
»Wir haben uns gestern Abend besprochen, Sir.«
»Wir?«
»Ich und die Jungs.«
»Und?« Sharpe sprang von der erhöhten Türschwelle in eine vom Neuschnee glitzernde Welt hinaus. Das ganze Tal funkelte unter einer blassen Sonne, die von dichter werdenden Wolken bedroht wurde.
Der Sergeant kam ihm nach. »Sie weigern sich, Sir. Sie wollen nicht nach Süden.« Sein Ton war respektvoll, aber sehr bestimmt.
Sharpe entfernte sich von der Scheune. Seine Stiefel knirschten im frischen Schnee. Außerdem ließen sie Feuchtigkeit durch, weil sie ebenso wie die Stiefel der Männer, die er befehligen sollte, zerrissen und löchrig waren, notdürftig von Lumpen und Zwirn zusammengehalten, nicht gerade das Schuhwerk eines privilegierten Offiziers, dem diese verängstigten Schützen durchs finstere Tal des Todes folgen sollten.
»Und wer hat diese Entscheidung getroffen, Sergeant?«
»Wir alle, Sir.«
»Seit wann, Sergeant, herrscht beim Heer ...«, Sharpe hielt inne und versuchte sich an das Wort zu erinnern, das er einmal in der Offiziersmesse gehört hatte, »... Demokratie?«
Williams war das Wort völlig unbekannt. »Wie meinen, Sir?«
Sharpe konnte nicht erklären, was es bedeutete, darum setzte er neu an. »Seit wann ist Sergeant ein höherer Rang als Lieutenant?«
»Das is' es nicht, Sir.« Williams geriet in Verlegenheit.
»Was ist es dann?«
Der Sergeant zögerte, doch er wurde von den Männern beobachtet, die sich im offenen Eingang zur Scheune drängten, und unter ihrem kritischen Blick fand er Mut und Zungenfertigkeit wieder. »Wahnsinn, Sir. Das is' es. Wir können bei diesem Wetter nicht nach Süden marschieren. Wir würden verhungern! Und wir wissen nicht mal, ob in Lissabon noch eine Garnison is'.«
»Stimmt, das wissen wir nicht.«
»Also wenden wir uns nach Norden, Sir«, sagte Williams so vertraulich, als würde er Sharpe mit diesem Vorschlag einen großen Gefallen erweisen. »Da gibt es Häfen, Sir, und wir werden ein Boot finden. Ich meine, unsere Flotte steht noch vor der Küste, Sir. Die wird uns schon aufnehmen.«
»Woher weißt du, dass die Flotte noch da ist?«
Williams zuckte bescheiden mit den Schultern. »Ich bin's nicht, der das weiß, Sir.«
»Harper?«, fragte Sharpe.
»Harps? Um Himmels willen, nein, Sir. Der is' nichts weiter als ein irischer Bauer, stimmt's? Der hat von so was keine Ahnung, Sir. Nein, Schütze Tongue is' es, Sir. Ein kluger Mann. Er kann lesen. Der Alkohol hat ihn zugrunde gerichtet, müssen Sie wissen, Sir. Nur der Alkohol. Aber er is' ein gebildeter Mann, Sir, und er hat uns gesagt, dass die Flotte vor der Küste steht und dass wir uns nach Norden durchschlagen und ein Boot finden können.« Von Sharpes Schweigen ermutigt, deutete Williams auf die steile Bergkette im Norden. »So weit kann's bis zur Küste nicht sein, Sir. Vielleicht drei Tage? Vier?«
Sharpe entfernte sich noch ein paar Schritte von der Scheune. Der Schnee lag etwa eine Handlänge tief, obwohl er, wo der Boden absank, tiefere Wehen gebildet hatte. Er war nicht zu tief zum Marschieren, und das war alles, was Sharpe an diesem Morgen wirklich kümmerte. Die Wolken begannen sich vor die Sonne zu schieben, als Sharpe nun dem Sergeant ins Gesicht sah.
