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Auszüge aus dem Protokoll der Sitzung des Ad-hoc-Komitees

17. August 1990

Die Sitzung fand in der Wohnung Larry Underwoods in der South 4 znd Street im Stadtteil Table Mesa statt. Alle Mitglieder des Komitees waren da...

Der erste Punkt betraf die Wahl des Ad-hoc -Komitees zum ständigen Komitee von Boulder. Fran Goldsmith erhielt das Wort. Fran: »Stu und ich sind uns darüber einig, daß wir am problemlosesten gewählt würden, wenn Mutter Abagail die Vorschlagsliste gutheißen würde. Dann hätten wir nicht das Problem, daß zwanzig Leute von ihren Freunden nominiert werden und uns eventuelle Schwierigkeiten machen. Aber jetzt muß die Sache anders gehandhabt werden. Ich werde nichts vorschlagen, das nicht absolut demokratisch wäre, und ihr kennt ohnehin alle unseren Plan, aber ich will noch einmal deutlich darauf hinweisen, daß jeder von uns jemand finden muß, der ihn nominiert, und noch jemand, der die Nominierung unterstützt. Wenn ihr keinen findet, der euch nominiert und unterstützt, könnt ihr gleich einpacken.«

Sue: »Mann! Das ist fies, Fran!«

Fran: »Ja - ein bißchen.«

Glen: »Wir kommen wieder aufs Thema der Moral des Komitees zu sprechen, und ich bin sicher, wir alle halten das für ein endlos faszinierendes Thema, aber ich würde es trotzdem gerne für die nächsten Monate vertagt sehen. Ich glaube, wir müssen uns einfach darauf einigen, daß wir die Interessen der Freien Zone vertreten und es dabei belassen.«

Ralph: »Du hörst dich ein wenig sauer an, Glen.«

Glen: »Ich bin ein wenig sauer. Das gebe ich zu. Allein die Tatsache, daß wir soviel Zeit mit diesem Thema vergeudet und uns gequält haben, spricht eigentlich deutlich dafür, was wir im Herzen empfinden.«

Sue: »Die Straße zur Hölle ist gepflastert mit...«

Glen: »Guten Absichten, ich weiß, und da wir uns alle ständig wegen unserer Absichten Gedanken machen, müssen wir auf jeden Fall auf dem Highway zum Himmel sein.«

Darauf sagte Glen, daß er das Komitee auf das Thema Kundschafter oder Spione oder wie man sie immer nennen wollte, anzusprechen gedachte, aber statt dessen nun den Antrag stellen wollte, das Thema auf den 19. zu verschieben. Stu fragte, warum. Glen: »Weil wir am 19. vielleicht nicht mehr alle hier sind. Vielleicht wird jemand abgewählt. Eine entfernte Möglichkeit, aber niemand weiß, was eine große Menschenmenge macht, wenn alle an einem Platz versammelt sind. Wir sollten so vorsichtig sein, wie wir können.«

Das sorgte für einen Augenblick Stille, dann beschloß das Komitee 7:0, sich am 19. zu treffen - als ständiges Komitee - und die Frage von Kundschaftern ... oder Spionen... oder was auch immer zu diskutieren.

Stu erhielt das Wort, um einen dritten Tagesordnungspunkt vorzutragen, der Mutter Abagail betraf.

Stu: »Wie ihr wißt, ist sie aus persönlichen Gründen fortgegangen. Ihre Notiz besagt, daß sie >eine Weile< fort sein wird, was ziemlich vage klingt, und daß sie wiederkommen wird, >wenn es Gottes Wille ist<. Das klingt nicht sehr ermutigend. Unser Suchtrupp ist schon seit drei Tagen unterwegs, und wir haben noch nichts gefunden. Wenn sie nicht zurückkommen will, werden wir sie nicht zwingen, aber wenn sie ein Bein gebrochen hat oder möglicherweise bewußtlos irgendwo liegt, ist es etwas anderes. Das Problem ist teilweise, dass wir nicht genügend Leute haben, um die gesamte Umgebung gründlich abzusuchen. Und noch ein anderes Problem macht uns zu schaffen. Es ist dasselbe Problem, das unsere Arbeiten im Kraftwerk behindert: Keine Organisation. Ich beantrage daher, das Thema Suchtrupp auf die Tagesordnung der großen Versammlung zu setzen, die morgen stattfindet, ebenso die Themen Kraftwerk und Beerdigungskomitee. Ich möchte die Leitung gern Harold Lauder übertragen, denn es war schließlich sein Vorschlag.«

Glen meinte, daß ein Suchtrupp nach etwa einer Woche wohl keine gute Nachricht nach Hause bringen würde. Die fragliche Dame war immerhin hundertacht Jahre alt. Das Komitee war seiner Meinung und nahm Stus Antrag, wie er ihn gestellt hatte, mit 7:0 an. Damit diese Aufzeichnungen so ehrlich wie möglich sind, sollte ich hinzufügen, daß es mehrere Einwände gab, Harold die Leitung des Suchtrupps zu übertragen... aber wie Stu ausgeführt hatte, war es ursprünglich sein Vorschlag gewesen, und ihm die Leitung nicht zu übertragen wäre für ihn ein Schlag ins Gesicht.

Nick: »Ich ziehe meinen Einwand gegen Harold zurück, nicht aber meine grundsätzlichen Bedenken. Ich mag ihn nun mal nicht besonders.«

Ralph Brentner fragte, ob Glen oder Stu den die Suche betreffenden Antrag von Stu schriftlich festhalten würde, damit er ihn auf die Tagesordnung setzen könnte, die er heute noch in der High School drucken wollte. Stu sagte, das würde er mit Vergnügen machen. Larry Underwood beantragte dann eine Vertagung, Ralph unterstützte ihn, und der Antrag wurde 7:0 angenommen.

Frances Goldsmith, Protokollführerin




Fast alle Einwohner nahmen am nächsten Abend an der Versammlung teil, und zum ersten Mal bekam Larry Underwood, der sich erst seit einer Woche in der Freien Zone aufhielt, einen Eindruck davon, wie groß die Gemeinschaft inzwischen geworden war. Es war ein Unterschied, ob man die Leute auf der Straße allein oder zu zweit kommen und gehen sah oder ob sie alle in einem Raum versammelt waren - dem Chautauqua-Auditorium. Der Saal war voll, jeder Platz besetzt, und in den Gängen saßen noch mehr Menschen oder standen hinten im Saal. Man hörte aus der Menge nur unterdrückte Geräusche; die Leute murmelten oder flüsterten, aber keiner sprach laut. Heute hatte es zum ersten Mal, seit er in Boulder war, den ganzen Tag geregnet, zuerst ein leichtes Nieseln, das schon lange in der Luft gehangen hatte und einen eher einnebelte als durchnäßte, und selbst in dieser Versammlung von fast sechshundert konnte man das leise Geräusch des Regens auf dem Dach hören. Das lauteste Geräusch im Saal war das ständige Rascheln von Papier, wenn die Leute die hektografierte Tagesordnung durchblätterten, die auf zwei Kartentischen gleich innerhalb der Doppeltür gestapelt war. Diese Tagesordnung lautete folgendermaßen:



FREIE ZONE BOULDER

Tagesordnung der öffentlichen Versammlung

18. August 1990

Folgende Punkte werden zur Diskussion vorgeschlagen:


Ob die Freie Zone einverstanden ist, die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu verlesen und zu bekräftigen.


Ob die Freie Zone einverstanden ist, die Menschenrechte zusätzlich zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu verlesen und zu bekräftigen.


Ob die Freie Zone einen Rat von sieben Repräsentanten nominieren und wählen soll, der als Regierung fungiert.


Ob die Freie Zone bereit ist, Abagail Freemantle ein Vetorecht bei allen von den Repräsentanten der Freien Zone beschlossenen Angelegenheiten einzuräumen.


Ob die Freie Zone ein Beerdigungskomitee von mindestens zwanzig Personen einsetzt, die den in Boulder an der Supergrippe Verstorbenen ein würdiges Begräbnis zuteil werden lassen sollen.


Ob die Freie Zone ein Energiekomitee mit mindestens sechzig Personen einsetzt, dessen Aufgabe sein soll, die Stromversorgung vor Einbruch der kalten Witterung sicherzustellen.


Ob die Freie Zone einen Suchtrupp mit mindestens fünfzig Personen zusammenstellt, dessen Aufgabe sein soll, wenn möglich den Aufenthaltsort von Abagail Freemantle zu ermitteln.




Larry stellte fest, daß er die Tagesordnung, die er fast auswendig kannte, in seiner Nervosität zu einem Papierflugzeug gefaltet hatte. Es hatte Spaß gemacht, im Ad-hoc -Komitee mitzuarbeiten, es war ein Spiel - Kinder, die in einem Wohnzimmer Parlament spielten, herumsaßen, Cola tranken, Kuchen aßen, den Frannie gebacken hatte, und sich unterhielten. Selbst der Gedanke, Spione über die Berge und direkt in den Schoß des dunklen Mannes zu schicken, hatte etwas von einem Spiel an sich, teils weil es ihm unvorstellbar erschien, so etwas selbst zu machen. Man müßte ja auch nicht mehr alle Tassen im Schrank haben, sich so einem lebenden Alptraum auszusetzen. Aber in den geheimen Sitzungen, im behaglichen Licht der Coleman-Gaslampen, hatte es sich gut angehört. Und ob der Richter oder Dayna Jürgens oder Tom Cullen erwischt wurden, erschien - wenigstens in den geheimen Sitzungen - nicht wichtiger, als beim Schach einen Turm oder die Dame zu verlieren. Aber jetzt saß er hier im Saal zwischen Lucy und Leo (Nadine hatte er den ganzen Tag noch nicht gesehen, und Leo schien auch nicht zu wissen, wo sie sich aufhielt; »Weg«, war seine gleichgültige Antwort gewesen), und jetzt wurde ihm das ganze Ausmaß bewußt, und ihm war, als würde ein Rammbock in seinem Magen toben. Es war kein Spiel. Hier saßen fünfhundertachtzig Leute, und die meisten hatten keine Ahnung, daß Larry Underwood kein netter Kerl war und daß der erste Mensch, dem er nach der Epidemie helfen wollte, an einer Überdosis Tabletten gestorben war.

Seine Hände waren feucht und kalt. Sie versuchten schon wieder, die Tagesordnung zu einem Papierflugzeug zusammenzufalten, und er untersagte es ihnen. Lucy nahm eine seiner Hände, drückte sie und lächelte ihn an. Er konnte nur mit einer Grimasse reagieren, und in seinem Innern hörte er die Stimme seiner Mutter: Irgend etwas fehlt dir, Larry.

Ein Gefühl der Panik beschlich ihn, als er daran dachte. Gab es noch einen Ausweg, oder war die Sache schon zu weit gediehen? Er wollte diesen Mühlstein nicht. Er hatte schon einen Antrag in geheimer Sitzung gestellt, der Richter Farris in den Tod schicken konnte. Wenn man ihn abwählte und jemand anderen für ihn nahm, würden sie über die Entsendung des Richters neu abstimmen müssen, oder nicht? Klar doch. Und sie würden einen anderen schicken. Wenn Laurie Constable mich nominiert, stehe ich einfach auf und sage, daß ich ablehne. Wer braucht diesen Ärger überhaupt?

Wayne Stukey hatte vor langer Zeit an jenem Strand zu ihm gesagt: Bei dir ist es, als ob man auf Stanniol beißt.

Lucy sagte leise: »Du wirst es schon schaffen.«

Er zuckte zusammen. »Hm?«

»Ich sagte, du wirst es schon schaffen. Oder nicht, Leo?«

»O ja«, sagte Leo und nickte mit dem Kopf. Er nahm keinen Blick vom Publikum, als wären seine Augen noch nicht imstande gewesen, dem Gehirn dessen Größe zu übermitteln. »Bestimmt.«

Du hast keine Ahnung, du dumme Kuh, dachte Larry. Du hältst meine Hand und begreifst nicht, daß ich eine falsche Entscheidung treffen könnte, die für euch beide den Tod bedeutet. Ich bin jetzt schon im Begriff, Richter Farris umzubringen, und er unterstützt auch noch meine verdammte Nominierung. Was für ein Schlamassel das alles ist. Er seufzte leise.

»Hast du was gesagt?« fragte Lucy.

