KAPITEL 16

Dass Lieutenant Richard Sharpe Miss Louisa Parker begehrte, war auf seine Weise ein ebenso kühnes Unterfangen wie Vivars Plan, eine vom Feind besetzte Stadt zu erobern. Louisa stammte aus einer respektablen Familie, die zwar hin und wieder drohte, in vornehmer Armut zu versinken, jedoch weit über Sharpes niedrigem Stand angesiedelt war. Er war von Hause aus zum Proletarier, vom Zufall zum Offizier und vom Schicksal zum Habenichts auserkoren.

Und was, fragte sich Sharpe, hatte er von dem Mädchen erwartet? Hatte er sich vorgestellt, dass Louisa bereitwillig einen Feldzug nach dem anderen mitmachen würde oder dass sie ein verwahrlostes Haus in der Nähe der Kaserne finden, sich mit seinem unzureichenden Sold durchschlagen und ihn für Fleischreste und Brot vom Vortag ausgeben würde? Sollte sie die seidenen Kleider zugunsten wollener Unterröcke aufgeben? Oder hatte er von ihr erwartet, dass sie ihm in die westindische Garnison folgen würde, wo das Gelbfieber ganze Regimenter ausrottete? Er sagte sich, dass seine Hoffnungen auf das Mädchen ebenso dumm wie unrealistisch gewesen seien, doch damit war der jähe Schmerz nicht geheilt. Er sagte sich, dass es kindisch sei, überhaupt verletzt zu sein, aber das machte es nicht erträglicher.

Er stürzte sich vom Wintersonnenschein der Plaza in den Gestank einer Gasse, wo er unter einer Arkade eine Weinstube entdeckte. Sharpe hatte kein Geld, um den Wein zu bezahlen, doch sein Benehmen und die Art, wie er mit der Hand auf den Tisch schlug, veranlassten den Wirt der Taverne, am Fass eine große Flasche zu füllen. Sharpe trug die Flasche und einen Zinnbecher zu einer Nische hinten im Schankraum. Die wenigen Kunden, die um das Feuer kauerten und sein bitteres Gesicht sahen, beachteten ihn nicht - bis auf eine Hure, die sich auf Geheiß des Wirts zögernd neben den fremden Soldaten auf die Bank setzte. Zunächst war Sharpe versucht, sie zu verscheuchen, doch dann winkte er, ihm einen zweiten Becher zu bringen.

Der Schankwirt wischte den Becher an seiner Schürze ab und stellte ihn auf den Tisch. Über dem Bogen der Nische wurde ein Vorhang aus Sackleinen von einer Schlaufe zurückgehalten. Der Wirt griff danach und zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Ja«, sagte Sharpe barsch. »Si.«

Der Vorhang fiel, und es wurde dunkel um Sharpe und die junge Frau. Sie kicherte, legte ihm die Arme um den Hals und flüsterte ihm spanische Koseworte zu, bis er sie mit einem Kuss zum Schweigen brachte.

Der Vorhang wurde aufgerissen. Die Frau schrie ängstlich auf.

Blas Vivar trat in die Nische. »Es ist sehr einfach, einem Fremden durch spanische Straßen zu folgen. Hatten Sie gehofft, sich vor mir verstecken zu können, Lieutenant?«

Sharpe legte den linken Arm um die Hure und zog sie an sich, sodass ihr Kopf an seiner Schulter lehnte. Er umschloss mit einer Hand ihre Brust. »Ich habe zu tun, Sir.«

Vivar ignorierte die Provokation und ließ sich Sharpe gegenüber auf die Bank nieder. Er rollte eine Zigarre über den Tisch. »Inzwischen«, sagte er, »muss Oberst de l'Eclin klar geworden sein, dass Miss Parker ihn angelogen hat.«

»Mit Sicherheit«, sagte Sharpe lässig.

»Er wird sich auf den Rückweg machen. Bald wird er einem Flüchtling aus der Stadt begegnen und von der Tragweite seines Fehlers erfahren.«

»Ja.« Sharpe zerrte an den Schnüren am Mieder der Hure. Die Frau versuchte vergebens, ihn davon abzuhalten, doch er blieb beharrlich und schaffte es, ihr Kleid zu öffnen.

Vivars Stimme klang sehr geduldig. »Also rechne ich damit, dass de l'Eclin uns angreifen wird. Sie etwa nicht?«

»Ich nehme an, das wird er.« Sharpe fuhr mit der Hand unter das offene Kleid der Frau und blickte Vivar herausfordernd an.

»Die Verteidigung ist bereit?«, fragte Vivar im Tonfall sanfter Vernunft. Die Hure aus der Taverne hätte genauso gut nicht da sein können, so wenig Notiz nahm er von ihr.

