7
Im düsteren Licht, das sich nach Sonnenuntergang, aber noch vor der wahren Dunkelheit über das Land senkt, in einer von den wenigen Minuten, die Filmemacher die »magische Stunde« nennen, erwachte Vic Palfrey aus einem grünen Delirium zu kurzer geistiger Klarheit.
Ich sterbe, dachte er, und die Worte hallten seltsam durch seinen Verstand, was ihn in dem Glauben wiegte, er hätte sie laut ausgesprochen, obwohl es nicht so war.
Er sah sich um und erblickte ein Krankenhausbett, das hochgekurbelt war, damit seine Lunge nicht in Flüssigkeit ertrank. Er war mit Wäscheklammern aus Metall gesichert, die Seitenteile des Betts waren hochgezogen.
Muß um mich geschlagen haben, dachte er leicht amüsiert. Hab' gestrampelt. Und verspätet: Wo bin ich?
Er hatte einen Latz um den Hals, und dieser Latz war von Schleimklumpen verkrustet. Er hatte Kopfschmerzen. Seltsame Gedanken tanzten in seinem Kopf und wieder hinaus, und er wußte, er war im Delirium gewesen... und würde es bald wieder sein. Er war krank, und dies war nicht die Genesung, nicht einmal der Anfang davon, sondern lediglich eine kurze Atempause.
Er drückte die Innenseite des Handgelenks auf die Stirn und zog sie wieder weg, so wie man die Hand von einem heißen Herd wegzieht. Am Verbrennen und voller Schläuche. Zwei kleine durchsichtige aus Plastik kamen ihm aus der Nase. Ein weiterer kam unter dem Laken hervor und führte zu einer Flasche auf dem Boden, und er wußte, womit dessen anderes Ende verbunden war. Zwei Flaschen hingen an einem Gestell neben dem Bett, aus jeder kam ein Schlauch heraus, die sich zu einem Y vereinten, das dicht unter dem Ellbogen in seinen Arm hineinführte. Eine Infusion.
Das sollte eigentlich genügen, dachte er. Aber er hatte auch noch Kabel am Leib. Auf der Kopfhaut. Der Brust. Am linken Arm. Eines schien in seinen gottverdammten Nabel gekleistert zu sein. Und um allem die Krone aufzusetzen, war er ziemlich sicher, daß er auch etwas im Arsch stecken hatte. Was in Gottes Namen konnte das sein? Ein Scheiße-Radar?
»He!«
Er hatte einen hallenden, entrüsteten Schrei ausstoßen wollen. Statt dessen kam das bescheidene Flüstern eines todkranken Mannes heraus. Und mit dem Flüstern kam Schleim geflogen, an dem er zu ersticken schien.
Mama, hat George das Pferd reingebracht?
Das war die Sprache des Deliriums. Ein irrationaler Gedanke, der wie ein Meteor kühn über das Firmament vernünftigeren Überlegens schoß. Dennoch hielt er ihn einen Augenblick lang beinahe zum Narren. Er würde nicht lange bei klarem Verstand bleiben. Dieser Gedanke wiederum erfüllte ihn mit Panik. Er betrachtete seine knochigen Arme und schätzte, daß er an die dreißig Pfund verloren haben mußte, und er hatte schon vorher nicht eben viel gewogen. Dieses... was immer es war... brachte ihn um. Die Vorstellung, er könnte Unsinn und Unflat brabbeln wie ein seniler alter Mann, entsetzte ihn.
Georgie ist mit Norma Willis ausgegangen. Du mußt das Pferd ganz alleine reinbringen und ihm den Futterbeutel umhängen, sei ein braver Junge.
Ist nicht meine Aufgabe.
Victor, du hast deine Mama doch lieb, also los.
Schon. Aber es ist nicht...
