An diesem ersten Tag ihres Marsches nach Süden kamen sie besser voran, als Sharpe zu hoffen gewagt hatte. Die Kutsche der Familie Parker war schwerfällig, aber sie hatte Räder mit breiten Felgen, die dafür geschaffen waren, mit zerfurchten, morastigen Wegen fertig zu werden, und einen geduldigen spanischen Kutscher, der geschickt mit dem Gespann aus sechs großen Zugpferden umging. Nur zweimal an diesem Tag war das Gefährt stecken geblieben, sodass es von den Schützen gezogen werden musste, einmal an einer extremen Steigung, das zweite Mal, als ein Rad am Wegesrand in ein Schlammloch geriet. Von Louisa bekam Sharpe nichts zu sehen. Die Tante des Mädchens sorgte dafür, dass es hinter dem zugezogenen Ledervorhang der Kutsche verborgen blieb.
Größe und Ausstattung der Kutsche beeindruckten Sharpe. Der selbst gewählten Mission der Parkers, die papistischen Heiden Spaniens zu bekehren, fehlte es offenbar an nichts. George Parker, der es vorzuziehen schien, neben Sharpe herzugehen, statt sich bei seiner Frau aufzuhalten, erklärte ihm, es sei das hinterlassene Prisengeld des Admirals, das diesen Komfort möglich gemacht habe.
»War der Admiral ein religiöser Mann, Sir?«, erkundigte sich Sharpe.
»Leider nicht. Im Gegenteil. Aber ein reicher Mann, Lieutenant. Und ich sehe nicht ein«, Parker war sichtlich pikiert über Sharpes Fragen nach den Kosten der Kutsche, »warum das Werk des Herrn unter einem Mangel an Mitteln leiden sollte, Sie etwa?«
»Gewiss nicht«, pflichtete Sharpe ihm fröhlich bei. »Aber warum Spanien, Sir? Ich würde meinen, dass es in England noch genug Heiden gibt und man die Spanier nicht belästigen müsste.«
»Weil die Spanier im Schatten Roms dahinvegetieren, Lieutenant. Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet? Wie entsetzlich das ist? Ich könnte Ihnen Geschichten über priesterliche Vergehen erzählen, dass Ihnen die Haare zu Berge stehen! Wissen Sie, was für einen Aberglauben diese Leute hegen?«
»Ich kann's mir denken, Sir.« Sharpe sah sich nach der Kutsche um. Seine beiden Verwundeten fuhren auf dem Dach mit, wohin sie auf Mrs Parkers Geheiß verbannt worden waren. »Aber die Dons scheinen mir nicht gerade auf den Methodismus zu warten, wenn ich mir die Bemerkung erlauben dürfte.«
»Es ist ein steiniger Pfad«, stimmte Parker niedergeschlagen zu.
»Übrigens kannte ich in Indien einen Offizier, der die Heiden zum Christentum bekehrt hat«, sagte Sharpe tröstend, »und er hatte damit viel Erfolg.«
»Wirklich?« Mr Parker war hocherfreut, von diesem Beweis für Gottes Güte zu hören. »Ein gottesfürchtiger Mann?«
»Komplett verrückt war er, Sir. Er gehörte den Royal Irish an, und die haben samt und sonders einen Dachschaden.«
»Aber Sie sagten doch, er habe Erfolg gehabt?«
»Er hat den Leuten gedroht, ihnen mit der Muskete den Schädel wegzublasen, wenn sie sich nicht taufen ließen. Da haben sie sich der Reihe nach angestellt. Die Schlange reichte zweimal um die Rüstkammer herum und dann zurück bis zum Torhaus.«
Mr Parker verstummte. Er versank in eine Trübsal, die sich nur mit der rebellischen Stimmung vergleichen ließ, die unter den langsam marschierenden Rifles herrschte. Sharpes gute Laune war aufgesetzt. Er wollte einfach nicht zugeben, dass die geringen Fortschritte bei seinem Versuch, das Vertrauen der Schützen zu gewinnen, durch seine Entscheidung zunichte gemacht worden war, allein nach Süden aufzubrechen. Er redete sich ein, die schlechte Laune seiner Männer sei auf mangelnden Schlaf zurückzuführen. In Wahrheit aber wusste er, es lag daran, dass man sie gezwungen hatte, Major Vivar im Stich zu lassen. Die Männer hatten Vertrauen zu Vivar, während Sharpes Autorität die Feuerprobe noch nicht bestanden hatte. Das machte seiner empfindlichen Selbstachtung zu schaffen.
Dass die Schützen nicht glücklich waren, wurde von Sergeant Williams bestätigt, der sich zu Sharpe gesellte, während die kleine Marschsäule durch weitläufige Gärten zog. »Die Jungs wären zu gern bei dem Major geblieben, Sir.«
»Um Himmels willen, wieso denn?«
»Wegen seiner Schätze, Sir! Er wollte uns mit Gold belohnen, sobald wir in Santi-Dingsda ankommen.«
»Du bist ein verdammter Narr, Sergeant. Von Gold war nie die Rede. Kann sein, dass in dieser verdammten Kiste Schätze waren, aber der einzige Grund, warum er auf eure Gesellschaft Wert gelegt hat, war der, sich von euch schützen zu lassen.«
Sharpe war sicher, dass er recht hatte. Vivars Zusammentreffen mit den Rifles hatte die kleine Streitmacht des Majors beinahe verdoppelt. Sharpe aber war nicht einer verfluchten Schatztruhe verpflichtet, sondern dem britischen Heer.
»Bis nach Santiago hätten wir es ohnehin nicht geschafft. Dort wimmelt es nur so von diesen verdammten Franzmännern.«
»Jawohl, Sir«, sagte Williams fügsam, aber mit Bedauern.
Sie machten in jener Nacht halt in einer kleinen Stadt, wo ihnen George Parkers gute Spanischkenntnisse Platz in einem Gasthof sicherten. Die Parkers quartierten sich in einem Nebenzimmer der großen Schankstube des Gasthofs ein, während die Schützen es sich im Stall bequem machen durften.
Die Reste des geschenkten Brots aus dem Mönchskloster waren die einzige Nahrung, die die Männer bei sich hatten, und Sharpe wusste, dass sie mehr brauchten. Der Wirt hatte Fleisch und Wein, wollte sich von beidem jedoch nur gegen Bezahlung trennen. Sharpe hatte kein Geld, daher wandte er sich an den alten Parker, doch der gestand ihm traurig, dass seine Frau die Verfügungsgewalt über die familiären Geldmittel habe.