»Ist euch der Gedanke gekommen, Sergeant, dass die Franzosen vom Norden und Osten her in dieses Land einmarschieren?«
»Tun sie das, Sir?«
»Und dass wir ihnen, wenn wir uns nach Norden wenden, höchstwahrscheinlich direkt in die Arme laufen? Oder geht's euch am Ende darum? Gestern warst du durchaus bereit, dich zu ergeben.«
»Wir müssten es halt ein wenig klug anstellen, Sir. Ihnen hier und da ausweichen.« Williams erweckte den Eindruck, als sei es ein Kinderspiel, Napoleons Soldaten zu entwischen.
Sharpe hob die Stimme, sodass alle Männer ihn hören konnten. »Wir marschieren nach Süden, Sergeant. Wir machen uns heute das Tal entlang auf den Weg und suchen uns heute Abend Unterkunft. Danach wenden wir uns nach Süden. Abmarsch in einer Stunde.« »Sir ...«
»In einer Stunde, Sergeant! Wenn ihr also ein Grab für Captain Murray ausheben wollt, solltet ihr das jetzt tun. Und wenn du dich widersetzen willst, Sergeant Williams, sorgst du am besten dafür, dass das Grab groß genug wird für zwei. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Williams zögerte, als wollte er widersprechen, doch unter Sharpes Blick verließ ihn der Mut. Einen angespannten Moment lang hing Sharpes Autorität in der Schwebe, dann nickte der Sergeant. »Jawohl.«
»Also, los.«
Sharpe wandte sich ab. Innerlich zitterte er. Er hatte sich nach außen hin ganz ruhig gegeben, als er Williams die letzten Befehle erteilte, aber er war keineswegs sicher, dass sie auch befolgt würden. Diese Männer waren es nicht gewohnt, Lieutenant Sharpe zu gehorchen. Sie froren, waren fern der Heimat, von Feinden umgeben und fest überzeugt, dass der Weg nach Norden sie erheblich schneller in Sicherheit bringen würde als der nach Süden. Sie wussten, dass ihr eigenes Heer geschlagen und zum Rückzug gezwungen worden war, und sie hatten die Überreste der spanischen Armeen gesehen, die man auf ähnliche Weise besiegt und auseinandergetrieben hatte. Die Franzosen beherrschten siegreich das Land, und die Schützen fühlten sich alleingelassen und fürchteten sich.
Sharpe fürchtete sich ebenfalls. Diese Männer konnten sich seiner geringen Autorität mit beängstigender Leichtigkeit widersetzen. Schlimmer noch, wenn sie ihn als Gefahr für ihr eigenes Überleben ansahen, hatte er mit nichts anderem als einer Klinge im Rücken zu rechnen. Sein Name würde in die Liste jener Offiziere eingehen, die bei Sir John Moores katastrophalem Rückzug gefallen waren, oder aber sein Tod würde unbemerkt bleiben, denn er hatte keine Angehörigen. Er war nicht einmal sicher, ob er noch Freunde hatte, denn wenn ein Mann aus den Mannschaften in die Offiziersmesse versetzt wurde, ließ er seine Freunde weit hinter sich.
Sharpe war klar, dass er sich gleich daranmachen sollte, dem Rest der Kompanie seinen Willen aufzuzwingen, aber er war noch zu mitgenommen, um sich ihrer Kritik auszusetzen. Er redete sich ein, dass er in dem verfallenen Wohnhaus des Gehöfts eine wichtige Aufgabe zu erledigen habe.
Dort angekommen, holte er mit dem schrecklichen Gefühl, sich seiner eigentlichen Verantwortung entzogen zu haben, sein Fernrohr hervor.
Lieutenant Richard Sharpe war kein wohlhabender Mann. Seine Uniform war nicht besser als die der Männer, die er anführte, abgesehen von den silbernen Knöpfen an den Nähten seiner abgetragenen Offiziershose. Seine Stiefel waren ebenso zerrissen, seine Rationen ebenso mager und seine Waffen ebenso abgenutzt wie die Ausrüstung der übrigen Schützen. Aber er besaß einen Gegenstand von großem Wert und großer Schönheit.
