37

Stu akzeptierte die Laute zunächst fraglos; sie waren solch ein typischer Teil eines hellen Sommermorgens. Er hatte gerade South Ryegate, New Hampshire, hinter sich gelassen, jetzt führte der Highway durch eine hübsche Landschaft überhängender Ulmen, die Münzen aus goldenem Sonnenlicht auf die Straße warfen. Auf beiden Seiten stand dichtes Gebüsch-leuchtender Sumach, blaugrauer Wacholder und viele Büsche, deren Namen er nicht kannte. Die Vielfalt war ein Wunder für seine Augen, die an den Osten von Texas gewöhnt waren, wo die Flora am Straßenrand bei weitem nicht so mannigfaltig war. Links verlief eine alte Steinmauer mäanderförmig durch das Gebüsch, und rechts plätscherte ein kleiner Bach fröhlich nach Osten. Hin und wieder huschten kleine Tiere durch das Unterholz (gestern hatte ihn der Anblick einer großen Hirschkuh verzaubert, die auf dem weißen Mittelstreifen der 302. stand und die Morgenluft einzog), und er konnte rauhe Vogelschreie hören. Gegen den Hintergrund dieser Geräusche schien der bellende Hund ganz natürlich zu sein.

Er ging noch fast eine Meile, bis ihm einfiel, daß der Hund - wie es sich anhörte - vielleicht doch etwas Ungewöhnliches sein mochte. Seit er Stovington verlassen hatte, hatte er viele tote Hunde gesehen, aber keine lebenden. Nun, dachte er sich, die Grippe hatte die meisten Menschen umgebracht, aber nicht alle. Offenbar hatte sie auch die meisten Hunde umgebracht, aber nicht alle. Das Tier mußte inzwischen äußerst menschenscheu geworden sein. Wenn es ihn witterte, würde es wahrscheinlich ins Gebüsch zurückkriechen und hysterisch bellen, bis Stu sein Revier wieder verlassen hatte. Stu zog die Riemen seines Rucksacks an und faltete die Taschentücher neu zusammen, die er auf jeder Schulter unter den Riemen hatte. Er trug ein Paar Georgia Giants, aber nach drei Tagen Fußmarsch sahen sie nicht mehr neu aus. Auf dem Kopf trug er einen eleganten roten Filzhut mit breiter Krempe und über der Schulter einen Armeekarabiner. Er rechnete nicht damit, daß er auf Wegelagerer stoßen würde, hatte aber die vage Idee gehabt, ein Gewehr könnte nützlich sein. Vielleicht wegen Frischfleisch. Nun, gestern hatte er Frischfleisch gesehen, noch auf Hufen, war allerdings viel zu überrascht und erstaunt gewesen, um überhaupt ans Schießen zu denken.

Der Rucksack trug sich wieder bequemer, und Stu ging weiter die Straße entlang. Der Hund hörte sich an, als wäre er gleich hinter der nächsten Kurve. Vielleicht sehe ich ihn doch, dachte Stu. Er hatte die 302 Richtung Osten gewählt, weil er annahm, daß sie ihn früher oder später zum Meer führen würde. Er hatte eine Art Abmachung mit sich selbst getroffen: Wenn ich das Meer erreiche, überlege ich mir, was ich tun werde. Bis dahin werde ich überhaupt nicht darüber nachdenken. Sein Fußmarsch - heute war der vierte Tag - war eine Art Heilungsprozeß. Er hatte daran gedacht, sich ein Fahrrad mit zehn Gängen oder vielleicht ein Motorrad zu beschaffen, damit hätte er die vereinzelten Unfallstellen umfahren können, die die Straße versperrten, aber er hatte sich statt dessen entschlossen, zu Fuß zu gehen. Er war schon immer gern gewandert, und sein Körper schrie nach Betätigung. Vor seiner Flucht aus Stovington war er fast zwei Wochen lang eingesperrt gewesen, er fühlte sich schlapp und außer Form. Früher oder später, dachte er, würde ihn die langsame Art der Fortbewegung ungeduldig machen, und er würde sich ein Fahrrad oder Motorrad besorgen, aber vorläufig war er damit zufrieden, auf dieser Straße nach Osten zu gehen, alles zu sehen, was er sehen wollte, eine Pause zu machen, wann immer er Lust dazu hatte, und nachmittags, wenn es besonders heiß war, ein wenig zu schlafen. Das tat ihm gut. Ganz allmählich war seine verrückte Suche nach einem Ausgang zur bloßen Erinnerung geworden, zu etwas Vergangenem, nichts Deutlichem mehr, das ihm kalten Schweiß heraustrieb. Die Erinnerung an das Gefühl, daß ihn jemand verfolgte, war nicht so leicht abzuschütteln gewesen. In den ersten beiden Nächten auf der Straße hatte er immer wieder von seiner letzten Begegnung mit Eider geträumt, als Eider gekommen war, um seine Befehle auszuführen. Im Traum war Stu immer zu langsam mit dem Stuhl. Eider wich dem Schlag aus, drückte die Pistole ab, und Stu spürte einen harten, aber schmerzlosen Schlag mit einem Boxhandschuh voll Bleischrot auf der Brust. Davon träumte er immer wieder, bis er morgens unausgeschlafen aufwachte, aber so froh war, noch zu leben, daß es ihm gar nichts ausmachte. Letzte Nacht hatte er keine Träume gehabt. Er bezweifelte, ob seine Ängste alle mit einem Mal aufhören würden, aber er hoffte, daß er durch das Wandern das Gift allmählich aus dem Körper bekommen würde. Vielleicht würde er es nie wieder völlig loswerden, aber er war sicher, wenn der Großteil weg war, würde er besser darüber nachdenken können, was als nächstes kam, ob er das Meer bis dahin erreicht hatte oder nicht.