Du mußt jetzt lieb zu deiner Mama sein. Mama hat Grippe. Nein, hast du nicht, Mama. Du hast TB. Und die TB wird dich umbringen. Neunzehnhundertsiebenundvierzig. Und George wird sechs Tage nach seiner Ankunft in Korea sterben, gerade Zeit für einen einzigen Brief, und dann peng peng. George ist... Vic, du hilfst mir jetzt und bringst das Pferd rein, und das ist mein letztes Wort.
»Ich habe die Grippe, nicht sie«, flüsterte er, als er wieder an die Oberfläche kam. »Ich.«
Er sah die Tür an und dachte, daß es selbst für ein Krankenhaus eine verdammt komische Tür war. Abgerundet, die Fugen abgedichtet, das untere Ende mehr als zehn Zentimeter vom Kachelboden entfernt. Sogar ein Stümper von einem Zimmermann wie Vic Palfrey konnte (gib mir die Comics Vic du hast sie lange genug gehabt)
(Mama, er hat mir die Sonntagsbeilage weggenommen! Gib sie her! Gib sie heeeeeeer!)
eine bessere bauen. Sie war aus
(Stahl)
Dieser Gedanke fuhr ihm wie ein Nagel tief ins Gehirn, und Vic rappelte sich hoch, damit er die Tür besser sehen konnte. Ja, es stimmte. Es stimmte eindeutig. Eine Stahltür. Warum war er im Krankenhaus hinter einer Stahltür? Was war passiert? Lag er wirklich im Sterben? Sollte er sich besser Gedanken machen, wie er vor seinen Schöpfer treten wolle? Herrgott, was war nur passiert? Er bemühte sich verzweifelt, den grauen Nebelvorhang zu durchdringen, aber es kamen nur Stimmen durch, ferne Stimmen, denen er keine Namen zuordnen konnte.
Ich will euch mal was sagen... sie müssen einfach sagen, scheiß auf die Inflation...
Schalt lieber deine Zapfsäulen ab, Hap.
(Hap? Bill Hapscomb? Wer war das? Ich kenne diesen Namen)
Schockschwerenot...
Ja, sie sind tot.
Gib mir die Hand, ich zieh' dich da unten raus...
Gib mir die Comics Vic du hast sie...
In diesem Augenblick sank die Sonne so weit unter den Horizont, daß ein lichtaktivierter (oder in diesem Fall, ein durch Fehlen von Licht aktivierter) Schalter einrastete. In Vics Zimmer gingen die Lichter an. Als es im Zimmer hell wurde, sah er die Reihe Gesichter, die ihn ernst hinter zwei Schichten Glas betrachteten, und er schrie, weil er zuerst dachte, sie hätten die Unterhaltung in seinem Kopf geführt. Eine der Gestalten, ein wie ein Arzt weißgekleideter Mann, gestikulierte hektisch mit jemandem außerhalb von Vics Gesichtsfeld, aber Vic hatte die Angst bereits überwunden. Er war zu schwach, um lange Angst zu haben. Doch die plötzliche Furcht, die mit dem aufflammenden Eicht und der Vision gaffender Gesichter gekommen war (die im Krankenhausweiß wie Geister-Geschworene wirkten), hatte einen Teil der Sperre in seinem Denken eingerissen, und er wußte jetzt, wo er war. Atlanta. Atlanta, Georgia. Sie waren gekommen und hatten ihn geholt - ihn und Hap und Norm und Norms Frau und Kinder. Sie hatten Hank Carmichael geholt. Stu Redman. Gott allein wußte, wie viele andere. Vic war ängstlich und erbost gewesen. Klar, er hatte Schnupfen und Niesen, aber auf gar keinen Fall Cholera oder was immer Campion, der arme Teufel, und seine Familie gehabt hatten. Leichtes Fieber hatte er auch gehabt, und jetzt fiel ihm wieder ein, daß Norm Bruett gestolpert war und die Stufen zum Flugzeug nur mit fremder Hilfe hinauf konnte. Seine Frau hatte Angst gehabt und geweint, und der kleine Billy Bruett hatte auch geweint - geweint und gehustet. Ein rauhes, sämiges Husten. Das Flugzeug hatte auf der kleinen Startbahn außerhalb von Braintree gewartet, aber um die Stadtgrenze von Arnette verlassen zu können, mußten sie durch eine Straßensperre an der US 93, wo Männer Stacheldraht gezogen hatten... Stacheldraht in die verfluchte Wüste hinaus...
