52

In den frühen Morgenstunden lag Mutter Abagail schlaflos im Bett. Sie versuchte zu beten.

Sie stand auf, ohne Licht zu machen, und kniete in ihrem weißen Baumwollnachthemd nieder. Sie legte ihre Stirn auf die Bibel, in der sie die Apostelgeschichte aufgeschlagen hatte. Die Wandlung des störrischen alten Saulus auf der Straße nach Damaskus. Er war vom Licht geblendet worden, und auf der Straße war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Die Apostelgeschichte war das letzte Buch in der Bibel, wo die Lehre noch von Wundern untermauert wurde, und was waren Wunder anderes als das Wirken der göttlichen Hand auf Erden?

Und oh, auch sie hatte Schuppen vor den Augen. Würden sie je abfallen?

Die einzigen Geräusche im Raum waren das Zischen der Öllampe, das Ticken der mechanischen Westclox und ihre leise, murmelnde Stimme.

»Zeig mir meine Sünde, Herr. Ich kenne sie nicht. Ich weiß, mir ist etwas entgangen, das Du mich sehen lassen wolltest. Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht kacken, und ich fühle Dich nicht, Herr. Es ist, als würde ich in ein totes Telefon beten, und das geschieht zu einer ungünstigen Zeit. Womit habe ich Dich beleidigt, Herr? Ich lausche, Herr. Ich lausche der leisen, kleinen Stimme in meinem Herzen.«

Und sie lauschte. Sie legte die arthritisgekrümmten Finger vor die Augen, beugte sich noch weiter nach vorne und versuchte, ihren Verstand zu klären. Aber dort war alles dunkel, so dunkel wie ihre Haut, so dunkel wie die fruchtbare Erde, die auf das gute Saatgut wartet.

»Bitte, Herr, bitte, Herr -«

Aber das Bild, das in ihr aufstieg, war das eines Sandweges in einem Meer von Mais. Dort stand eine Frau mit einem Sack voll frisch geschlachteter Hühner. Und die Wiesel kamen. Sie schossen vor und zerrten an dem Sack. Sie rochen das Blut - das alte Blut der Sünde und das frische Opferblut. Sie hörte die alte Frau die Stimme zu Gott erheben, aber ihre Stimme war schwach und kläglich, eine mürrische Stimme, die nicht demütig bat, daß Gottes Wille geschehe, welchen Platz sie auch immer in seinem Plan einnahm, sondern forderte, daß Gott sie rettete, damit sie ihre Arbeit vollenden konnte... ihre Arbeit... als würde sie Gottes Gedanken kennen und könnte seinen Willen dem ihren unterordnen. Die Wiesel wurden immer frecher; der Sack riß auf, wo sie an ihm zerrten und nagten. Ihre Finger waren zu alt, zu schwach. Und wenn sie die Hühner erst hatten, würden die Wiesel immer noch Hunger haben und sie anfallen. Sie würden...

Und dann stoben die Wiesel auseinander, rannten quiekend in die Nacht, ließen den halb verschlungenen Inhalt des Sacks zurück, und sie dachte voll Freude: Gott hat mich dennoch errettet! Gelobt sei sein Name! Gott hat seine gute und treue Dienerin errettet.

Nicht Gott, alte Frau. Ich.

In ihrer Vision wandte sie sich um; Angst fuhr ihr wie der Geschmack von Kupfer in die Kehle. Und aus dem Mais trat wie ein gezacktes silbernes Gespenst ein riesiger Bergwolf, höhnisch grinsend und mit aufgerissenem Rachen; um den Hals trug er einen Ring aus getriebenem Silber, ein Stück von barbarischer Schönheit, und an diesem Ring hing ein kleiner tiefschwarzer Gagat... in der Mitte hatte der Stein einen kleinen roten Fleck, wie ein Auge. Oder ein Schlüssel.

Sie bekreuzigte sich und hielt der gräßlichen Erscheinung das Zeichen gegen den bösen Blick entgegen, aber der Rachen grinste um so breiter, und zwischen den Kiefern bewegte sich der nackte rosa Muskel der Zunge.

Ich hole dich, Mutter. Nicht jetzt, aber bald. Wir werden dich jagen wie die Hunde das Wild. Ich bin alles, was du denkst, aber ich bin mehr. Ich bin der Magier. Ich bin der Mann, der für das letzte Zeitalter spricht. Deine eigenen Leute kennen mich am besten, Mutter. Sie nennen mich Johannes den Eroberer.

Geh! Laß ab von mir, im Namen Gottes des Allmächtigen!

Aber sie hatte entsetzliche Angst! Nicht um die Leute in ihrer Nähe, die in dem Traum durch die Hühner im Sack versinnbildlicht wurden, sondern um sich selbst. Die Angst saß tief in ihrer Seele, und sie hatte Angst um ihre Seele.

Dein Gott hat keine Macht über mich, Mutter. Sein Gefäß ist schwach.

Nein! Das ist nicht wahr! Meine Stärke ist wie die von zehn Männern, und ich werde mich erheben mit Adlerschwingen -

Aber der Wolf grinste nur und kam näher. Sie schrak vor seinem Atem zurück, der schwer und wild war. Dies war der Schrecken am Nachmittag, der Schrecken, der um Mitternacht flieht. Und sie hatte Angst. Eine extreme Angst. Und immer noch grinsend, fing der Wolf an, mit zwei Stimmen zu reden, fragte und antwortete sich selbst.

»Wer schlug das Wasser aus dem Fels, als uns dürstete?«

»Ich war es«, sagte der Wolf mit mürrischer, halb quäkender Stimme.

»Wer rettete uns, als wir schwach waren?« fragte der grinsende Wolf, dessen Schnauze nur noch Zentimeter von ihr entfernt war und dessen Atem den Gestank der Schlachthöfe trug.

»Ich war es«, winselte der Wolf, der immer noch näher kam; seine grinsende Schnauze war voll des spitzen Todes, die Augen rot und haßerfüllt. »Sinkt nieder und preist meinen Namen, denn in der Wüste bringe ich euch das Wasser, preiset meinen Namen, ich bin der gute und getreue Diener, der euch in der Wüste das Wasser bringt, und mein Name ist auch der Name meines Herrn...«

Das Maul des Wolfs öffnete sich weit, um sie zu verschlingen.




»... mein Name«, murmelte sie. »Preiset meinen Namen, lobet Gott, von dem aller Segen kommt, lobet ihn, ihr Kreaturen hier auf Erden...«

Sie hob den Kopf und sah sich wie betäubt im Zimmer um. Ihre Bibel war zu Boden gefallen. Im Fenster nach Osten zeigte sich das Licht der Dämmerung.

»O Herr!« schrie sie mit lauter und zitternder Stimme.

Wer schlug das Wasser aus dem Fels, als uns dürstete?