Er ging um die Kurve, und da stand der Hund, ein kastanienfarbener Irischer Setter. Als er Stu sah, bellte er freudig und kam die Straße entlanggelaufen, daß seine Krallen auf dem Asphalt klickten, und er wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Er sprang an Stu hoch, drückte ihm die Vorderpfoten auf den Bauch, so daß Stu einen Schritt zurücktaumelte. »He, Junge«, sagte er grinsend.

Als der Hund seine Stimme hörte, bellte er fröhlich und sprang wieder hoch.

»Kojak!« sagte eine strenge Stimme, und Stu zuckte zusammen und sah sich um. »Runter! Laß den Mann in Ruhe! Du machst ihm das Hemd schmutzig! Böser Hund!«

Kojak brachte wieder alle viere auf die Straße und ging mit eingezogenem Schwanz um Stu herum. Der Schwanz wedelte aber trotz der Behinderung noch ein wenig vor unterdrückter Freude, und Stu kam zu dem Ergebnis, daß dieser hier nie ein guter HundeBetrüger werden würde. Jetzt sah er auch den Besitzer der Stimme - und von Kojak, vermutete er. Ein Mann von etwa Sechzig, der einen zerlumpten Pullover, eine alte graue Hose... und eine Baskenmütze trug. Er sass auf einem Klavierhocker und hielt eine Palette in der Hand. Vor ihm stand eine Staffelei mit aufgespannter Leinwand.

Jetzt erhob er sich und legte die Palette auf den Hocker (»Bloß nicht nachher draufsetzen«, hörte Stu ihn murmeln), dann ging er mit ausgestreckter Hand auf Stu zu. Unter seiner Baskenmütze quoll lockiges graues Haar hervor und wehte im Wind.

»Hoffentlich verfolgen Sie mit dem Gewehr keine bösen Absichten, Sir. Glen Bateman, zu Ihren Diensten.«

Er kam einen Schritt vorwärts und nahm die ausgestreckte Hand (Kojak wurde wieder übermütig, er hüpfte um Stu herum, wagte aber nicht, wieder mit seinen Sprüngen anzufangen - jedenfalls noch nicht). »Stuart Redman. Machen Sie sich wegen des Gewehrs keine Sorgen. Ich habe noch nicht genug Menschen gesehen, daß ich anfangen könnte, sie zu erschießen. Ich hab' eigentlich noch gar keinen gesehen, außer Ihnen.«

»Mögen Sie Kaviar?«

»Habe ich noch nie probiert.«

»Dann wird es Zeit. Und wenn er Ihnen nicht schmeckt, sind noch genügend andere Dinge da. Kojak, nicht springen. Ich weiß, du hast schon wieder deine verrückten Sprünge im Sinn - ich lese in dir wie in einem Buch -, aber beherrsche dich. Denk immer daran, Kojak, Beherrschung ist das, was die höheren Ordnungen von den niederen trennt. Also beherrsch dich!«

Nachdem solchermaßen an seine bessere Natur appelliert worden war, setzte sich Kojak auf die Hinterbeine und fing an zu hecheln. Sein Hundegesicht grinste breit. Stu wußte aus Erfahrung, daß ein grinsender Hund entweder ein bissiger Hund oder ein verdammt guter Hund ist. Und der hier sah nicht wie ein bissiger Hund aus.

»Ich lade Sie zum Frühstück ein«, sagte Bateman. »Sie sind das erste menschliche Wesen, das ich in der letzten Woche gesehen habe. Bleiben Sie?«

»Mit Vergnügen.«

»Sie stammen aus dem Süden, richtig?«

»Aus dem Osten von Texas.«

»Aus dem Osten, mein Fehler.« Bateman gluckste über seinen eigenen Witz und wandte sich wieder seinem Bild zu, einem durchschnittlichen Aquarell des Waldes jenseits der Straße.

»Ich würde mich lieber nicht auf den Klavierhocker setzen«, sagte Stu.

»Scheiße, nein! Das wäre ganz schlecht, was?« Er änderte den Kurs und ging zu der kleinen Lichtung zurück. Stu sah, daß eine Kühltasche in Weiß und Orange dort im Schatten stand, darüber eine Art weißes Altartuch. Als Bateman es ausschüttelte, sah Stu, daß es genau das war.

»Es gehörte zur Abendmahlsausrüstung der Baptisten-Gnadenkirche in Woodsville«, sagte Bateman. »Ich habe es befreit. Ich glaube nicht, daß die Baptisten es vermissen werden. Sie sind alle heimgegangen zu Jesus Christus. Jedenfalls alle Baptisten in Woodsville. Jetzt können sie ihr Abendmahl mit dem Herrn selber feiern. Ich glaube allerdings, der Himmel wird eine herbe Enttäuschung für die Baptisten sein, wenn die Direktion ihnen keine Fernseher gestattet - vielleicht nennen sie sie da oben ja auch Himmelseher -, damit sie Jerry Falwell und Jack van Impe sehen können. Was wir hier haben, ist ein alter Heide, der statt dessen mit der Natur Zwiesprache hält. Kojak, nicht auf dem Tischtuch schlafen. Beherrschung, vergiß das nicht, Kojak. Mach Beherrschung zu deinem Leitwort, was du auch tust. Sollen wir über die Straße gehen und uns waschen, Mr. Redman?«

»Nennen Sie mich Stu.«

»In Ordnung, mach' ich.«

Sie gingen die Straße hinunter und wuschen sich im kühlen, klaren Wasser. Stu war glücklich. Genau diesen Mann zu genau dieser Zeit zu treffen schien irgendwie genau richtig zu sein. Weiter unten am Bach schlabberte Kojak im Wasser und verschwand dann fröhlich bellend im Wald. Er scheuchte einen Waldfasan auf, und Stu sah ihn aus dem Unterholz hochschießen und dachte überrascht, dass vielleicht alles gut werden würde. Irgendwie gut.