Über der seltsamen Tür ging ein rotes Eicht an. Ein Zischen, dann Geräusche wie von einer laufenden Pumpe. Als diese Geräusche verstummten, ging die Tür auf. Der Mann, der hereinkam, trug einen klobigen weißen Druckanzug mit transparenter Gesichtsplatte. Hinter dieser Gesichtsplatte nickte der Kopf des Mannes wie ein Ballon in einer Kapsel. Er hatte Druckflaschen auf dem Rücken, und seine Stimme klang metallisch und alles andere als menschlich. Es hätte eine Stimme aus einem Videospiel sein können, wie zum Beispiel diejenige, die sagte: »Versuch's noch mal, Weltraumkadett«, wenn man seinen letzten Versuch versaut hatte.
Sie schepperte: »Wie geht es Ihnen, Mr. Palfrey?«
Aber Vic konnte nicht antworten. Vic war wieder in die grünen Tiefen weggetaucht. Er sah seine Mama hinter dem Visier des weißen Anzugs. Mama hatte auch Weiß getragen, als Papa ihn und George zum letzten Mal mit zu ihr ins Sanat orium genommen hatte. Sie hatte ins Sanatorium gemußt, damit nicht die ganze Familie bekam, was sie hatte. TB war ansteckend. Man konnte sterben.
Er sprach mit seiner Mama... sagte, er würde lieb sein und das Pferd reinbringen... sagte ihr, daß George ihm die Sonntagsbeilage mit den Comics weggenommen hatte... fragte sie, ob es ihr besser ging... fragte sie, ob sie bald wieder nach Hause kommen würde... und der Mann im weißen Anzug gab ihm eine Spritze, und er sank tiefer hinab, und seine Worte wurden unverständlich. Der Mann im weißen Anzug betrachtete die Gesichter hinter der Glasscheibe und schüttelte den Kopf.
Er drückte mit dem Kinn den Knopf der Sprechanlage in seinem Helm und sagte: »Wenn das nicht hilft, ist er um Mitternacht tot.«
Für Vic Palfrey war die magische Stunde vorbei.
»Bitte krempeln Sie den Ärmel hoch, Mr. Redman«, sagte die hübsche dunkelhaarige Schwester. »Es dauert nicht lange.« Sie hatte Handschuhe an und hielt den Blutdruckmesser. Sie lächelte hinter der Plastikmaske, als teilten sie beide ein amüsantes Geheimnis.
»Nein«, sagte Stu.
Das Lächeln wurde ein wenig unsicher. »Nur den Blutdruck. Es dauert höchstens eine Minute.«
»Nein.«
»Anweisungen des Arztes«, sagte sie und wurde sachlich. »Bitte.«
»Wenn es eine Anweisung des Arztes ist, will ich den Arzt sprechen.«
»Tut mir leid, der ist beschäftigt. Wenn Sie bitte...«
»Ich warte«, sagte Stu gleichmütig und machte keine Anstalten, die Manschette des Hemdsärmels aufzuknöpfen.
»Ich mache nur meine Arbeit. Wollen Sie denn, daß ich Schwierigkeiten bekomme ?« Sie schenkte ihm den Rest ihres bezaubernden Lächelns. » Lassen Sie mich nur...«
»Nein«, sagte Stu. »Gehen Sie, und sagen Sie es ihnen. Sie werden jemand schicken.«
Mit einem besorgten Blick trat die Schwester zur Stahltür und drehte einen Vierkantschlüssel im Schloß. Die Pumpe sprang an, die Tür öffnete sich zischend, die Schwester trat hinaus. Bevor sie die Tür wieder schloß, sah sie Stu vorwurfsvoll an. Stu erwiderte den Blick freundlich.