Und das war sein Fernrohr. Ein wunderbares Instrument aus der Werkstatt von Matthew Berge in London, dem Sergeant Richard Sharpe von General Sir Arthur Wellesley überreicht. Eine Messingplakette trug die Worte »In Dankbarkeit AW« sowie das Datum der Schlacht von Assaye in Indien, bei der Sharpe, damals noch in der Uniform der Rotröcke, dem General das Leben gerettet hatte. Seine Heldentat hatte ihm zudem die außerordentliche Beförderung zum Offizier eingetragen, und während er nun durch das Fernrohr starrte, ärgerte er sich nachträglich über die Ernennung. Sie hatte ihn zum einsamen Mann gemacht, zum Feind all derer, die ihm bis dahin gleichgestellt waren. Es hatte Zeiten gegeben, da hatten sich die Männer um Sergeant Sharpes Lagerfeuer gedrängt und sich um seine Anerkennung bemüht, aber diese Zeiten waren vorbei.
Sharpe spähte ins Tal hinab, dorthin, wo er am vergangenen Abend im Schneesturm die graue Rauchfahne eines Dorfes erblickt zu haben glaubte. Nun sah er durch die fein geschliffenen Linsen die steinernen Gebäude und den schmalen, hohen Glockenturm einer Kirche.
Es gab also tatsächlich wenige Marschstunden entfernt ein Dorf, und selbst ein armes Dorf würde über gehortete Nahrungsmittel verfügen: Getreide und Bohnen in wachsversiegelten Töpfen, die in der Erde vergraben waren, und Schinken, den man in den Kaminen aufgehängt hatte. Die Vorstellung, Nahrung zu finden, nahm plötzlich überwältigende Bedeutung an.
Er schwenkte das Fernrohr ein wenig nach rechts und überblickte die blendend weiße Schneedecke. Ein mit Eiszapfen behangener Baum huschte durch sein Blickfeld. Dann veranlasste ihn eine unerwartete Bewegung, den Schwenk des Fernrohrs zu unterbrechen, doch es war nur ein Rabe im Flug, der sich schwarz vor dem weißen Hang abhob. Hinter dem Raben offenbarten tiefe Fußspuren, wo Männer den Hügel hinabgerutscht waren, ehe sie unübersichtliches Gelände erreicht hatten.
Sharpe strengte die Augen an. Die Spuren waren frisch. Warum hatten seine Posten nicht Alarm gegeben? Er schwenkte das Fernrohr herum, sodass er die kaum erkennbare Vertiefung im Schnee überblicken konnte, die den Verlauf des Ziegenpfades markierte. Doch die Posten waren verschwunden. Die Männer hatten angefangen, offen gegen ihn zu meutern. Zur Hölle mit ihnen! Er schob mit einer heftigen Bewegung das Fernglas zusammen, richtete sich auf und drehte sich um.
Da sah er sich Harper gegenüber, der in der westlichen Tür der Ruine stand. Er musste sich katzengleich angeschlichen haben, denn Sharpe hatte nichts gehört.
»Wir weigern uns, nach Süden zu gehen«, sagte der Ire mit tonloser Stimme.
»Es ist mir völlig egal, was du meinst. Verschwinde und bereite dich auf den Abmarsch vor.«
»Nein.«
Sharpe legte das Fernrohr auf seinen Brotbeutel, den er zusammen mit dem neuen Degen und dem abgenutzten Gewehr auf dem Fenstersims des verfallenen Hauses abgelegt hatte. Er hatte jetzt die Wahl. Er konnte argumentieren und schmeicheln, überreden und bitten, oder er konnte die Autorität seines Offiziersranges einsetzen. Er fror zu sehr, war zu hungrig, um den mühseligen Weg einzuschlagen, darum berief er sich auf seinen Rang.
»Sie stehen unter Arrest, Schütze.«
Harper ignorierte seine Worte. »Wir gehen nicht, Sir, und damit hat sich's.«
»Sergeant Williams!«, rief Sharpe durch die der Scheune zugewandte Tür des verfallenen Hauses. Die Schützen umstanden im Halbkreis das flache Grab, das sie im schneebedeckten Boden ausgehoben hatten. Sie blickten zu ihm herüber, und ihr Schweigen besagte, dass Harper heute Morgen ihr Abgesandter und Sprecher war. Williams rührte sich nicht.