Er mochte den Kaviar nicht besonders - schmeckte wie kalter Fisch in Aspik -, aber Bateman hatte auch eine Peperoniwurst, Salami, zwei Dosen Ölsardinen, ein paar nicht mehr ganz frische Äpfel und einen Karton mit abgepackten Feigen. Großartig für die Verdauung, Feigen, sagte Bateman. Seit er aus Stovington geflohen war und seine Wanderschaft begonnen hatte, hatte Stu keine Probleme mit der Verdauung gehabt, aber die Feigen schmeckten ihm auch so, und er aß jede Menge. Er aß eigentlich von allem jede Menge. Beim Essen, das sie weitgehend auf Saltines aßen, erzählte Bateman Stu, daß er Assistenzprofessor der Soziologie am Community College von Woodsville gewesen war. Woodsville, sagte er, war eine Kleinstadt (»berühmt für ihr Community College und die vier Tankstellen«, erklärte er Stu), die sechs Meilen entfernt lag. Seine Frau war seit zehn Jahren tot. Sie waren kinderlos geblieben. Die meisten seiner Kollegen hatten ihn nicht leiden können, sagte er, ein Gefühl, das ganz auf Gegenseitigkeit beruhte. »Sie haben mich für einen Irren gehalten«, sagte er. »Die Möglichkeit, daß sie recht haben könnten, hat auch nicht zur Entspannung unseres Verhältnisses beigetragen.« Er habe die Supergrippe-Epidemie gelassen hingenommen, sagte er, weil sie ihm wenigstens ermöglicht habe, sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen und der Malerei zu widmen, was immer sein Wunsch gewesen sei. Während er den Nachtisch aufteilte (einen Kuchen Marke Sara Lee) und Stu seine Hälfte auf einem Pappteller reichte, sagte er: »Ich bin schrecklich als Maler, schrecklich. Aber ich sage mir einfach, diesen Juli ist niemand mehr auf der Welt, der bessere Landschaften malt als Glendon Pequod Bateman, B.A., M.A., M.F.A. Ich weiß, ein billiger Ego-Trip, aber meiner.«

»War Kojak schon immer Ihr Hund?«

»Nein - das wäre ein erstaunlicher Zufall gewesen, oder? Ich glaube, Kojak hat jemand aus einem anderen Stadtviertel gehört. Ich habe ihn ein paarmal gesehen, aber da ich nicht wußte, wie er heißt, habe ich mir die Frechheit genommen und ihn umgetauft. Scheint ihm nichts auszumachen. Entschuldigen Sie mich einen Moment, Stu.«

Er ging über die Straße, und Stu hörte ihn im Wasser plätschern. Wenig später kam er mit bis zu den Knien hochgekrempelten Hosen zurück. Er trug ein tropfendes Sechserpack Narragansett-Bier in jeder Hand.

»Hätte eigentlich zum Essen gehört. Zu dumm.«

»Schmeckt danach genauso gut«, sagte Stu und zog eine Dose von der Plastikverschweißung ab. »Danke.«

Sie zogen die Ringe ab, Bateman hob die Dose. »Auf uns, Stu. Mögen wir glückliche Tage erleben, stets zufrieden sein und keine Schmerzen im verlängerten Rücken haben.«

»Amen.« Sie stießen mit den Dosen an und tranken. Stu fand, dass ihm ein Schluck Bier noch nie so gut geschmeckt hatte.

»Sie machen nicht viele Worte«, sagte Bateman. »Ich hoffe, Sie sind nicht der Meinung, daß ich auf dem Grab der Welt tanze, sozusagen.«

»Nein«, sagte Stu.

»Ich hatte Vorurteile gegenüber der Welt«, sagte Bateman. »Das gebe ich offen zu. Die Welt im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts hatte für mich soviel Charme wie ein achtzigjähriger Mann, der an Prostatakrebs stirbt. Man sagt, das wäre eine Stimmung, die alle Menschen im Westen empfinden, wenn sich ein Jahrhundert - egal, welches - dem Ende nähert. Wir haben uns jedesmal in Trauergewänder gehüllt, sind herumgezogen und haben wehe dir, Jerusalem geschrien... oder Cleveland, je nachdem. Ende des fünfzehnten Jahrhunderts grassierte der Veitstanz. Beulenpest - der schwarze Tod - dezimierte Europa gegen Ende des sechzehnten. Keuchhusten gegen Ende des siebzehnten, die ersten Ausbrüche von Influenza gegen Ende des neunzehnten. Wir haben uns so sehr an die Grippe gewöhnt - uns kommt sie wie eine gewöhnliche Erkältung vor, nicht? -, daß nur noch Historiker wissen, sie hat vor hundert Jahren überhaupt noch nicht existiert.

In den letzten drei Jahrzehnten eines jeden Jahrhunderts erscheinen religiöse Fanatiker auf der Bildfläche und können >stichhaltig< beweisen, daß Armageddon endlich bevorsteht. Solche Leute sind natürlich immer da, aber zum Ende eines Jahrhunderts hin nimmt ihre Zahl zu... und jede Menge Leute nehmen sie ernst. Ungeheuer erscheinen auf der Bildfläche. Attila der Hunne, Dschingis Khan, Jack the Ripper, Lizzie Bordon. Charles Manson und Richard Speck in unserer Zeit, wenn sie so wollen. Seriösere Kollegen als ich haben angedeutet, daß der Mensch in der westlichen Zivilisation gelegentlich eine Läuterung braucht, und diese findet am Ende eines Jahrhunderts statt, damit er rein und voller Optimismus ins nächste gehen kann. In diesem Fall haben wir ein Superklistier bekommen, was, wenn man darüber nachdenkt, völlig logisch ist. Immerhin steht nicht nur das Ende eines Jahrhunderts bevor. Wir nähern uns einem neuen Jahrtausend.«

Bateman verstummte und überlegte.