Als die Tür zu war, stand er auf und trat unruhig ans Fenster - Doppelscheiben, außen vergittert -, aber es war schon dunkel, und er konnte nichts erkennen. Er ging zurück und setzte sich. Er trug verblichene Jeans, ein kariertes Hemd und braune Stiefel, bei denen die Seitennähte sich wölbten. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und zog eine mißbilligende Grimasse, als er die Stoppeln spürte. Man gestattete ihm nicht, sich zu rasieren, und sein Bart wuchs schnell.
Gegen die Tests selbst hatte er nichts einzuwenden. Er hatte etwas dagegen, daß sie ihn im unklaren, in Angst, ließen. Er war nicht krank, jedenfalls noch nicht, aber er hatte Angst. Hier ging irgend etwas vor sich, und er wollte erst wieder mitspielen, wenn ihm jemand sagte, was in Arnette geschehen war und was dieser Campion damit zu tun hatte. Dann hätte er wenigstens einen vernünftigen Grund für seine Angst.
Sie hatten schon früher damit gerechnet, daß er fragen würde, er hatte es in ihren Augen gesehen. Im Krankenhaus hat man gewisse Methoden, einem etwas zu verheimlichen. Vor vier Jahren war seine Frau mit siebenunddreißig Jahren an Krebs gestorben, der in der Gebärmutter angefangen und sich rasch über den ganzen Körper ausgebreitet hatte, wie ein Waldbrand, und Stu hatte miterlebt, wie die Ärzte ihren Fragen auswichen, indem sie entweder das Thema wechselten oder ihr die Informationen nur in unverständlichem Fachlatein gaben. Deshalb hatte er einfach nicht gefragt und gemerkt, daß es den Leuten hier Sorgen machte. Aber jetzt war es Zeit, Fragen zu stellen, und er würde Antworten bekommen. In leicht verständlichen Worten.
Einige Lücken konnte er selbst ausfüllen. Campion, dessen Frau und dessen Tochter hatten etwas ziemlich Böses gehabt. Es befiel einen wie Grippe oder eine Sommererkältung, nur daß es immer schlimmer wurde, vermutlich bis man an seinem eigenen Rotz erstickte oder einen das Fieber verbrannte. Es war außerordentlich ansteckend.
Sie hatten ihn am Nachmittag des Siebzehnten geholt, vor zwei Tagen. Vier Männer von der Armee und ein Arzt. Höflich, aber bestimmt. Eine Weigerung stand außer Frage; alle vier Soldaten waren bewaffnet gewesen. Da hatte Stu Redman es echt mit der Angst zu tun bekommen.
Als regelrechte Karawane hatten sie Arnette verlassen und waren zum Flugplatz von Braintree gefahren. Stu war mit Vic Palfrey, Hap, den Bruetts, Hank Carmichael, dessen Frau und zwei Unteroffizieren gefahren. Sie hatten sich alle in den Armeekombi zwängen müssen, und die Jungs von der Armee hatten weder ja noch nein noch vielleicht gesagt, wie hysterisch Lila Bruett sich auch aufführte. Auch die anderen Wagen waren voll besetzt. Stu hatte nicht alle erkannt, aber er hatte alle fünf Angehörigen der Familie Hodges gesehen, und Chris Ortega, Bruder von Carlos und Fahrer des Krankenwagens. Chris war Barkeeper in Indian Head. Stu hatte Parker Mason und seine Frau gesehen, die beiden älteren Leute aus der Wohnwagenkolonie in der Nähe seines Hauses. Stu vermutete, daß die Soldaten sich jeden gegriffen hatten, der bei der Tankstelle gewesen war, und jeden, mit dem die Leute von der Tankstelle gesprochen hatten, seit Campion die Zapfsäulen umgenietet hatte.