»Nein.«

Dann ging Stu über die Bühne zum Rednerpult. Sein roter Pullover und seine Bluejeans strahlten hell und klar im Schein der Notleuchten, die von einem Honda-Generator gespeist wurden, den Brad Kitchner mit einigen seiner Leute aus dem Kraftwerk aufgestellt hatte. Irgendwo in der Mitte des Saales begann der Applaus, Larry wußte nicht genau wo, und der Zyniker in ihm war überzeugt, dass dieser Applaus von Glen Bateman, dem hiesigen Fachmann für Massenbeeinflussung, arrangiert worden war. Es spielte eigentlich auch keine Rolle. Nach dem anfänglichen zögernden Klatschen schwoll der Applaus zu einem Orkan an. Auf der Bühne blieb Stu am Rednerpult stehen und wirkte komisch erstaunt. Jetzt mischten sich Hochrufe und schrille Pfiffe in den Applaus.

Dann standen die Anwesenden auf; der Beifall schwoll an wie das Prasseln heftigen Regens und die Leute schrien: »Bravo! Bravo!«

Stu hob die Hände, aber sie hörten nicht auf; der Beifall wurde sogar doppelt so laut. Larry sah Lucy an und stellte fest, daß sie begeistert klatschte. Sie hielt den Blick auf Stu gerichtet. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem zitternden, aber triumphierenden Lächeln.

Sie weinte. Auf der anderen Seite applaudierte Leo ebenfalls und klatschte so heftig in die Hände, daß Larry fürchtete, sie würden abfallen, wenn Leo nicht aufhörte. In seiner Freude hatte Leo seinen mühsam wiedererlangten Wortschatz vergessen, so wie ein Mann oder eine Frau das Englische vergessen, wenn sie es als Fremdsprache gelernt haben. Er konnte nur laut und begeistert johlen.

Brad und Ralph hatten auch ein Mikrofon an den Generator angeschlossen, und nun blies Stu hinein und sagte: »Ladies and Gentlemen...«

Aber der Applaus hielt an.

»Ladies and Gentlemen, wenn Sie bitte Platz nehmen wollen...«

Aber sie waren nicht bereit, sich zu setzen. Der Applaus ging immer weiter, und Larry sah nach unten, weil seine eigenen Hände schmerzten, und merkte, daß er selbst genauso frenetisch klatschte wie die anderen.

»Ladies and Gentlemen...«

Der Applaus donnerte und hallte. Eine Familie Schwalben, die sich, nachdem die Seuche zugeschlagen hatte, in diesem schönen ruhigen Saal eingenistet hatten, flatterten panisch herum und versuchten verzweifelt, irgendwohin zu fliegen, wo keine Menschen waren.

Wir applaudieren uns selbst, dachte Larry. Wir applaudieren der Tatsache, daß wir hier zusammen sind und noch leben. Vielleicht sagen wir unserem neuen Gruppenbewußtsein Hallo, ich weiß nicht. Hallo, Boulder. Endlich. Schön, daß wir hier sind, schön, daß wir leben.

»Ladies and Gentlemen, nehmen Sie bitte Platz, das wäre mir sehr recht.«




Der Applaus ließ allmählich ein wenig nach. Jetzt hörte man Frauen - und auch ein paar Männer - schluchzen. Nasen wurden geschneuzt. Unterhaltungen wurden geflüstert. Das typische Auditoriumsrauschen, als die Leute sich wieder setzten.

»Ich bin froh, daß Sie alle hier sind«, sagte Stu. »Ich bin auch froh, daß ich selbst hier bin.« Aus dem Mikrofon kamen pfeifende Rückkopplungsgeräusche, und Stu murmelte: »Verdammtes Ding«, was deutlich in den ganzen Saal übertragen wurde. Hier und da wurde gelacht; Stu wurde rot. »Ich glaube, an so was werden wir uns alle erst wieder gewöhnen müssen«, sagte er, und das löste wieder Beifall aus.

Als der nachgelassen hatte, sagte Stu: »Für diejenigen, die mich nicht kennen, ich bin Stuart Redman aus Arnette, Texas, und ich kann Ihnen sagen, das liegt ziemlich weit von hier entfernt.« Er räusperte sich, und wieder erklang Rückkopplungspfeifen, so daß er argwöhnisch einen Schritt vom Mikro zurücktrat. »Außerdem bin ich ziemlich nervös hier oben, haben Sie bitte Verständnis...«

»Haben wir, Stu!« brüllte Harry Dunbarton fröhlich, und einige lachten zustimmend. Wie die Zeltmission, dachte Larry. Als nächstes werden sie anfangen, Psalmen zu singen. Wenn Mutter Abagail hier wäre, würden wir es sicher schon.

»Ich habe zuletzt vor so vielen Leuten gestanden, als unsere kleine High School an den Footballmeisterschaften teilnehmen durfte, und da standen außer mir noch einundzwanzig andere Jungs zum Ansehen da, ganz abgesehen von Mädchen in kurzen Röcken.«

Eine herzliche Lachsalve.

Lucy zupfte Larry am Hals und flüsterte ihm ins Ohr: »Worüber hat er sich Sorgen gemacht? Er ist ein Naturtalent.«

Larry nickte.

»Aber wenn Sie Verständnis haben, werde ich es schon irgendwie durchstehen«, sagte Stu.

Wieder Applaus. Diese Menge würde bei Nixons Rücktrittsansprache applaudieren und verlangen, daß er sie mit Klavierbegleitung wiederholt, dachte Larry.

»Zuerst sollte ich Ihnen einiges über das Ad-hoc-Komitee erzählen, und warum ich überhaupt hier bin«, sagte Stu. »Wir haben uns zu siebt zusammengesetzt und diese Versammlung geplant, denn es ist dringend erforderlich, daß wir uns irgendwie organisieren. Es gibt viel zu tun, und ich möchte Ihnen jedes Mitglied unseres Komitees vorstellen. Ich hoffe, daß Sie für diese Leute ebenfalls noch ein wenig Beifall übrig haben, denn sie haben mit viel Fleiß die Tagesordnung ausgearbeitet, die Sie jetzt in Händen halten. Zuerst Miss Frances Goldsmith. Steh auf, Frannie, damit die Leute sehen, wie du in einem Kleid aussiehst.«

Fran stand auf. Sie trug ein hübsches mattgrünes Kleid und eine schlichte Perlenkette, die früher zweitausend Dollar gekostet haben mochte. Die Leute klatschten, und in den Applaus mischten sich beifällige Pfiffe.

Fran setzte sich errötend wieder, und bevor der Applaus ganz abklingen konnte, fuhr Stu fort: »Mr. Glen Bateman aus Woodsville, New Hampshire.«

Glen stand auf, und sie applaudierten ihm. Er machte mit beiden Händen die Geste des V, worauf die Menge zustimmend tobte. Als zweitletzten stellte Stu Larry vor, und der stand auf, merkte, dass Lucy ihm zulächelte, und dann schlug auch über ihm eine warme Woge Applaus zusammen. Früher, dachte er, in einer anderen Welt, hätte es Konzerte gegeben, und diese Art Beifall wäre dem letzten Lied vorbehalten gewesen, einem unwichtigen kleinen Song mit dem Titel »Baby, Can You Dig Your Man?« Aber dies war besser. Er stand nur eine Sekunde, aber es kam ihm länger vor. Er wußte jetzt, daß er seine Nominierung nicht ablehnen würde.

Stu stellte Nick als letzten vor, und der bekam den längsten und lautesten Applaus.

Als er abflaute, sagte Stu: »Es ist zwar in der Tagesordnung nicht vorgesehen, aber ich schlage vor, daß wir zuerst die Nationalhymne singen. Ich denke, Sie werden sich an Text und Melodie erinnern.«

Scharren und Rascheln, als die Leute aufstanden, dann eine Pause, während alle darauf warteten, daß jemand anfing. Dann sang ein Mädchen mit wohlklingender Stimme die ersten drei Silben: »Oh, say can -« Es war Frannies Stimme, aber ganz kurz kam es Larry so vor, als würde sie eine andere Stimme begleiten, seine eigene, und er war nicht in Boulder, sondern in Vermont, es war der 4. Juli, die Republik war zweihundertvierzehn Jahre alt, und Rita lag mit grüner Kotze im Mund tot hinter ihm im Zelt, die Flasche mit den Tabletten noch in der steifen Hand.

Eine Gänsehaut überlief ihn, und plötzlich hatte er das Gefühl, dass sie beobachtet wurden, von etwas beobachtet, das, wie es in dem alten Song der Who hieß, for miles and miles and miles sehen konnte. Etwas Schrecklichem und Dunklem und Fremdem. Einen Augenblick lang verspürte er den Drang, von hier wegzulaufen, zu laufen und nie mehr stehenzubleiben. Dies war kein Spiel. Es war eine ernste Angelegenheit; eine tödliche Angelegenheit. Vielleicht noch schlimmer.

Dann fielen andere Stimmen ein. »...can you see, by the dawn's early light«, und Lucy sang mit, hielt dabei seine Hand, weinte wieder, und auch andere weinten, die meisten weinten, weinten um alles Verlorene und Bittere, um den verschwundenen amerikanischen Traum mit chromglänzenden Rädern und Einspritzmotor, und Larry dachte nicht mehr an Rita, die tot im Zelt lag, sondern an sich und seine Mutter im Yankee-Stadion - es war der 29. September, die Yankees lagen nur eineinhalb Spiele hinter den Red Sox, alles war noch möglich. Im Stadion waren 55000 Menschen, alle standen, die Spieler auf dem Platz hielten die Mützen ans Herz, Guidry auf dem Hügel, Ricky Henderson im hinteren Mittelfeld (»...by the twilight's last gleaming...«), und in der purpurfarbenen Dämmerung war das Flutlicht eingeschaltet, Falter und andere nächtliche Insekten flogen mit weichem Aufprall dagegen, und um sie herum lag das pulsierende New York, Stadt der Nacht und des Lichts.

Larry stimmte ein, und als die Hymne verklungen war und der Beifall wieder einsetzte, weinte auch er ein wenig. Rita war tot. Alice Underwood war tot. New York war tot. Amerika war tot. Und selbst, wenn es ihnen gelang, Randall Flagg zu besiegen, nichts würde mehr so sein wie jene Welt der dunklen Straßen und strahlenden Träume.




Stu, der unter den hellen Notleuchten schwitzte, rief die einzelnen Punkte auf: Verlesung und Ratifizierung der Verfassung und der Menschenrechte. Das Absingen der Nationalhymne hatte auch ihn tief gerührt, und er war nicht der einzige. Die Hälfte der Zuhörer waren in Tränen ausgebrochen.

Niemand bestand darauf, daß die beiden Dokumente auch tatsächlich verlesen wurden - was nach dem parlamentarischen Verfahren ihr gutes Recht gewesen wäre -, und dafür war Stu ausgesprochen dankbar. Im Vorlesen war er nicht gut. Die Punkte wurden von den Bürgern der Freien Zone ohne Lesung gebilligt. Glen Bateman stand auf und beantragte, beide Dokumente als für die Freie Zone gültiges Recht anzuerkennen.

Hinten rief eine Stimme: »Ich unterstütze den Antrag.«

»Gestellt und unterstützt«, sagte Stu. »Wer dafür ist, sagt ja.«

»JA!« erklang es bis unters Dach. Kojak, der neben Glens Stuhl geschlafen hatte, sah hoch, blinzelte, dann ließ er die Schnauze wieder auf die Pfoten sinken. Einen Moment später sah er wieder auf, als die Menge sich selbst donnernden Beifall spendete. Das Abstimmen gefällt ihnen, dachte Stu. Sie haben das Gefühl, als hätten sie endlich wieder etwas unter Kontrolle. Weiß Gott, sie brauchen dieses Gefühl. Wir brauchen dieses Gefühl. Wir brauchen es alle.

Nachdem dieser Punkt erledigt war, spürte Stu, wie sich nervöse Spannung in seine Muskeln schlich. Jetzt, dachte er, werden wir sehen, ob ein paar häßliche Überraschungen auf uns warten.

»Der dritte Punkt der Tagesordnung lautet«, sagte er und mußte sich wieder räuspern. Rückkopplungsgeräusche pfiffen ihm entgegen; er schwitzte noch mehr als vorher. Fran sah ihn ruhig an und nickte ihm ermutigend zu. »Er lautet: feststellen, ob die Freie Zone einen Rat von sieben Repräsentanten nominieren und wählen wird, der als Regierung fungiert.< Das bedeutet...«

»Herr Vorsitzender? Herr Vorsitzender!«

Stu sah von seinen Notizen auf und erlebte einen echten Anflug von Angst, begleitet von einer bösen Vorahnung. Es war Harold Lauder.