»Der kommt nicht«, sagte Harper. »Die Sache ist ganz einfach, Sir. Wir gehen nicht nach Süden. Wir wenden uns nach Norden in Richtung Küste. Wir haben darüber geredet, wahrhaftig, und so sieht unser Entschluss aus. Sie können mitkommen oder dableiben. Uns ist es gleich.«
Sharpe verharrte reglos, um die Angst zu verbergen, die seine Haut prickeln ließ und ihm den Magen umdrehte. Wäre er nach Norden mitgegangen, hätte er die Meuterei stillschweigend hingenommen, hätte er sie akzeptiert und damit den letzten Anschein von Autorität verloren. Wenn er jedoch darauf bestand, sich nach Süden zu wenden, beschwor er seine eigene Ermordung herauf.
»Wir gehen nach Süden.«
»Sie verstehen wohl nicht, Sir.«
»Oh, ich verstehe schon. Ich verstehe sogar sehr gut. Ihr habt beschlossen, nach Norden zu gehen, aber ihr habt eine Heidenangst davor, ich könnte auf eigene Faust nach Süden gehen und die Garnison in Lissabon erreichen. In dem Fall würde ich euch wegen Befehlsverweigerung und Meuterei anzeigen. Man würde dich neben dein eigenes Grab stellen und erschießen, Harper.«
»Sie kommen niemals nach Süden durch, Sir.«
»Was du sagen willst, Harper, ist, dass du hergeschickt wurdest, um sicherzustellen, dass ich nicht überlebe. Ein toter Offizier kann keine Meuterei melden, stimmt's?«
Am Gesichtsausdruck des Iren erkannte Sharpe, dass seine Worte ins Schwarze getroffen hatten.
Harper trat unruhig von einem Bein aufs andere. Er war ein hünenhafter Mann, gut eine Handbreit größer als Sharpe, mit massigem Körperbau, der auf große Muskelkraft schließen ließ. Zweifellos war es den anderen Schützen recht, dass Harper für sie die Drecksarbeit erledigte, und wahrscheinlich war er der Einzige, der dafür den Mut aufbrachte. Oder vielleicht machte der Hass seines Volkes auf die Engländer diesen Mord für ihn zum Vergnügen.
»Nun?«, wollte Sharpe wissen. »Hab ich recht?«
Harper leckte sich die Lippen, dann legte er die Hand an den Messingknauf seines Schwertbajonetts. »Sie können mit uns kommen, Sir.«
Sharpe ließ das Schweigen eine Weile im Raum stehen, dann nickte er müde, als wolle er sich dem Unvermeidlichen beugen.
»Mir bleibt wohl keine andere Wahl, stimmt's?«
»Nein, Sir.« Harpers Stimme verriet seine Erleichterung, dass er den Offizier nicht würde umbringen müssen.
»Nimm das hier mit.« Sharpe deutete mit einem Nicken auf seinen Brotbeutel und die Waffen.
Harper war ein wenig erstaunt, einen derart unvermittelten Befehl zu erhalten, beugte sich jedoch vor, um den Brotbeutel aufzuheben. Da merkte er plötzlich, dass er überlistet worden war. Er setzte noch zu einem Ausweichmanöver an, doch ehe er sich schützen konnte, hatte Sharpe ihm einen Tritt in den Bauch verpasst. Es war ein heftiger Tritt, der ihm mit dumpfem Laut tief in die gestählte Muskulatur ging, und Sharpe ließ sogleich einen beidhändigen Schlag folgen, der Harper in den Nacken traf.
Sharpe wunderte sich, dass der Ire überhaupt noch aufrecht stehen konnte. Jeder andere Mann hätte benommen nach Luft geschnappt. Aber Harper schüttelte nur den Kopf wie ein in die Enge getriebener Bär, taumelte rückwärts und richtete sich wieder auf, um Sharpes nächsten Angriff zu erwarten. Der Offizier schlug dem Hünen erst die rechte, dann die linke Faust in den Magen.
Es war, als würde er auf Teakholz treffen, doch die Schläge zeigten Wirkung. Der Ire grunzte, dann warf er sich vor. Sharpe duckte sich, schlug erneut zu. Im selben Augenblick schien sein Kopf wie eine Kanonenkugel zu explodieren, als Harpers Riesenfaust ihn an der Schläfe traf. Er stieß mit dem Kopf zu und spürte, dass er den anderen ins Gesicht traf. Im nächsten Moment hatte Harper die Arme und den Brustkorb des Lieutenants in einer knochenbrecherischen Umklammerung gepackt.