An der Stadtgrenze hatten zwei olivgrüne Lastwagen die Straße versperrt. Stu nahm an, daß die anderen Straßen, die nach Arnette führten, ebenfalls gesperrt waren. Die Soldaten waren dabeigewesen, Stacheldraht auszurollen, und wenn sie die Stadt abgeriegelt hatten, würden sie wahrscheinlich auch Posten aufstellen.
Demnach war es ernst. Todernst.
Er saß geduldig neben dem Krankenhausbett, das er noch nicht benutzt hatte, und wartete darauf, daß die Schwester jemanden brachte. Der erste Jemand würde ein Niemand sein. Vielleicht würden sie bis zum nächsten Morgen einen Jemand bringen, der befugt war, ihm alles zu erzählen, was er wissen mußte. Er konnte warten. Geduld war schon immer Stu Redmans starke Seite gewesen.
Um sich zu beschäftigen, dachte er über den Zustand der Leute nach, die mit ihm zusammen zum Flugplatz gefahren waren. Norm war der einzige offensichtlich Kranke gewesen. Er hatte gehustet, Schleim ausgespuckt und Fieber gehabt. Die übrigen schienen alle mehr oder weniger stark erkältet zu sein. Luke Bruett hatte geniest. Lila Bruett und Vic Palfrey hatten leichten Husten gehabt. Hap hatte sich einen Schnupfen geholt und sich laufend die Nase geschneuzt. Es hatte sich kaum anders angehört als früher in der ersten oder zweiten Schulklasse, wenn zwei Drittel der Kinder ständig irgendwas gehabt hatten.
Aber was ihm am meisten angst gemacht hatte, war geschehen, als sie auf die Startbahn fuhren. Vielleicht war es Zufall gewesen, aber der Armeefahrer hatte dreimal schallend geniest. Wahrscheinlich nur Zufall. Für Leute mit Allergien war der Juni im östlichen Texas eine schlimme Zeit. Vielleicht hatte der Fahrer sich auch nur eine ganz gewöhnliche Erkältung geholt und nicht die unheimliche Scheiße wie die anderen. Denn etwas, das so schnell von einem Menschen auf den anderen übertragen wurde...
Ihre Armee-Eskorte war mit ihnen an Bord des Flugzeugs gegangen. Die Männer flogen mit stoischer Ruhe und weigerten sich, Fragen zu beantworten, außer nach dem Flugziel: Atlanta. Dort würde man ihnen mehr sagen (eine schamlose Lüge). Darüber hinaus gaben die Männer von der Armee keine Auskunft.
Hap saß während des Fluges neben Stu und war ziemlich besoffen. Das Flugzeug war eine Militärmaschine, kaum Komfort, aber Fusel und Essen entsprachen zivilem Flugverkehr erster Klasse. Statt einer hübschen Stewardeß nahm zwar ein Sergeant Wünsche entgegen, aber wenn man darüber hinwegsah, ließ es sich aushalten. Als sie ein paar Grasshoppers intus hatte, beruhigte sich sogar Lila Bruett. Hap beugte sich herüber und hüllte Stu in einen warmen Whiskynebel. »Komische Bande, Stuart. Keiner unter fünfzig, keiner trägt einen Ehering. Karrieretypen, untere Schiene.«
Ungefähr eine halbe Stunde vor der Landung hatte Norm Bruett eine Art Ohnmachtsanfall, und Lila Bruett fing an zu kreischen. Zwei der groben Stewards wickelten Norm in eine Decke und brachten ihn ziemlich schnell wieder zu sich. Lila war nicht mehr ruhig zu bekommen und schrie weiter. Nach einer Weile kotzte sie die Grasshoppers und das Geflügelsalatsandwich, das sie gegessen hatte, wieder aus. Mit ausdruckslosen Gesichtern machten sich zwei der alten Kameraden daran, alles aufzuwischen.