»Wenn ich darüber nachdenke, ich tanze doch auf dem Grab der Welt. Noch ein Bier?«

Stu nahm eines und dachte darüber nach, was Bateman gesagt hatte.

»Eigentlich ist es nicht das Ende«, sagte er schließlich. »Jedenfalls glaube ich das nicht. Nur eine... Übergangsphase.«

»Zutreffend. Gut gesagt. Aber jetzt kümmere ich mich wieder um mein Bild, wenn Sie gestatten.«

»Nur zu.«

»Haben Sie irgendwelche anderen Hunde gesehen?« fragte Bateman, als Kojak fröhlich über die Straße gehüpft kam.

»Nein.«

»Ich auch nicht. Sie sind der einzige andere Mensch, den ich gesehen habe, aber Kojak scheint der einzige seiner Art zu sein.«

»Wenn er lebt, muß es noch andere geben.«

»Nicht sehr wissenschaftlich«, sagte Bateman freundlich. »Was sind Sie nur für ein Amerikaner? Zeigen Sie mir einen zweiten Hund - vorzugsweise eine Hündin -, dann akzeptiere ich Ihre Theorie, dass es irgendwo noch einen dritten geben muß. Aber zeigen Sie mir nicht bloß einen und leiten daraus einen zweiten ab. Das reicht nicht.«

»Ich habe Kühe gesehen«, sagte Stu nachdenklich.

»Kühe, ja, und Wild. Aber die Pferde sind alle tot.«

»Das stimmt«, bestätigte Stu. Er hatte unterwegs mehrere tote Pferde gesehen. In manchen Fällen hatten Kühe in der Nähe der aufgeblähten Kadaver gegrast, aber gegen den Wind. »Wie kommt das?«

»Keine Ahnung. Wir atmen ja alle ähnlich, und es scheint im wesentlichen eine Krankheit der Atmungsorgane zu sein. Ich frage mich aber, ob es nicht noch einen anderen Faktor gibt? Menschen, Hunde und Pferde bekommen sie. Kühe und Wild nicht. Die Ratten waren eine Zeitlang angeschlagen, scheinen sich aber zu erholen.«

Bateman mischte tollkühn Farben auf der Palette. »Überall Katzen, eine regelrechte Katzenplage, und soweit ich das beurteilen kann, sind Insekten gar nicht betroffen. Selbstverständlich machen denen die kleinen faux pas, die die Menschheit begeht, selten etwas aus - und die Vorstellung von einem Moskito mit Grippe ist einfach zu albern. Aber an der Oberfläche ergibt nichts einen Sinn. Es ist verrückt.«

»Das stimmt«, sagte Stu und riß die zweite Dose Bier auf. In seinem Kopf summte es angenehm.

»Wir werden wohl einige interessante Veränderungen der Ökologie erleben«, sagte Bateman. Er beging gerade den entsetzlichen Fehler des Versuchs, auch Kojak in sein Bild hineinzumalen. »Es bleibt abzuwarten, ob der Homo sapiens im Kielwasser der Katastrophe imstande sein wird, sich fortzupflanzen - es bleibt sehr abzuwarten -, aber wir können uns wenigstens zusammentun und es versuchen. Wird aber Kojak je ein Weibchen finden? Wird er jemals stolzer Papa werden?«

»Mein Gott, vielleicht nie.«

Bateman stand auf, legte die Palette auf den Klavierhocker und holte sich noch ein Bier. »Ich denke, Sie haben recht«, sagte er.

»Wahrscheinlich leben noch andere Menschen, Hunde, Pferde. Aber viele Tiere könnten sterben, ohne sich fortzupflanzen. Es mag natürlich noch Exemplare der betroffenen Arten geben, die trächtig waren, als die Grippe ausgebrochen ist. Es könnte momentan Dutzende gesunder Frauen in den Vereinigten Staaten geben, die - wenn sie die rüde Ausdrucksweise verzeihen - einen Braten in der Röhre haben. Aber manche Tierarten werden wohl zahlenmäßig unter den >point of no return< sinken. Wenn Sie die Hunde aus der Gleichung herausnehmen, wird sich das Wild - das immun zu sein scheint - über alle Maßen vermehren. Es sind auf keinen Fall genügend Menschen da, die den Wildbestand in Grenzen halten können. Die Jagdzeit wird ein paar Jahre ausfallen.«

»Nun«, sagte Stu, »das überzählige Wild wird verhungern.«

»Nein, wird es nicht. Nicht alles, nicht einmal der Großteil. Jedenfalls nicht hier oben. Ich weiß nicht, wie es im Osten von Texas aussieht, aber hier in Neuengland waren alle Gärten bepflanzt und gediehen prächtig, bevor diese Grippe ausbrach. Das Wild wird in diesem und im nächsten Jahr genug zu fressen haben. Selbst danach werden unsere Nutzpflanzen wild wachsen. Es wird wahrscheinlich sieben Jahre kein hungerndes Wild geben. Wenn Sie in ein paar Jahren wieder herkommen, Stu, werden Sie das Wild mit dem Ellbogen aus dem Weg schieben müssen, um auf der Straße weiterzukommen.«