Sharpe hob den rechten Fuß und rammte die Ferse gegen Harpers Schienbein. Das musste wehgetan haben, aber Harper ließ nicht locker, und Sharpe blieb nichts anderes übrig, als die Zähne zu gebrauchen. Er biss den Iren in die Backe, presste die Zähne zusammen, schmeckte Blut, und der Schmerz war offenbar heftig genug, dass Harper seinen Griff lockerte, um nach dem Kopf des Offiziers zu schlagen.
Sharpe war schneller. Er war in einem Elendsquartier aufgewachsen, wo er jeden nur erdenklichen hinterhältigen und brutalen Trick gelernt hatte. Er versetzte Harper einen Fausthieb an den Hals, dann trieb er ihm den Stiefel in den Unterleib. Jeder andere Mann hätte inzwischen geheult, hätte versucht, weiteren Schmerzen zu entgehen, doch Harper schien alles abzuschütteln, ehe er seinen kraftstrotzenden Körper erneut in Bewegung setzte.
»Du Bastard«, zischte Sharpe, duckte sich, führte eine Finte aus und warf sich zurück, sodass er von der geschwärzten Steinmauer abprallte. Den dadurch gewonnenen Schwung nutzte er, um dem Gegner seine Fäuste in die Magengrube zu rammen. Harpers Kopf senkte sich, und Sharpe versetzte ihm noch einen Kopfstoß. Dann schlug er trotz des Flimmerns vor seinen Augen, das ihm fast die Sicht raubte, mit beiden Fäusten auf das Gesicht des Iren ein.
Harper weigerte sich aufzugeben. Er wehrte sich, schlug Sharpe Nase und Lippen blutig, sodass er zurücktaumelte. Sharpe glitt auf dem Schnee aus, stolperte über den Schutt am Boden und stürzte. Er sah den riesigen Stiefel auf sich zukommen und rollte zur Seite. Er kam vom Boden hoch, knurrte aus blutigem Mund und packte Harpers Kreuzriemen. Nun geriet der Ire seinerseits aus dem Gleichgewicht, und Sharpe zerrte ihn mit Schwung herum und ließ los. Harper drehte sich, torkelte und fiel gegen die Wand. Ein kantiger Stein riss ihm eine blutende Wunde in die linke Wange.
Sharpe tat alles weh. Seine Rippen schmerzten, ihm war schwindlig, sein Gesicht blutete. Er bemerkte, dass sich die anderen Grünjacken vorsichtig dem Kampfplatz näherten. In ihren Gesichtern stand ungläubiges Staunen zu lesen. Sharpe wusste, dass nicht einer von ihnen eingreifen würde, um Harper zu helfen. Der hünenhafte Ire war für diese Aufgabe ausgewählt worden, und er allein musste sie bewältigen.
Harper spuckte aus, starrte Sharpe aus der blutigen Maske seines Gesichts heraus an, dann wuchtete er seinen Körper hoch. Er griff zum Schwertbajonett und zog es aus der Scheide.
»Wenn du das benutzt, du irischer Bastard, bringe ich dich um.«
Harper sagte nichts. Sein Schweigen hatte etwas zutiefst Beängstigendes.
»Bastard«, wiederholte Sharpe. Er warf einen Blick auf seinen neuen Degen, aber der Ire hatte sich so platziert, dass er ihm diesen Ausweg versperrte.
Harper rückte langsam vor, das Schwertbajonett wie ein Kampfmesser vorgestreckt. Er machte einen Ausfall, sodass Sharpe seitlich ausweichen musste, dann einen zweiten, schnell und kraftvoll. Er hoffte, den Offizier aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Sharpe hatte den zweiten Ausfall vorhergesehen und wich ihm aus. Er sah ein kurzes Aufflackern von Verblüffung im Gesicht des Iren. Harper war gut, er war jünger als Sharpe, aber er hatte es noch nie mit jemandem zu tun gehabt, der so schnell reagierte. Und er hatte schon lange nicht mehr so viel einstecken müssen.