Sharpe antwortete nicht gleich. Er goss sich mit der freien Hand Wein ein, trank den Becher leer und schenkte nach. »Warum in Christi Namen führen Sie Ihren verdammten Unsinn nicht einfach weiter, Vivar? Wir hängen in dieser verfluchten Todesfalle von einer Stadt herum, nur damit Sie in der Kathedrale ein Zauberkunststück vorführen können. Also tun Sie endlich, was Sie tun müssen, und verschwinden dann schleunigst!«

Vivar nickte verständnisvoll. »Mal sehen. Ich habe Cazadores nach Norden und Süden auf Patrouille geschickt. Ich brauche zwei Stunden, um sie zurückzubeordern, vielleicht länger. Wir haben noch nicht jeden Mann in der Stadt aufgetrieben, der mit den Franzosen kooperiert hat, aber die Suche wird fortgesetzt und dürfte noch eine Stunde dauern. Sind alle Vorräte vernichtet?«

»Es gibt, verdammt noch mal, keine Vorräte. Die verfluchten Froschfresser haben sie alle gestern in den Palast geschafft.«

Vivar verzog das Gesicht, als er dies hörte. »Das hatte ich befürchtet. Ich habe bei der Besichtigung der Keller des Palastes große Haufen Getreide und Heu gesehen. Wie schade.«

»Also, führen Sie Ihr Wunder aus und verschwinden Sie.«

Vivar zuckte mit den Schultern. »Ich warte auf die Ankunft eines Kirchenmannes, und ich habe Männer ausgesandt, die nächstgelegenen Brücken über die Ulla zu zerstören. Das ist vor dem Spätnachmittag nicht zu schaffen. Außerdem finde ich, dass Eile keineswegs geboten ist. Gegen Sonnenuntergang werden wir in der Kathedrale so weit sein, könnten also heute Abend aufbrechen anstatt morgen. Aber ich bin der Meinung, wir müssten bereit sein, die Stadt gegen de l'Eclin zu verteidigen, Sie nicht auch?«

Sharpe zog das Gesicht der Hure zu sich heran und küsste sie. Er wusste, dass er sich lümmelhaft benahm, doch er war zu sehr verletzt, und die Eifersucht brannte wie Fieber.

Vivar seufzte. »Wenn es Oberst de l'Eclin misslungen ist, die Stadt vor Einbruch der Nacht zu erobern, wird ihn die Dunkelheit blind machen, und wir werden einfach abziehen. Deshalb halte ich es für angebracht zu warten, bis es Nacht wird, ehe wir aufbrechen. Sie nicht auch?«

»Oder geht es darum, dass Sie Ihr magisches Banner im Dunkeln entfalten wollen? Wunder lassen sich am besten im Schutze der Dunkelheit ausführen, nicht wahr? Damit niemand die verdammte Gaunerei bemerken kann.«

Vivar lächelte. »Ich weiß, mein magisches Banner ist Ihnen, Lieutenant, nicht so wichtig wie mir, aber deshalb bin ich hier. Und wenn es entfaltet wird, will ich so viele Augenzeugen versammelt wissen wie möglich. Die Nachricht muss sich in Windeseile von dieser Stadt aus verbreiten. Sie muss jede Stadt und jedes Dorf in Spanien erreichen. Selbst im fernen Süden muss man Bescheid wissen, dass Santiago in seiner Gruft erwacht ist und sein Schwert erhoben hat.«

Sharpe erschauerte trotz all seiner Skepsis.

Falls Vivar Sharpes Gefühlsaufwallung wahrgenommen hatte, ließ er sich nichts anmerken. »Ich rechne damit, dass Oberst de l'Eclin in den nächsten zwei Stunden eintreffen wird. Er wird sich der Stadt von Süden nähern, aber ich habe den Verdacht, dass er von Westen her angreifen wird, in der Hoffnung, dass uns die untergehende Sonne blendet. Sind Sie bereit, die Verteidigung zu übernehmen?«

»Plötzlich brauchen Sie die verfluchten Engländer wieder, nicht wahr?« Sharpes Eifersucht loderte auf. »Sie glauben, dass die Briten sich davonstehlen, nicht wahr? Dass wir Lissabon im Stich lassen. Dass Ihr kostbares Spanien die Franzosen ohne uns besiegen muss. Dann tun Sie es doch, aber verdammt noch mal ohne mich!«

Vivars momentane Reglosigkeit war ein Hinweis auf den Stolz, der ihn bewegte und ebenso in Wut umschlagen konnte wie Sharpes üble Laune. Die Hure wich zurück, da sie mit Gewalttätigkeiten rechnete, doch als Vivar sich wieder bewegte, geschah es nur, um über den Tisch zu greifen und Sharpes Weinflasche zu nehmen. Seine Stimme klang sehr beherrscht und sehr besonnen.

»Sie haben mir einmal erzählt, Lieutenant, dass niemand von Offizieren, die aus den Mannschaftsrängen des britischen Heeres aufgestiegen sind, Erfolge erwartet. Was haben Sie noch gesagt? Dass die Trunksucht sie zerstört?« Er verstummte, aber Sharpe antwortete nicht. »Ich glaube, Sie könnten ein Soldat von hohem Ansehen werden, Lieutenant. Sie verstehen es zu kämpfen. Sie werden ruhig, wenn andere sich ängstigen. Ihre Männer sind Ihnen gefolgt, selbst als sie Sie gehasst haben, weil Sie ihnen zum Sieg verhelfen konnten. Sie sind ein guter Mann. Aber vielleicht sind Sie nicht gut genug. Vielleicht stecken Sie so voller Selbstmitleid, dass Sie sich durch Trunksucht zugrunde richten werden, oder ...«, Vivar ließ sich endlich herab, die junge Frau mit dem strähnigen Haar zu beachten, die dem Schützen am Hals hing, »... durch die Pocken.«

Während dieses Vortrags hatte Sharpe den Spanier angestarrt, als hätte er am liebsten seinen Degen gezückt und über den Tisch auf ihn eingeschlagen.