War es das? Lieber Gott, war es das? War das der Grund, warum sie Schuppen vor den Augen gehabt hatte und blind war für das, was sie wissen sollte?

Aus ihren Augen flössen bittere Tränen; sie stand langsam und unter Schmerzen auf und ging zum Fenster. Die Arthritis stach mit stumpfen Nadeln durch die Gelenke ihrer Hüften und Knie. Sie sah hinaus und wußte jetzt, was sie zu tun hatte. Sie ging zum Schrank zurück und zog das weiße Baumwollnachthemd über den Kopf, ließ es auf den Boden fallen. Jetzt stand sie nackt da und zeigte einen so faltigen und zerfurchten Leib, daß er das Bett des großen Stromes der Zeit hätte sein können.

»Dein Wille geschehe«, sagte sie und kleidete sich an. Eine Stunde später ging sie langsam durch die Mapletown Avenue nach Westen zu den waldigen Hängen der engen Schluchten jenseits der Stadt.




Stu war mit Nick im Kraftwerk, als Glen hereinstürzte. Ohne Vorrede sagte er: »Mutter Abagail. Sie ist weg.«

Nick sah ihn stechend an.

»Was redest du da?« fragte Stu und zog Glen gleichzeitig von den Leuten weg, die damit beschäftigt waren, Kupferdraht um eine der durchgeschmorten Turbinen zu wickeln.

Glen nickte. Er war mit dem Fahrrad die fünf Meilen hierher gefahren und immer noch ein wenig außer Atem.

»Ich wollte zu ihr, um ihr ein wenig von der Versammlung zu erzählen und ihr das Band vorzuspielen, falls sie es hören wollte. Sie sollte das mit Tom erfahren, weil mir die ganze Sache nicht gefällt... was Frannie gesagt hat, hat mich in der Nacht nicht losgelassen, glaube ich. Ich wollte es früh tun, denn Ralph hatte mir gesagt, dass heute zwei weitere Gruppen eintreffen, und du weißt ja, daß sie Wert darauf legt, die Leute zu begrüßen. Ich ging gegen halb neun zu ihr. Sie antwortete nicht auf mein Klopfen, und ich ging hinein. Wenn sie geschlafen hätte, wäre ich wieder gegangen... aber ich wollte nachsehen, ob sie nicht tot war oder so... sie ist so alt.«

Nick ließ keinen Blick von Glens Lippen.

»Aber sie war überhaupt nicht da. Und ich habe das auf ihrem Kopfkissen gefunden.« Er reichte ihnen ein Papierhandtuch. Sie hatte mit großen, zittrigen Buchstaben folgendes darauf geschrieben:


Ich werde eine Weile fort sein. Ich habe gesündigt und mir angemaßt, die Gedanken des Herrn zu kennen. Meine Sünde war STOLZ, und er will, daß ich meinen Platz in seiner Arbeit neu suche. Ich werde bald wieder bei Euch sein, wenn es Gottes Wille ist.

Abby Freemantle


»Also da soll doch gleich«, sagte Stu. »Was machen wir jetzt? Was meinst du, Nick?«

Nick nahm den Zettel und las ihn noch einmal. Er gab ihn Glen zurück. Sein Gesicht war nicht mehr böse, nur traurig.

»Ich glaube, wir müssen die Versammlung heute abend verschieben«, sagte Glen.

Nick schüttelte den Kopf. Er nahm seinen Block, schrieb, riß den Zettel ab und gab ihn Glen. Stu sah ihm über die Schulter.

»Der Mensch denkt, Gott lenkt. Der Spruch gefiel Mutter A., sie hat ihn oft zitiert. Glen, du hast selbst gesagt, sie sei fremdbestimmt; von Gott oder ihren eigenen Gedanken oder ihren Selbsttäuschungen oder was es auch sei. Was können wir machen? Sie ist weg. Wir können es nicht ändern.«

»Aber der Aufruhr...« fing Stu an.

»Natürlich wird es einen Aufruhr geben«, sagte Glen. »Nick, sollten wir nicht wenigstens eine Sitzung des Komitees einberufen und die Sache diskutieren?«

Nick schrieb: »Wozu? Was nützt uns eine Sitzung, wenn wir nichts bewerkstelligen können?«

»Wir könnten einen Suchtrupp auf die Beine stellen. Sie kann noch nicht weit sein.«

Nick malte einen doppelten Kreis um die Worte Der Mensch denkt, Gott lenkt. Darunter schrieb er: »Wenn ihr sie findet, wie wollt ihr sie zurückbringen? In Ketten?«

»Mein Gott, nein!« rief Stu. »Aber wir können sie doch nicht herumirren lassen, Nick! Sie hat die verrückte Idee, daß sie Gott beleidigt hat. Wenn sie nun denkt, daß sie dafür in die Wüste gehen muß wie jemand aus dem Alten Testament?«

Nick schrieb: »Ich bin sicher, daß sie genau das getan hat.«

»Da haben wir's!«

Glen legte Stu eine Hand auf den Arm. »Nun mal langsam, OstTexaner. Wir müssen uns über den Sinn der Sache klarwerden.«

»Zum Teufel mit dem Sinn! Ich sehe keinen Sinn darin, eine alte Frau Tag und Nacht in der Wildnis herumirren zu lassen, bis sie an Unterkühlung stirbt!«

»Sie ist nicht nur eine alte Frau. Sie ist Mutter Abagail, und hier ist sie der Papst. Wenn der Papst beschließt, nach Jerusalem zu wandern, würdest du dann als guter Katholik mit ihm darüber streiten?«

»Verdammt, das ist etwas anderes, das weißt du genau!«

»Es ist nichts anderes. Nein. Jedenfalls werden die Leute in der Freien Zone es so sehen. Stu, würdest du darauf schwören, dass Gott ihr nicht gesagt hat, sie soll in die Wildnis gehen?«

»Nein... aber...«

Nick hatte geschrieben und zeigte den Zettel Stu, der nicht gleich alle Worte entziffern konnte. Nick hatte sonst eine gestochene Handschrift, aber dies hatte er eilig, vielleicht ungeduldig geschrieben.

»Stu, das ändert nichts, außer daß es möglicherweise die Moral der Leute in der Freien Zone beeinträchtigen könnte. Aber auch das ist nicht sicher. Die Leute werden nicht gleich auseinanderlaufen, bloss weil sie weg ist. Es bedeutet nur, daß wir sie nicht gleich in unsere Pläne einweihen müssen. Das ist vielleicht ganz gut.«

»Ich werde noch verrückt«, sagte Stu. »Manchmal reden wir von ihr wie von einem Hindernis, das wir überwinden müssen, wie eine Straßensperre oder so was. Dann wieder tut ihr so, als wäre sie der Papst und könnte keinen Fehler machen, selbst wenn sie wollte. Und zufällig mag ich sie. Was willst du, Nicky? Daß im Herbst jemand in einer der Schluchten westlich der Stadt über ihre Leiche stolpert? Willst du sie dort draußen lassen, damit sie... eine heilige Mahlzeit für die Krähen abgibt?«

»Stu«, sagte Glen leise. »Es war ihre Entscheidung zu gehen.«

»Verdammt, was für ein Mist«, sagte Stu.