Mrs Parker, die noch dabei war, sich aus Mänteln und Tüchern herauszuschälen, plusterte sich vor Empörung über sein Ansinnen auf. »Geld, Mister Sharpe?«
»Die Männer brauchen Fleisch.«
»Wir sollen dem Militär Zuwendungen machen?«
»Alle Auslagen werden Ihnen zurückerstattet, Madam.« Sharpe spürte, dass Louisas Blicke auf ihm ruhten. Allein im Interesse des Hungers seiner Männer widerstand er der Versuchung, die Nichte anzusehen, aus Angst, die Tante gegen sich aufzubringen.
Mrs Parker ließ ihre lederne Börse klimpern. »Dieses Geld ist dem Herrn geweiht, Lieutenant.«
»Wir leihen es doch nur, Madam. Meine Männer können Ihnen doch mit leerem Magen keinen Schutz bieten.«
Dieser demütig vorgebrachte Einwand schien Mrs Parker zu überzeugen. Sie beschied den Wirt zu sich und handelte mit ihm den Kauf eines Topfes voller Ziegenknochen aus, daraus sich, wie sie Sharpe versicherte, eine nahrhafte Brühe zubereiten ließe.
Als der Handel abgeschlossen war, zögerte Sharpe, ehe er die von Mrs Parker geforderte Quittung ausfertigte. »Und noch etwas Geld für Wein, gnädige Frau?«
George Parker sah angestrengt zur Zimmerdecke, Louisa machte sich an einem Kerzendocht zu schaffen, und aus Mrs Parkers Blick sprach das Grauen, als sie sich nun Sharpe zuwandte. »Wein?«
»Sehr richtig, Madam.«
»Ihre Männer sind Trunkenbolde?«
»Sie haben ein Anrecht auf Wein.«
»Ein Anrecht?« Die Betonung der Frage verhieß nichts Gutes.
»Britische Heeresvorschrift, Madam. Ein Fünftel Liter Weinbrand pro Tag oder ein halber Liter Wein.«
»Für jeden?«
»Natürlich, Madam.«
»Nicht, Lieutenant Sharpe, solange sie christliches Volk in sichere Gefilde eskortieren.« Mrs Parker steckte die Börse in eine Tasche ihres Rocks. »Das Geld unseres Herrn und Heilandes, Lieutenant, wird nicht für geistige Getränke verplempert. Ihre Männer können Wasser trinken. Mein Mann und ich, wir trinken nichts als Wasser.«
»Oder auch mal Dünnbier«, beeilte George sich, sie zu korrigieren.
Mrs Parker schenkte ihm keine Beachtung. »Die Quittung, Lieutenant, wenn Sie so gut sein wollen.«
Sharpe unterschrieb pflichtschuldigst das Papier. Dann folgte er dem Wirt in den großen Schankraum. Dort angekommen, schnitt er sich mangels anderer Währung vier der Silberknöpfe ab, die an die äußere Naht seiner Uniformhose angenäht waren. Mit den Knöpfen erstand er so viele Weinschläuche, dass es für jeden einen Becher voll gab. Die Männer nahmen ihre Zuteilung und die Schüssel, in der Knorpel und Knochen herumschwammen, in düsterem Schweigen entgegen. Dieses Schweigen wurde jedoch von aufmüpfigem Murren abgelöst, als Sharpe verkündete, das Wecken sei für vier Uhr morgens angesetzt. Von diesem neuen Beweis der aufsässigen Gesinnung seiner Schützen angestachelt, fügte er barsch hinzu, dass diejenigen, die es vorzögen, in französische Gefangenschaft zu geraten, getrost sofort gehen könnten. Er wies durch die Stalltür auf den Hof, wo sich bereits der erste Frost bildete.
Niemand sagte etwas oder rührte sich. In einem Winkel des Stalls konnte Sharpe Harpers Augen glitzern sehen. Wieder einmal hatten sich die Rifles instinktiv um den großen Iren versammelt. Doch Harper um Unterstützung anzugehen hatte keinen Sinn. Er schien den Abfall von Blas Vivar mehr als jeder andere übel zu nehmen, obwohl es Sharpe nicht klar war, warum sie dem Major hätten beistehen sollen.
»Vier Uhr!«, sagte er. »Und um fünf Uhr ist Aufbruch!«
Mrs Parker war über diesen Bescheid nicht glücklicher als die Schützen. »Um vier Uhr aufstehen? Glauben Sie etwa, der Körper könne ohne Schlaf auskommen, Lieutenant?«
»Ich halte es für das Beste, vor den Franzosen aufzubrechen.« Sharpe zögerte. Es fiel ihm nicht leicht, diese störrische Frau noch einmal um etwas zu bitten, aber da er sich nicht zutraute, in der Schwärze der Nacht selbst die Zeit abzuschätzen, fragte er: »Übrigens, Madam, haben Sie vielleicht eine Uhr dabei?«
»Einen Zeitmesser, Lieutenant?« Mrs Parker wollte sich mit dieser Frage Zeit erkaufen, um ihre Ablehnung wirksam zu formulieren.
»Bitte, Madam.«
Von dem brettharten Sitz im Alkoven her, der ihr als Bett diente, lächelte Louisa Sharpe zu. Ihre Tante sah das Lächeln und zog hastig den Vorhang vor den Alkoven. »Sie werden doch selbstverständlich vor dieser Tür schlafen, Lieutenant?«
Sharpe, der bloß an Uhren dachte, war über diese gebieterisch vorgetragene Forderung verblüfft. »Wie meinten Sie, Madam?«
»In diesem Zimmer halten sich schutzlose Frauenspersonen auf, Lieutenant, britische Frauenspersonen.«
»Ich bin sicher, dass Sie hier ungefährdet sind.« Sharpe zeigte auf den schweren Riegel an der Tür.