Harold trug Anzug und Krawatte, sein Haar war ordentlich gekämmt, er stand halb oben im mittleren Gang. Glen hatte einmal gesagt, die Opposition wird sich möglicherweise um Harold formieren. Aber jetzt schon? Hoffentlich nicht. Ganz kurz dachte er daran, Harold einfach zu ignorieren - aber Nick und Glen hatten ihn vor den Gefahren gewarnt, die damit verbunden waren, diese Sache mit der Holzhammermethode durchzuziehen. Er fragte sich, ob Harold tatsächlich ein anderer geworden war. Sah aus, als sollte er das heute erfahren.

»Harold Lauder hat das Wort.«

Köpfe wurden gedreht und Hälse gereckt, um Harold besser zu sehen.

»Ich beantrage, daß wir die Liste des Ad-hoc-Komitees in toto als ständiges Komitee akzeptieren«, sagte Harold. »Das heißt, wenn sie der Wahl zustimmen.«

Einen Augenblick herrschte Stille. Stu dachte entgeistert Toto? Toto? Ist das nicht der Hund in Der Zauberer Oz?

Dann erfüllte wieder Beifall den Saal, Dutzende Rufe »Ich unterstütze!« wurden laut. Harold hatte wieder Platz genommen, lächelte und unterhielt sich mit Leuten, die ihm auf die Schulter klopften.

Stu schlug ein paarmal mit dem Hammer auf das Pult, um sich Gehör zu verschaffen.

Das hat er geplant, dachte Stu. Die Leute werden uns wählen, aber an Harold werden sie sich erinnern. Er hat das Problem von einer Seite angepackt, an die wir gar nicht gedacht haben, nicht einmal Glen. Es war geradezu ein Geniestreich. Warum sollte er sich also aufregen? War er vielleicht eifersüchtig? Gingen seine guten Vorsätze hinsichtlich Harold, die er gestern erst gefaßt hatte, schon wieder über Bord?

»Es liegt ein Antrag vor«, plärrte er ins Mikrofon, und diesmal achtete er nicht auf die Rückkopplung. »Es liegt ein Antrag vor, Leute!« Er schlug wieder mit dem Hammer, und der Lärm wurde zu einem Murmeln. »Es wurde beantragt und unterstützt, das Ad-hoc-Komitee, so wie es steht, als ständiges Komitee der Freien Zone zu akzeptieren. Bevor wir den Antrag diskutieren oder abstimmen, sollte ich fragen, ob ein Mitglied des Komitees dagegen Einwände hat oder zurücktreten möchte.«

Stille im Saal.

»Gut«, sagte Stu. »Wollen wir den Antrag diskutieren?«

»Ich glaube, wir können auf eine Diskussion verzichten, Stu«, sagte Dick Ellis. »Es ist ein ausgezeichneter Vorschlag. Laß uns abstimmen!«

Dem folgte Applaus, und Stu mußte sich nicht mehr drängen lassen. Charlie Impening winkte mit der Hand und bat ums Wort, aber Stu ignorierte ihn - Glen Bateman hätte das ein Musterbeispiel von selektiver Wahrnehmung genannt - und rief zur Abstimmung auf.

»Wer Harold Lauders Antrag zustimmt, möge mit ja antworten.«

»Ja!!« brüllten sie, und die Schwalben gerieten wieder in helle Aufregung.

» Gegenstimmen?«

Es gab keine; nicht einmal von Charlie Impening - jedenfalls nicht laut. Nicht ein Nein im Saal. Stu rief den nächsten Punkt der Tagesordnung auf, aber er fühlte sich leicht benommen, als hätte sich jemand - nämlich Harold Lauder - hinter ihn geschlichen und ihm mit einem großen Gummihammer auf den Kopf geschlagen.




»Laß uns absteigen und ein Stück schieben, ja?« sagte Fran. Ihre Stimme klang müde.

»Klar.« Er stieg vom Fahrrad und ging neben ihr her. »Alles okay, Fran? Ist es das Baby?«

»Nein, ich bin nur müde. Es ist Viertel vor eins, falls du das noch nicht gemerkt hast.«

»Ja, es ist spät«, gab Stu zu, dann schoben sie ihre Räder in einträchtigem Schweigen nebeneinander her. Die Versammlung hatte bis vor einer Stunde gedauert, am längsten war über die Suche nach Mutter Abagail diskutiert worden. Die übrigen Punkte waren alle nach kurzer Diskussion abgehakt, obwohl Richter Farris mit interessanten Informationen aufgewartet hatte, die erklärten, warum es in Boulder relativ wenige Leichen gab. Laut den letzten vier Ausgaben der Camera, der in Boulder erscheinenden Tageszeitung, hatte es in der Gemeinde wilde Gerüchte gegeben, nach denen die Supergrippe von Boulders Meteorologischem Institut am Broadway ausgegangen sei. Sprecher des Instituts - die wenigen, die noch auf den Beinen waren - erklärten das für kompletten Unsinn, jeder könne sich selbst davon überzeugen, aber bei einem Besuch des Instituts würde man nichts Gefährlicheres finden als Meßgeräte zur Ermittlung der Luftverschmutzung. Dennoch hielt sich das Gerücht hartnäckig, wozu die hysterische Stimmung jener entsetzlichen Tage im späten Juni wahrscheinlich beigetragen hatte. Auf das Meteorologische Institut war ein Bomben- oder Brandanschlag verübt worden, und die meisten Einwohner Boulders waren geflüchtet.

Beerdigungskomitee und Energiekomitee waren mit einem Abänderungsvorschlag Harold Lauders, der sich offenbar ausgezeichnet auf die Versammlung vorbereitet hatte, angenommen worden: Beide Komitees sollten bei einem Bevölkerungszuwachs der Freien Zone von je hundert um zwei Mitglieder erweitert werden. Auch der Suchtrupp wurde ohne Gegenstimmen verabschiedet, aber die Diskussion um Mutter Abagails Verschwinden zog sich in die Länge. Glen hatte Stu vor der Versammlung den Rat gegeben, die Diskussion über dieses Thema nur einzuschränken, wenn es sich ganz und gar nicht vermeiden ließ; es beunruhigte sie alle, besonders die Vorstellung, daß sich ihre geistige Leiterin in dem Glauben wog, sie habe eine Art Sünde begangen. Am besten, man ließ die Leute sich alles von der Seele reden.

Auf die Rückseite ihres Briefes hatte die alte Frau zwei Bibelhinweise gekritzelt: Sprüche 11-3 und Sprüche 21, 28-31. Richter Farris hatte sie mit der sorgfältigen Aufmerksamkeit eines Anwalts nachgeschlagen, der ein Plädoyer vorbereitet, und am Anfang der Diskussion stand er auf und las sie mit seiner brüchigen und apokalyptischen Altherrenstimme vor. Die Zeilen im elften Kapitel der Sprüche lauteten: »Falsche Waage ist dem Herrn ein Greuel; aber völliges Gewicht ist sein Wohlgefallen. Wo Stolz ist, da ist auch Schmach; aber Weisheit ist bei den Demütigen. Unschuld wird die Frommen leiten; aber die Bosheit wird die Verächter verstören.« Das Zitat aus dem einundzwanzigsten Kapitel hatte denselben Tenor:

»Ein lügenhafter Zeuge wird umkommen; aber wer sich sagen läßt, den läßt man auch allezeit wiederum reden. Der Gottlose fährt mit dem Kopf hindurch; aber wer fromm ist, des Weg wird bestehen. Es hilft keine Weisheit, kein Verstand, kein Rat wider den Herrn. Rosse werden zum Streittage bereitet; aber der Sieg kommt vom Herrn.«

Die Diskussion, nachdem der Richter diese beiden Verse feierlich deklamiert hatte (anders konnte man es nicht nennen), überspannte breitgefächerte - und manchmal komische - Themenpaletten. Ein Mann verkündete geheimnisvoll, wenn man die Kapitelzahlen zusammenzähle, komme man auf einunddreißig, die Zahl der Kapitel in der Offenbarung. Richter Farris stand erneut auf und sagte, die Offenbarung habe nur zweiundzwanzig Kapitel, jedenfalls in seiner Bibel, und überhaupt ergab elf und einundzwanzig zweiunddreißig und nicht einunddreißig. Der aufstrebende Numerologe murrte, sagte aber nichts mehr.

Ein anderer Mann verkündete, er habe in der Nacht vor Mutter Abagails Verschwinden Lichter am Himmel gesehen, und der Prophet Jesaja habe ja schon die Existenz fliegender Untertassen bestätigt... also sollten sie auch darüber besser einmal zusammen nachdenken, oder nicht? Wieder stand Richter Farris auf; diesmal legte er dar, daß sein geneigter Vorredner Jesaja mit Hesekiel verwechselt habe, daß der genaue Hinweis nicht fliegenden Untertassen, sondern einem »Rad innerhalb eines Rades« galt und er, der Richter, der Meinung wäre, die einzigen wirklich bewiesenen fliegenden Untertassen wären die, die manchmal während eines Ehekrachs flogen.

Der größte Teil der nachfolgenden Diskussion kreiste um die Träume, die mittlerweile völlig aufgehört hatten und manchen selbst nur noch traumgleich schienen. Einer nach dem anderen stand auf und entkräftete die Vorwürfe, die Mutter Abagail gegen sich selbst erhoben hatte, namentlich den des Stolzes. Sie sprachen von ihrer Höflichkeit und der Gabe, jemanden mit nur einem einzigen Wort zu beruhigen. Ralph Brentner, der die Menschenmenge ehrfürchtig bestaunte und einen Kloß im Hals hatte, aber entschlossen schien, seinen Teil zu sagen, stand auf und sprach fast fünf Minuten in dieser Tonlage; am Schluß fügte er hinzu, daß er seit dem Tod seiner Mutter keine so gute Frau mehr gesehen hätte. Als er sich setzte, schien er fast den Tränen nahe zu sein.

Alles in allem erinnerte die Diskussion Stu unangenehm an eine Totengedenkfeier. Sie sagte ihm, daß sie sie im Herzen schon halb abgeschrieben hatten. Wenn sie jetzt wiederkehrte, würde Abby Freemantle willkommen sein, man würde sie immer noch aufsuchen, immer noch anhören... aber, dachte Stu, sie würde auch feststellen, daß sich ihre Stellung unmerklich verschoben hatte. Wenn es zu einer Konfrontation zwischen ihr und dem Komitee der Freien Zone kommen sollte, würde längst nicht mehr feststehen, daß sie die Oberhand behalten würde, Vetorecht hin oder her. Sie war weggegangen, und die Gemeinschaft hatte weiterexistiert. Das würde die Gemeinschaft nicht vergessen, wie sie bereits halb die Macht vergessen hatte, welche die Träume kurze Zeit über ihr Leben gehabt hatten.

Nach der Versammlung saßen mehr als zwei Dutzend Menschen eine Weile auf dem Rasen hinter der Chautauqua Hall; es hatte aufgehört zu regnen, die Wolken rissen auf, der Abend war angenehm kühl. Stu und Frannie saßen bei Larry, Lucy, Leo und Harold.

»Heute abend hättest du uns um ein Haar die Schau gestohlen«, sagte Larry zu Harold. Er stieß Frannie mit dem Ellbogen an. »Ich hab' dir gleich gesagt, daß er ein Pfundskerl ist, oder nicht?«

Harold hatte lediglich gelächelt und bescheiden die Schultern gezuckt. »Ein paar Vorschläge, mehr nicht. Ihr sieben habt wieder was ins Rollen gebracht. Ihr solltet wenigstens die Möglichkeit haben, auch alles bis zum Ende vom Anfang in der Hand zu behalten.«

Jetzt, fünfzehn Minuten später, hatten die beiden diese spontane Zusammenkunft verlassen, und immer noch zehn Minuten von Zuhause entfernt, wiederholte Stu: »Sicher, daß alles in Ordnung ist?«

»Ja. Meine Beine sind ein wenig müde, das ist alles.«

»Nimm's nicht so schwer, Frances.«

»Nenn mich nicht so, du weißt genau, daß ich es nicht leiden kann.«

»Tut mir leid. Kommt nicht wieder vor, Frances.«

»Alle Männer sind Dreckskerle.«

»Ich werde versuchen, mich zu bessern, Frances - wirklich.«

Sie zeigte ihm die Zunge, was zu einem interessanten Gespräch führte, aber er sah, daß sie nicht mit dem Herzen bei dem Geplänkel dabei war, daher ließ er es sein. Sie sah blaß und apathisch aus, ein verblüffender Kontrast zu der Frannie, die vor ein paar Stunden aus vollem Herzen die Nationalhymne gesungen hatte.

»Bedrückt dich was, Liebes?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf, aber er dachte, daß er Tränen in ihren Augen sah.