Vivar stand auf, hielt die Weinflasche schräg und goss den Inhalt auf den mit Schilfmatten bedeckten Boden. Dann ließ er sie verächtlich fallen.

»Bastard«, sagte Sharpe.

»Heißt das, ich bin so gut wie Sie?« Wieder hielt Vivar inne, um Sharpes Antwort abzuwarten, und wieder blieb Sharpe stumm. Der Spanier zuckte mit den Schultern. »Sie tun sich selbst leid, Lieutenant, weil Sie nicht in die Offiziersschicht hineingeboren wurden. Aber haben Sie sich je überlegt, dass jene unter uns, die das Glück hatten, es manchmal bedauern könnten? Glauben Sie, wir hätten keine Angst vor den zähen, mürrischen Männern aus den einfachen Hütten? Glauben Sie, wir würden nicht andere Männer ansehen und dabei Neid empfinden?«

»Sie überheblicher Bastard.«

Vivar ignorierte die Beschimpfung. »Als meine Frau und meine Kinder starben, Lieutenant, war ich der Meinung, es gebe nichts, wofür es sich zu leben lohnt. Ich habe mich der Trunksucht hingegeben. Nun danke ich Gott, dass damals einem Mann so viel an mir gelegen hat, dass er mir seinen überheblichen Rat zukommen ließ.« Er nahm seinen mit Quasten geschmückten Hut. »Sollte ich Ihnen Grund gegeben haben, mich zu hassen, Lieutenant, bedaure ich das. Es ist nicht mit Absicht geschehen. Immerhin haben Sie mir zu verstehen gegeben, dass keine Erbitterung zwischen uns aufkommen könne.« Näher ging Vivar nicht auf Louisa ein. »Nun bitte ich Sie nur, mir bei der Vollendung dieser Aufgabe zu helfen. Im Westen der Stadt befindet sich ein Hügel, der besetzt werden muss. Ich werde Davila und einhundert Cazadores Ihrem Kommando unterstellen. Die Wachtposten im Süden und Westen habe ich verstärkt. Und ich danke Ihnen für alles, was Sie bisher getan haben. Wenn Sie nicht die erste Barrikade genommen hätten, müssten wir jetzt durch die Berge fliehen, während die Dragoner mit ihren Säbeln auf uns einschlagen.« Vivar trat einen Schritt zurück. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Ihre Verteidigung steht, damit ich sie inspizieren kann.« Er wartete nicht auf Bestätigung, sondern verließ mit großen Schritten die Weinstube.

Sharpe hob den immer noch vollen Becher an. Er starrte darauf. Er hatte seinen eigenen Männern Strafe angedroht, wenn sie sich betranken, doch nun wünschte er sich sehnlichst, seine Enttäuschung im Alkoholdunst ersäufen zu können. Er warf den Becher fort und stand auf. Die junge Frau, die sich ihrer Einnahmen beraubt sah, jammerte.

»Zur Hölle mit euch allen!«, fluchte Sharpe. Er riss zwei der verbliebenen Silberknöpfe von der Reithose, wobei sich ein großer Fetzen Tuch mit den Knöpfen löste, und warf sie der Frau in den Schoß. »Zur Hölle mit euch allen!« Er nahm seine Waffen an sich und ging.

Der Schankwirt warf der Hure, die sich anschickte, ihr Mieder zu schnüren, einen Blick zu und zuckte mitleidig mit den Schultern. »Diese Engländer, wie? Verrückt. Allesamt verrückt. Ketzer, Verrückte.« Er bekreuzigte sich gegen das heidnische Übel. »Wie alle Soldaten«, sagte der Wirt. »Einfach verrückt.«


Sharpe begab sich mit Sergeant Harper in den Westen der Stadt und zwang sich, sowohl Louisa zu vergessen als auch die Schande seines Benehmens in der Taverne. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Franzosen beim Angriff von Santiago de Compostela vorgehen würden.

Die Dragoner waren nach Padron geritten, und die Straße in diese kleine Stadt lag südwestlich von Santiago. Damit war ein Angriff von Süden oder Westen her am wahrscheinlichsten. De l'Eclin konnte Vivar täuschen und von Norden her angreifen, aber Sharpe bezweifelte, dass der Jäger sich für diese Taktik entscheiden würde, die nur mit einem Überraschungseffekt verbunden aussichtsreich wäre. Im Osten der Stadt war das Gelände uneben und am leichtesten zu verteidigen. Das Land im Süden war mit Hecken und Gräben bestückt, während der Boden im Westen, von wo aus der Angriff nach Vivars Ansicht erfolgen würde, eben und einladend war wie ein englischer Gemeindeanger.