Darüber dachte Stu eine Weile nach. Schließlich sagte er:

»Übertreiben Sie da nicht?«

»Nicht absichtlich. Es mag einen Faktor oder Faktoren geben, die ich nicht in Betracht gezogen habe, aber ganz ehrlich, das glaube ich nicht. Und wir könnten meine Hypothese über die Auswirkung des fast völligen Verschwindens der Hundepopulation auf die Wildpopulation nehmen und auf die Beziehungen zwischen anderen Gattungen übertragen. Katzen vermehren sich zügellos. Was bedeutet das? Nun, ich habe gesagt, Ratten sind an der Ökobörse im Keller, erholen sich aber langsam. Wenn es genügend Katzen gibt, könnte sich das ändern. Eine Welt ohne Ratten hört sich zunächst einmal nicht schlecht an, aber ich weiß nicht.«

»Was haben Sie gemeint, als Sie sagten, ob die Menschen sich fortpflanzen können oder nicht, wäre noch offen?«

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Bateman. »Zumindest zwei, die ich sehe. Die erste ist, Babys könnten nicht immun sein.«

»Sie meinen, sie könnten sterben, sobald sie auf die Welt kommen?«

»Ja, möglicherweise schon in utero. Weniger wahrscheinlich, aber denkbar wäre, die Supergrippe könnte auf uns Überlebende eine sterilisierende Wirkung gehabt haben.«

»Das ist verrückt«, sagte Stu.

»Mumps auch«, bemerkte Glen Bateman trocken.

»Aber wenn die Mütter der Babys, die... die in utero sind... wenn diese Mütter immun sind...«

»Ja, in manchen Fällen kann Immunität von Mutter auf Kind übertragen werden, wie Krankheiten auch. Aber nicht in allen Fällen. Darauf kann man sich nicht verlassen. Ich glaube, die Zukunft der Babys, die derzeit in utero sind, ist sehr fraglich. Zugegeben, die Mütter sind immun, aber die statistische Wahrscheinlichkeit sagt, daß die meisten Väter es nicht waren und jetzt tot sind.«

»Und die andere Möglichkeit?«

»Wir könnten die Aufgabe, unsere Rasse auszurotten, selbst zu Ende bringen«, sagte Bateman ruhig. »Das halte ich sogar für sehr wahrscheinlich. Nicht sofort, weil wir alle zu weit verstreut sind. Aber der Mensch ist ein geselliges Herdentier, und wir werden schließlich und endlich alle wieder zusammenfinden, und sei es nur, damit wir uns gegenseitig Geschichten erzählen können, wie wir die große Seuche von 1990 überlebt haben. Die meisten Gesellschaftsformen, die entstehen, werden wahrscheinlich primitive Diktaturen mit kleinen Cäsars an der Macht sein, wenn wir nicht großes Glück haben. Vielleicht wird es ein paar aufgeklärte demokratische Gesellschaften geben, und ich kann Ihnen ganz genau sagen, auf was diese Gemeinschaften in den neunziger Jahren und den Anfangsjahren des nächsten Jahrtausends angewiesen sein werden: eine Gemeinschaft mit genügend Technikern zu sein, die die Lichter wieder anbekommen. Das ließe sich bewerkstelligen, und zwar ganz einfach. Wir befinden uns nicht im Kielwasser eines Atomkriegs, wo alles in Trümmern liegt. Sämtliche Maschinen stehen nur da und warten, daß jemand daherkommt - der richtige Jemand, der weiß, wie man die Stecker saubermacht und ein paar durchgeschmorte Relais auswechselt -, der sie wieder anläßt. Die Frage ist nur, wieviel Überlebende sind noch da, die die Technologie verstehen, die wir alle als etwas Selbstverständliches betrachtet haben.«

Stu trank Bier. »Glauben Sie?«

»Klar doch.« Bateman trank selbst einen Schluck Bier, dann beugte er sich nach vorne und lächelte Stu grimmig an. »Ich will Ihnen einmal eine hypothetische Situation schildern, Mr. Stuart Redman aus dem Osten von Texas. Angenommen, wir haben Gemeinschaft A in Boston und Gemeinschaft B in Utica. Sie wissen voneinander, und alle kennen die Lage in den jeweiligen Gemeinschaften. Gesellschaft A ist in gutem Zustand. Sie wohnen im Luxus auf dem Beacon Hill, weil einer von ihnen zufällig Elektriker ist. Der Bursche hat gerade soviel Ahnung, daß er das Kraftwerk Beacon Hill wieder in Betrieb nehmen konnte. Es kommt hauptsächlich darauf an zu wissen, welche Knöpfe man drücken muß, nachdem das Kraftwerk automatisch abgeschaltet hat. Wenn es läuft, geht sowieso fast alles automatisch. Der Elektriker kann anderen Mitgliedern der Gesellschaft A beibringen, welche Knöpfe man drücken und auf welche Skalen man achtgeben muß. Die Turbinen laufen mit Öl, und das gibt es im Überfluß, weil alle, die es benützt haben, mausetot sind. Also läuft in Boston der Saft. Sie haben Wärme, wenn es kalt wird, Licht, so daß sie nachts lesen können, Kühlschränke, damit sie Scotch wie zivilisierte Menschen >on the rocks< trinken können. Das Leben ist fast idyllisch. Keine Umweltverschmutzung. Kein Drogenproblem. Kein Rassenproblem. Keine Verknappungen. Keine Probleme mit Geld oder Tausch; denn alle Waren, wenn auch nicht alle Dienstleistungen, stehen zur Verfügung, und zwar soviel, daß sie einer radikal dezimierten Gesellschaft die nächsten dreihundert Jahre reichen. Soziologisch gesehen müßte so eine Gruppe wahrscheinlich in ihrer Natur kommunal werden. Keine Diktatur. Kein guter Nährboden für Diktaturen, kein Mangel, kein Bedarf, keine Unsicherheit, Privatbesitz... das würde einfach nicht existieren. Wahrscheinlich würde Boston wieder von einer Art Stadtversammlung regiert werden.