»Haben Sie denn keinen Begriff von Ihren Pflichten, Lieutenant?«, fuhr Mrs Parker ihn erbost an. »Kein Wunder, dass Sie nie über Ihren niederen Rang hinaus befördert wurden!«
»Madam, ich ...«
»Unterbrechen Sie mich nicht! Ich lasse mir Ihren Kasernenhofton nicht gefallen, Lieutenant. Haben Sie die papistischen Kreaturen gesehen, die wie die Tiere in dieser Taverne saufen? Wissen Sie, was für Unheil geistige Getränke anrichten? Und dürfte ich Sie daran erinnern, dass Mister Parker in England Steuern entrichtet hat? Wir haben ein Recht darauf, von Ihnen beschützt zu werden.«
George Parker, der sich bemühte, im Schein einer Talglampe seine heiligen Schriften zu lesen, blickte Sharpe flehentlich an. »Ich bitte Sie, Lieutenant.«
»Ich werde draußen übernachten, Madam, aber ich brauche einen Zeitmesser.«
Mrs Parker lächelte, hocherfreut über ihren kleinen Sieg. »Wenn Sie uns beschützen, Lieutenant, werden Sie sicher wach bleiben wollen. Ein Stundenglas umdrehen zu müssen wird Sie vor dem Einschlafen bewahren. George?«
George Parker kramte in seiner Reisetasche und förderte ein Stundenglas zutage, das er mit bedauernder Miene an Sharpe weiterreichte. Mrs Parker nickte zufrieden. »Es fehlen fünfundzwanzig Minuten auf zehn Uhr, Lieutenant. Das Glas braucht eine Stunde, um sich zu leeren.« Dann entließ sie ihn mit königlicher Geste.
Sharpe machte es sich vor dem Zimmer der Parkers an einer Wand bequem. Das Stundenglas stellte er auf ein Fensterbrett und sah zu, wie die ersten Sandkörner herabrieselten.
Zur Hölle mit dieser unmöglichen Frau! Kein Wunder, dass das Heer etwas gegen die Ausbreitung des Methodismus in seinen Reihen hatte. Andererseits war Sharpe froh, den Leibwächter zu spielen, und sei es für eine unhöfliche Frau wie Mrs Parker. Dadurch brauchte er nicht in den Stall zurückzukehren, wo seine Schützen nur wieder ihrem Missvergnügen und ihrer Empörung Luft machen würden.
Es hatte eine Zeit gegeben, da die Gesellschaft solcher Männer seine Gewohnheit und sein Vergnügen waren. Nun als Offizier blieb ihm ihre Kameradschaft verschlossen. Er empfand eine immense, hoffnungslose Erschöpfung und wünschte sich, dass dieser verfluchte Marsch endlich überstanden wäre.
Sharpe trennte noch einen Knopf von der Hose ab, die bereits so weit klaffte, dass ein gutes Stück narbenbedeckten Schenkels zu sehen war, und erstand für sich selbst einen Schlauch Wein. Er trank ihn hastig und in bedrückter Stimmung aus. Dann zog er eine Bank heran, bis sie an der Tür der Familie Parker stand. Die übrigen Gäste im Schankraum waren dem zerlumpten, mürrischen fremden Soldaten gegenüber misstrauisch und hielten sich von ihm fern.
Die Bank stand vor einem kleinen offenen Fenster, von dem aus Sharpe den Stall sehen konnte. Er wurde den Verdacht nicht los, dass die Schützen noch eine Meuterei anzetteln, dass sie sich womöglich im Dunkeln davonschleichen würden, um sich wieder ihrem geliebten Major anschließen zu können. Doch bis auf ein paar Männer, die auf dem Hof erschienen, um Wasser zu lassen, wirkte alles still. Still, aber nicht ruhig. Sharpe konnte das Gelächter der Männer hören, und es machte seine Einsamkeit noch schlimmer. Allmählich verstummte auch das Lachen.
Er konnte nicht schlafen. Der Schankraum leerte sich bis auf zwei Viehhändler, die fröhlich am ersterbenden Feuer vor sich hinschnarchten, und den Schankkellner, der sich unter der Durchreiche zur Ruhe bettete.
Allmählich bekam Sharpe Kopfschmerzen. Plötzlich fehlte ihm Vivar. Die gute Laune und Zuversicht des Spaniers hatten ihm den langen Marsch erträglich gemacht. Nun fühlte er sich dem Chaos ausgesetzt. Wie, wenn die britische Garnison in Lissabon wirklich längst aufgelöst war? Oder wenn es vor der Küste keine seetüchtigen Schiffe mehr gab? War er dazu verdammt, durch Spanien zu ziehen, bis eines Tages die Franzosen seine Probleme lösten, indem sie ihn gefangen nahmen? Und wenn sie es taten?
Der Krieg musste bald mit einem französischen Sieg enden, und die Franzosen würden ihre Gefangenen heimschicken. Sharpe würde als einer von vielen gescheiterten Offizieren nach England zurückkehren und gezwungen sein, bei halbem Sold ein elendes Leben zu fristen.
Er drehte das Stundenglas um und machte einen Strich auf die weiß getünchte Wand. Neben den Viehhändlern lag ein halb geleerter Weinschlauch. Sharpe nahm ihn an sich. Er spritzte sich das übel schmeckende Gesöff in den Mund, in der Hoffnung, trotz des unangenehmen Geschmacks seine Kopfschmerzen loszuwerden.
Er wusste, dass er am nächsten Morgen schlecht gelaunt und unausgeruht sein würde. Seinen Männern würde es gewiss nicht anders ergehen, und die Erinnerung an ihre Verstimmtheit deprimierte ihn noch mehr.
Zur Hölle mit ihnen! Zur Hölle mit Williams! Zur Hölle mit Harper! Zur Hölle mit Vivar! Zur Hölle mit Sir John Moore, weil er das verdammt beste Heer ruiniert hatte, das jemals England verlassen hatte! Zur Hölle mit Spanien und den verdammten Parkers und der verdammten Kälte, die immer weiter in den Schankraum vordrang, je schwächer das Feuer brannte!
Da hörte er auf einmal, wie hinter ihm an der Tür der Riegel zurückgeschoben wurde, heimlich und mit ungeheurer Vorsicht. Nach scheinbar endlos langer Zeit quietschte die schwere Tür in den Angeln.
Zwei furchtsame Augen richteten sich auf Sharpe. »Lieutenant?«
»Miss?«
»Ich habe Ihnen dies hier mitgebracht.« Louisa schloss behutsam hinter sich die Tür und kam zu ihm herüber. Sie streckte ihm eine dicke, silberne Taschenuhr entgegen. »Das ist eine Uhr mit Läutwerk«, flüsterte sie. »Ich habe sie so eingestellt, dass sie um vier Uhr morgens schlägt.«
Sharpe nahm die gewichtige Uhr entgegen. »Ich danke Ihnen.«
»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte Louisa hastig.