Um die Mittagszeit hatte sich die Nachricht von Mutter Abagails Verschwinden schon überall herumgesprochen. Wie Nick vorausgesagt hatte, herrschte eher betrübte Resignation als Entsetzen vor. Die Leute hatten das Empfinden, sie sei hinausgegangen, um zu beten und Gott um Rat zu bitten, damit sie ihnen auf der Massenversammlung am achtzehnten helfen konnte, den rechten Weg zu finden.

»Ich will sie nicht Gott nennen, denn das wäre Lästerung«, sagte Glen, als sie im Park eine Kleinigkeit aßen, » aber sie ist eine Art Stellvertreterin Gottes. Die Stärke des Glaubens einer Gemeinschaft läßt sich daran messen, wieviel schwächer der Glaube wird, wenn ihm sein empirisches Objekt entzogen wird.«

»Sag das noch mal.«

»Als Moses das goldene Kalb zertrümmert hat, haben die Israeliten es nicht mehr angebetet. Als eine Flutwelle den Tempel von Baal vernichtet hat, sind die Malachiten zu dem Ergebnis gekommen, dass er doch kein so toller Gott ist. Aber Jesus macht schon seit zweitausend Jahren Mittagspause, und die Leute folgen nicht nur immer noch seiner Lehre, sondern sie leben und sterben in dem Glauben, daß er eines Tages zurückkehren und damit wieder alles beim alten sein wird. So empfindet die Freie Zone gegenüber Mutter Abagail. Die Leute sind völlig sicher, daß sie zurückkommen wird. Hast du mit ihnen gesprochen?«

»Ja«, sagte Stu. »Es ist kaum zu glauben. Eine alte Frau irrt dort draußen herum, und alle sagen: Oho, ich frage mich, ob sie rechtzeitig zur Versammlung die Zehn Gebote auf Steintafeln mitbringt.«

»Vielleicht tut sie es ja«, sagte Glen ernst. »Übrigens sagen nicht alle Oho. Ralph Brentner rauft sich die Haare.«

»Schön für Ralph.« Er sah Glen eingehend an. »Und was ist mit dir, Platte? Wie denkst du über die ganze Sache?«

»Wenn du mich nur nicht so nennen würdest. Es ist so würdelos. Aber ich will dir mal was sagen... es ist ein bißchen komisch. Es stellt sich heraus, daß der alte Ost-Texaner gegen den Gotteszauber, den sie über diese Gemeinschaft gelegt hat, eher immun ist als der ungläubige alte Soziologe. Ich glaube, daß sie zurückkommen wird. Wie denkt Frannie darüber?«

»Ich weiß nicht. Ich habe sie den ganzen Morgen noch nicht gesehen. Womöglich ist sie auch dort draußen und ißt mit Mutter Abagail Heuschrecken und wilden Honig.« Er sah zu den Flatirons, die sich aus dem Dunst des frühen Nachmittags erhoben. »Mein Gott, Glen, ich hoffe nur, der alten Dame ist nichts passiert.«




Fran wußte nicht einmal, daß Mutter Abagail verschwunden war. Sie hatte den Vormittag in der Bibliothek verbracht und über Gartenbau gelesen. Und sie war nicht die einzige Studentin. Sie sah zwei oder drei Leute mit Büchern über Ackerbau, einen brillentragenden jungen Mann von etwa fünfundzwanzig mit einem Buch, das den Titel trug: Sieben unabhängige Energiequellen für Ihr Heim, und ein hübsches blondes Mädchen von ungefähr vierzehn Jahren mit einem zerlesenen Taschenbuch mit dem Titel 600 einfache Rezepte.

Gegen Mittag verließ sie die Bibliothek und ging zur Walnut Street hinunter. Sie war schon halb zu Hause, als sie Shirley Hammett traf, die ältere Frau, die mit Dayna, Susan und Patty Kroger gereist war. Shirleys Aussehen hatte sich seither auffallend verbessert. Jetzt sah sie wie eine hübsche, lebhafte Dame von Welt aus.

Sie blieb stehen und begrüßte Fran. »Was meinst du, wann kommt sie zurück? Ich habe jeden gefragt. Wenn diese Stadt eine Zeitung hätte, könnte ich es glatt als Umfrage veröffentlichen. >Was halten Sie von Senator Bungholes Stellungnahme zur Ölverknappung?< Was in der Art.«

»Wann wer zurückkommt?«

»Mutter Abagail natürlich. Wo warst du, Mädchen, in der Tiefkühltruhe?«

»Was soll das alles?« fragte Fran aufgeschreckt. »Was ist passiert?«

»Das ist es ja gerade. Niemand weiß es genau.« Und Shirley erzählte Fran, was vorgefallen war, während sich Fran in der Bibliothek aufgehalten hatte.

»Sie ist einfach... weggegangen?« fragte Frannie stirnrunzelnd.

»Ja. Selbstverständlich kommt sie zurück«, fügte Shirley zuversichtlich hinzu. »Das steht in dem Brief.«

»>Wenn es Gottes Wille ist?<«

»Ich bin sicher, das ist nur so ein Ausdruck«, sagte Shirley und sah Fran mit einer gewissen Kühle an.

»Nun... hoffentlich. Danke, daß du es mir gesagt hast, Shirley. Hast du immer noch Kopfschmerzen?«

»O nein. Die sind jetzt weg. Ich stimme für dich, Fran.«

»Hmmm?« Ihr Verstand war weit entfernt und jagte diesen neuen Informationen hinterher; einen Augenblick hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wovon Shirley sprach.

»Für das ständige Komitee«

»Oh. Ja, danke. Ich bin nicht mal sicher, ob ich den Job überhaupt will.«

»Ihr werdet es prima machen. Du und Susy. Aber jetzt muß ich los, Fran. Tschüs.«

Sie gingen auseinander. Fran hastete zur Wohnung, weil sie vor allem anderen Stu sehen wollte. So kurz nach dem Treffen gestern abend erfüllte das Verschwinden der alten Frau ihr Herz mit einer Art abergläubischem Grauen. Es gefiel ihr nicht, daß sie ihre wichtigsten Entscheidungen - zum Beispiel, Leute nach Westen zu schicken - nicht Mutter Abagail vorlegen konnten. Jetzt, da sie weg war, spürte Fran zuviel Verantwortung auf den eigenen Schultern. Als sie nach Hause kam, war die Wohnung leer. Sie hatte Stu um etwa fünfzehn Minuten verpaßt. Auf einem Zettel unter der Zuckerdose stand nur: »Bin 9:30 wieder da. Bin bei Ralph und Harold. Keine Sorge. Stu.«

Ralph und Harold? dachte sie und verspürte erneutes Grauen, das nichts mit Mutter Abagail zu tun hatte. Und warum sollte sie sich Sorgen um Stu machen? Mein Gott, wenn Harold versucht hat, etwas zu machen... nun, etwas Komisches... Stu würde ihn in Stücke reißen. Es sei denn... es sei denn, Harold schlich sich von hinten an und... <

Sie umklammerte die Ellbogen, fror, fragte sich, was Stu bei Harold und Ralph suchen konnte.