Das offene Gelände im Westen wurde nach Süden hin von einem Hügel begrenzt, den Vivar besetzt haben wollte und auf dem die Rifles nun Sharpes Befehle erwarteten. Die Franzosen hatten den strategischen Wert des Hügels erkannt. Sie hatten die meisten Bäume auf seiner Kuppe abgeholzt und zwischen den gefallenen Baumstämmen eine provisorische Befestigung aus Gestrüpp errichtet. Weiter westlich sank der Boden ab. Dort konnten sich de l'Eclins Dragoner ungesehen sammeln. Sharpe blieb am Rand dieser Senke stehen und blickte in Richtung Stadt. »Kann sein, dass wir diese verdammte Stadt halten müssen, bis es dunkel ist.«

Harper hielt instinktiv Ausschau nach dem Sonnenstand. »Das ist noch sechs Stunden hin«, sagte er pessimistisch, »und die Dämmerung wird sehr langsam einsetzen. Keine einzige verdammte Wolke, um uns zu verbergen.«

»Wenn Gott auf unserer Seite wäre«, versuchte sich Sharpe an einem der üblichen Witze des Regiments, »hätte er das Baker-Gewehr mit Brüsten ausgestattet.«

Harper, der an diesem missglückten Scherz erkannte, dass Sharpes mürrische Laune verflog, grinste pflichtschuldigst. »Stimmt es, was man von Miss Louisa hört, Sir?« Er stellte die Fragen nebenbei und ohne jegliche Verlegenheit, woraus Sharpe schloss, dass keiner seiner Männer geahnt hatte, wie sehr er an dem Mädchen hing.

»Es stimmt.« Sharpe versuchte so zu tun, als habe er wenig Interesse an der Sache. »Sie wird natürlich Katholikin werden müssen.«

»Davon kann es gar nicht genug geben. Allerdings ...«, Harper blickte zu Boden, während er weitersprach, »... war ich nie der Ansicht, dass es einem Soldaten gut tut, verheiratet zu sein.«

»Warum denn nicht?«

»Man kann nicht tanzen, wenn man mit einem Fuß am verdammten Boden festgenagelt ist, stimmt's? Aber der Major ist kein Soldat wie wir, Sir. Wo er doch aus dieser Burg stammt!« Harper war eindeutig beeindruckt vom Reichtum der Familie Vivar. »Der Major ist ein prachtvoller Bursche, wahrhaftig.«

»Und was sind wir? Die Verdammten?«

»Das sind wir, ganz sicher, aber obendrein sind wir Rifles, Sir. Sie und ich, Sir, wir sind die besten gottverdammten Soldaten auf der Welt.«

Sharpe lachte. Noch vor wenigen Wochen hatte er in bitterem Streit mit seinen Schützen gelegen, und jetzt waren sie auf seiner Seite. Er wusste nicht, wie er Harpers Kompliment erwidern sollte, daher griff er auf ein altbekanntes Klischee zurück. »Verkehrte Welt.«

»Schwer, innerhalb von sechs Tagen ganze Arbeit zu leisten, Sir«, sagte Harper verschmitzt. »Ich bin sicher, Gott hat sein Bestes gegeben, aber was ist ihm eingefallen, Irland direkt neben England zu setzen?«

»Er wusste vermutlich, dass ihr Halunken Prügel verdient habt.« Sharpe wandte sich nach Süden. »Aber wie zum Teufel sollen wir diesem französischen Schweinehund seine Prügel verpassen?«

»Wenn er überhaupt angreift.«

»Er wird angreifen. Er hält sich für schlauer als uns, und er ist verdammt wütend, weil man ihn schon zum zweiten Mal in die Irre geführt hat. Er wird angreifen.«

Sharpe ging hinüber zum südlichen Rand des Angers, dann drehte er sich um und betrachtete die Stadt. Er stellte sich vor, in de l'Eclins glänzenden Stiefeln zu stecken, sah, was der Franzose sehen würde, versuchte seine Pläne vorherzusagen.

Vivar war sicher, dass de l'Eclin von Westen her einfallen würde, dass der Jäger warten würde, bis die untergehende Sonne blendend hell hinter seiner Angriffslinie stand, und dass er dann erst seine Dragoner über das offene Gelände schicken würde.

Aber, überlegte Sharpe, ein Kavallerieangriff würde den Franzosen wenig einbringen. Er konnte die Dragoner in eindrucksvoller Manier bis an die Stadtgrenzen vordringen lassen, doch würden die Pferde dort auf Mauern und Barrikaden stoßen, und die ganze Herrlichkeit würde von den wartenden Musketen und Büchsen blutig zerfetzt werden. De l'Eclins Überfall ließ sich wie der Vivars am besten mit Infanterie durchführen, die die Stadt für den heftigen Ansturm der Kavallerie öffnen konnte, und Infanterie marschierte am besten von Süden heran.