»Nein ...«
»O doch. Ich verbringe viele Stunden damit, mich für das Benehmen meiner Tante zu entschuldigen. Vielleicht wären Sie morgen so freundlich, mir die Uhr zurückzugeben, ohne dass sie es merkt?«
»Natürlich.«
»Außerdem habe ich mir überlegt, dass Sie dies hier brauchen könnten, Lieutenant.« Sie lächelte schelmisch und zog eine schwarze Flasche aus ihrem Umhang. Zu Sharpes Erstaunen enthielt sie spanischen Branntwein. »Die gehört meinem Onkel«, erläuterte sie, »aber der soll ohnehin nicht davon trinken. Er wird annehmen, meine Tante habe sie gefunden und beseitigt.«
»Ich danke Ihnen.« Sharpe nahm einen Schluck von der scharfen Flüssigkeit. Dann wischte er das Mundstück mit linkischer Galanterie an seinem Ärmel ab und bot Louisa die Flasche dar.
»Nein, danke.« Sie lächelte über seine unbeholfene Geste, beschloss, sie als freundliche Einladung zu verstehen, und nahm sittsam am anderen Ende von Sharpes Sitzbank Platz. Sie trug nach wie vor Rock, Umhang und Hut.
»Ihr Onkel trinkt also?«, fragte Sharpe erstaunt.
»Würde es Ihnen nicht genauso gehen? Wenn Sie mit ihr verheiratet wären?« Als sie seine Grimasse sah, lächelte Louisa. »Glauben Sie mir, Lieutenant, ich habe mich meiner Tante nur wegen der Gelegenheit angeschlossen, Spanien zu sehen. Auf keinen Fall deshalb, weil ich monatelang ihre Gesellschaft genießen wollte.«
»Ich verstehe«, sagte Sharpe, obwohl er in Wahrheit gar nichts verstand, vor allem nicht, warum die junge Frau mitten in der Nacht seine Gesellschaft gesucht hatte. Es schien ihm schwer vorstellbar, dass sie es nur deshalb riskiert hatte, sich den Zorn ihrer Tante zuzuziehen, um ihm eine Uhr auszuleihen. Noch dazu schien sie darauf aus zu sein, sich mit ihm zu unterhalten. Obwohl ihn ihre Gegenwart schüchtern und beklommen machte, wollte er, dass sie blieb. Das ausgehende Feuer warf gerade genug Licht auf sie, um ihrem Gesicht einen rötlichen Glanz zu verleihen. Diese Frau war wunderschön.
»Meine Tante ist außergewöhnlich unhöflich«, fuhr Louisa mit ihrer Entschuldigung fort. »Sie hatte keinen Grund, sich in der Weise, wie sie es getan hat, über Ihren Rang zu äußern.«
Sharpe zuckte mit den Schultern. »Sie hat ja recht. Ich bin recht alt für einen Lieutenant, aber vor fünf Jahren war ich noch Sergeant.«
Louisa blickte ihn mit neuem Interesse an. »Wirklich?«
»Wirklich.«
Ihr Lächeln trieb Pfeile des Begehrens in Sharpes Herz. »Sie müssen ein höchst bemerkenswerter Mann sein, Lieutenant, allerdings muss ich Ihnen anvertrauen, dass meine Tante Sie für höchst ungehobelt hält. Sie äußert immer wieder ihr Erstaunen darüber, dass Sie Offizier Seiner Majestät sein sollen, und behauptet, dass Sir Hyde einen Rohling wie Sie niemals als Offizier auf einem seiner Schiffe geduldet hätte.«
Einen Augenblick lang wehrte sich Sharpes angeschlagenes Selbstbewusstsein gegen diese Kritik. Aber dann merkte er, dass Louisas Miene eher schelmisch als ernsthaft war. Außerdem sah er ihr an, dass sie es gut mit ihm meinte. So viel Freundlichkeit war Sharpe seit Monaten nicht mehr zuteil geworden, aber obwohl ihn das innerlich erwärmte, ließ ihn seine Unbeholfenheit ungeschickt reagieren. Ein geborener Offizier, dachte er verdrießlich, würde wissen, wie er auf den trockenen Humor des Mädchens zu kontern hatte, aber er konnte nur eine langweilige Frage stellen.
»War Sir Hyde Ihr Vater?«
»Er war ein Cousin meines Vaters, ein entfernter Cousin. Wie ich höre, war er kein guter Admiral. Er hielt Nelson für einen Abenteurer.« Sie erstarrte, beunruhigt durch ein plötzliches Geräusch, doch es war nur ein Holzscheit, das in der Glut des Feuers knisterte. »Aber er wurde ein sehr reicher Admiral«, fuhr Louisa fort, »und die Familie hat von dem vielen Prisengeld profitiert.«
»Demnach sind Sie reich?« Sharpe konnte nicht anders, er musste diese Frage stellen.