Bin 9:30 wieder da.

Herrgott, das war noch so lange.

Sie stand noch einen Augenblick in der Küche und betrachtete den Rucksack, den sie auf die Theke gestellt hatte.

Bin bei Ralph und Harold.

Das bedeutete, Harolds kleines Haus draußen an der Arapahoe würde heute abend bis gegen halb zehn verlassen sein. Es sei denn, sie waren dort, und wenn, konnte sie zu ihnen gehen und ihre Neugier befriedigen. Sie konnte mit dem Rad ganz schnell hinfahren. Wenn niemand dort war, fand sie vielleicht etwas, das sie beruhigen würde... oder... aber darüber wollte sie nicht nachdenken.

Dich beruhigen? nagte die innere Stimme. Oder alles noch schlimmer machen? Angenommen, du findest WIRKLICH Komisches? Was dann? Was wirst du unternehmen?

Sie wußte es nicht. Sie hatte nicht einmal den leisesten Schimmer einer Idee.

Keine Sorge. Stu.

Aber sie machte sich Sorgen. Der Daumenabdruck in ihrem Tagebuch bedeutete, daß es Grund zur Sorge gab. Denn ein Mann, der ein Tagebuch stahl und fremde Gedanken las, war ein Mann ohne Prinzipien und Skrupel. So ein Mann konnte sich durchaus hinter jemanden schleichen, den er haßte, und ihn aus der Höhe herunterstoßen. Oder einen Stein nehmen. Oder ein Messer. Oder eine Pistole.

Keine Sorge. Stu.

Wenn Harold so etwas tat, wäre er in Boulder erledigt. Und was konnte er dann machen?

Aber Fran wußte, was dann. Sie wußte nicht, ob Harold der Typ Mensch war, den sie sich ausgemalt hatte - noch nicht, nicht mit Bestimmtheit -, aber sie wußte tief in ihrem Herzen, daß es heute einen Platz für solche Menschen gab. O ja, wahrhaftiglich. Sie schnallte den Rucksack mit eckigen Bewegungen auf und ging zur Tür hinaus. Drei Minuten später radelte sie im hellen Nachmittagssonnenschein den Broadway entlang Richtung Arapahoe und dachte: Sie sitzen ganz bestimmt in Harolds Wohnzimmer, trinken Kaffee und reden über Mutter Abagail, und alles ist prima. Einfach prima.




Aber Harolds Haus war dunkel, verlassen... und abgeschlossen. Das an sich war in Boulder schon seltsam. Früher schloß man das Haus ab, damit niemand den Fernseher, die Juwelen der Frau oder die Stereo-Anlage stahl. Aber Fernseher und Stereo-Anlagen gab es umsonst, wenn man ohne Saft auch nichts mit ihnen anfangen konnte, und was Juwelen betraf, so konnte man jederzeit nach Denver fahren und sich einen Sack voll holen.

Warum schließt du deine Tür ab, Harold, wo alles umsonst ist? Weil niemand so viel Angst vor einem Einbruch hat wie ein Dieb? Könnte es das sein?

Sie war kein Schloßknacker. Sie hatte sich schon damit abgefunden, unverrichteter Dinge zu gehen, als ihr die Kellerfenster einfielen. Sie lagen dicht über dem Erdboden und waren staubblind. Das erste, das sie probierte, ließ sich seitlich aufschieben, gab quietschend nach; Dreck rieselte auf den Kellerboden.

Fran sah sich um, aber die Welt war still. Außer Harold hatte sich noch niemand an diesem entlegenen Ende der Arapahoe Street niedergelassen. Auch das war seltsam. Harold mochte lächeln, bis ihm das Gesicht platzte, den Leuten auf die Schultern klopfen, den Tag mit ihnen verbringen und ihnen seine Hilfe anbieten, wenn er darum gebeten wurde, und manchmal auch, wenn nicht; er mochte und konnte sich noch so beliebt machen - und Tatsache war, daß er in Boulder hohes Ansehen genoß. Aber wo er seinen Wohnort gewählt hatte... das stand wieder auf einem anderen Blatt, richtig?

Das zeigte eine etwas andere Ansicht Harolds über die Gesellschaft und seinen Platz darin... vielleicht. Vielleicht gefiel ihm auch einfach nur die Stille.

Sie zwängte sich durch das Fenster, wobei sie sich die Bluse schmutzig machte, und sprang auf den Boden. Jetzt war das Fenster in Augenhöhe. Sie war genausowenig Sportlerin wie Schloßknackerin und würde sich auf etwas stellen müssen, wenn sie wieder hinauswollte.

Fran sah sich um. Der Keller war zu einem Spiel- oder Hobbyraum ausgebaut. So etwas hat ihr Daddy immer gewollt, war aber nie dazu gekommen, dachte sie mit einem Anflug von Traurigkeit. In die mit Fichtenholz getäfelten Wände waren Quadrophonie-Lautsprecher eingelassen, die Decke war mit Holz verkleidet, sie sah einen Kasten mit Puzzlespielen und Büchern, eine elektrische Eisenbahn, eine Autorennbahn. In einer Ecke stand ein Tischhockeyspiel, auf das Harold achtlos eine Kiste Cola gestellt hatte. Es war ein Kinderzimmer gewesen, an den Wänden hingen Poster - das größte - mittlerweile alt und zerrissen - zeigte George Bush, der mit hoch erhobenen Händen und einem breiten Grinsen im Gesicht aus einer Kirche in Harlem herauskam. Die Legende, in großen roten Buchstaben, lautete: MAN KOMMT DEM KING OF ROCK AND ROLL NICHT MIT BOOGIE -WOOGIE DAHER!

Plötzlich war sie traurig wie... nun, wie schon lange nicht mehr, um ehrlich zu sein. Sie hatte Schock und Angst und regelrechtes Entsetzen erlebt und war vor Kummer wie betäubt gewesen, aber diese tiefe und quälende Traurigkeit war etwas Neues. Mit ihr kam ein plötzliches Heimweh nach Ogunquit, nach dem Meer, nach dem schönen Maine mit seinen Hügeln und Tannenwäldern. Ohne ersichtlichen Grund mußte sie plötzlich an Gus denken, den Wachmann auf dem öffentlichen Strandparkplatz von Ogunquit, und einen Moment dachte sie, ihr Herz würde vor Kummer und Verlust zerspringen. Was hatte sie hier zwischen den Ebenen und den Bergen, die das Land durchteilten, verloren? Es war nicht ihre Heimat. Sie gehörte nicht hierher.