Sharpe zeigte auf den südwestlichen Rand der Stadt. »Dort wird er seinen Angriff ausführen.«

»Nach Einbruch der Dunkelheit?«

»In der Dämmerung.« Sharpe runzelte die Stirn. »Vielleicht früher.«

Harper folgte ihm über einen Abzugsgraben und einen Damm. Die beiden Schützen gingen auf eine Ansammlung von Gebäuden zu, die wie ein Arm von der Südwestecke der Stadt ausging und de l'Eclins Männern Schutz bieten konnte, wenn sie sich näherten.

»Wir werden Männer in die Häuser abkommandieren müssen«, sagte Harper.

Sharpe schien ihn nicht zu hören. »Das gefällt mir nicht.«

»Eintausend Dragoner? Wem sollte das gefallen?«

»De l'Eclin ist ein gerissener Schweinehund.« Sharpe sprach halb zu sich selbst. »Ein ausgesprochen gerissener Schweinehund. Und er ist besonders gerissen, wenn er angreift.« Er drehte sich um und starrte zu den verbarrikadierten Straßen der Stadt hinüber. Die Hindernisse waren mit Cazadores bemannt und mit braunberockten Freiwilligen, die soeben dabei waren, Reisig für die Feuer aufzustapeln, die einen nächtlichen Angriff erleuchten sollten. Sie taten also genau das, was die Franzosen in der vergangenen Nacht getan hatten, und diese Vorkehrungen würde Oberst de l'Eclin sicherlich vorhersehen. Was also würde der Franzose tun?

»Er wird verdammt gerissen vorgehen, Sergeant, aber mir ist nicht klar, auf welche Art.«

»Er kann nicht fliegen«, sagte Harper stoisch, »und er hat keine Zeit, einen verdammten Tunnel zu graben, also muss er durch eine der Straßen reinkommen, stimmt's?«

Die Ironie dieser schwerfälligen Argumentation veranlasste Sharpe zu glauben, dass er Gefahren sah, wo keine waren. Besser, dachte er, sich auf die erste Eingebung zu verlassen.

»Er wird seine Kavallerie dort zu einem Scheinangriff ausschicken«, er zeigte auf das flache Land im Westen, »und wenn er denkt, wir würden alle in diese Richtung starren, wird er unberittene Männer von Süden heranschicken. Sie werden Befehl haben, diese Barrikade zu durchbrechen«, er zeigte auf die Straße, die aus der Stadt zur Kirche führte, »und seine Kavallerie wird hinter ihnen her einschwenken.«

Harper wandte sich hin und her, um sich selbst ein Urteil zu bilden. Sharpes Worte schienen ihn überzeugt zu haben.

»Und solange wir auf dem Hügel oder dort in den Häusern sind«, er wies mit dem Kopf auf die vereinzelten Gebäude außerhalb der Verteidigungslinie, »wird der Schweinehund nichts ausrichten können.« Der mächtige Ire hob einen Lorbeerzweig und bog das elastische Holz mit den Fingern. »Was mir aber wirklich Sorgen bereitet, Sir, ist nicht die Frage, wie wir den Angriff des Schweinehunds abwehren, sondern die Frage, was passieren wird, wenn wir den Rückzug antreten. Sie werden in diese Straßen eindringen wie die losgelassenen Teufel, wahrhaftig.«Auch Sharpe machte sich Sorgen über den Rückzug. Sobald Vivars Geschäfte in der Kathedrale erledigt waren, würde das Signal erschallen, und eine große Menschenmenge würde gen Osten aufbrechen, Freiwillige, Schützen, Cazadores, Priester und Volk aus der Stadt, das unter französischer Besatzung nicht länger dort bleiben wollte. Alle würden sie in die Dunkelheit hineinstolpern und rennen. Vivar hatte vor, den Rückzug von seiner Kavallerie schützen zu lassen, aber Sharpe wusste, welchem Chaos seine Männer in den Straßen ausgesetzt sein würden, sobald die französischen Dragoner erkannt hatten, dass die Barrikaden nicht mehr besetzt waren.

Er zuckte mit den Schultern. »Es bleibt uns nichts weiter übrig, als höllisch schnell zu rennen.«

»Da ist was Wahres dran«, sagte Harper bedrückt. Er warf den geknickten Zweig fort.

Sharpe starrte den verbogenen Lorbeer an. »Gütiger Himmel!«

»Was hab ich jetzt wieder falsch gemacht?«

»Ich will verdammt sein!« Sharpe schnippte mit den Fingern. »Ich will die Hälfte der Männer dort in den Häusern haben«, er zeigte auf die Gebäudereihe, die von der südwestlichen Barrikade ausging und entlang der südlichen Anfahrt zur Stadt verlief, »und den Rest auf dem Hügel.« Er begann auf die Stadt zuzurennen. »Bis bald, Sergeant!«

»Was hat er denn?«, fragte Hagman, als der Sergeant auf die Hügelkuppe zurückkehrte.

»Das Weibsbild hat ihn abgewiesen«, sagte Harper mit offenkundiger Befriedigung, »also schuldest du mir einen Schilling, Dan. Sie heiratet den Major, wahrhaftig.«

»Und ich dachte, die hätte eine Schwäche für Mister Sharpe«, sagte Hagman kläglich.