»Ich nicht. Aber meine Tante hat genug Vermögen geerbt, um in der Welt Unfrieden zu stiften.« Louisa sprach nun mit großem Ernst. »Haben Sie eine Ahnung, Mister Sharpe, wie peinlich es ist, in Spanien den Protestantismus verbreiten zu müssen?«
Sharpe zuckte mit den Schultern. »Sie haben es so gewollt.«
»Sicher. Und die Peinlichkeit ist der Preis, den ich dafür bezahle, Granada und Sevilla zu sehen.« Ihre Augen leuchteten auf - oder war es nur der Widerschein der Feuersglut? »Ich würde so gern noch mehr sehen!«
»Aber Sie kehren nach England zurück?«
»Meine Tante hält es für angebracht.« Louisas Stimme ließ vorsichtigen Spott erkennen. »Die Spanier, müssen Sie wissen, belohnen ihre Versuche nicht, sie aus dem römischen Joch zu befreien.«
»Aber Sie möchten gern hierbleiben?«
»Das wird kaum möglich sein, oder? Junge Frauen, Mister Sharpe, können sich in dieser Welt nicht frei bewegen. Ich muss nach Godalming zurückkehren, wo mich ein Mister Bufford erwartet.«
Sharpe musste über ihren Tonfall lachen. »Mister Bufford?«
»Er ist durch und durch respektabel«, sagte Louisa, als habe Sharpe das Gegenteil behauptet, »und natürlich Methodist. Sein Geld verdient er mit der Herstellung von Tinte, einem Gewerbe von solcher Einträglichkeit, dass die künftige Mrs Bufford sich auf ein großes Haus und ein Leben in beträchtlicher, wenn auch langweiliger Bequemlichkeit freuen kann. Gewiss wird es niemals mit Tinte befleckt werden. Die wird nämlich in sicherer Entfernung in Deptford hergestellt.«
Sharpe hatte sich noch nie mit einem Mädchen von Louisas augenscheinlicher Bildung unterhalten. Auch hatte er noch nie jemanden mit solcher Verachtung vom Geldadel reden hören. Er hatte immer angenommen, dass jeder, der zu beträchtlicher, wenn auch langweiliger Bequemlichkeit geboren war, für diese Gabe ewig dankbar sein müsste. »Und die künftige Mrs Bufford, das sind Sie?«
»So ist es vorgesehen, ja.«
»Aber Sie wollen sich nicht verheiraten?«
»Das möchte ich, glaube ich, schon.« Louisa runzelte die Stirn. »Sind Sie verheiratet?«
»Ich bin nicht reich genug, um heiraten zu können.«
»Das hat, so viel ich weiß, andere Menschen kaum jemals davon abgehalten.« Louisa tat ihre Vertraulichkeit mit einem Schulterzucken ab. »Aber ich hatte nicht gehofft, Sie noch wach vorzufinden, um Sie mit meinen kleinen Nöten zu belästigen. Ich wollte Sie vielmehr fragen, Lieutenant, ob unsere Gegenwart es wahrscheinlicher macht, dass Sie und Ihre Männer in französische Gefangenschaft geraten?«
Die Antwort war ein klares Ja, aber ebenso klar war, dass Sharpe sie nicht aussprechen durfte. »Nein, Miss. Solange wir in angemessenem Tempo weiterreisen, dürften wir den Schwei ... - dürften wir ihnen vorausbleiben.«
»Ich hätte Sie ermutigt, uns an die Schwei ... - an sie auszuliefern, wenn Sie mir wahrheitsgemäß geantwortet hätten.« Louisa lächelte ihr ernsthaft schelmisches Lächeln.
»Ich würde Sie niemals ausliefern, Miss«, sagte Sharpe unbeholfen und war froh, dass die spärliche Beleuchtung sein Erröten verbarg.
»Meine Tante ruft immer wieder große Loyalität hervor.«
»Stimmt.« Sharpe lächelte, und aus dem Lächeln wurde Gelächter, das sich Louisa jedoch verbat, indem sie den Finger an die Lippen legte.
»Ich danke Ihnen, Lieutenant.« Sie stand auf. »Ich hoffe, Sie nehmen es nicht übel, dass wir Ihnen eine solche Last sind.«
»Jetzt nicht mehr, Miss.«
Louisa schlich zur Tür. »Schlafen Sie gut, Lieutenant.«
»Sie ebenfalls, Miss.« Sharpe sah zu, wie sie durch die Tür schlüpfte, und hielt den Atem an, bis er hörte, wie drinnen der Riegel vorgeschoben wurde. Nun würde sein Schlaf mit Sicherheit durch einige Turbulenzen gestört, denn all seine Gedanken und Sehnsüchte und Träume waren durch dieses sanfte Lächeln auf den Kopf gestellt. Richard Sharpe war fern der Heimat, gefährdet durch einen siegreichen Feind. Und zu allem Überfluss hatte er sich nun auch noch verliebt.
Um vier Uhr morgens wurde Sharpe durch das helle Läuten von Louisas silberner Uhr geweckt. Er hämmerte an die Tür der Parkers und gab sich erst zufrieden, als ihm ein Stöhnen bedeutete, dass die Familie erwacht war. Dann ging er in den Stall und stellte fest, dass sich seine Männer über Nacht nicht davongestohlen hatten. Sie waren alle da, und sie waren fast alle betrunken.
Sie waren nicht so betrunken wie jene Männer, die man während des Rückzugs an die Franzosen ausgeliefert hatte, aber viel hätte nicht gefehlt. Bis auf einige wenige waren sie völlig benebelt, beduselt, bewusstlos. Die Weinschläuche, die Sharpe erstanden hatte, lagen geleert auf dem Boden, aber zwischen dem Bettstroh fanden sich außerdem zahlreiche leere Flaschen aguardiente. Da wurde Sharpe klar, dass die Zisterziensermönche, als sie die Säcke mit dem Brot angeschleppt hatten, den Branntwein als Teil ihres Geschenks mit eingeschmuggelt hatten. Sharpe fluchte.
Sergeant Williams war benommen, schaffte es jedoch, torkelnd aufzustehen. »Das waren die Jungs, Sir«, sagte er hilflos. »Sie haben sich geärgert.«
»Warum hast du mir nichts von dem Branntwein gesagt?«
»Ihnen, Sir?« Williams war erstaunt, dass er so etwas habe erwarten können.
»Zur Hölle mit ihnen.« Sharpe selbst war benebelt, sein Magen verstimmt, aber sein Nachdurst war nichts gegen den Zustand, in dem sich die Grünjacken befanden. »Sieh zu, dass die Halunken aufstehen!«
Williams bekam einen Schluckauf. Die Laterne verriet, wie hoffnungslos das Unterfangen war, die Rifles zu wecken, aber da er sich vor Sharpe fürchtete, unternahm er mehrere klägliche Versuche, dem nächstbesten Mann auf die Beine zu helfen.
Sharpe stieß Williams beiseite. Er brüllte die Männer an. Er trat nach ihnen, bis sie wach waren, zerrte sie aus ihrer Dumpfheit und hieb ihnen mit der Faust in die empfindlichen Mägen, sodass die Männer, denen solche Behandlung zuteil wurde, sich auf den Stallboden übergaben.
»Auf! Auf! Auf!«
Die Schützen taumelten benommen und verwirrt umher. Das war beim Militär immer eine große Gefahr. Die Männer meldeten sich, weil es dort etwas zu trinken gab. Sie ließen sich nur bei der Stange halten, wenn sie ihre tägliche Ration Rum erhielten. Sie nahmen jede Gelegenheit wahr, ihr Elend im Alkohol zu ertränken.
Sharpe hatte es als Rotrock nicht anders gehalten. Nun jedoch war er Offizier, und man hatte sich schon wieder gegen seine Autorität aufgelehnt.
Er versah seine geladene Büchse mit trockenem Zündpulver und spannte den Hahn. Sergeant Williams zuckte in Erwartung des Knalls vorbeugend zusammen. Sharpe drückte auf den Abzug, und der Schuss hallte durch den Stall.