Sie schluchzte, und es hörte sich so verzweifelt und einsam an, dass sie sich zum zweiten Mal an diesem Tag die Hände vor den Mund schlug. Schluß, frannte, altes Mädchen. Über etwas so Großes kommt man nicht so schnell hinweg. Nur ganz allmählich. Und wenn du unbedingt heulen mußt, dann später und nicht ausgerechnet in Harold Lauders Keller. Erst das Geschäft.

Auf dem Weg zur Treppe ging sie an dem Poster vorbei, und ein bitteres, kurzes Lächeln huschte über ihr Ges icht, als sie an George Bushs grinsendem und unermüdlich fröhlichem Gesicht vorbeiging.

Dir sind sie ganz schön mit einem Boogie-Woogie dahergekommen, dachte sie. Jedenfalls irgendwer.

Als sie oben auf der Kellertreppe war, kam sie zur Überzeugung, die Tür würde verschlossen sein, aber sie ließ sich mühelos öffnen. Die Küche war ordentlich und blitzblank, das Geschirr war gespült und trocknete auf der Spüle, der kleine Coleman-Gasofen war abgewaschen und funkelte... aber alter Fettgeruch hing noch in der Luft wie ein Geist von Harolds altem Wesen, dem Harold, der in ihr Leben getreten war, als er am Steuer von Roy Brannigans Cadillac hinter ihrem Haus vorgefahren war, wo sie gerade ihren Vater begrub.

Ich würde ganz schön in der Klemme sitzen, wenn Harold ausgerechnet jetzt zurückkäme, dachte sie. Bei dem Gedanken sah sie plötzlich über die Schulter. Sie rechnete fest damit, Harold unter der Wohnzimmertür stehen und sie angrinsen zu sehen. Es war niemand da, aber ihr Herz schlug unangenehm gegen die Rippen. In der Küche war nichts, daher ging sie ins Wohnzimmer. Dort war es so dunkel, daß sie nervös wurde. Harold schloß nicht nur die Tür ab, er hatte auch die Jalousien heruntergelassen. Wieder war ihr, als würde sie Zeugin einer unterbewußten äußerlichen Manifestation von Harolds Persönlichkeit werden. Warum sollte jemand die Jalousien in einer kleinen Stadt herunterlassen, wo die Lebenden daran die Häuser der Toten erkannten?

Das Wohnzimmer war, genau wie die Küche, makellos sauber, aber das Mobiliar war alt und sah verwohnt aus. Das Schönste in dem Zimmer war ein riesiger, gemauerter Kamin mit so breitem Sims, dass man darauf sitzen konnte. Sie setzte sich tatsächlich einen Moment und sah sich nachdenklich um. Als sie sich bewegte, spürte sie einen lockeren Stein unter dem Allerwertesten und wollte gerade aufstehen und ihn sich ansehen, als jemand an der Tür klopfte. Angst senkte sich auf sie wie eine erstickende Last Federn. Sie war plötzlich wie gelähmt vor Entsetzen. Ihr Atem stockte, und sie sollte erst später bemerken, daß sie ein wenig eingenäßt hatte. Es klopfte wieder, sechs rasche, feste Schläge.

Mein Gott, dachte sie. Aber die Jalousien sind runtergelassen. Gott sei Dank, wenigstens das.

Diesem Gedanken folgte eine plötzliche, eiskalte Gewißheit, daß sie ihr Fahrrad draußen gelassen hatte, wo jeder es sehen konnte. Ja? Sie versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, aber sie bekam lange nichts zusammen, außer Gestammel, das auf beunruhigende Weise vertraut war: Bevor du den Splitter aus dem Auge deines Nächsten entfernst, nimm den Balken aus deinem eigenen ...

Es klopfte wieder, dann eine Frauenstimme: »Jemand daheim?«

Fran saß stockstill da. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie das Fahrrad hinten abgestellt hatte, unter Harolds Wäscheleine. Von vorne nicht zu sehen. Aber wenn Harolds Besucherin es an der Hintertür versuchte...

Der Knauf der Eingangstür - Frannie konnte ihn durch den kurzen Dielenabschnitt sehen - drehte sich in frustrierten Halbkreisen hin und her.

Wer sie auch sein mag, hoffentlich hat sie von Schlössern genauso wenig Ahnung wie ich, dachte Frannie und mußte sich wieder die Hände vor den Mund halten, um einen irren Lachanfall zurückzuhalten. Sie sah auf ihre Hose und merkte, daß sie wirklich große Angst gehabt haben mußte. Wenigstens war es keine Scheißangst, dachte Fran. Noch nicht. Das Lachen wollte aus ihr heraus, es war hysterisch und entsetzt, dicht unter der Oberfläche.

Mit unbeschreiblicher Erleichterung hörte sie Schritte sich entfernen und über den Beton von Harolds Einfahrt zur Straße gehen.

Was Frannie als nächstes tat, war keine bewußte Entscheidung. Sie lief nach vorn und spähte durch den schmalen Spalt zwischen Jalousie und Fensterrahmen. Sie sah eine Frau mit langem dunklen Haar, das weiße Streifen hatte. Diese stieg auf einen kleinen VespaMotorroller, der am Bordstein parkte. Als der Motor ansprang, warf sie das Haar zurück und steckte es fest.

Das ist diese Cross - die mit Larry Underwood gekommen ist! Kennt sie Harold?

Dann legte Nadine den Gang ein. Sie fuhr ruckartig an und war bald nicht mehr zu sehen. Fran stieß einen lauten Seufzer aus; ihre Beine wurden zu Wasser. Sie machte den Mund auf, um das Lachen herauszulassen, das unter der Oberfläche blubberte, und wußte schon, wie es sich anhören würde - zitterig erleichtert. Statt dessen fing sie an zu weinen.

Fünf Minuten später - zu nervös, um sich weiter umzusehen - schob sie einen Korbstuhl ans Kellerfenster und kletterte nach draußen. Es gelang ihr, ihn ein Stück wegzuschieben, damit nicht auffiel, dass jemand darauf aus dem Fenster gestiegen war. Er stand noch immer nicht so wie vorher, aber so etwas bemerken die Leute meistens nicht... und es sah nicht so aus, als ob Harold den Keller benutzte, außer als Vorratskammer für seine Cola.

Sie schob das Fenster wieder zu und nahm ihr Fahrrad. Wenigstens trocknen meine Hosen, dachte sie. Wenn du das nächste Mal einbrechen gehst, Frances Rebecca, solltest du lieber eine Gummihose tragen.

Sie strampelte aus Harolds Garten, bog so schnell wie möglich von der Arapahoe Street ab und fuhr über den Canyon Boulevard zur Innenstadt. Fünfzehn Minuten später war sie wieder in ihrer Wohnung.