»Die weiß Besseres, als ihn zu heiraten. Er ist noch nicht bereit, sich Ketten und Handschellen anlegen zu lassen, warum auch? Sie braucht was Beständiges, wahrhaftig.«

»Aber er war doch in sie vernarrt.«

»Das war er, warum auch nicht? Der verliebt sich in jeden Unterrock. Bin diesem Typ schon öfter begegnet. Hat so viel Verstand wie ein Schaf, wenn es um Frauen geht.« Harper spuckte aus. »Gott sei Dank hat er mich. Ich passe schon auf ihn auf.« »Du?«

»Ich kann mit ihm umgehen, Dan. Genau, wie ich mit euch umgehen kann. So, ihr protestantisches Gesindel! Die Franzosen haben sich zum Abendessen angesagt, also machen wir uns bereit für die Schweinehunde!«

Frisch gereinigte Büchsen richteten sich gen Süden und Westen. Die Rifles warteten auf die Dämmerung und auf die Ankunft eines französischen Jägers.


Die Idee spukte Sharpe durch den Kopf, während er bergan in Richtung Stadtzentrum rannte. Oberst de l'Eclin würde sich einige Tricks einfallen lassen, aber das konnten die Verteidiger auch.

Sharpe blieb auf der Plaza stehen und fragte einen Cazador nach Major Vivar. Der Kavallerist zeigte auf den kleineren Platz im Norden jenseits der Brücke, die den Bischofspalast mit der Kathedrale verband. Dieser Platz war nach wie vor voller Leute. Anstatt den gefangenen Franzosen Schmähungen zuzurufen, war die Menge nun unheimlich still. Selbst die Glocken waren verklungen.

Sharpe schob sich durch das Gedränge und sah Vivar auf den Stufen stehen, die zum nördlichen Querschiff der Kathedrale führten. Louisa war bei ihm. Sharpe wünschte sich, sie wäre nicht anwesend. Die Erinnerung an sein lümmelhaftes Benehmen gegenüber dem Spanier brachte ihn in Verlegenheit, und er wusste, dass er sich hätte entschuldigen müssen. Aber die Gegenwart des Mädchens verhinderte eine derartige öffentliche Bußbezeugung. Stattdessen rief er ihm seine Idee zu, noch während er sich die überfüllten Stufen hochkämpfte. »Fußangeln!«

»Fußangeln?«, fragte Vivar. Louisa, die das ungewohnte Wort nicht zu übersetzen vermochte, zuckte mit den Schultern.

Sharpe hatte zwei Strohhalme aufgehoben, während er durch die Stadt gerannt war, und nun tat er es Harper nach, der achtlos den Lorbeerzweig verbogen hatte, und verbog die Strohhalme. »Fußangeln! Aber wir haben nicht viel Zeit! Können wir die Schmiede an die Arbeit beordern?«

Vivar starrte die Strohhalme an, dann fluchte er, weil er nicht selbst auf die Idee gekommen war. »Das wird funktionieren!« Er rannte die Stufen hinab.

Louisa, die mit Sharpe zurückblieb, blickte auf das geknickte Stroh, dessen Bedeutung ihr immer noch unklar war. »Fußangeln?«

Sharpe kratzte ein wenig Schlamm vom Absatz seines linken Stiefels und rollte ihn zu einer Kugel. Er zerbrach die Strohhalme in vier Stängel von jeweils drei Zoll Länge und steckte drei davon in die Schlammkugel, sodass ein dreizackiger Stern entstand. Er legte den Stern auf seine Handfläche und schob den vierten Stängel senkrecht in die Schlammkugel. »Eine Fußangel«, sagte er.

Louisa schüttelte den Kopf. »Ich verstehe immer noch nicht.«

»Eine mittelalterliche Waffe aus Eisen. Das Schlaue daran ist, dass immer eine Spitze nach oben zeigt, ganz gleich, wie das Ding fällt.« Er demonstrierte es, indem er die Fußangel drehte, und Louisa sah, dass eine der Spitzen, die zuvor zu dem dreizackigen Stern gehört hatte, nun nach oben ragte.

Da begriff sie. »O nein!« »O ja!«

»Die armen Pferde!«

»Arm dran sind wir, wenn uns die Pferde erwischen.« Sharpe zerknüllte die Strohhalme und den Schlamm zu einem Ball, den er von sich warf. Richtige Fußangeln aus eisernen Nägeln, die über dem Feuer verschweißt und gehämmert wurden, mussten dicht an dicht auf die Straßen verstreut werden, sobald die Schützen abgezogen waren. Die Spitzen drangen leicht in das weiche Gewebe an der Innenwand eines Pferdehufs ein. Die Tiere würden sich auf die Hinterhand stellen, kehrtmachen, bocken und durchgehen. »Aber die Pferde erholen sich davon«, versicherte er Louisa, die von der schlichten Gemeinheit dieser Waffe bestürzt zu sein schien.

»Wie kommt es, dass Sie darüber Bescheid wissen?«, fragte sie.