Und nun zu Gemeinschaft B in Utica. Niemand kann das Kraftwerk in Betrieb nehmen. Alle Techniker sind tot. Sie brauchen lange, bis sie dahinterkommen, wie man etwas wieder zum Laufen bringen kann. Derweil frieren sie nachts, und der Winter steht vor der Tür, sie essen aus Dosen, es geht ihnen elend. Ein starker Mann übernimmt die Führung. Sie sind froh, daß sie ihn haben, denn sie sind verwirrt und krank und frieren. Soll er ruhig die Entscheidungen treffen. Was er natürlich auch tut. Er schickt jemand mit einer Bitte nach Boston. Könnten sie ihren verhätschelten Techniker nach Utica schicken, damit er dort das Kraftwerk auch wieder in Gang bringt? Die Alternative wäre ein langer und gefährlicher Zug nach Süden zum Überwintern. Und was macht Gemeinschaft A, wenn sie diese Nachricht hören?«

»Sie schicken den Mann?« fragte Stu.

»Heilands Sack, nein! Er könnte gegen seinen Willen festgehalten werden, was sogar ziemlich wahrscheinlich sein würde. In der nachgrippalen Welt wird technologisches Wissen Gold als begehrteste Tauschware ablösen. Diesbezüglich ist Gesellschaft A reich und Gesellschaft B arm. Also, was macht Gesellschaft B?«

»Ich würde sagen, sie ziehen nach Süden«, sagte Stu. Er grinste.

»Vielleicht sogar in den Osten von Texas.«

»Vielleicht. Vielleicht drohen sie den Menschen in Boston aber auch mit einem nuklearen Marschflugkörper.«

»Klar«, sagte Stu. »Sie bringen ihr Kraftwerk nicht in Gang, aber sie können vom Elendsviertel aus eine Atomrakete starten.«

Bateman sagte: »Ich persönlich würde mir nicht die Mühe mit der Rakete machen. Ich würde mir einfach überlegen, wie man den Sprengkopf abbekommt, und den dann in dem Kombi nach Boston fahren. Glauben Sie, das könnte gehen?«

»Keinen blassen Schimmer.«

»Und selbst wenn nicht, es stehen ja genügend konventionelle Waffen herum. Genau das ist es ja. Alles ist da und wartet nur darauf, benützt zu werden. Und wenn die Gemeinschaften A und B beide einen verhätschelten Techniker haben, fangen sie vielleicht sogar eine Art rostigen nuklearen Schlagabtausch wegen Religion oder Gebietsansprüchen oder einer hirnrissigen ideologischen Differenz an. Stellen Sie sich das nur einmal vor, anstatt sechs oder sieben Nuklearmächten in der Welt haben wir sechzig oder siebzig allein hier auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten. Wäre die Situation anders, würde es ganz bestimmt zu Kämpfen mit Steinen und Stachelkeulen kommen. Tatsache ist aber, die ganzen alten Soldaten sind weggestorben, haben aber ihre Spielsachen dagelassen. Es ist schlimm, darüber nachzudenken, zumal so viele schlimme Dinge schon passiert sind... aber ich fürchte, es wäre durchaus denkbar.«

Schweigen herrschte zwischen ihnen. Weit entfernt konnten sie Kojak im Wald bellen hören, während sich der Tag um die Achse des Mittags drehte.

»Wissen Sie«, sagte Bateman schließlich, »ich bin im Grunde meines Herzens ein fröhlicher Mensch. Vielleicht, weil meine Befriedigungsschwelle sehr niedrig liegt. Darum war ich auf meinem Gebiet so unbeliebt. Ich habe meine Fehler; ich rede zuviel, wie Sie sicher festgestellt haben, und ich bin ein schrecklicher Maler, wie Sie sehen können, und ich konnte überhaupt nicht mit Geld umgehen. Manchmal habe ich die letzten drei Tage vor dem Zahltag von Erdnußbutterbroten gelebt, und ich war in Woodsville berüchtigt dafür, daß ich Sparbücher angelegt und das Geld eine Woche später wieder abgehoben habe. Aber ich habe mich davon nie unterkriegen lassen, Stu. Exzentrisch aber fröhlich, so bin ich. Der einzige Fluch meines Lebens sind Träume. Seit meiner Kindheit quälen mich erstaunlich lebhafte Träume. Viele waren ziemlich schrecklich. Als Junge waren es Trolle unter Brücken, die hochgegriffen und meinen Fuß gepackt haben, oder eine Hexe, die mich in einen Vogel verwandelt hat... Ich machte den Mund auf und wollte schreien, brachte aber nur ein paar Krächzer heraus. Haben Sie manchmal Alpträume, Stu?«

»Manchmal«, sagte Stu und dachte an Eider und wie Eider ihn manchmal in seinen Träumen verfolgte, durch Flure, die kein Ende hatten, sondern immer wieder im Kreis verliefen, die von kaltem Neonlicht erhellt wurden und voll waren von hallenden Echos.