Dort war es totenstill.

Sie schlug ihr Tagebuch auf, betrachtete den schmutzigen Fingerabdruck und überlegte sich, wo Stu sein konnte. Sie fragte sich, ob Harold bei ihm war.

O Stu, bitte komm nach Hause. Ich brauche dich.




Nach dem Mittagessen hatte Stu sich von Glen verabschiedet und war nach Hause gegangen. Er hatte eine Weile düster im Wohnzimmer gesessen, überlegt, wo Mutter Abagail sein mochte und sich gefragt, ob Nick und Glen recht hatten, wenn sie die Sache auf sich beruhen lassen wollten, als es klopfte. »Stu?« rief Ralph Brentner. »Hallo, Stu, bist du da?« Harold Lauder war bei ihm. Harolds Lächeln war heute gedämpft, aber nicht ganz verschwunden; er sah aus wie ein fröhlicher Hinterbliebener, der bei der Beerdigung ernst wirken will.

Ralph, der wegen Mutter Abagails Verschwinden tief betrübt war, hatte Harold vor einer halben Stunde getroffen, als Harold auf dem Heimweg war, nachdem er einer Gruppe geholfen hatte, Wasser vom Boulder Creek zu holen. Ralph mochte Harold, der immer Zeit zum Zuhören und Trösten hatte, wenn jemand eine traurige Geschichte loswerden wollte... und Harold schien nie eine Gegenleistung zu erwarten. Ralph hatte ihm von Mutter Abagails Verschwinden und seinen Befürchtungen erzählt, sie könnte einen Herzanfall erleiden, sich einen ihrer spröden Knochen brechen oder an Unterkühlung sterben, wenn sie nachts draußen blieb.

»Du weißt ja, es regnet jetzt schon jeden verdammten Nachmittag«, sagte Ralph, während Stu Kaffee einschenkte. »Wenn sie durchnäßt wird, erkältet sie sich bestimmt. Was dann? Wahrscheinlich Lungenentzündung.«

»Was können wir unternehmen?« fragte Stu die beiden. »Wir können sie nicht mit Gewalt zurückholen, wenn sie nicht will.«

»Das nicht«, gab Ralph zu. »Aber Harold hat eine echt gute Idee.«

Stu sah ihn an. »Wie geht es dir überhaupt, Harold?«

»Ganz gut. Und dir?«

»Prima.«

»Und Fran? Paßt du gut auf sie auf?« Harold sah Stu unverwandt an, und seine Augen behielten ihren freundlichen und leicht belustigten Ausdruck, aber einen Moment erinnerten Harolds lächelnde Augen Stu an Sonnenlicht auf dem Wasser von Breekman's Quarry zu Hause - das Wasser sah so einladend aus, aber unter seiner Oberfläche lagen schwarze Tiefen, die nie ein Sonnenstrahl erreichte, und in diesem Wasser hatten im Laufe der Jahre vier Jungen ihr Leben gelassen.

»So gut ich kann«, sagte er. »Was für eine Idee, Harold?«

»Hör zu. Ich verstehe Nicks Standpunkt. Glens auch. Sie haben erkannt, daß die Freie Zone Mutter Abagail als theokratisches Symbol sieht... und sie sind ja jetzt gewissermaßen Sprecher der Zone, oder nicht?«

Stu trank Kaffee. »Theokratisches Symbol, was meinst du damit?«

»Ich würde es ein irdisches Symbol für einen Bund mit Gott nennen«, sagte Harold, und seine Augen verschleierten sich ein wenig. »Wie die heilige Kommunion oder heilige Kühe in Indien.«

Darüber dachte Stu ein wenig nach. »Ja, sehr gut. Diese Kühe... sie lassen sie auf den Straßen laufen, wo sie Verkehrsstaus verursachen, richtig? Sie dürfen in den Läden ein und aus gehen und die Stadt ganz verlassen.«

»Ja«, stimmte Harold zu. »Aber die meisten Kühe sind krank, Stu. Sie stehen immer kurz vor dem Verhungern. Viele sind tuberkulös. Und alles nur, weil sie in ihrer Gesamtheit ein Symbol sind. Die Leute sind überzeugt, daß Gott für sie sorgen wird, genau wie unsere Leute überzeugt sind, daß er für Mutter Abagail sorgen wird. Aber ich habe meine Zweifel hinsichtlich eines Gottes, der es zuläßt, daß eine arme dumme Kuh so leiden muß.«

Ralph sah momentan unbehaglich drein, und Stu wußte, was er empfand. Er empfand es auch; daran konnte er ermessen, was Mutter Abagail auch für ihn bedeutete. Was Harold sagte, grenzte an Blasphemie.

»Jedenfalls«, sagte Harold rasch und ließ das Thema >heilige Kühe in Indien< fallen, »können wir die Einstellung der Leute zu ihr nicht ändern...«

»Das wollen wir auch nicht«, sagte Ralph schnell.

»Richtig!« rief Harold. »Sie hat uns alle schließlich zusammengebracht, und zwar nicht durch Kurzwellenfunk. Aber mein Gedanke war, daß wir uns auf unsere treuen Motorräder schwingen und den Nachmittag damit verbringen, die westliche Umgebung von Boulder zu erkunden. Wenn wir dicht zusammen bleiben, können wir uns per Walkie-talkie verständigen.«

Stu nickte. Das hatte er die ganze Zeit vorgehabt. Heilige Kühe oder nicht, Gott oder nicht, es war falsch, sie allein in der Wildnis umherirren zu lassen. Das hatte nichts mit Religion zu tun; so etwas zu tun war schlicht und einfach gemeine Gleichgültigkeit.

»Und wenn wir sie finden«, sagte Harold, »können wir sie fragen, ob sie etwas braucht.«

»Zum Beispiel eine Fahrt in die Stadt«, mischte sich Ralph ein.

»Jedenfalls können wir sie im Auge behalten«, sagte Harold.

»Okay«, sagte Stu. »Ein prima Vorschlag. Ich will nur Fran noch rasch einen Zettel schreiben.«

Aber während er schrieb, verspürte er dauernd den Drang, über die Schulter zu blicken und Harold zu betrachten - um zu sehen, was Harold trieb, wenn Stu nicht hinsah, und was für ein Ausdruck in Harolds Augen sein mochte.




Harold hatte sich das gewundene Stück Straße zwischen Boulder und Nederland ausgebeten und bekommen, denn hier vermutete er sie am allerwenigsten. Er glaubte nicht, daß er den Weg von Boulder nach Nederland an einem Tag geschafft hätte, ganz zu schweigen von der verrückten alten Fotze. Aber es war eine angenehme Fahrt, und sie gab ihm Zeit zum Nachdenken.