»Auf, ihr Halunken! Auf, auf!«
Sharpe trat erneut um sich. Seine Wut wurde noch verstärkt durch seine vermeintliche Inkompetenz, nichts von dem Branntwein gewusst zu haben. Gleichzeitig war ihm deutlich und unangenehm bewusst, wie abscheulich sein Verhalten Miss Louisa Parker vorkommen würde.
Gegen Viertel nach fünf ließ Sharpe in einem Nieselregen, der versprach, den ganzen Tag anzuhalten, die Männer endlich entlang der Straße aufmarschieren. Die Kutsche der Parkers wurde vom Hof des Gasthauses heruntermanövriert, während Sharpe im Licht einer von Sergeant Williams gehaltenen Laterne Waffen und Ausrüstung inspizierte. Er roch an jeder Feldflasche und goss, was von dem Branntwein übrig war, in den Schmutz.
»Sergeant Williams?«
»Sir?«
»Im Eilmarsch!«
Der Eilmarsch der Rifles war unglaublich schnell, und die Männer murrten ob der bevorstehenden Mühsal.
»Ruhe!«, bellte Sharpe. »Rifles! Rechts um!«
Die unrasierten Gesichter der Männer waren verquollen, ihre Augen gerötet, ihr Drill schlampig.
»Im Eilmarsch!«
Während sie marschierten, dämmerte grau und entmutigend der Morgen. Sharpe forcierte ihren Lauf so sehr, dass mehrere Schützen aus der Formation ausscheren mussten, um sich in den überfluteten Straßengräben zu übergeben. Er beförderte sie mit Fußtritten zurück in Reih und Glied. In diesem Moment glaubte er die Männer richtiggehend zu hassen. Fast hätte er sich gewünscht, sie würden sich gegen ihn auflehnen, damit er diese Halunken wegen mangelnder Disziplin beschimpfen und durchprügeln konnte. Er hetzte sie so erbarmungslos voran, dass die Kutsche der Parkers weit zurückblieb.
Sharpe nahm keine Rücksicht auf ihr langsames Vorankommen. Stattdessen beschleunigte er die Schritte der Rifles noch mehr, bis Sergeant Williams, der eine Meuterei der Männer befürchtete, zurückblieb und neben ihm herlief. An diesem Punkt schlängelte sich die Straße über ein lang anhaltendes Gefälle einem breiten Wasserlauf entgegen, über den eine Steinbrücke führte.
»Sie schaffen es nicht, Sir!«, keuchte Williams.
»Aber besaufen können sie sich, wie? Dann sollen sie jetzt getrost leiden.«
Sergeant Williams war anzusehen, wie sehr er litt. Er war bleich und außer Atem, zog die Füße nach und war scheinbar kurz davor, sich zu übergeben. Anderen Männern erging es noch wesentlich schlechter. »Tut mir leid, Sir«, sagte er kläglich.
»Ich hätte euch den Franzosen überlassen sollen. Euch alle.« Sharpes Wut wurde durch Gewissensbisse verschlimmert. Er wusste, dass alles seine Schuld war. Er hätte den Mut aufbringen müssen, am Abend noch den Stall zu inspizieren. Aber er hatte versucht, sich dem Missfallen der Männer zu entziehen, indem er in der Schankstube blieb.
Er dachte erneut an die Betrunkenen, die man während Sir John Moores Rückzug zurückgelassen hatte, Männer ohne Hoffnung, die man der nicht gerade sanften Behandlung durch die nachrückenden Franzosen preisgegeben hatte. Obwohl er ihnen soeben das gleiche Schicksal angedroht hatte, war Sharpe klar, dass er diese Männer nicht im Stich lassen würde. Das war nunmehr eine Frage des Stolzes. Er würde diese Rifles vor dem Verderben bewahren. Sie mochten ihm dafür jeden Dank versagen, ihn ihre Ablehnung spüren lassen, aber er würde sie durch die Hölle gehen lassen, wenn dieser Weg in die Sicherheit führte. Vivar hatte behauptet, es sei nicht zu schaffen, aber Sharpe würde es gelingen.
»Tut mir leid, Sir.« Williams versuchte immer noch, ihn zu besänftigen.
Sharpe sagte nichts. Er überlegte, wie viel einfacher diese Strapazen zu überstehen wären, wenn er einen Sergeant hätte, der die Männer im Zaum zu halten verstünde. Williams ging es zu sehr darum, von allen gemocht zu werden, und Sharpes Meinung nach gab es keinen anderen, der die Streifen verdient hätte. Gataker war zu wenig vertrauenerweckend und zu sehr auf seinen guten Ruf bei den Schützen bedacht. Tongue war zwar gebildet, aber der schlimmste Trunkenbold der Truppe. Parry Jenkins, der Waliser, hatte das Zeug zum Sergeant, aber Sharpe war der Ansicht, es fehle ihm an der nötigen Rücksichtslosigkeit. Hagman war zu faul. Dodd, der Schweigsame, war zu langsam und hatte kein Selbstvertrauen. Blieb also nur Harper übrig, und Sharpe war sicher, dass Harper nichts tun würde, um dem verachteten Quartiermeister zu helfen. Sharpe musste sich mit Williams abfinden, genau wie Williams und die Truppe sich mit Lieutenant Sharpe abfinden mussten. Der gab den Männern nun, da sie die Steinbrücke erreicht hatten, den Befehl zum Anhalten.
Sie machten halt. In ihren Gesichtern spiegelte sich Erleichterung. Die Kutsche war nicht mehr zu sehen. Sie umrundete wohl die Findlinge jenseits der letzten Hügelkuppe.
»Kompanie!« Sharpes laute Stimme veranlasste einige der Männer, das Gesicht zu verziehen. »Waffen ablegen!«
Wieder machte sich Erleichterung breit, als die Männer ihre schweren Waffen niederlegten, ihre Schwertbajonette und Munitionstaschen abschnallten. Sharpe sonderte eine Handvoll Männer ab, die am Morgen nüchtern gewesen waren, und befahl den Übrigen, Tornister, Mäntel und Stiefel zu entfernen.
Die Männer glaubten, er sei verrückt geworden, aber alle Soldaten waren es gewohnt, exzentrischen Offizieren willfährig zu sein, daher zogen sie unter den finsteren Blicken des Lieutenants ihre Stiefel aus. Die Kutsche erschien auf dem Hügelkamm, und Sharpe schnauzte die Männer an, geradeaus zu blicken und nicht hinzusehen. Das Quietschen der Bremsblöcke der Kutsche hörte sich an wie ein Nagel, der über eine Schiefertafel gezogen wird.