»Was ist es? Sag's mir.«

»Nichts. Das ist es ja gerade. Nichts bedrückt mich. Es ist vorbei, das ist mir endlich klar geworden, das ist alles. Weniger als sechshundert Menschen, die >Star-Spangled Banner< singen. Es ist mir eben auf einmal klar geworden. Keine Würstchenbuden. Das Riesenrad auf Coney Island dreht sich heute abend nicht. Niemand trinkt einen Betthupfer in der Space Needle in Seattle. Jemand hat endlich einen Weg gefunden, das Drogenproblem in der Combat Zone von Boston und die Kinderprostitution am Times Square zu unterbinden. Das alles war schrecklich, aber ich glaube, das Heilmittel war in dem Fall viel schlimmer als die Krankheit. Weißt du, was ich meine?«

»Klar.«

»In meinem Tagebuch habe ich immer kleine Abschnitte mit der Überschrift >Zur Erinnerung< eingefügt. Damit das Baby einmal weiß... oh, was es nie erleben wird. Und wenn ich daran denke, bin ich niedergeschlagen. Ich hätte die Überschrift >Was aus und vorbei ist< wählen sollen.« Sie schluchzte leise und hielt mit dem Fahrrad an, damit sie die Hand vor den Mund legen und es unterdrücken konnte.

»Das geht allen so«, sagte Stu und legte einen Arm um sie. »Heute abend werden viele Leute sich in den Schlaf weinen. Das darfst du mir glauben.«

»Ich verstehe nicht, wie man um ein ganzes Land trauern kann«, sagte sie und weinte noch lauter, »aber es geht wohl. Kleinigkeiten... Kleinigkeiten gehen mir immerzu durch den Kopf. Autohändler. Frank Sinatra. Old Orchard Beach im Juli, voller Menschen, die meisten aus Quebec. Dieser dumme Kerl bei MTV - ich glaube, sein Name war Randy. Die Zeiten... O Gott, ich höre mich an wie ein fa-faverdammtes Gedicht von Rod Me-McKuen!«

Er hielt sie fest, tätschelte ihren Rücken, erinnerte sich, wie seine Tante Betty einmal einen Weinkrampf wegen einem Brotteig gehabt hatte, der nicht aufgegangen war; damals war sie schon dick und rund mit Vetter Laddie gewesen, im siebten Monat oder so, und Stu konnte sich erinnern, wie sie die Augen mit dem Zipfel eines Geschirrtuchs abgewischt und gesagt hatte, er solle sich nichts daraus machen, schwangere Frauen seien immer einen Schritt von der Irrenanstalt entfernt, weil die Säfte, die ihre Drüsen produzierten, immer zu einem schrecklichen Allerlei wurden.

Nach einer Weile sagte Frannie: »Okay. Okay. Besser. Gehen wir.«

»Frannie, ich liebe dich«, sagte er. Sie schoben ihre Fahrräder weiter.

Sie fragte ihn: »Woran erinnerst du dich am besten? Was ist dieses Spezielle?«

»Nun, weißt du...«, sagte er, dann lachte er kurz auf.

»Nein, ich weiß nicht, Stuart.«

»Es ist verrückt.«

»Sag es mir.«

»Ich weiß nicht, ob ich will. Du wirst nach den Typen mit den Schmetterlingsnetzen suchen.«

»Sag es mir!« Sie hatte Stu in vielen Stimmungen gesehen, aber diese seltsame, verlegene Nervosität war ihr neu.

»Ich habe es nie jemandem erzählt«, sagte er, »aber in den letzten Wochen habe ich oft daran gedacht. Mir ist 1982 etwas passiert. Ich habe damals in Bill Hapscombs Tankstelle Benzin gepumpt. Er hat mich beschäftigt, wenn er konnte und ich keine Arbeit in der Taschenrechnerfabrik in der Stadt hatte. Er hatte mich als Teilzeitkraft, elf Uhr bis Ladenschluß, was damals um drei Uhr morgens war. Wenn die Leute der Schicht von drei bis elf in der DixiePapierfabrik getankt hatten, war nicht mehr viel zu tun... in vielen Nächten hat zwischen zwölf und drei nicht ein Auto gehalten. Ich habe herumgesessen, Bücher oder Zeitschriften gelesen und bin häufig eingenickt. Klar?«

»Ja.« Sie verstand es. Sie sah ihn vor dem geistigen Auge, den Mann, der im Lauf der Zeit und der eigentümlichen Ereignisse ihr Mann werden sollte, ein Mann mit breiten Schultern, der auf einem Woolco-Plastikstuhl schlief und ein aufgeschlagenes Buch verkehrt herum auf dem Schoß liegen hatte. Sie sah ihn in einer Insel aus weißem Licht schlafen, einer Insel, die vom großen Meer der texanischen Nacht umgeben war. Sie liebte ihn in diesem Bild, wie überhaupt in allen Bildern, die ihr Verstand von ihm entwarf.

»Nun, in dieser speziellen Nacht war es etwa Viertel nach zwei, ich saß mit aufgelegten Füßen hinter Haps Schreibtisch und las einen Western - Louis L'Amour, Elmore Leonard, so jemanden, und da kommt ein riesiger Pontiac angefahren, wo sämtliche Fensterscheiben heruntergekurbelt waren und der Cassettenrekorder wie verrückt plärrte, Hank Williams. Ich kann mich sogar noch an das Stück erinnern, >Movin' On<. Der Bursche, weder jung noch alt, war ganz allein. Ein gutaussehender Mann, aber auf eine etwas beängstigende Weise - ich meine, er hat ausgesehen, als könnte er gefährliche Sachen machen, ohne weiter darüber nachzudenken. Er hatte buschiges, dunkles Lockenhaar. Zwischen den Beinen hatte er eine Flasche Wein eingeklemmt, Würfel aus Styropor hingen am Rückspiegel. Er sagt: >Super<, und ich sagte okay, aber ich stand eine Weile nur da und habe ihn angesehen. Weil er vertraut aussah. Ich habe das Gesicht gesucht.«

Jetzt waren sie an der Ecke; ihr Haus lag auf der anderen Straßenseite. Sie blieben stehen. Frannie sah ihn eingehend an.

»Also sagte ich: >Kennen wir uns nicht? Stammen Sie nicht aus Corbett oder Maxin?< Aber ich hatte eigentlich nicht den Eindruck, als würde ich ihn aus diesen beiden Orten kennen. Und er sagte:

>Nein, aber ich bin mal mit meiner Familie durch Corbett gekommen, als ich noch ein Kind war. Ich glaube, als Kind bin ich durch ziemlich jede Stadt in Amerika gekommen. Mein Dad war bei der Luftwaffe. Ich habe sein Auto vollgetankt, und dabei habe ich die ganze Zeit an ihn gedacht und versucht, das Gesicht einzuordnen, und plötzlich fiel es mir ein. Plötzlich wußte ich es. Ich hätte mir beinahe in die Hosen gemacht, denn der Mann am Steuer des Pontiac galt als tot.«

»Wer war es, Stu? Wer war es?«

»Nein, laß es mich auf meine Weise erzählen, Frannie. Es ist eine verrückte Geschichte, ganz gleich, wie man sie erzählt. Ich ging ans Fenster zurück und hab' gesagt: >Das macht sechs Dollar und dreißig Cent.< Er gab mir zwei Fünfer und hat gesagt, den Rest könnte ich behalten. Und ich sagte: >Ich glaube, jetzt weiß ich, wer Sie sind.< Und er antwortete: >Nun, vielleicht<, und lächelte mich seltsam und beunruhigend an, während die ganze Zeit Hank Williams sang, daß er in die Stadt wollte. Ich sagte: >Wenn Sie sind, wer ich glaube, müßten Sie eigentlich tot sein.< Er sagt: >Sie sollten nicht alles glauben, was Sie lesen, Mann.< Ich sagte: >Sie mögen Hank Williams, was?< Mehr fiel mir nicht ein. Mir war klar, Frannie, wenn ich nicht irgend etwas sagte, würde er einfach das Fenster hochkurbeln und weiterfahren... und ich wollte, daß er geht, aber auch wieder nicht. Noch nicht. Erst wenn ich sicher war. Damals wußte ich noch nicht, daß man in manchen Dingen nie sicher sein kann, so sehr man es sich auch wünscht.

Er sagte: >Hank Williams ist einer der besten. Ich mag RoadhouseMusik.< Dann sagt er: >Ich fahre nach New Orleans, fahre die ganze Nacht, schlafe den ganzen Tag und ziehe dann die ganze Nacht durch die Kneipen. Ist es noch dasselbe? New Orleans?< Und ich sage: >Wie was?< Worauf er sagt: >Sie wissen schon.< Und ich sage: >Nun, es ist eben der Süden. Aber da unten hat es viel mehr Bäume.< Das bringt ihn zum Lachen. Er sagt: >Vielleicht sehen wir uns wieder.< Aber ich wollte ihn nicht wiedersehen, Frannie. Denn er hatte die Augen eines Mannes, der lange Zeit versucht hat, ins Dunkel zu sehen und allmählich eine Vorstellung bekommt, wie es dort aussieht. Ich glaube, wenn ich diesen Flagg jemals zu Gesicht bekomme, werde ich feststellen, daß seine Augen ähnlich aussehen.«

Stu schüttelte den Kopf, während sie die Räder über die Straße schoben und abstellten. »Ich habe darüber nachgedacht. Ich habe mich damals gefragt, ob ich ein paar seiner Platten kaufen sollte, aber ich wollte sie nicht. Seine Stimme... es ist eine gute Stimme, aber ich bekomme eine Gänsehaut davon.«

»Stuart, von wem redest du?«

»Erinnerst du dich an eine Rockgruppe namens The Doors? Der Mann, der in jener Nacht in Arnette getankt hat, war Jim Morrison. Ich bin ganz sicher.«

Sie sperrte den Mund auf. »Aber der ist gestorben! Er ist in Frankreich gestorben! Er...« Dann verstummte sie. Denn Morrisons Tod war irgendwie komisch gewesen, oder nicht? Geheimnisvoll.

»Wirklich?« fragte Stu. »Ich weiß nicht. Vielleicht, und der Typ, den ich getroffen habe, hat ihm nur ähnlich gesehen, aber...«

»Glaubst du wirklich, daß er es war?« fragte sie.

Sie waren jetzt auf der Haustreppe und stießen mit den Schultern zusammen wie zwei kleine Kinder, die darauf warten, daß ihre Mutter sie zum Essen ruft.

»Ja«, sagte er. »Ja, das glaube ich. Und bis zu diesem Sommer habe ich immer gedacht, das wäre das Seltsamste, das mir je zustoßen würde. Mann, so kann man sich täuschen.«

»Und das hast du nie jemandem erzählt«, staunte sie. »Du hast Jim Morrison Jahre nach seinem angeblichen Tod gesehen und es nie einem Menschen gesagt. Stuart Redman, Gott hätte dir ein Zahlenschloß statt eines Munds geben sollen, als er dich in die Welt geschickt hat.«

Stu lächelte. »Nun, die Jahre zogen dahin, wie es in Büchern so schön heißt, und wenn ich an diese Nacht dachte - was von Zeit zu Zeit vorgekommen ist-, wurde ich jedesmal sicherer, daß er es doch nicht gewesen war. Nur jemand, der ihm ähnlich gesehen hat, weißt du. Ich dachte nicht besonders viel über das Thema nach. Aber in den vergangenen Wochen habe ich wieder angefangen, darüber nachzugrübeln. Und jetzt komme ich immer mehr zur Überzeugung, daß er es wirklich war. Verdammt, vielleicht ist er jetzt noch am Leben. Das wäre ein echter Lachschlager, was?«

»Wenn«, sagte sie, »ist er nicht hier.«

»Nein«, stimmte Stu zu. »Ich könnte mir auch nicht vorstellen, daß er hier ist. Weißt du, ich habe seine Augen gesehen.«

Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Eine tolle Geschichte.«

»Ja - und in diesem Land lebten wahrscheinlich zwanzig Millionen Menschen, die eine ähnliche zu erzählen hatten... nur über Elvis Presley oder Howard Hughes.«

»Aber jetzt nicht mehr.«

»Nein - nicht mehr. Harold hat heute abend losgelegt, was?«

»Ich glaube, so was nennt man Themenwechsel.«

»Ich glaube, du hast recht.«

»Ja«, sagte sie. »Das hat er.«

Er lächelte über ihren besorgten Tonfall und das Stirnrunzeln, das ihr Gesicht verdüsterte. »Hat dir etwas zu schaffen gemacht, was?«

»Ja, aber das werde ich nicht sagen. Du bist ja jetzt in Harolds Mannschaft.«

»Das ist nicht fair, Fran. Ich habe mir auch meine Gedanken gemacht. Wir haben diese beiden vorbereitenden Versammlungen abgehalten... haben alles zu einer befriedigenden Lösung gebracht - dachten wir jedenfalls -, und dann kommt Harold des Wegs. Er läßt hier was los und da was los und sagt: >Habt ihr nicht eigentlich das gemeint?< Und wir sagen: >Ja, danke, Harold. So ist es.<« Stu schüttelte den Kopf. »Alle für eine Gesamtabstimmung aufzustellen - warum sind wir nicht darauf gekommen, Fran ? Das war schlau. Und wir haben nicht einmal darüber gesprochen

»Nun, keiner konnte wissen, in welcher Stimmung sie sein würden. Ich habe gedacht besonders, nachdem Mutter Abagail fortgegangen ist, sie würden düster, vielleicht sogar aggressiv sein. Und dann dieser Impening, der immer wie ein Schwarzseher daherschwätzt...«

»Ich frage mich, ob man den nicht irgendwie mundtot machen sollte«, sagte Stu nachdenklich.