Jetzt, Viertel vor sieben, war er auf dem Rückweg. Seine Honda stand auf einem Rastplatz, er saß an einem Picknicktisch und genoss Cola und ein paar Slim Jims. Das Walkie-talkie hing mit ausgefahrener Antenne am Lenker der Honda, Ralphs Stimme knisterte leise darin. Es waren Geräte mit kurzer Reichweite, und Ralph war irgendwo oben auf dem Flaggstaff Mountain.

»...Sunrise Amphitheater... keine Spur von ihr... hier oben stürmt es ganz schön.«

Dann Stus Stimme, lauter und näher. Er war im Chautauqua Park, nur vier Meilen von Harold entfernt. »Wiederholen, Ralph.«

Wieder Ralphs Stimme, diesmal brüllend. Vielleicht bekam er einen Herzschlag, dachte Harold. Das würde den Tag wunderbar beenden.

»Hier oben keine Spur von ihr. Ich komme runter, bevor es dunkel wird. Ende.«

»Zehn-vier«, sagte Stu resigniert. »Harold, bist du da?« Harold stand auf und wischte sich Slim-Jim-Fett an den Jeans ab. »Harold? Ich rufe Harold Lauder! Kannst du mich hören, Harold?«

Harold zeigte mit dem Mittelfinger - den Fickfinger hatten die Neandertaler der High School in Ogunquit ihn genannt - auf das Walkie-talkie; dann drückte er die Sprechtaste und sagte freundlich, aber mit genau dem richtigen Tonfall von Enttäuschung: »Ich bin hier. Ich war nicht auf der Straße... dachte, ich hätte was im Graben gesehen. War aber nur eine alte Jacke. Ende.«

»Ja, okay. Komm doch nach Chautauqua, Harold. Da warten wir auf Ralph.«

Kommandierst gern rum, Arschloch, was? Vielleicht hab' ich was für dich. Ja, vielleicht.

»Harold, hörst du mich noch?«

»Ja. Tut mir leid, Stu, ich hab' geträumt. Ich bin in fünfzehn Minuten da.«

»Hast du verstanden, Ralph?« bellte Stu, und Harold zuckte zusammen. Wieder zeigte er Stus Stimme den Mittelfinger und grinste dabei verstohlen. Nimm das, du Wildwestwichser.

»Verstanden, komme zum Chautauqua Park«, kam Ralphs Stimme schwach durch das Rauschen der Statik. »Bin unterwegs. Ende und aus.«

»Bin auch unterwegs«, sagte Harold. »Ende und aus.«

Er schaltete das Walkie-talkie aus, schob die Antenne zusammen und hing das Gerät wieder an den Lenker, aber er blieb noch eine Weile auf seiner Honda sitzen, ohne den Kickstarter zu treten. Er trug eine Fliegerjacke aus Armeebeständen, deren dickes Futter gut war, wenn man im August in achtzehnhundert Meter Höhe mit dem Motorrad unterwegs war. Aber die Jacke hatte noch einen Vorteil. Sie hatte viele Taschen mit Reißverschluß, und in einer davon steckte eine Achtunddreißiger Smith & Wesson. Harold zog den Revolver heraus und ließ ihn von einer Hand in die andere gleiten. Dieser war vollgeladen und lag schwer in seiner Hand, als wäre ihm klar, daß sein Zweck ernst war: Tod, Vernichtung, Ermordung. Heute abend?

Warum nicht?

Er hatte diese Expedition angeregt, weil er hoffte, er könnte lange genug mit Stu allein sein, um es über die Bühne zu bringen. Jetzt sah es aus, als hätte er die Chance in weniger als fünfzehn Minuten im Chatauqua Park. Aber die Reise hatte noch einen anderen Zweck erfüllt.

Er hatte nicht vorgehabt, ganz nach Nederland zu fahren, einem erbärmlichen kleinen Kaff hoch über Boulder, eine Ortschaft, deren einziger Anspruch auf Ruhm darin bestand, daß Patty Hearst dort angeblich einmal auf der Flucht übernachtet hatte. Aber während er nach oben fuhr, die Honda gleichmäßig zwischen seinen Beinen summte und ihm die Luft kalt wie eine Rasierklinge ins Gesicht schnitt, war etwas geschehen.

Wenn man einen Magneten an ein Tischende und ein Stück Eisen ans andere legt, passiert nichts. Wenn man das Eisen langsam, in kleinen Schritten näher an den Magneten schubst (dieses Bild hielt er eine Weile in Gedanken, erfreute sich daran und nahm sich vor, es heute abend in sein Tagebuch zu schreiben), kommt einmal der Zeitpunkt, da der Schubs das Eisenstück weiter bringt, als normal wäre. Das Eisenstück kommt zum Stillstand, aber scheinbar widerwillig, als hätte es ein Eigenleben entwickelt, zu dem auch die Weigerung gehört, dem physikalischen Gesetz der Trägheit zu gehorchen. Noch einen Schubs oder zwei, und man kann fast - vielleicht sogar tatsächlich - sehen, wie das Eisenstück auf dem Tisch vibriert und scheinbar hüpft und zittert wie eine mexikanische Springbohne, die man in Scherzartikelläden kaufen kann - sie sehen aus wie ein knöchelgroßes Stück Holz, haben aber in Wirklichkeit einen lebenden Wurm in sich. Noch ein Schubs, und das Gleichgewicht zwischen Reibung/Trägheit und der magnetischen Anziehungskraft neigt sich auf die andere Seite. Das Eisenstück bewegt sich, inzwischen völlig zum Leben erwacht, aus eigenem Antrieb weiter, schneller und schneller, bis es schließlich auf den Magneten prallt und dort haften bleibt.

Ein gräßlich faszinierender Vorgang.

Als in diesem Juni das Ende der Welt gekommen war, hatte man die Kraft des Magnetismus immer noch nicht völlig verstanden gehabt, doch Harold (dessen Verstand nie rational-wissenschaftlicher Prägung gewesen war) glaubte, die Physiker, die so etwas studierten, wären der Meinung gewesen, sie hätte etwas mit der Schwerkraft zu tun, und die Schwerkraft war der Grundstein des Universums.

Auf dem Weg nach Nederland, Richtung Westen, nach oben, während die Luft ringsum immer kälter wurde und er sah, wie sich Gewitterwolken um die höheren Berggipfel jenseits von Nederland zusammenzogen, hatte Harold diesen Vorgang in sich selbst zu spüren begonnen. Er näherte sich dem Punkt des Gleichgewichts... und nicht mehr lange, dann würde er den Punkt erreichen, wo der Sog zu wirken anfing. Er war ein Eisenstück in genau der Entfernung vom Magneten, wo ein Schubs es weiter als unter normalen Umständen transportiert. Er konnte die Vibration in sich spüren. Es kam einem heiligen Erlebnis so nahe wie noch nichts in seinem Leben. Die Jugend leugnet das Heilige, weil dessen Anerkennung bedeutet, den eventuellen Tod aller empirischen Objekte anzuerkennen, und Harold lehnte es ebenfalls ab. Die alte Frau war irgendwie übersinnlich begabt, hatte er gedacht, ebenso Flagg, der dunkle Mann. Sie waren menschliche Funksender, mehr nicht. Ihre wahre Macht würde in den Gesellschaften liegen, die sich rings um ihre Signale herum bildeten, welche so verschieden voneinander waren. Hatte er gedacht.