»Dann wissen Sie es ja. Als Teenager hatte ich meinen regelmäßigen Anteil von Sex-Träumen, feuchte und trockene, aber dazwischen manchmal auch welche, in denen sich das Mädchen, mit dem ich zusammen war, in eine Kröte verwandelte, eine Schlange oder sogar in einen verwesenden Leichnam. Als ich älter wurde, hatte ich Träume vom Versagen, Träume der Erniedrigung, Träume von Selbstmord, Träume von einem gräßlichen Unfalltod. Am häufigsten war der, in dem ich langsam von einer Hebebühne zerquetscht wurde. Ich glaube, das alles sind einfache Abwandlungen des Troll-Traums. Ich bin der festen Überzeugung, daß solche Träume ein simples psychologisches Überdruckventil sind, und die Leute, die sie haben, sind mehr gesegnet als verflucht.«

»Wenn man es sich vom Hals schafft, staut es sich nicht auf.«

»Genau. Es gibt alle möglichen Traumdeutungen - die von Freud sind die berüchtigtsten -, aber ich war immer der Meinung, Träume haben eine schlichte abführende Wirkung, mehr nicht - sie sind ein Mittel der Psyche, ab und zu einmal Müll abzuladen. Und dass Menschen, die nicht träumen - oder nicht auf eine Weise träumen, an die sie sich nach dem Aufwachen erinnern können - unter einer Art geistiger Verstopfung leiden. Schließlich ist die einzige praktische Kompensation für einen Alptraum, wenn man aufwacht und erkennt, es war alles nur ein Traum.«

Stu lächelte.

»Aber in letzter Zeit habe ich einen ziemlich schlimmen Traum. Er kommt immer wieder, wie mein Traum, unter der Hebebühne zerquetscht zu werden, aber dagegen wirkt dieser wie ein Ammenmärchen. Er gleicht keinem Traum, den ich jemals gehabt habe, und doch in gewisser Weise auch wieder allen. Als wäre... als wäre er die Summe aller bösen Träume. Wenn ich aufwache, ist mir elend zumute, als wäre es gar kein Traum gewesen, sondern eine Vision. Ich weiß, wie verrückt sich das anhören muß.«

»Wie ist er?«

»Es geht um einen Mann«, sagte Bateman leise. »Jedenfalls glaube ich, daß es ein Mann ist. Er steht auf dem Dach eines hohen Gebäudes, möglicherweise auf einer Klippe. Was auch immer, es ist so hoch, daß es Hunderte Meter tiefer im Nebel verschwindet. Es ist kurz vor Sonnenuntergang, aber er sieht in die andere Richtung, nach Osten. Manchmal hat er Jeans und Jeansjacke an, aber häufiger eine Kutte mit Kapuze. Sein Gesicht kann ich nie sehen, aber seine Augen. Er hat rote Augen. Und ich habe das Gefühl, dass er nach mir sucht - und daß er mich früher oder später finden wird oder ich zu ihm gehen muß... und das wird mein Tod sein. Daher versuche ich zu schreien...« Er verstummte mit einem knappen, verlegenen Achselzucken.

»Dann wachen Sie auf?«

»Ja.« Sie sahen Kojak zu, der zurückkam; Bateman tätschelte ihn, während Kojak die Schnauze in die Aluminiumschale steckte und die letzten Kuchenkrümel herausholte.

»Nun, ich schätze, es ist nur ein Traum«, sagte Bateman. Er stand auf und verzog das Gesicht, als seine Knie knackten. »Ein Psychologe, der das Ganze analysiert, würde vielleicht sagen, der Traum drücke meine unterbewußte Angst vor einem Führer aus, der die ganze Scheiße wieder von vorne anfängt. Vielleicht eine Angst vor der Technologie allgemein. Denn ich glaube, alle neuen Gesellschaften, die sich bilden, zumindest in der westlichen Zivilisation, werden Technologie als Eckstein haben. Das ist ein Jammer, und es muß nicht sein, aber es wird sein, weil wir süchtig sind. Sie werden sich nicht an die Ecke erinnern - oder erinnern wollen -, in die wir uns selbst gedrängt haben. Die verdreckten Flüsse, das Ozonloch, die Atombombe, die Luftverschmutzung. Sie werden sich nur daran erinnern, daß sie es früher einmal ohne nennenswerte Anstrengung nachts warm haben konnten. Sie sehen, zusätzlich zu meinen anderen Unzulänglichkeiten bin ich auch noch Euddit. Aber dieser Traum... der beschäftigt mich, Stu.«

Stu sagte nichts.

»Ich mache mich jetzt auf den Heimweg«, sagte Bateman brüsk.

»Ich bin schon halb betrunken, und ich glaube, es gibt heute nachmittag Gewitter.« Er ging zum hinteren Teil der Lichtung und stöberte dort herum. Wenig später kam er mit einer Schubkarre zurück. Er drehte den Klavierhocker ganz herunter, legte ihn hinein, danach die Staffelei, die Kühlbox und zu guter Letzt sein mittelmäßiges Bild oben auf den wackeligen Stapel.

»Haben Sie das alles hierhergekarrt?« fragte Stu.

»Bis ich etwas gesehen habe, das ich malen wollte. Ich gehe jeden Tag in eine andere Richtung. Gutes Training. Wenn Sie nach Osten gehen, warum kommen Sie nicht mit mir nach Woodville und übernachten in meinem Haus? Wir können uns beim Schieben ablösen, und ich habe drüben im Bach noch ein Sechserpack Bier stehen. Damit dürften wir standesgemäß nach Hause kommen.«

»Einverstanden«, sagte Stu.

»Gut. Ich werde unterwegs wahrscheinlich die ganze Zeit reden. Sie befinden sich in der Gewalt des Geschwätzigen Professors, TexasOst. Wenn ich Sie langweile, sagen Sie mir einfach, ich soll die Klappe halten. Wird mich nicht kränken.«

»Ich höre gern zu«, sagte Stu.