Die Überraschung in seinem Blick verwandelte sich in Schmerz, als Sharpes Fäuste seine Augen trafen. Harper schwang das Schwertbajonett, um seinen Angreifer auf Distanz zu halten, und Sharpe ließ die Klinge auf sich zukommen. Er spürte, wie sie seinen Unterarm aufschlitzte, achtete jedoch nicht darauf, sondern rammte den Handballen ins Gesicht des Iren, um ihm die Nase zu brechen. Seine Finger krallten nach Harpers Augen, versuchten sie ihm aus den Höhlen zu reißen. Der Ire fuhr zurück, und Sharpe brachte ihn erneut aus dem Gleichgewicht. Sein Arm brannte vom Schmerz der Schnittwunde, aus der warmes Blut quoll, aber der Schmerz verschwand, als Harper zu Boden ging.
Sharpe setzte rasch nach. Er trat einmal zu, dann noch einmal, vergrub seinen Stiefel im Brustkasten des Riesen. Dann packte er, obwohl es ihm in die Finger schnitt, das Schwertbajonett und stampfte mit der Ferse auf Harpers Handgelenk. Der ließ die Waffe los. Sharpe drehte sie um.
Er keuchte, und sein Atem wurde in der eisigen Luft zu Dampf. Blut tropfte von seiner Hand und rann an der Klinge hinab. Auf dem Schnee, der durch das verfallene Dach und die klaffenden Türöffnungen des Hauses eingedrungen war, war immer mehr Blut zu sehen.
Der Ire sah den Tod über sich, rollte herum, dann drehte er sich ruckartig wieder zu Sharpe um, einen Stein in der Hand. Er schlug mit dem Stein zu, traf die Spitze der herabstoßenden Klinge, und der Aufprall ließ Sharpes Arm taub werden.
Noch nie hatte er es mit so viel Kraft zu tun gehabt, niemals. Er versuchte, ein zweites Mal mit der Waffe zuzustoßen, aber Harper hatte sich inzwischen aufgerichtet, und Sharpe schrie laut auf, als der Stein ihn in die Magengrube traf. Er fiel rücklings gegen die Wand. Die Hand mit der Klinge war immer noch taub.
Er sah die Verwandlung in Harpers Gesicht. Bisher hatte der riesige Ire so emotionslos gewirkt wie ein Metzger, doch nun hatte er das Mienenspiel eines Berserkers angenommen. Es war der Gesichtsausdruck eines Mannes, der zu blinder Wut angestachelt worden ist. Sharpe begriff, dass Harper vorher nur widerwillig eine notwendige Pflicht erfüllt hatte, die ihm nun zur Leidenschaft geworden war. Zum ersten Mal seit Beginn des Kampfes machte der Ire den Mund auf, doch er sprach Gälisch, eine Sprache, die Sharpe nicht verstand. Er wusste nur, dass seine Worte Beschimpfungen waren, Begleitmusik seines Todes, sollte es Harper gelingen, ihm mit dem Stein den Schädel einzuschlagen.
»Komm schon, du Bastard.« Sharpe versuchte, wieder Gefühl in seinen betäubten Arm zu bekommen, indem er ihn massierte. »Du irischer Abschaum. Du verdammter Hurensohn von einem verblödeten Bauern. Komm schon!«
Harper fletschte die blutigen Lippen, zeigte seine blutigen Zähne. Er brüllte eine Herausforderung, ging zum Angriff über, und Sharpe setzte den Kunstgriff des französischen Gardeoffiziers ein. Er wechselte die Klinge von der rechten in die linke Hand und schrie seinen eigenen Schlachtruf. Und stieß zu.
Da explodierte die Welt.
Ein Laut wie der Donner des Jüngsten Gerichts hallte in Sharpes Ohr, und die plötzliche Hitze einer Stichflamme strich um Haaresbreite an seinem Gesicht vorbei. Er zuckte zurück, dann hörte er das Krachen einer Kugel, die von der steinernen Scheunenwand abprallte.
Sharpe nahm zunächst an, einer der anderen Schützen habe doch noch den Mut aufgebracht, Harper beizustehen. Mit der Verzweiflung eines in die Enge getriebenen Tieres wandte er sich knurrend vom ekligen Gestank verbrannten Schwarzpulvers ab und musste feststellen, dass der Ire ebenso verblüfft war wie er. Den Stein immer noch in der massiven Faust, gaffte Harper einen Neuankömmling an, der im östlichen Türausschnitt stand.