»Aber es war ganz anders. Sie waren so... fröhlich, weil sie zusammen sein konnten. Hast du das gespürt?«

»Ja, habe ich.«

»Fast wie bei der Zeltmission. Ich glaube, Harold hat das nicht geplant. Er hat einfach die Gunst der Stunde genutzt.«

»Ich weiß einfach nicht, was ich von ihm halten soll«, sagte Stu. »An dem Abend, als wir nach Mutter Abagail gesucht haben, hat er mir regelrecht leid getan. Als Glen und Ralph erschienen sind, hat er schrecklich ausgesehen, als würde er ohnmächtig werden oder so. Aber als wir eben noch auf dem Rasen beisammen waren und alle ihm gratuliert haben, war er aufgebläht wie eine Kröte. Als hätte er äußerlich gelächelt und innerlich gedacht, da, jetzt seht ihr, was euer Komitee wert ist, ihr dummes Narrenpack. Er ist wie eines dieser Puzzle, die man als Kind nie lösen konnte. Chinesische Kästchen oder die drei Ringe, die auseinandergingen, wenn man richtig daran gezogen hat.«

Fran streckte die Füße aus und sah sie an. »Da wir von Harold sprechen, fällt dir etwas Komisches an meinen Füßen auf, Stuart?«

Stu betrachtete sie eingehend. »Nee. Nur daß du diese komischen Bioschuhe aus dem Geschäft da vorne trägst. Und was für große.«

Sie schlug nach ihm. »Bioschuhe sind ausgezeichnet für die Füße. Das steht in den besten Fachzeitschriften. Und zu deiner Information, ich habe Größe zweiundvierzig. Das ist eigentlich ziemlich normal.«

»Und was haben deine Füße mit Harold zu tun? Es ist spät, Liebling.« Er schob sein Rad weiter, und sie folgte ihm.

»Nichts, denke ich. Harold hat nur immer meine Füße angesehen. Nach der Versammlung, als wir im Gras gesessen und uns über alles unterhalten haben.« Sie schüttelte den Kopf und runzelte leicht die Stirn. »Warum sollte sich Harold Lauder für meine Füße interessieren?« fragte sie.




Larry und Lucy gingen Hand in Hand allein nach Hause. Leo war schon vor einiger Zeit in das Haus gegangen, in dem er mit »NadineMom« wohnte. Als sie zu ihrer Haustür gingen, sagte Lucy: »Das war eine Versammlung. Ich hätte nie gedacht...« Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sich eine dunkle Gestalt aus dem Schatten der Veranda löste. Larry spürte, wie ihm heiße Angst im Hals emporschnellte. Er ist es, dachte er panisch. Er ist gekommen, um mich zu holen... ich werde sein Gesicht sehen.

Aber dann fragte er sich, wie er das gedacht haben konnte, denn es war Nadine Cross, sonst niemand. Sie trug ein Kleid aus weichem blaugrauen Material; das Haar fiel ihr lose über die Schultern, schwarzes Haar mit Strähnen von reinstem Weiß.

Neben ihr sieht Lucy wie ein Gebrauchtwagen auf einer Verkaufsausstellung aus, dachte er, ehe er es verhindern konnte, und verabscheute sich dafür. Das war der alte Larry... der alte Larry? Man könnte genausogut sagen, der alte Adam.

»Nadine«, sagte Lucy mit zitternder Stimme und einer Hand auf der Brust. »Du hast mir den Schreck meines Lebens verpaßt. Ich habe gedacht... ach, ich weiß nicht, was ich gedacht habe.«

Sie beachtete Lucy nicht. »Kann ich mit dir reden?« fragte sie Larry.

»Was? Jetzt?« Er sah Lucy von der Seite an, oder glaubte es jedenfalls... später wußte er nicht mehr, wie Lucy in diesem Augenblick ausgesehen hatte. Es war, als wäre sie von einer Eklipse verdeckt worden, aber von einem dunklen Stern, nicht von einem hellen.

»Jetzt. Es muß jetzt sein.«

»Morgen früh wäre...«

»Es muß jetzt sein, Larry. Oder nie.«

Er sah wieder zu Lucy, und diesmal sah er sie, sah die Resignation in ihrem Gesicht, als sie von Larry zu Nadine und wieder zurück blickte. Er sah, wie gekränkt sie war.

»Ich komm' gleich wieder, Lucy.«

»Nein, wirst du nicht«, sagte sie betrübt. Tränen glitzerten in ihren Augen. »O nein, das bezweifle ich.«

»Zehn Minuten.«

»Zehn Minuten, zehn Jahre«, sagte Lucy. »Sie will dich holen. Hast du auch Hundehalsband und Maulkorb mitgebracht, Nadine?«

Für Nadine existierte Lucy Swann nicht. Ihre Augen waren auf Larry fixiert, diese großen, dunklen Augen. Für Larry würden es immer die seltsamsten und schönsten Augen bleiben, die er je gesehen hatte, Augen, die einen ruhig und tief ansahen, wenn man litt oder Schwierigkeiten hatte oder vor Kummer außer sich war.

»Ich komme gleich, Lucy«, sagte er mechanisch.

»Sie...«

»Geh schon mal.«

»Ja, das werde ich wohl. Sie ist gekommen. Ich habe ausgedient.«

Sie lief die Stufen hoch, stolperte über die oberste, behielt das Gleichgewicht, zog die Tür auf und schlug sie hinter sich zu und schnitt damit das Schluchzen ab, als es gerade anfing. Nadine und Larry sahen einander wie in Trance an. So passiert es, dachte er. Wenn man in Augen sieht, die man nie wieder vergißt, oder im Gedränge auf dem Bahnsteig der U-Bahn plötzlich jemanden sieht, der ein Doppelgänger sein könnte, oder auf der Straße ein Lachen hört, das das Lachen des ersten Mädchens gewesen sein könnte, mit dem man geschlafen hat.

Aber er hatte einen so bitteren Geschmack im Mund.

»Laß uns zur Ecke und zurück gehen«, sagte Nadine mit leiser Stimme. »Würdest du das für mich tun?«

»Ich sollte lieber zu ihr gehen. Du hast dir einen verdammt ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht.«

»Bitte? Nur zur Ecke und zurück? Wenn du willst, werde ich vor dir knien und dich anflehen. Hier. Siehst du?«

Zu seinem Entsetzen sank sie tatsächlich auf die Knie, wobei sie den Rock ein Stück hochschieben mußte, ihm die nackten Beine zeigte und ihm die eigenartige Gewißheit vermittelte, daß darunter auch alles andere nackt war. Warum dachte er das? Er wußte es nicht. Ihre Augen sahen ihn an, daß sein Kopf wirbelte, und irgendwo schwang hier ein ekelerregendes Gefühl der Macht mit, das damit zu tun hatte, daß sie hier vor ihm auf den Knien lag und den Mund auf einer Ebene hatte mit...

»Steh auf!« sagte er grob. Er nahm ihre Hände und zerrte sie hoch und versuchte, nicht zu sehen, wie der Rock noch weiter hinaufrutschte, bevor er wieder herunterfiel, daß ihre Schenkel cremefarben waren, von jenem weißen Farbton, der nicht blaß und tot ist, sondern voller Leben und gesund und erregend.

»Komm«, sagte er, fast vollkommen entnervt.

Sie gingen nach Westen, in Richtung der Berge, die eine weit entfernte negative Präsenz darstellten, dreieckige Schemen der Dunkelheit, welche die Sterne verdeckten, die nach dem Regen herausgekommen waren. Wenn er nachts auf diese Berge zuging, fühlte er sich immer irgendwie unbehaglich, aber auch irgendwie abenteuerlustig, und jetzt, während Nadine an seiner Seite ging, die Hand leicht auf seinen Ellbogen gelegt, schienen diese Empfindungen noch stärker zu sein. Er hatte immer lebhafte Träume gehabt und vor drei oder vier Nächten von diesen Bergen; er hatte geträumt, daß Trolle darin hausten, tückische Kreaturen mit hellgrünen Augen, unförmigen Wasserköpfen und kräftigen Händen mit kurzen Fingern. Würgerhände. Geistlose Trolle, welche die Gebirgspässe bewachten. Die warteten, bis seine Zeit gekommen war - die Zeit des dunklen Mannes.

Ein leichter Windhauch wehte mäanderförmig die Straße entlang und blies Papierschnipsel vor sich her. Sie kamen am King Sooper's vorbei, wo ein paar Einkaufswagen wie tote Wachtposten auf dem großen Parkplatz standen, und er mußte an den Lincoln-Tunnel denken. Im Lincoln-Tunnel waren Trolle gewesen. Sie waren tot, aber das bedeutete nicht, daß alle Trolle in dieser neuen Welt tot waren.

»Es ist schwer«, sagte Nadine immer noch mit leiser Stimme. »Sie hat es schwergemacht, weil sie recht hat. Ich will dich jetzt. Und ich fürchte, ich komme zu spät. Ich möchte hier bleiben.«

»Nadine...«

»Nein!« sagte sie aufbrausend. »Laß mich ausreden. Ich will hier bleiben, kannst du das nicht verstehen? Und wenn wir zusammen sind, kann ich es. Du bist meine letzte Chance«, sagte sie mit brechender Stimme. »Joe ist auch weg.«

»Aber das stimmt nicht«, sagte Larry und kam sich begriffsstutzig und dumm und langsam vor. »Wir haben ihn auf dem Rückweg vor deinem Haus abgeliefert. Ist er nicht da?«

»Nein. Ein Junge namens Leo Rockway schläft in seinem Bett.«

»Was willst du...«

»Hör zu«, sagte sie. »Hör mir zu, kannst du nicht zuhören? Solange ich Joe hatte, war alles in Ordnung. Ich konnte... so stark sein, wie ich sein mußte. Aber er braucht mich nicht mehr. Und ich muss gebraucht werden.«

»Er braucht dich!«

»Natürlich«, sagte Nadine, und Larry hatte wieder Angst. Sie sprach nicht mehr von Leo; er wußte nicht, von wem sie sprach. »Er braucht mich. Davor habe ich Angst. Deshalb bin ich zu dir gekommen.« Sie trat vor ihn und sah mit zurückgelegtem Kopf zu ihm auf. Er roch ihren heimlichen, sauberen Geruch und begehrte sie. Aber ein Teil von ihm wandte sich Lucy zu. Das war der Teil von ihm, den er brauchte, wenn er es hier in Boulder schaffen wollte. Wenn er ihn verleugnete und mit Nadine ging, konnten sie sich genausogut gleich heute nacht aus Boulder hinausschleichen. Dann wären sie fertig mit ihm. Der alte Larry würde triumphieren.

»Ich muß nach Hause«, sagte er. »Tut mir leid. Damit mußt du allein fertig werden, Nadine.« Damit mußt du allein fertig werden, waren das nicht die Worte, die er in der einen oder anderen Form den Leuten sein ganzes Leben lang gesagt hatte? Warum mußten sie gerade jetzt hervorkommen, wo er doch im Recht war, ihn quälen und an sich selbst zweifeln lassen?

»Schlaf mit mir«, sagte sie und legte ihm die Arme um den Hals. Sie preßte den Körper an seinen, und er merkte an der Gelöstheit, Wärme und Straffheit, daß sie tatsächlich nur das Kleid anhatte. Splitternackt, dachte er, und dieser Gedanke erregte ihn auf nachtschwarze Weise.