»Ihr hattet nicht meine Erlaubnis, euch zu betrinken.« Sharpes Stimme war jetzt tonlos, nicht länger wütend. »Ich hoffe, dass es euch deswegen gottverdammt elend ergeht.«
Es war nicht zu übersehen, dass Sharpes Wut verraucht war, und einige der Männer grinsten, um zu zeigen, dass ihnen in der Tat entsetzlich elend war.
Er lächelte. »Gut. Dann springt in den Bach. Ihr alle.«
Sie starrten ihn an. Das Donnern und Quietschen der Kutschenräder wurde lauter.
Sharpe lud mit der flinken Bewegung eines Mannes, der eine lange Heereslaufbahn hinter sich hat, sein Gewehr. Die Männer starrten ihn ungläubig an, als er daraufhin den Messingkolben an die Schulter legte und die Waffe auf ihre vorderste Linie richtete. »Ich sagte, springt in den Bach! Los!«
Er spannte den Hahn.
Die Männer sprangen.
Vom Brückengeländer ging es ungefähr sechs Fuß in die Tiefe. Der Bach selbst, angeschwollen durch Schmelzwasser und winterliche Niederschläge, war über drei Fuß tief. Das Wasser war eiskalt, aber Sharpe stand auf dem Geländer und befahl jedem Einzelnen, ganz in den eisigen Fluten unterzutauchen. Sein Gewehr diente ihm als Mittel zur Ermutigung.
»Du! Steck deinen verdammten Schädel rein! Harper! Untertauchen, Mann, untertauchen!«
Nur den Nüchternen, den Verwundeten und Sergeant Williams, dessen Autorität ohnehin schon auf wackligen Beinen stand, blieb das unangenehme Erlebnis erspart.
»Sergeant! In drei Reihen am Ufer angetreten! Beeilung!«
Die frierenden Männer wateten aus dem Bach und stellten sich zu drei jämmerlichen Reihen auf dem Gras auf. Die Kutsche kam polternd zum Stehen.
George Parker purzelte mit besorgter Miene aus der Tür. »Lieutenant? Meine liebe Frau machte sich Sorgen, Sie könnten uns bei dem raschen Tempo zurücklassen.« Dann wurde Parker auf die durchnässte Parade aufmerksam und verhielt mit offenem Mund.
»Sie sind betrunken.« Sharpe sprach laut genug, dass die Männer ihn hören konnten. »Bezecht. Besoffen. Zu nichts zu gebrauchen! Ich habe dafür gesorgt, dass die Halunken den gottverdammten Alkohol herausschwitzen.«
Parker hob die Hand, um sich dieser Blasphemie zu erwehren, aber Sharpe ignorierte ihn. Stattdessen brüllte er seine Männer an. »Ausziehen!«
Augenblicklich herrschte ungläubiges Schweigen. »Ausziehen!«
Sie zogen sich splitternackt aus. Vierzig frierende Männer, blass und elend, standen dort im Nieselregen.
Sharpe starrte auf sie hinab. »Und wenn ihr alle dabei draufgeht, mir soll es verdammt egal sein.« Jetzt war er ihrer Aufmerksamkeit sicher. »Jeden Moment, ihr Taugenichtse, können die verdammten Franzosen dort herabkommen.« Er wies mit dem Daumen hinter sich auf den Hügel. »Und ich hab gute Lust, euch ihnen zu überlassen. Ihr taugt zu nichts! Ich dachte, ihr wäret Rifles! Ich dachte, ihr wäret die Besten! Ich habe schon verdammte Milizbataillone zu Gesicht bekommen, die eher wie Soldaten ausgesehen haben!« Diese Beschimpfung war kaum zu überbieten, aber Sharpe gab sich Mühe. »Ich hab schon verdammte Methodisten zu Gesicht bekommen, die zäher waren als ihr Halunken!«
Mrs Parker riss den Ledervorhang auf, um seinen Flüchen Einhalt zu gebieten, sah die nackten Männer und kreischte auf. Der Vorhang schloss sich wieder.
Sharpe starrte die Männer an, bis sie den Blick senkten. Er nahm es ihnen nicht übel, dass sie Angst hatten. Man durfte einem Soldaten sein Entsetzen nicht ankreiden, wenn Niederlage und Chaos ein ganzes Heer vernichtet hatten. Diese Männer waren gestrandet, fern der Heimat. Aber dennoch waren sie Soldaten, die der Disziplin unterworfen waren. Das Wort Disziplin erinnerte Sharpe an Major Vivars schlichte Grundsätze. Mit einer unbedeutenden Änderung würden sie ihm nun gut zupass kommen.
Sharpe verlieh seiner Stimme einen weniger barschen Tonfall. »Von nun an wird nach drei Grundregeln verfahren. Drei Regeln, nicht mehr. Wer auch nur gegen eine von ihnen verstößt, bekommt es mit mir zu tun. Keiner von euch wird fremdes Gut an sich nehmen, es sei denn mit meiner Erlaubnis. Keiner von euch wird sich betrinken, es sei denn mit meiner Erlaubnis. Und wenn der Feind sich zeigt, werdet ihr kämpfen wie die Schweinehunde. Habt ihr verstanden?«
Schweigen.
»Ich sagte: Habt ihr verstanden? Lauter! Lauter! Lauter!«
Die nackten Männer brüllten ihre Bestätigung heraus, brüllten wie von Sinnen, brüllten, um sich diesen Wahnsinnigen vom frierenden Leib zu halten. Nun sahen sie wesentlich nüchterner aus.
»Sergeant Williams!«
»Sir?«
»Mäntel anziehen! Ihr habt zwei Stunden Zeit. Macht Feuer, trocknet euer Zeug. Dann wieder in drei Reihen angetreten. Ich halte so lange Wache.«
»Jawohl, Sir.«
Die Kutsche stand still da. Der spanische Kutscher saß mit ausdruckslosem Gesicht auf seinem hohen Bock. Erst als die Schützen wieder in ihre trockenen Mäntel geschlüpft waren, flog die Tür auf, und eine wütende Mrs Parker erschien. »Lieutenant!«
Sharpe wusste, was dieser Tonfall verhieß. Er wirbelte herum. »Madam! Werden Sie wohl Ruhe geben!«
»Ich werde ...«
»Ruhe, verdammt noch mal!« Sharpe kam mit großen Schritten auf die Kutsche zu und Mrs Parker, die mit Gewalttätigkeiten rechnete, schlug die Tür zu.