»Sie wurden in Indien gegen uns eingesetzt ...« Sharpes Stimme versiegte, denn er sah zum ersten Mal, seit er die Stufen zur Kathedrale erklommen hatte, warum die Menge auf dem Platz so still war.

In seiner Mitte hatte man ein notdürftiges Podest errichtet, ein Podest aus Holzplanken, die über Weinfässer gelegt waren. Darauf stand ein Stuhl mit hoher Lehne, den Sharpe zunächst für einen Thron hielt.

Der Eindruck königlichen Gepränges wurde von der seltsamen Prozession verstärkt, die sich, flankiert von den uniformierten Cazadores, der Plattform näherte. Die Männer in der Prozession trugen schwefelgelbe Roben und rote konische Hüte. Jeder hielt eine Papierrolle in den verschränkten Händen.

»Das Papier«, sagte Louisa mit gedämpfter Stimme, »ist ein Treuegelöbnis. Man hat ihnen vergeben, sehen Sie, aber sie müssen dennoch sterben.«

Da wurde Sharpe alles klar. Der Stuhl war kein Thron, sondern eine Garotte. An seinem hohen Rücken war ein metallener Aufsatz aus Halseisen und Schraube angebracht. Die in Spanien bevorzugte Methode der Exekution. Für Sharpe war es das erste Mal, dass er so ein Gerät zu Gesicht bekam.

Priester begleiteten die Verurteilten. »Sie sind allesamt afrancesados«, sagte Louisa. »Einige haben der französischen Kavallerie als Führer gedient, andere haben Partisanen verraten.«

»Haben Sie etwa vor zuzusehen?«, fragte Sharpe schockiert. Wenn Louisa schon beim Gedanken an einen Dorn im Huf eines Pferdes erbleichte, wie konnte sie dann den Anblick eines Menschen ertragen, dem das Genick gebrochen wurde?

»Ich habe noch nie eine Hinrichtung gesehen.«

Sharpe blickte auf sie hinab. »Und nun wollen Sie eine sehen?«

»Ich habe den Verdacht, dass ich gezwungen sein werde, in den nächsten paar Jahren vieles mit anzusehen, was mir nicht vertraut ist. Sie nicht auch?«

Der erste Mann wurde auf das Podest geschoben und in den Stuhl gesetzt. Der eiserne Kragen wurde ihm um den Hals gelegt. Der Sakristan Pater Alzaga stand neben dem Henker. »Pax et misericordia et tranquillitas!«, brüllte er dem Opfer ins Ohr, während der Henker hinter den Stuhl trat, und der Pater brüllte die Anrufung noch einmal, als der Hebel, der die Schraube bewegte, angezogen wurde. Die Schraube verengte den Kragen mit eindrucksvoller Geschwindigkeit. Noch ehe die lateinische Gebetsformel zum zweiten Mal ausgesprochen war, bäumte sich der Körper in dem Sessel auf und fiel schlaff in sich zusammen. Die Menge seufzte auf.

Louisa wandte sich ab. »Ich wünschte ...«, begann sie, konnte den Satz jedoch nicht zu Ende führen.

»Das ging aber schnell«, sagte Sharpe verwundert.

Der Leichnam, der nun vom Stuhl gestoßen wurde, schlug dumpf auf dem Podest auf, dann erklang ein Scharren, als er heruntergezerrt wurde. Louisa, die nicht länger hinsah, ergriff erst wieder das Wort, nachdem das Gebrüll Pater Alzagas bedeutete, dass ein weiterer Verräter sein Leben ausgehaucht hatte. »Denken Sie schlecht von mir, Lieutenant?«

»Weil Sie bei einer Exekution zugesehen haben?« Sharpe wartete, bis der zweite Leichnam aus dem Stuhl befreit war. »Wie komme ich dazu? Bei öffentlichen Hinrichtungen durch den Strang sind gewöhnlich mehr Frauen vertreten als Männer.«

»Das meine ich nicht.«

Er blickte wieder auf sie hinab und geriet augenblicklich in Verlegenheit. »Ich würde niemals schlecht von Ihnen denken.«

»Es ist in jener Nacht in der Festung geschehen.« In Louisas Stimme lag etwas Flehentliches, als sei sie verzweifelt bemüht, Sharpe verständlich zu machen, was passiert war. »Erinnern Sie sich? Als Don Blas uns das Gonfalon gezeigt und die Geschichte von der letzten Schlacht erzählt hat? Ich glaube, damals bin ich in die Falle gegangen.«

»In die Falle gegangen?«

»Mir gefällt sein Unsinn. Man hat mir beigebracht, die Katholiken zu hassen, sie wegen ihrer Ignoranz zu verachten und wegen ihrer Bösartigkeit zu fürchten. Aber niemand hat mir je von ihren Herrlichkeiten erzählt!«