»Das ist schön, ich kann dich spüren«, sagte sie und bewegte sich an ihm - seitwärts, auf- und abwärts, was eine köstliche Spannung bewirkte. »Schlaf mit mir, dann ist es zu Ende. Dann bin ich in Sicherheit. In Sicherheit.«

Er griff nach oben und wußte später nicht mehr, wie er es geschafft hatte, wo er doch mit drei raschen Bewegungen und einem Stoß in ihren warmen Leib hätte eindringen können, wie sie es wollte, aber irgendwie griff er nach oben und löste ihre Hände und stieß sie so heftig von sich, daß sie stolperte und fast gestürzt wäre. Sie stöhnte leise.

»Larry, wenn du wüßtest...«

»Ich weiß es nicht. Warum versuchst du nicht, es mir zu erzählen, anstatt... mich zu vergewaltigen?«

»Vergewaltigen!« wiederholte sie und lachte schrill. »Oh, das ist aber komisch! Was redest du da! Ich! Dich vergewaltigen! O Larry!«

»Was du von mir willst, hättest du haben können. Du hättest es letzte Woche haben können oder die Woche davor. Vor zwei Wochen habe ich dich sogar darum gebeten. Ich wollte, daß du es bekommst.«

»Das war zu früh«, flüsterte sie.

»Und jetzt ist es zu spät«, sagte er und verabscheute den brutalen Klang seiner Stimme, aber er hatte sie nicht unter Kontrolle. Er zitterte noch vor Begierde, wie sollte er anders klingen? »Was machst du jetzt, hm?«

»Schon gut. Lebwohl, Larry.«

Sie wandte sich ab. In diesem Augenblick war sie mehr als Nadine, die sich für immer von ihm abwandte. Sie war die Oralhygienikerin. Sie war Yvonne, mit der er in L. A. eine gemeinsame Wohnung gehabt hatte - sie war ihm auf die Nerven gegangen, und er hatte einfach die Wanderstiefel angezogen und ihr die Wohnung überlassen. Sie war Rita Blakemoor.

Am schlimmsten, sie war seine Mutter.

»Nadine?«

Sie drehte sich nicht um. Sie war ein dunkler Schatten, der sich nur von anderen dunklen Schatten unterschied, als sie die Straße überquerte. Dann verschwand sie ganz vor dem schwarzen Hintergrund der Berge. Er rief noch einmal ihren Namen, aber sie antwortete nicht. Die Art, wie sie von ihm weggegangen war, wie sie mit jenem schwarzen Hintergrund verschmolzen war, hatte etwas Entsetzliches.

Er stand mit geballten Fäusten vor King Sooper's und hatte trotz der nächtlichen Kühle Schweißperlen auf der Stirn. Alle Gespenster aus seiner Vergangenheit waren bei ihm, und er wußte endlich, welchen Preis man dafür zahlen muß, daß man kein netter Kerl ist, daß man sich nie über seine Motivation klar ist, daß man Kränkung und Hilfe immer nur grob gegeneinander abwägt, daß man nie den sauren Geschmack des Zweifels im Mund los wird und...

Er riß den Kopf hoch. Seine Augen wurden so groß, daß sie fast aus den Höhlen zu quellen schienen. Der Wind wehte wieder stärker und heulte laut in einer Einfahrt, und weiter weg glaubte er Schritte zu hören, die in die Nacht wanderten, abgewetzte Absätze irgendwo in den Vorgebirgen, die ihm der kalte Hauch dieser frühmorgendlichen Brise zutrug.

Schmutzige Absätze, die den Weg ins Grab des Westens tappten.




Lucy hörte ihn hereinkommen, und ihr Herz klopfte wie rasend. Sie versuchte, es zu beruhigen; wahrscheinlich kam er nur, um seine Sachen zu holen, aber es wurde nicht langsamer. Er hat sich für mich entschieden, war der Gedanke, den ihr Herz ihr ins Hirn hämmerte wie mit einem Dampfhammer. Er hat sich für mich entschieden...

Trotz ihrer Aufregung und Hoffnung, die sie nicht kontrollieren konnte, lag sie starr auf dem Rücken im Bett und sah nur zur Decke. Sie hatte ihm die Wahrheit gesagt, als sie meinte, daß der einzige Fehler von ihr und von Mädchen wie ihrer Freundin Joline der war, daß sie zuviel Bedürfnis nach Liebe in sich hatten. Aber sie war immer treu gewesen. Sie war keine Betrügerin. Sie hatte ihren Mann niemals betrogen, und sie hatte Larry niemals betrogen, und wenn sie in den Jahren, bevor sie sie kennengelernt hatte, nicht gerade eine Nonne gewesen war... das war Vergangenheit. Man konnte das, was man getan hatte, nicht einfach wieder nehmen und zurechtbiegen. Diese Macht hatten vielleicht die Götter, aber nicht Männer und Frauen, und das war wahrscheinlich gut so. Wäre es anders, würden die Menschen höchstwahrscheinlich an Altersschwäche sterben und immer noch versuchen, ihre Jugend neu zu schreiben.

Wenn man wußte, daß diese Vergangenheit unerreichbar fern war, konnte man vielleicht verzeihen.

Tränen stahlen sich ihre Wangen hinab.

Die Tür ging klickend auf, und sie sah ihn darin, nur als Umriß.

»Lucy? Bist du noch wach?«

»Ja.«

»Kann ich die Lampe anmachen?«

»Wenn du willst.«

Sie hörte das leise Zischen von Gas, dann ging das Licht an, zu einem Flämmchen heruntergedreht, und machte ihn sichtbar. Er sah blaß und erschüttert aus.

»Ich muß dir etwas sagen.«

»Nein, mußt du nicht. Komm einfach ins Bett.«

»Ich muß es sagen. Ich...« Er drückte die Hand auf die Stirn und fuhr sich durchs Haar.

»Larry?« Sie setzte sich auf. »Alles in Ordnung?«

Er redete, als hätte er sie nicht gehört, und er redete, ohne sie anzusehen. »Ich liebe dich. Wenn du mich willst, bekommst du mich. Aber ich weiß nicht, ob du viel bekommst. Ich werde nie deine beste Wahl sein, Lucy.«

»Das Risiko nehme ich auf mich. Komm ins Bett.«

Das machte er. Und sie machten es. Und als es vorbei war, sagte sie ihm, daß sie ihn liebte, weiß Gott, und es schien zu sein, was er hören wollte, hören mußte, aber sie glaubte, er schlief lange nicht ein. Einmal wurde sie in der Nacht wach (vielleicht hatte sie es nur geträumt) und glaubte, Larry am Fenster stehen zu sehen, wo er nach draußen sah und den Kopf schräg hielt, als lauschte er, und Licht und Schatten machten sein Gesicht zu einer ausgezehrten Maske. Aber bei Tageslicht war sie sicher, daß es ein Traum gewesen sein mußte; bei Tageslicht schien er wieder der alte zu sein.

Nur drei Tage später erfuhren sie von Ralph Brentner, daß Nadine zu Harold Lauder gezogen war. Darauf wurde Larrys Gesicht verkniffen, aber nur einen Augenblick. Und wenn sie sich selbst dafür mißfiel, Ralph Brentners Neuigkeit ließ sie aufatmen. Es schien vorbei zu sein.




Nachdem sie mit Larry gesprochen hatte, ging sie nur kurz nach Hause. Sie schloß auf, ging ins Wohnzimmer und zündete die Lampe an. Diese hoch erhoben, ging sie in den hinteren Teil des Hauses und blieb einen Augenblick stehen, um in das Zimmer des Jungen zu leuchten. Sie wollte wissen, ob sie Larry die Wahrheit gesagt hatte. Hatte sie.

Leo lag nur in Unterhosen auf dem zerwühlten Laken... aber die Schnittwunden und Kratzer waren verblaßt, in den meisten Fällen ganz verschwunden, und die Rundumbräune, die er gehabt hatte, weil er praktisch dauernd nackt herumgelaufen war, war auch verschwunden. Aber es war mehr als das, dachte sie. Etwas in seinem Gesicht hatte sich verändert - sie konnte die Veränderung sehen, obwohl er schlief. Der Ausdruck stummer, begieriger Wildheit war daraus verschwunden. Er war nicht mehr Joe. Dies war nur ein Junge, der nach einem geschäftigen Tag schlief.

Sie dachte an die Nacht, als sie fast am Schlafen gewesen und aufgewacht war und festgestellt hatte, daß er nicht mehr neben ihr lag. Das war in North Berwick, Maine, gewesen - nun einen halben Kontinent entfernt. Sie war ihm zu dem Haus gefolgt, wo Larry auf der Veranda geschlafen hatte. Larry drinnen schlafend, Joe draußen wartend, das Messer voll stummer Wildheit gezückt, und lediglich das dünne Fliegengitter dazwischen. Sie hatte ihn gezwungen, mit ihr zu kommen.

Haß brandete in Nadine auf, schlug Funken wie Stahl auf Feuerstein. Die Coleman-Lampe bebte in ihrer Hand und ließ wilde Schatten springen und tanzen. Sie hätte ihn gewähren lassen sollen! Sie hätte Joe selbst die Tür aufhalten, ihn hineinlassen sollen, um zu stechen und zu zerfetzen und zu schneiden und zu schlitzen und zu töten. Sie hätte...

Der Junge rollte sich herum und stöhnte leise, als würde er aufwachen. Seine Hände zuckten hoch und schlugen durch die Luft, als wollte er im Traum ein schwarzes Phantom abwehren. Nadine zog sich zurück; sie spürte heftigen Pulsschlag in den Schläfen. Es war immer noch etwas Seltsames in dem Jungen, und ihr gefiel nicht, wie er sich gerade bewegt hatte, als hätte er ihre Gedanken erraten.

Sie mußte weitermachen. Sie mußte sich beeilen. Sie ging in ihr Zimmer. Auf dem Boden lag ein Teppich. Ein schmales Einzelbett - das Bett einer alten Jungfer. Mehr nicht. Nicht einmal ein Bild. Das Zimmer hatte überhaupt keine Individualität. Sie machte die Schranktür auf und wühlte hinter den aufgehängten Kleidern. Sie war jetzt auf den Knien und schwitzte. Sie nahm einen bunten Karton heraus, den ein Bild lachender Menschen zierte, die ein Party-Spiel machten. Ein Party-Spiel, das mindestens dreitausend Jahre alt war. Sie hatte das Spiritistenbrett in einem Scherzartikelladen in der Innenstadt gefunden, aber im Haus hatte sie es nicht anzuwenden gewagt, weil der Junge hier war. Sie hatte überhaupt noch nicht gewagt, es anzuwenden... bis jetzt. Etwas hatte sie getrieben, den Laden zu betreten, und als sie das Brett in seiner bunten Verpackung sah, war ein schrecklicher Kampf in ihrem Innern entbrannt - die Psychologen nennen so einen Kampf Aversion/Kompulsion. Sie hatte damals wie heute geschwitzt und zweierlei gleichzeitig gewollt: aus dem Geschäft fliehen, ohne zurückzusehen, und den Karton nehmen, den gräßlich fröhlichen Karton, und ihn nach Hause tragen. Der zweite Wunsch machte ihr mehr Angst, denn er schien gar nicht ihr Wunsch zu sein. Schließlich hatte sie den Karton mitgenommen.

Das war vier Tage her. Der Zwang war jede Nacht stärker geworden, bis sie heute nacht, halb wahnsinnig vor Ängsten, die sie nicht begriff, in ihrem blaugrauen Kleid, unter dem sie nichts anhatte, zu Larry gegangen war. Sie hatte diesen Ängsten ein für allemal ein Ende machen wollen. Als sie auf der Veranda darauf gewartet hatte, daß die beiden von der Versammlung zurückkamen, war sie überzeugt gewesen, endlich das Richtige zu tun. Sie hatte dieses Gefühl in sich gehabt, dieses leicht trunkene, beschwingte Gefühl, das sie nicht mehr gekannt, seit jener Junge sie damals durch das taufeuchte Gras verfolgt hatte. Nur würde der Junge sie diesmal fangen. Sie würde sich fangen lassen. Das wäre das Ende.

Aber als er sie gefangen hatte, hatte er sie nicht gewollt.

Nadine stand auf, hielt den Karton vor die Brust und machte die Lampe aus. Er hatte sie abgewiesen, und hieß es nicht, daß die Hölle keine Schrecken kennt...? Eine abgewiesene Frau mochte sich leicht mit dem Teufel verbünden... oder seinem Henker.

Sie holte rasch noch die große Taschenlampe vom Tisch im Flur. Hinten im Haus schrie der Junge im Schlaf; sie erstarrte einen Moment, ihre Haare sträubten sich. Dann verließ sie das Haus.