Aber Sharpe trat nur an die Gepäckkiste und holte eine Handvoll spanischer Bibeln hervor. »Sergeant Williams? Etwas zum Anfeuern gefällig?« Er warf die Bücher auf die Wiese, während sich George Parker, der glaubte, die ganze Welt sei verrückt geworden, in taktvolles Schweigen hüllte.
Zwei Stunden später brachen die Rifles in geläutertem Schweigen wieder gen Süden auf.
Um die Mittagszeit hörte es auf zu regnen. Der Weg mündete in eine Straße, die zwar breiter als die bisherige war, aber auch schlammiger. Sie sorgte dafür, dass die Kutsche noch langsamer und mühsamer vorankam. In einiger Entfernung konnte Sharpe zur Rechten eine Wasserfläche erkennen. Breiter als ein Fluss, es musste sich entweder um einen See oder um einen Meeresarm handeln, der sich wie die Lochs im schottischen Hochland weit ins Landesinnere erstreckte. George Parker äußerte die Meinung, dass es sich in der Tat um eine ria handle, ein Tal, das vom Meer überflutet sei, sodass eine direkte Verbindung zu den patrouillierenden Schiffen der Royal Navy bestehen könne. Dieser Gedanke und die Gegend, durch die sie nun zogen, verbreiteten Optimismus. Die Straße führte durch Weideland, das von Baumgruppen, Steinmauern und kleinen Bächen durchzogen war. Die Hügel waren sanft gerundet, und die wenigen Gehöfte machten einen wohlhabenden Eindruck.
Sharpe, der versuchte, sich die von Vivar vernichtete Karte ins Gedächtnis zu rufen, gelangte zu dem Ergebnis, dass sie sich südlich von Santiago de Compostela befinden mussten. Die Verzweiflung, die er in der vergangenen Nacht verspürt hatte, machte der Hoffnung Platz, auf dem richtigen Weg zu sein, und der bekümmerte Ausdruck in den Gesichtern seiner Männer milderte sich, wozu auch der Anblick des Meeresarms beitrug. Vielleicht würden sie schon in der nächsten Stadt auf Fischer treffen, die in der Lage wären, die Flüchtlinge dorthin zu bringen, wo die Schiffe der Marine patrouillierten.
George Parker, der neben Sharpe herging, war derselben Meinung. »Und wenn nicht, Lieutenant, brauchen wir auf jeden Fall nicht bis Lissabon zu reisen.«
»Nicht, Sir?«
»In Oporto werden wir englische Schiffe vorfinden, die Wein laden. Und wir können nicht mehr als eine Wochenreise von Oporto entfernt sein.«
Eine Woche, bis sie in Sicherheit waren! Sharpe jubelte innerlich bei dem Gedanken. Eine Woche harten Marschierens auf seinen zerfetzten Stiefeln. Eine Woche, um zu beweisen, dass er ohne Blas Vivar überleben konnte. Eine Woche, in der er die Rifles so züchtigen konnte, dass sie eine disziplinierte Einheit bildeten. Eine Woche mit Louisa Parker und dann noch mindestens zwei Wochen auf See, während ihr Schiff sich gegen Wind und Wellen der Biskaya gen Norden durchschlug.
Zwei Stunden nach Mittag ließ Sharpe haltmachen. Das Meer war immer noch nicht zu sehen, doch sein Salzgeruch hing schwach zwischen den verkrüppelten Pinien, unter denen die Pferde ihr Futter aus getrockneten Maiskörnern erhielten.
Die Rifles ließen sich, nachdem sie das letzte Brot der Mönche verteilt hatten, erschöpft fallen. Sie hatten zuletzt überflutetes Weideland durchquert, wo der Morast auf der Straße so tief wurde, dass sie ständig die große Kutsche aus dem Schlamm ziehen mussten. Nun führte die Straße zwischen moosbewachsenen Mauern sanft nach oben, einem steinernen Bauernhaus entgegen, das ungefähr eine Meile entfernt auf der nächsten Hügelkuppe stand.
Die Parkers hatten neben ihrer Kutsche Decken ausgerollt und es sich bequem gemacht. Mrs Parker würdigte Sharpe nach seinem Ausbruch am Bach keines Blickes, aber Louisa schenkte ihm ein fröhliches, verschwörerisches Lächeln. Sharpe geriet augenblicklich in Verlegenheit, weil er befürchten musste, dass seine Männer es sehen und zu dem richtigen und unvermeidlichen Schluss gelangen mussten, dass ihr Lieutenant verliebt sei. Um seine Gefühle nicht zu verraten, entfernte sich Sharpe aus dem Pinienhain und ging dorthin, wo ein einzelner Wachtposten neben der Straße kauerte.
»Irgendwas zu sehen?«, fragte er.
»Nichts, Sir.« Es war Hagman, der älteste Schütze und einer der wenigen, die sich in der vergangenen Nacht nicht sinnlos betrunken hatten. Er kaute Tabak und starrte unentwegt zum nördlichen Horizont. »Es wird wieder regnen.«
»Meinst du?«
»Ich weiß es.«
Sharpe ging ebenfalls in die Hocke. Die Wolken schienen kein Ende zu nehmen, schwarz und grau rollten sie aus Richtung des unsichtbaren Meeres heran. »Warum hast du dich zum Heer gemeldet?«, fragte Sharpe.
Hagman, dessen zahnloser Mund seinem ohnehin hässlichen Gesicht das Profil eines Nussknackers verlieh, grinste. »Hab mich beim Wildern erwischen lassen, Sir. Der Magistrat hat mir die Wahl gelassen. Entweder Kerkerhaft oder zum Militär.«
»Verheiratet?«
»Deshalb hab ich das Militär gewählt, Sir.« Hagman lachte, dann spie er einen Strahl gelblich verfärbter Spucke in eine Pfütze. »Eine gottverdammte, scharfzüngige Hexe war sie, Sir.«
Sharpe lachte, dann verstummte er.
»Sir!«, sagte Hagman mit gedämpfter Stimme.
»Ich sehe sie.« Sharpe sprang auf, drehte sich um und brüllte los. Denn dort am nördlichen Horizont war vor den dunklen Wolken Kavallerie aufgetaucht.
Die Franzosen hatten sie eingeholt.