»Was hat das zu bedeuten?« kreischte Lila. »Was ist mit meinem Mann los? Müssen wir sterben? Müssen meine Babies sterben?«
Sie hatte unter jedem Arm eins der »Babies« im Schwitzkasten, die Köpfe an die gewaltigen Brüste gedrückt. Luke und Bobby sahen ängstlich und unwohl aus, und das Gezeter ihrer Mutter schien ihnen peinlich zu sein. »Warum antwortet mir niemand? Sind wir nicht in Amerika?«
»Kann der nicht mal jemand das Maul stopfen?« knurrte Chris Ortega aus dem hinteren Teil des Flugzeugs. »Die Frau ist ja schlimmer als eine Musicbox mit 'ner kaputten Platte drin.«
Einer der Soldaten hatte Lila ein Glas Milch aufgedrängt, und damit war ihr das Maul gestopft. Sie verbrachte den Rest des Fluges damit, aus dem Fenster zu schauen, die vorüberziehende Landschaft zu betrachten und zu summen. Stu vermutete, daß in dem Glas mehr als nur Milch gewesen war.
Als sie landeten, hatten vier Cadillac-Limousinen auf sie gewartet. Die Leute aus Arnette stiegen in drei der Wagen ein. Ihre ArmeeEskorte in den vierten. Stu nahm an, daß diese alten Jungs ohne Eheringe - und wohl auch ohne nahe Verwandte - jetzt ebenfalls irgendwo in diesem Gebäude waren.
Das rote Licht über der Tür ging an. Als der Kompressor, die Pumpe oder was auch immer verstummte, kam ein Mann in einem dieser weißen Raumanzüge durch die Tür. Dr. Denninger. Er war jung. Er hatte schwarzes Haar, olivfarbene Haut, scharfgeschnittene Züge und blasse Lippen.
»Patty Greer sagt, Sie haben ihr Schwierigkeiten gemacht«, tönte es aus Denningers Brustlautsprecher, während er zu Stu herüberstapfte. »Sie ist ganz schön sauer.«
»Dazu hat sie keinen Grund«, sagte Stu unbekümmert. Es fiel ihm nicht leicht, sich so locker zu geben, aber er fand es wichtig, seine Angst vor diesem Mann zu verbergen. Denninger war der Typ, der Untergebenen die Hölle heiß machte und sie herumkommandierte, Vorgesetzten aber in den Arsch kroch. Solche Typen wurden nur dann umgänglich, wenn man sie glauben machte, daß man die Peitsche in der Hand hielt. Aber wenn so jemand Angst an einem witterte, gab er einem den altbekannten Kuchen: ein dünner Zuckerguß von »Tut-mir-leid,-mehr-kann-ich-Ihnen-nicht-Sagen« über jeder Menge Verachtung für dumme Zivilisten, die mehr wissen wollten, als gut für sie war.
»Ich will Auskunft«, sagte Stu.
»Tut mir leid, aber...«
»Wenn Sie wollen, daß ich mitspiele, müssen Sie reden.«
»Wenn die Zeit gekommen ist, werden Sie...«
»Ich kann es Ihnen schwermachen.«
»Das wissen wir«, sagte Denninger mürrisch. »Ich bin aber nun mal nicht befugt, Ihnen etwas zu sagen, Mr. Redman. Ich weiß selbst kaum etwas.«
»Sie haben wahrscheinlich mein Blut untersucht. Die vielen Nadeln.«
»Das ist richtig«, sagte Denninger vorsichtig.
»Wozu?«
»Noch einmal, Mr. Redman: Ich kann Ihnen nichts sagen, was ich selbst nicht weiß.« Wieder dieser mürrische Ton, und Stu war geneigt, dem Mann zu glauben. In seinem Job war Denninger nur ein besserer Handlanger, und das gefiel ihm überhaupt nicht.