Ihre Vespa stand am Bordstein, die Vespa, mit der sie vor ein paar Tagen zu Harold Lauders Haus gefahren war. Warum war sie dorthin gegangen? Seit sie nach Boulder gekommen war, hatte sie kaum ein Dutzend Worte mit Harold gewechselt. Aber in ihrer Verwirrung wegen des Spiritistenbretts und in ihrer Angst vor den Träumen, die sie immer noch hatte, obwohl sie alle anderen nicht mehr quälten, schien ihr, als müßte sie unbedingt mit Harold sprechen. Auch vor diesem Impuls hatte sie Angst gehabt, erinnerte sie sich, während sie den Zündschlüssel der Vespa ins Schloß steckte. Wie der plötzliche Drang, das Spiritistenbrett zu nehmen (Verblüffen Sie Ihre Freunde! Verschönern Sie Ihre Parties! stand auf dem Karton), schien auch das ein Einfall gewesen zu sein, der nicht aus ihr selbst kam. Möglicherweise sein Einfall. Aber als sie sich gefügt hatte und zu Harold gegangen war, war er nicht dagewesen. Das Haus war abgeschlossen, das einzige abgeschlossene Haus, das ihr in Boulder aufgefallen war, die Jalousien heruntergezogen. Das hatte ihr irgendwie gefallen, und sie war einen Augenblick bitter enttäuscht gewesen, daß Harold nicht da war. Wenn ja, hätte er sie einlassen und die Tür hinter ihr abschließen können. Sie hätten ins Wohnzimmer gehen können, reden, oder miteinander schlafen oder unaussprechliche Dinge miteinander machen, und niemand hätte es erfahren.

Harolds Haus war ein geheimes Plätzchen.

»Was geschieht nur mit mir?« flüsterte sie der Dunkelheit zu, aber die Dunkelheit hatte keine Antwort für sie. Sie startete die Vespa, und das gleichmäßige rülpsende Knattern des Motors schien die Nacht zu entweihen. Sie legte den Gang ein und fuhr davon. Nach Westen.

Als ihr während der Fahrt die kühle Nachtluft übers Gesicht strich, fühlte sie sich endlich besser. Blas die Spinnweben fort, Nachtwind. Du weißt es, nicht wahr? Wenn es keine Alternativen mehr gibt, was macht man dann? Man nimmt die Alternative, die übrigbleibt. Man wählt das Abenteuer, das einem bestimmt ist, wie dunkel es auch immer sei. Man überläßt Larry diese kleine dumme Schlampe mit ihren engen Hosen, ihrem einsilbigen Vokabular und mit ihrem Filmillustriertenverstand. Man entfremdet sich von ihnen. Man riskiert... was es zu riskieren gibt.

Im Licht des kleinen Scheinwerfers der Vespa rollte die Straße unter ihr weg. Als die Straße anstieg, mußte sie in den zweiten Gang zurückschalten; sie war in der Baseline Road, die zum schwarzen Berg hinaufführte. Sollten sie doch ihre Versammlungen abhalten!

Sie kümmerten sich darum, den Strom wieder anzuschalten; ihr Geliebter kümmerte sich um die Welt.

Der Motor der Vespa ächzte und keuchte, aber irgendwie lief er weiter. Eine schreckliche, aber doch sexy Angst packte sie; der vibrierende Sattel des Motorrollers machte sie da unten ganz heiss (du bist ja geil, Nadine, dachte sie in einer schrillen guten Laune, schlimm, schlimm, SCHLIMM.) Rechts von ihr fiel das Gelände steil ab. Dort unten lauerte der Tod. Und dort oben? Sie würde es feststellen. Es war zu spät umzukehren, und allein dieser Gedanke gab ihr ein paradoxes und herrliches Gefühl der Freiheit.




Eine Stunde später war sie im Sunrise Amphitheater - aber der Sonnenaufgang war noch drei oder mehr Stunden entfernt. Das Amphitheater lag dicht unter dem Gipfel des Flagstaff Mountain, und fast alle Einwohner der Freien Zone hatten schon kurz nach ihrer Ankunft in Boulder einen Ausflug zum Campingplatz auf dem Gipfel gemacht. An klaren Tagen - und in Boulder waren wenigstens im Sommer die Tage meistens klar - konnte man Boulder und die I-25 sehen, die in südlicher Richtung nach Denver führte, und weiter in den Dunst, wo zweihundert Meilen entfernt New Mexico lag. Im Osten war das flache Land, das sich bis Nebraska erstreckte; näher lag der Boulder Canyon, ein tiefer Einschnitt in den Ausläufern der Berge, wo Pinien und Fichten wuchsen. In vergangenen Sommern waren Segelflugzeuge wie Vögel mit den Aufwinden über dem Sunrise Amphitheater geschwebt.

Jetzt sah Nadine nur, was sie im Schein ihrer Taschenlampe erkennen konnte, die sie in der Nähe des Steilhangs auf einen Picknicktisch gelegt hatte. Daneben lag ein großer Zeichenblock, in dem sie ein leeres Blatt aufgeschlagen hatte, und darauf stand wie eine große Spinne das dreieckige Brett. Aus seinem Bauch ragte wie der Stachel einer Spinne ein Bleistift, der leicht das Papier berührte. Nadine war in einem fiebrigen Zustand, der halb Euphorie und halb Entsetzen war. Als sie mit der tapfer schnurrenden Vespa, die gewiss nicht für Bergfahrten gedacht war, hierhergefahren war, hatte sie etwas Ähnliches gespürt wie Harold damals in Nederland. Sie spürte ihn. Aber während Harold es auf eine präzise und technologische Weise empfunden hatte, als ein Stück Eisen, welches von einem Magneten angezogen wurde, als einen Sog, empfand Nadine es als mystische Erfahrung, als Grenzüberschreitung. Es war, als wären diese Berge, in deren Vorgebirge sie sich erst befand, ein Niemandsland zwischen zwei Einflußsphären - Flagg im Westen, die alte Frau im Osten. Und hier wirkte die Magie nach beiden Seiten, mischte sich zu einem Gebräu, das weder Gott noch dem Satan gehörte, aber völlig heidnisch war. Sie kam sich vor wie in einer Geisterstätte.

Und das Spiritistenbrett...

Sie hatte den bunten Karton mit der Aufschrift MADE IN TAIWAN achtlos weggeworfen; mochte der Wind ihn sich holen. Das Brett selbst bestand nur aus einer schäbigen Holzfaser- oder Preßspanplatte. Aber das spielte keine Rolle. Es war ein Werkzeug, das sie nur einmal benutzen würde - nur einmal zu benutzen wagte -, und selbst ein schlecht hergestelltes Werkzeug kann seinem Zweck dienen: eine Tür aufbrechen, ein Fenster schließen, einen Namen schreiben.

Ihr fiel die Aufschrift auf dem Karton wieder ein: Verblüffen Sie Ihre Freunde! Verschönern Sie Ihre Parties!

Wie hieß noch der Song, den Larry manchmal während der Fahrt auf dem Sitz seiner Honda geplärrt hatte? Hello, Central, what's the matter with your line? I want to talk to...

Mit wem sprechen? Aber das war ja gerade die Frage. Sie dachte zurück, wie sie das Spiritistenbrett im College ausprobiert hatte. Das war über zwölf Jahre her... aber es hätte auch erst gestern sein können. Sie war nach oben gegangen, um jemand im dritten Stock des Wohnheims, ein Mädchen namens Kachel Timms, nach den Hausaufgaben in einer Arbeitsgemeinschaft zu fragen, die sie beide besuchten. Der Saal war voller Mädchen, mindestens sechs oder acht, die kicherten und lachten. Nadine wußte noch, sie hatte gedacht, daß sie sich benahmen, als wären sie von etwas high, als hätten sie etwas geraucht, womöglich sogar gedrückt.

»Aufhören!« sagte Rachel, die selbst kicherte. »Wie könnt ihr erwarten, daß die Geister sich melden, wenn ihr euch alle wie alberne Gänse benehmt?«

Die Vorstellung kichernder Gänse erschien ihnen überaus komisch, daher hallte eine Weile eine neuerliche weibliche Lachsalve durch den Saal. Das Spiritistenbrett hatte damals wie heute ausgesehen, eine dreieckige Spinne auf drei Stummelbeinen, ein Bleistift, der nach unten zeigte. Während sie kicherten, nahm Nadine eines der überformatigen Blätter des Zeichenblocks und las die »Botschaften von der Astralebene« durch, die schon eingetroffen waren.

Tommy sagt, du hast schon wieder diese Erdbeerdusche benützt.

Mutter sagt, es geht ihr gut.

Chunga! Chunga!

John sagt, du furzt nicht soviel, wenn du keine BOHNEN aus der MENSA mehr ißt!!!!!

Andere, ebenso alberne.

Mittlerweile war das Kichern so weit abgeklungen, daß sie von vorne anfangen konnten. Drei Mädchen saßen auf einem Bett; jede hatte eine Fingerspitze auf einer anderen Seite des Bretts. Einen Moment passierte gar nichts. Dann zitterte das Brett.

»Das warst du, Sandy!« sagte Rachel vorwurfsvoll.

»Nein!«

»Pssst!«

Das Brett bewegte sich wieder, und die Mädchen verstummten. Es bewegte sich, hielt inne, bewegte sich wieder. Es machte den Buchstaben V.

»Vau...«, sagte das Mädchen namens Sandy.

»Vau weia, kann ich da nur sagen«, sagte eine andere, worauf sie wieder zu kichern anfingen.

»Pssst!« sagte Rachel streng.

Der Bleistift bewegte sich schneller, schrieb die Buchstaben A, T, E und R.

»Vater mein, ich bin dein«, sagte ein Mädchen namens Patty sooder-so und kicherte. »Das muß mein Vater sein, er ist an einem Herzanfall gestorben, als ich drei war.«

»Es schreibt noch mehr«, sagte Sandy.

S, A, G, T, buchstabierte das Brett langwierig.

»Was geht hier vor?« flüsterte Nadine einem großen Mädchen mit Pferdegesicht zu, das sie nicht kannte. Das Mädchen mit dem Pferdegesicht hatte die Hände in den Taschen und sah alles mit einem mißbilligenden Gesichtsausdruck an.

»Ein paar Mädchen spielen mit etwas, das sie nicht verstehen«, sagte das Mädchen mit dem Pferdegesicht. »Das geht vor.« Sie flüsterte noch leiser.

»VATER SAGT PATTY«, las Sandy vor. »Es ist tatsächlich dein alter Herr, Pats.«

Neuerliches Kichern.

Das Mädchen mit dem Pferdegesicht hatte eine Brille auf. Jetzt nahm es die Hände aus den Taschen des Overalls, den es trug, und zog damit die Brille ab. Es polierte sie und erklärte Nadine weiter im Flüsterton: »Das Spiritistenbrett ist ein Werkzeug, das von Hellsehern und Medien benützt wird. Kinästheologen...«

»Was für -ologen?«

»Wissenschaftler, die Bewegung studieren, und das Zusammenwirken von Muskeln und Nerven.«

»Oh.«

»Sie behaupten, daß der Bleistift eigentlich auf winzigste Muskelbewegungen reagiert und dabei mehr vom unterbewußten als vom bewußten Verstand gelenkt wird. Selbstverständlich behaupten Hellseher und Medien, daß Wesenheiten aus der Geisterwelt den Bleistift bewegen...«

Die Mädchen, die sich um das Brett drängten, stießen wieder eine hysterische Kichersalve aus. Nadine sah über die Schulter des Mädchens mit dem Pferdegesicht und sah, daß die Nachricht nun lautete: »VATER SAGT PATTY SOLLTE NICHT MEHR.«

»... so oft aufs Klo gehen«, schlug eines der Mädchen aus dem Zuschauerkreis vor, worauf sie wieder lachten.

»Wie auch immer, sie albern nur damit herum«, sagte das Mädchen mit dem Pferdegesicht und schniefte mißbilligend. »Das ist sehr unklug. Medien und Wissenschaftler sind sich darin einig, dass automatisches Schreiben gefährlich sein kann.«

»Glaubst du, die Geister sind heute nacht nicht wohlgesonnen?« fragte Nadine leichthin.