»Ich dachte, ihr wäret hier, um die Franzosen zu bekämpfen.« Die Stimme klang amüsiert, spöttisch, überheblich. »Oder haben die Briten nichts Besseres zu tun, als sich wie die Ratten gegenseitig zu zerfleischen?«
Der das sagte, war ein Kavallerieoffizier in der Uniform der spanischen Cazadores, oder vielmehr in den Resten einer solchen Uniform, denn sie war derart zerrissen und schäbig, dass es sich genauso gut um die Lumpen eines Bettlers hätte handeln können. Der Silberbesatz am gelben Kragen des Mannes war abgewetzt, die Kettenglieder seines Degengehänges angerostet. Die schwarzen Stiefel, die ihm bis zur Wade reichten, waren zerschlissen. Ein Umhang aus Sacktuch hing ihm von den Schultern.
Seine Männer, die die Spuren im Schnee hinterlassen hatten und nun eine behelfsmäßige Schützenkette östlich des Gehöfts bildeten, waren in ähnlichem Zustand, doch als Soldat fiel Sharpe sofort auf, dass die spanischen Kavalleristen ihre Degen und Karabiner gepflegt hatten. Der Offizier hielt eine rauchende Pistole mit kurzem Lauf in der Hand, die er jetzt sinken ließ.
»Wer, zum Teufel, sind Sie?« Sharpe hielt immer noch das Schwertbajonett in der Hand und war zum Ausfall bereit. Er hatte in der Tat etwas von einer in die Enge getriebenen Ratte an sich: blutüberströmt, geifernd und bösartig.
»Ich bin Major Blas Vivar.« Vivar war ein Mann mittlerer Größe mit groben Gesichtszügen. Er und seine Männer sahen aus, als seien sie in den letzten Tagen durch die Hölle gegangen, doch die Erschöpfung hinderte ihn nicht daran, seiner Stimme einen Unterton von Spott über das soeben erlebte Spektakel zu verleihen. »Und wer sind Sie?«
Sharpe musste erst Blut ausspucken, ehe er antworten konnte. »Lieutenant Richard Sharpe, 95th Rifles.«
»Und er?« Vivar warf Harper einen Blick zu.
»Der steht unter Arrest«, sagte Sharpe. Er warf das Schwertbajonett zu Boden und stieß Harper vor die Brust. »Raus! Raus!« Er schob ihn durch die Tür des Hauses, hin zu den anderen Grünjacken, die dort im Schnee warteten. »Sergeant Williams!«
»Sir?« Williams betrachtete ehrfürchtig die beiden blutüberströmten Männer. »Sir?«
»Schütze Harper steht unter strengem Arrest.« Sharpe stieß Harper ein letztes Mal an, sodass dieser in den Schnee fiel, dann begegnete er dem spöttischen Blick des Spaniers.
»Sie haben wohl Ärger, Lieutenant?« Der Hohn in Vivars Stimme war nicht zu überhören.
Das Beschämende an der Situation erbitterte Sharpe. Er fand den Ton des Spaniers verletzend. »Das geht Sie nichts an.«
»Sir«, berichtigte ihn Major Vivar.
»Das geht Sie nichts an, Sir.«
Vivar zuckte mit den Schultern. »Wir sind in Spanien, Lieutenant. Was hier vorgeht, geht mich mehr an als Sie, würde ich meinen.« Sein Englisch war vorzüglich, und er sprach mit einer kühlen Höflichkeit, die Sharpes Starrsinn auf den Plan rief.
»Wir wollen nichts weiter ...«, Sharpe wischte sich mit dem dunkelgrauen Ärmel das Blut vom Mund, »... als aus Ihrem verdammten Land verschwinden.«
Der Blick des Spaniers verriet, dass ihn diese Bemerkung ärgerte. »Ich denke, es wird mir ein Vergnügen sein, Sie verschwinden zu sehen, Lieutenant. Warum Ihnen also nicht behilflich sein, das Land zu verlassen?«
Ob es ihm nun gefiel oder nicht, Sharpe hatte einen Verbündeten gewonnen.