»Sie haben meine Heimatstadt unter Quarantäne gestellt.«
»Auch davon weiß ich nichts.« Aber Denninger hielt seinem Blick nicht stand, und diesmal glaubte Stu, daß er log.
»Wieso habe ich nichts darüber gesehen?« fragte er und zeigte auf den an die Wand geschraubten Fernseher.
»Bitte?«
»Wenn man eine Stadt abriegelt, Straßensperren errichtet und Stacheldraht zieht, macht das Schlagzeilen«, sagte Stu.
»Mr. Redman, wenn Sie Patty Ihren Blutdruck messen lassen...«
»Nein. Wenn Sie etwas von mir wollen, müssen Sie schon zwei kräftige Männer schicken. Und ganz gleich, wie viele Sie schicken, ich werde versuchen, Löcher in diese Schutzanzüge zu reißen. Er griff spielerisch nach Denningers Anzug, und Denninger fuhr zurück und wäre fast gestürzt. Aus dem Lautsprecher seiner Sprechanlage ertönte ein entsetzter Schrei, und hinter dem Doppelfenster sah Stu Bewegungen.
»Natürlich könnten Sie mir etwas ins Essen tun, das mich flachlegt, aber das würde Ihre Testergebnisse durcheinanderbringen, oder?«
-»Mr. Redman, Sie verhalten sich unvernünftig!« Denninger wahrte peinlich Distanz. »Durch Ihre Weigerung, mit uns zusammenzuarbeiten, leisten Sie Ihrem Land einen schlechten Dienst. Verstehen Sie das?«
»Nee«, sagte Stu. »Im Augenblick kommt es mir so vor, als leiste mein Land mir einen schlechten Dienst. Es hat mich in ein Krankenzimmer in Georgia gesperrt, mit einem schmollmündigen kleinen Arschloch von Arzt, der Scheiße nicht von Schuhwichse unterscheiden kann. Verpissen Sie sich, und schicken Sie mir jemand, der mit mir redet, oder schicken Sie genug Jungs, damit Sie mit Gewalt bekommen, was Sie haben wollen. Aber ich werde mich wehren, darauf können Sie Gift nehmen.«
Als Denninger gegangen war, blieb er ganz ruhig auf seinem Stuhl sitzen. Die Schwester kam nicht wieder. Es kamen auch keine zwei kräftigen Pfleger, um ihm den Blutdruck gewaltsam zu messen. Aber als er darüber nachdachte, fiel ihm ein, daß ja selbst eine Kleinigkeit wie die Blutdruckmessung nicht viel taugen würde, wenn sie unter großer Belastung vorgenommen wurde. Vorläufig ließen sie ihn im eigenen Saft schmoren.
Er stellte das Fernsehgerät an und starrte auf den Bildschirm, ohne etwas zu sehen. Tief in ihm rumorte die Angst, wie ein wildgewordener Elefant. Zwei Tage lang hatte er darauf gewartet, daß auch er anfangen würde zu niesen, husten, schwarzen Schleim hochzuwürgen und ins Becken zu spucken. Er dachte an die anderen Leute, die er sein ganzes Leben lang gekannt hatte. Er fragte sich, ob einer von ihnen so schlimm dran war wie Campion. Er dachte an die tote Frau und das Kind in dem alten Chevy, und immer wieder sah er Lila Bruetts Gesicht in dem der Frau und das der kleinen Cheryl Hodges in dem des Babys.
Das Fernsehgerät kreischte und knisterte. Sein Herz schlug langsam in der Brust. Er konnte schwach das Geräusch der Klimaanlage hören, die gereinigte Luft in den Raum blies. Er spürte die Angst, die sich hinter seinem Pokerface drehte und wendete. Manchmal wurde sie groß und panisch und trampelte alles nieder: der Elefant. Manchmal war sie klein und nagend und biß mit winzigen Zähnen zu: die Ratte. Aber sie verließ ihn nicht.
Es dauerte vierzig Stunden, bis sie einen Mann zu ihm schickten, der redete.