»Vielleicht sind die Geister nie wohlgesonnen«, sagte das Mädchen mit dem Pferdegesicht und sah sie stechend an. »Oder man bekommt eine Botschaft aus dem Unterbewußtsein, auf die man überhaupt nicht vorbereitet war. Es gibt nachweisliche Fälle, bei denen das automatische Schreiben völlig außer Kontrolle geraten ist, weißt du. Leute sind verrückt geworden.«

»Ach, das ist aber weit hergeholt. Es ist doch nur ein Spiel

»Aus Spiel wird manchmal Ernst.«

Die lauteste Kichersalve bis dahin unterband die Bemerkung des Mädchens mit dem Pferdegesicht, bevor Nadine antworten konnte. Das Mädchen namens Patty So-oder-so war vom Bett gefallen und lag auf dem Boden, hielt sich den Bauch und lachte und kickte schwach mit den Beinen. Die vollständige Botschaft lautete: VATER SAGT PATTY SOLLTE NICHT MEHR MIT LEONARD KATZ ZUM UBOOT-RENNEN GEHEN.

»Du warst das!« sagte Patty zu Sandy, als sie sich endlich wieder aufrichtete.

»Nein, Patty! Ehrlich!«

»Es war dein Vater! Aus dem Jenseits. Von drüben!« sagte ein anderes Mädchen mit einer Boris-Karloff-Stimme, die Nadine ziemlich gelungen fand. »Vergiß nicht, daß er dich sieht, wenn du das nächste Mal auf dem Rücksitz von Leonard Katz' Dodge die Hosen ausziehst.«

Eine erneute Lachsalve folgte dieser Ermahnung. Als sie abgeklungen war, ging Nadine nach vorne und zupfte Kachel am Arm. Sie wollte nach den Hausaufgaben fragen und wieder gehen.

»Nadine!« rief Kachel. Ihre Augen funkelten fröhlich. Ihre Wangen waren rosa erblüht. »Setz dich, mal sehen, ob die Geister eine Nachricht für dich haben!«

»Nein, wirklich nicht, ich bin nur wegen der Hausaufgaben gekommen ...«

»Ach, pups doch auf die Hausaufgaben! Das ist wichtig, Nadine! Es ist toll! Du mußt es versuchen. Hier, setz dich neben mich. Janey, du nimmst die andere Seite.«

Janey setzte sich gegenüber von Nadine hin, und nach wiederholtem Drängen von Kachel Timms legte Nadine acht Finger ihrer Hände sacht auf das Brett. Aus irgendeinem Grund sah Nadine über die Schulter zu dem Mädchen mit dem Pferdegesicht. Sie schüttelte einmal nachdrücklich den Kopf in Nadines Richtung, und das Neonlicht von oben spiegelte sich in ihren Brillengläsern und verwandelte ihre Augen in ein Paar greller weißer Lichtblitze. Da hatte sie einen Anflug von Angst empfunden, fiel ihr jetzt wieder ein, während sie auf ein anderes Brett im Licht einer SechsBatterien-Taschenlampe sah, aber ihre Bemerkung zu dem Mädchen mit dem Pferdegesicht war ihr wieder eingefallen - es war nur ein Spiel, um Himmels willen, und was konnte inmitten einer Gruppe kichernder Mädchen denn schon Schreckliches passieren? Nadine konnte sich keine ungünstigere Atmosphäre für Geister, böse oder andere, vorstellen.

»Alles ruhig«, befahl Kachel. »Geister, habt ihr eine Botschaft für unsere Schwester und Musterschülern! Nadine Cross?«

Das Brett bewegte sich nicht. Nadine verspürte gelinde Verlegenheit.

»Lene-meene-kurze-Beene«, sagte das Mädchen, das Boris Karloff nachgeahmt hatte, mit einer gleichermaßen erfolgreichen BullwinkleMooseStimme. »Die Geister sprechen gleich«

Erneutes Kichern.

»Pssst!« befahl Kachel.

Nadine entschied, wenn die beiden anderen Mädchen nicht bald anfingen, das Brett zu bewegen, damit es die alberne Botschaft schrieb, die sie für sie hatten, würde sie es selbst machen - es herumrücken, damit es etwas Kurzes und Dummes buchstabierte, beispielsweise BUH!, damit sie die Hausaufgaben bekommen und gehen konnte.

Als sie gerade versuchen wollte, das zu machen, bewegte sich der Bleistift heftig unter ihren Fingern. Der Bleistift hinterließ einen dunklen diagonalen Riß auf der frischen Seite.

»He! Nicht grob werden, Geister«, sagte Kachel mit vage nervöser Stimme. »Warst du das, Nadine?«

»Nein.«

»Janey.«

»Hm -hmm. Ehrlich.«

Das Brett zuckte wieder, so daß ihre Finger beinahe abrutschten, und raste in die linke obere Ecke des Papiers.

»Puh«, sagte Nadine. »Habt ihr gespürt...«

Sie spürten es, alle, obwohl weder Kachel noch Jane Fargood später mit ihr darüber sprechen wollten. Nach diesem Abend war sie auch in keinem Zimmer der beiden Mädchen mehr besonders gern gesehen gewesen. Danach war es, als hätten sie beide etwas Angst gehabt, ihr zu nahe zu kommen.

Plötzlich fing das Brett an, unter ihren Fingern zu vibrieren; es war, als würde man den Kühler eines Autos im Leerlauf anfassen. Die Vibration war konstant und beängstigend. So eine Bewegung konnte kein Mensch in aller Heimlichkeit erzeugen.

Die Mädchen waren still geworden. Sie hatten alle einen eigentümlichen Gesichtsausdruck, den Gesichtsausdruck von Menschen, die an einer Seance teilgenommen haben, bei der etwas unerwartet Echtes passiert ist - wenn der Tisch sich bewegt, wenn unsichtbare Knöchel an die Wand klopfen, wenn rauchgraues Ektoplasma aus den Nasenlöchern des Mediums quillt. Es ist ein blasser, abwartender Gesichtsausdruck, halb wird gewünscht, das Angefangene möge aufhören, halb, es soll weitergehen. Es ist ein Ausdruck grausiger, verwirrter Aufregung... und mit diesem speziellen Ausdruck sieht das menschliche Gesicht dem Totenschädel, der einen halben Zentimeter unter der Haut verborgen ist, am ähnlichsten.

»Aufhören!« rief das Mädchen mit dem Pferdegesicht plötzlich. »Hört sofort auf, sonst werdet ihr es bereuen!«

Und Jane Fargood schrie mit panischer Stimme: »Ich kann die Finger nicht wegnehmen

Jemand stieß einen kurzen unterdrückten Schrei aus. Im selben Augenblick wurde Nadine bewußt, daß ihre Finger auch an dem Brett festklebten. Die Armmuskeln wölbten sich vor Anstrengung, die Fingerspitzen von dem Brett wegzuziehen, aber sie blieben, wo sie waren.

»Also gut, der Spaß ist vorbei«, sagte Kachel mit gepreßter, furchtsamer Stimme. »Wer...«

Und plötzlich fing der Bleistift an zu schreiben.

Er bewegte sich blitzschnell, zog ihre Finger mit sich, zerrte ruckartig ihre Arme herum, was komisch gewirkt hätte, wären da nicht die hilflosen, gequälten Mienen auf den Gesichtern aller drei Mädchen gewesen. Nadine dachte später, es war, als hätten ihre Arme in einer Trainingsmaschine festgesteckt. Die vorherigen Botschaften waren mit steifen, krakeligen Buchstaben geschrieben gewesen - Botschaften, die aussahen, als hätte ein Siebenjähriger sie verfaßt. Diese Buchstaben waren ebenmäßig und nachdrücklich... große, schräge Großbuchstaben, die über das weiße Papier verliefen. Sie hatten etwas Übermütiges und Teuflisches.

NADINE, NADINE, NADINE, schrieb der wirbelnde Bleistift. WIE ICH NADINE LIEBE DASS SIE MEIN IST LIEBE MEINE NADINE MEINE KÖNIGIN WENN DU WENN DU WENN DU REIN FÜR MICH BIST WENN DU UNBERÜHRT FÜR MICH BIST WENN DU WENN DU TOT FÜR MICH BIST TOT DU BIST

Der Bleistift zuckte, raste und fing weiter unten wieder an.

DU BIST TOT WIE DIE ANDEREN DU BIST IM BUCH DER TOTEN ZUSAMMEN MIT DEN ANDEREN NADINE IST TOT WIE SIE NADINE VERFAULT WIE SIE WENN SIE NICHT


Er hörte auf. Pulsierte. Nadine dachte, hoffte - oh, hoffte so sehr -, daß es vorbei wäre, aber dann raste er an den Rand des Papiers und fing noch einmal an. Jane kreischte kläglich. Die Gesichter der anderen Mädchen waren erschrockene weiße Os des Staunens und der Fassungslosigkeit.

DIE WELT DIE WELT BALD IST DIE WELT TOT UND WIR WIR WIR NADINE NADINE ICH ICH ICH WIR WIR SIND WIR SIND WIR

Jetzt schienen die Buchstaben über die Seite zu schreien:

WIR SIND IM HAUS DER TOTEN NADINE

Das letzte Wort heulte in zentimetergroßen Buchstaben über das Papier, dann rutschte der Bleistift vom Brett und ließ dabei eine lange Graphitspur wie einen Schrei zurück. Er fiel auf den Boden und zerbrach in zwei Hälften.

Es folgte ein Augenblick erschrockenen, reglosen Schweigens, dann fing Jane Fargood schrill und hysterisch zu weinen an. Es hatte damit geendet, daß die Herbergsmutter nach oben gekommen war und nach dem Rechten gesehen hatte, fiel Nadine wieder ein, und sie hatte schon die Krankenstation wegen Jane anrufen wollen, als das Mädchen sich endlich wieder zusammenreißen konnte. Rachel Timms hatte die ganze Zeit über blaß und stumm auf dem Bett gesessen. Als die Herbergsmutter und die meisten anderen Mädchen (auch das Mädchen mit dem Pferdegesicht, das zweifellos der Überzeugung war, daß eine Prophetin im eigenen Land nichts gilt) gegangen waren, fragte sie Nadine mit tonloser, seltsamer Stimme: »Wer war es, Nadine?«

»Ich weiß nicht«, hatte Nadine aufrichtig geantwortet. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt. Damals nicht.

»Du hast die Handschrift nicht erkannt?«

»Nein.«

»Nun, vielleicht nimmst du einfach diese Botschaft... diese Botschaft aus dem Jenseits... und gehst auf dein Zimmer.«

»Du hast mich aufgefordert, mich dazuzusetzen!« fuhr Nadine sie an. »Woher sollte ich wissen, daß so... so etwas passieren würde? Ich habe mitgemacht, weil ich nicht unhöflich sein wollte, Herrgott noch mal!«

Rachel besaß wenigstens soviel Anstand, daraufhin zu erröten; sie hatte sich sogar ein bißchen entschuldigt. Aber danach hatte Nadine das Mädchen kaum noch zu Gesicht bekommen; dabei war Rachel Timms eines der wenigen Mädchen gewesen, denen sich Nadine in den ersten drei Semestern am College wirklich verbunden gefühlt hatte.

Bis heute hatte sie niemals mehr eine dieser dreieckigen Spinnen aus Hartfaser angefaßt.

Aber die Zeit war... nun, die Zeit war endlich gekommen, oder nicht? Ja, wahrhaftig.

Nadine setzte sich mit klopfendem Herzen auf die Picknickbank und drückte die Finger leicht gegen zwei der drei Seiten des Bretts. Sie spürte fast auf der Stelle, wie es sich unter ihren Fingerspitzen zu bewegen anfing, und mußte an ein Auto mit Motor im Leerlauf denken. Aber wer war der Fahrer? Wer war er wirklich? Wer würde einsteigen, die Tür zuschlagen, die braungebrannten Hände um das Lenkrad klammern? Wessen Fuß würde brutal und gewichtig, mit einem alten, zerschlissenen Cowboystiefel angetan, aufs Gaspedal treten und sie fortbringen... wohin?

Fahrer, wohin bringst du uns?

Nadine, die weder auf Hilfe noch auf Erlösung hoffte, saß aufrecht auf der Bank am Fuß des Flagstaff Mountain in der schwarzen Senke des frühen Morgens, riß die Augen auf und empfand das Gefühl, an der Grenze zu stehen, stärker denn je. Sie sah nach Osten, spürte seine Präsenz aber hinter sich, wie sie sich heftig an sie drängte, sie hinabzog wie an den Füßen einer toten Frau festgebundene Gewichte: Flaggs dunkle Präsenz, die in konstanten, unentrinnbaren Wogen übermittelt wurde.

Irgendwo war der dunkle Mann in der Nacht unterwegs, und sie sprach die drei Worte wie eine Beschwörung aller bösen Geister aus, die jemals existierten - Beschwörung und Aufforderung zugleich:

»Sag es mir.«

Unter ihren Fingern fing das Brett an zu zucken.

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