»Dann sind Sie einer von Gottes Auserwählten. Gehen wir.«

Sie gingen die 302 entlang, und während der eine die Karre schob, trank der andere Bier. Ganz gleich, wer gerade was tat, Bateman redete, ein endloser Monolog, der ohne Pause von einem Thema zum anderen sprang. Kojak sprang neben ihnen her. Stu hörte eine Weile zu, dann schweiften seine Gedanken eine Weile ab, und dann hörte er wieder zu. Er war beunruhigt von Batemans Vision von Hunderten menschlicher Enklaven, manche militaristisch, die in einem Land lebten, in dem Tausende Weltvernichtungswaffen herumlagen wie Bauklötze eines Kindes. Aber seltsamerweise mußte er immer wieder an Glen Batemans Traum denken, den Mann ohne Gesicht auf einem hohen Gebäude - oder am Rand einer Klippe -, den Mann mit den roten Augen, der, der sinkenden Sonne den Rücken zugewandt, ruhelos nach Osten sah.

Kurz vor Mitternacht wachte er schweißgebadet auf und fürchtete, er hätte geschrien. Aber Glen Bateman im Nebenzimmer atmete langsam, ruhig und ungestört, und auf dem Flur sah er Kojak mit dem Kopf auf den Pfoten schlafen. Alles erstrahlte so hell im Mondschein, daß es surrealistisch anmutete.

Als er aufwachte, hatte Stu sich auf den Ellenbogen aufgerichtet, und jetzt ließ er sich wieder auf das feuchte Laken sinken und hielt einen Arm vor die Augen; er wollte sich nicht an den Traum erinnern, konnte es aber nicht verhindern.

Er war wieder in Stovington gewesen. Eider war tot. Alle waren tot. Das Gebäude war eine hallende Gruft. Er war als einziger am Leben, und er konnte den Ausgang nicht finden. Zuerst versuchte er, seine Panik zu unterdrücken. Gehen, nicht laufen, sagte er sich immer wieder, aber zuletzt lief er doch. Seine Schritte wurden immer schneller, und der Zwang, über die Schulter zurückzuschauen und sich zu vergewissern, daß nur das Echo ihn verfolgte, wurde unerträglich.

Er kam an verschlossenen Bürotüren vorbei, auf deren Milchglasscheiben Namen in schwarzer Schrift standen. An einem umgestürzten Rollwägelchen vorbei. An der Leiche einer Schwester vorbei, deren Rock bis über die Schenkel hochgerutscht war und deren schwarzes, verzerrtes Gesicht zu den Neonleuchten aufsah, die wie umgekehrte Eiswürfelschalen an der Decke hingen.

Schließlich fing er an zu rennen.

Schneller, schneller glitten die Türen an ihm vorbei und weg, seine Füße stampften auf das Linoleum. Verschwimmende orangefarbene Pfeile an der weißen Wand. Schilder. Zuerst erschienen sie ganz normal: RADIOLOGIE und KORRIDOR B ZU DEN LABORS und KEIN ZUTRITT OHNE GÜLTIGEN AUSWEIS. Und dann war er plötzlich in einem anderen Teil der Anlage, einem Teil, den er noch nie gesehen hatte und auch nie hätte sehen sollen. Die Farbe an diesen Wänden blätterte schon ab. Manche Neonlampen waren aus; andere summten wie gefangene Fliegen. Viele Milchglasscheiben an den Bürotüren waren eingeschlagen, und durch die gezackten Löcher sah er Trümmer und zusammengekrümmte Leichen. Er sah Blut. Diese Leute waren nicht an der Grippe gestorben. Sie waren ermordet worden. Ihre Leichen wiesen Stiche und Schußwunden und schlimme Verletzungen auf, die nur von stumpfen Gegenständen herrühren konnten. Ihre Augen waren aus den Höhlen gequollen.

Er lief eine Rolltreppe hinunter, die außer Betrieb war, und in einen langen, dunklen Tunnel mit gekachelten Wänden. Am anderen Ende lagen weitere Büroräume, aber jetzt waren die Türen tiefschwarz gestrichen. Die Pfeile waren hellrot. Die Neonlampen summten und flackerten. Auf den Schildern stand: KOBALTBEHÄLTER und LASER-ARSENAL und SIDEWINDERRAKETEN und SEUCHENRAUM. Und dann sah er schluchzend vor Erleichterung einen Pfeil, der um eine rechtwinklige Ecke wies, und darüber das gesegnete Wort: AUSGANG.

Er ging um die Ecke, die Tür stand offen. Draußen die angenehm duftende Nacht. Er wollte auf die Tür zustürzen und hinaus, aber ein Mann in Jeans und grober Jacke trat davor und versperrte ihm den Weg. Stu blieb rutschend stehen, ein Schrei blieb ihm im Hals stecken. Als der Mann unter das trübe Licht der flackernden Neonlampen trat, sah Stu dort, wo sein Gesicht hätte sein müssen, nur einen kalten schwarzen Schatten, eine Schwärze, aus der zwei seelenlose rote Augen hervorstarrten. Keine Seele, aber Humor. Das war es; eine Art tanzende, irre Heiterkeit.

Der dunkle Mann streckte die Hände aus, und Stu sah, daß Blut von ihnen herabtropfte.

»Himmel und Erde«, flüsterte der dunkle Mann aus dem leeren Loch, wo sein Gesicht hätte sein müssen. »Der ganze Himmel und die ganze Erde.«

Dann war Stu aufgewacht.

Jetzt winselte und knurrte Kojak leise im Flur. Er zuckte im Schlaf sogar mit den Pfoten, und Stu nahm an, daß sogar Hunde träumten. Träumen war ganz normal, auch gelegentliche Alpträume.

Aber es dauerte lange, bis er wieder einschlafen konnte.

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