»Herrlichkeiten?«

»Kahle Kirchen langweilen mich.« Louisa beobachtete beim Sprechen die Hinrichtungen, doch Sharpe bezweifelte, ob sie überhaupt wahrnahm, dass dort auf dem zusammengezimmerten Podest Menschen starben. »Es langweilt mich, immer wieder zu hören, ich sei eine Sünderin und meine Seelenrettung hänge allein von meiner ständigen Bußfertigkeit ab. Ich will nur ein einziges Mal erleben, wie die Hand Gottes in all ihrer Herrlichkeit herabkommt und uns berührt. Ich will ein Wunder, Lieutenant, ich will mir angesichts dieses Wunders so klein vorkommen. Aber Sie finden das sicher unvernünftig, nicht wahr?«

Sharpe sah zu, wie ein weiterer Mann starb. »Sie meinen das Gonfalon.«

»Nein!«, rief Louisa beinahe verächtlich. »Ich glaube nicht eine Sekunde, Lieutenant, dass Santiago diese Fahne aus dem Himmel geholt haben soll. Ich glaube, das Gonfalon ist nichts als ein altes Banner, mit dem einer von Don Blas' Vorfahren in die Schlacht gezogen war. Das Wunder besteht darin, was das Gonfalon bewirkt, nicht darin, was es ist! Wenn wir den heutigen Tag überleben, Lieutenant, haben wir ein Wunder vollbracht. Aber wir hätten es nicht vollbracht, nicht einmal versucht, es zu vollbringen, wenn das Gonfalon nicht wäre!« Sie hielt inne, wartete auf eine Bekräftigung von Sharpe, doch er blieb stumm. Sie zuckte resigniert mit den Schultern. »Sie halten das alles immer noch für Unsinn, nicht wahr?«

Sharpe sagte immer noch nichts. Für ihn war das Gonfalon, ob Unsinn oder nicht, ohne Bedeutung. Er war nicht wegen des alten Banners nach Santiago de Compostela gekommen. Er hatte geglaubt, es um dieses Mädchens willen zu tun, doch dieser Traum hatte sich zerschlagen. Und noch etwas hatte ihn in diese Stadt gelockt. Er war gekommen, um zu beweisen, dass ein Hurensohn von einem Sergeant, dem eine überhebliche Heeresleitung den Kopf getätschelt und ihn zum Quartiermeister ernannt hatte, ebenso gut, verdammt noch mal mindestens so gut wie ein geborener Offizier sein konnte. Und dieser Beweis konnte ohne die Hilfe der Männer in den grünen Jacken nicht angetreten werden, die nun auf den Feind warteten. Sharpe empfand plötzlich Zuneigung zu seinen Rifles. Eine derartige Zuneigung hatte er seit seiner Zeit als Sergeant, als er die Gewalt über Leben und Tod einer Kompanie von Rotröcken hatte, nicht mehr verspürt.

Ein Schrei veranlasste ihn, seine Aufmerksamkeit wieder dem Platz zuzuwenden, wo sich ein widerspenstiger Gefangener gegen die Hände zur Wehr setzte, die ihn auf das Podest hoben. Der Widerstand des Mannes war vergebens. Er wurde auf die Garotte gezwungen und auf dem Stuhl festgeschnallt. Das Eisen wurde um seinen Hals gebogen und die Zunge des Kragens in den Schlitz eingeführt, wo die Schraube ansetzen würde. Alzaga bekreuzigte sich. »Pax et misericordia et tranquillitas!«

Der Körper des Gefangenen in der gelben Robe zuckte krampfhaft, als sich der eiserne Kragen um seinen Hals schloss, um ihm das Rückgrat zu brechen und ihm den Atem zu rauben. Seine mageren Hände kratzten über die Armlehnen des Stuhls, dann erschlaffte er.

Sharpe ging davon aus, dass dieser rasche Tod Graf von Mouromortos Schicksal gewesen wäre, wenn er sich nicht in dem französisch besetzten Palast in Sicherheit gebracht hätte.

»Warum«, fragte er Louisa unvermittelt, »ist der Graf in der Stadt geblieben?«

»Ich weiß es nicht. Kommt es darauf an?«

Sharpe zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihn noch nie ohne de l'Eclin gesehen. Und dieser Oberst ist ein kluger Mann.«

»Sie sind auch klug«, sagte Louisa warmherzig. »Wie viele Soldaten kennen sich mit Fußangeln aus?«

Vivar drängte sich durch die Menge und kletterte die Stufen empor. »Die Essen werden aufgeheizt. Gegen sechs Uhr werden Sie ein paar Hundert dieser Dinger haben. Wo sollen sie hingebracht werden?«

»Schicken Sie sie einfach zu mir«, sagte Sharpe.»Wenn Sie das nächste Mal die Glocken läuten hören, werden Sie wissen, dass das Gonfalon entfaltet wurde. Dann können Sie den Rückzug antreten.« »Das ist hoffentlich bald!«

»Kurz nach sechs«, sagte Vivar. »Früher geht es nicht. Haben Sie gesehen, was die Franzosen in der Kathedrale angerichtet haben?«

»Nein.« Und Sharpe wollte es auch nicht wissen. Ihm ging es nur um einen gerissenen französischen Oberst, einen Jäger der Kaiserlichen Garde. Dann erklang aus südwestlicher Richtung ein vereinzelter Gewehrschuss, und er rannte los.


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