Aber als er auf seiner geparkten Honda am Ende der mickrigen Hauptstraße von Nederland saß, das Kontrollicht der Honda neutral wie ein Katzenauge leuchtete und er dem winterlichen Heulen des Windes in den Pinien und Espen lauschte, verspürte er mehr als nur magnetische Anziehung. Er spürte eine gewaltige, irrationale Macht aus Westen kommen, eine derart große Faszination, daß er das Gefühl hatte, wenn er sich jetzt näher damit beschäftigte, würde er verrückt werden. Er hatte das Gefühl, wenn er sich viel weiter über den Punkt des Gleichgewichts hinauswagte, würde er jeden freien Willen verlieren. Er würde so aufbrechen, wie er war, mit leeren Händen.

Und dafür würde der dunkle Mann ihn töten, obwohl ihn eigentlich keine Schuld traf.

Daher hatte er sich mit der freudlosen Erleichterung eines potentiellen Selbstmörders abgewendet, der lange in einen tiefen Abgrund geblickt hat. Aber wenn er wollte, könnte er noch heute gehen. Ja, er könnte Redman mit einer einzigen Kugel aus nächster Nähe erschießen. Dann vor Ort bleiben, eiskalt bleiben und warten, bis dieser Dorftrottel aus Oklahoma auftauchte. Noch ein Schuß in die Schläfe. Niemand würde sich um die Schüsse kümmern; es gab genug Wild, und viele Leute ballerten auf das Wild, das in die Stadt kam.

Es war jetzt zehn vor sieben. Bis halb acht könnte er sie beide erledigt haben. Franny würde frühestens um halb elf Alarm schlagen, bis dahin konnte er längst weg sein und mit der Honda samt Rucksack und Hauptbuch nach Westen fahren. Aber soweit würde es nicht kommen, wenn er nur hier auf dem Motorrad saß und Zeit verrinnen ließ.

Die Honda sprang beim zweiten Tritt an. Eine gute Maschine. Harold lächelte. Harold grinste. Harold strahlte richtiggehend Fröhlichkeit aus. Er fuhr zum Chautauqua Park.




Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, als Stu Harolds Motorrad in den Park fahren hörte. Einen Augenblick später sah er den Scheinwerfer der Honda zwischen den Bäumen aufblitzen, die an der steilen Zufahrt zum Park standen. Dann sah er, wie sich Harolds Kopf samt Helm nach rechts und links drehte und ihn suchte. Stu, der auf dem Rand eines gemauerten Grills saß, winkte und rief. Augenblicke später sah Harold ihn, winkte zurück und tuckerte im zweiten Gang näher.

Seit der gemeinsamen Expedition der drei heute nachmittag hatte Stu eine bessere Meinung von Harold... sogar besser denn je. Harolds Vorschlag war verdammt gut gewesen, auch wenn ihre Suche ergebnislos geblieben war. Und Harold hatte darauf bestanden, die Straße nach Nederland abzusuchen ... da oben mußte es trotz seiner warmen Jacke ziemlich kalt gewesen sein. Als er anhielt, sah Stu, daß Harolds ständiges Grinsen mehr einer Grimasse glich; sein Gesicht wirkte angespannt und zu blaß. Enttäuscht, daß es nicht besser gelaufen ist, dachte Stu. Plötzlich verspürte er Schuldgefühle, weil er und Frannie Harold so schlecht behandelt hatten, als wären sein ständiges Grinsen und der überfreundliche Umgang mit den Leuten eine Art Tarnung. Hatten sie eigentlich je die Möglichkeit erwogen, daß der Bursche vielleicht wirklich versuchte, eine neue Seite von sich aufzuschlagen und nur deshalb so komisch vorging, weil er so etwas noch nie im Leben versucht hatte? So war es wohl, überlegte Stu.

»Nichts, hm?« fragte er Harold und sprang mit taubem Gefühl vom Grill herab.

»De nada«, sagte Harold. Das Grinsen kam wieder, aber es war automatisch, ohne Kraft, wie ein Starrkrampf. Sein Gesicht sah immer noch seltsam und leichenblaß aus. Er hatte die Hände in den Jackentaschen stecken.

»Macht nichts. Der Vorschlag war gut. Wer weiß, vielleicht ist sie schon wieder im Haus. Wenn nicht, suchen wir morgen weiter.«

»Dann suchen wir vielleicht nach einer Leiche.«

Stu seufzte. »Vielleicht... ja, vielleicht. Harold, möchtest du heute abend zum Essen vorbeikommen?«

»Was?« Harold schien in der zunehmenden Düsternis unter den Bäumen zusammenzuzucken. Sein Grinsen wirkte noch verkrampfter als vorher.

»Essen«, sagte Stu geduldig. »Frannie würde sich auch freuen, dich zu sehen. Ohne Quatsch. Wirklich.«

»Ja, vielleicht«, sagte Harold, der immer noch unbehaglich dreinsah.

»Aber ich bin... ich war mal in sie... du weißt schon. Vielleicht ist es besser, wenn wir... es vorerst lassen. Das ist nicht persönlich gemeint. Ihr zwei paßt gut zusammen. Das weiß ich.« Sein Lächeln strahlte wieder vor Aufrichtigkeit. Es war ansteckend; Stu lächelte auch.

»Du mußt es wissen, Harold. Aber die Tür steht dir jederzeit offen.«

»Danke.«

»Nein, ich muß dir danken«, sagte Stu ernst.

Harold blinzelte. »Mir?«

»Daß du uns suchen geholfen hast, wo alle anderen der Natur ihren Lauf lassen wollten. Auch wenn nichts dabei herausgekommen ist. Hand drauf?« Stu streckte die Hand aus. Harold starrte sie eine Weile unentschlossen an, und Stu glaubte nicht, daß er seine Geste akzeptieren würde. Dann nahm Harold die rechte Hand aus der Jackentasche - sie schien an etwas hängenzubleiben, vielleicht am Reißverschluß - und schüttelte Stu kurz die Hand. Harolds Hand war warm und verschwitzt.

Stu trat vor ihn und sah zur Einfahrt. »Ralph müßte schon da sein. Hoffentlich hat er keinen Unfall auf der Bergstrecke gehabt. Er... da ist er ja.«

Stu ging zum Straßenrand vor; ein zweiter Scheinwerfer blitzte jetzt in der Einfahrt auf und spielte Verstecken zwischen der Abschirmung der Bäume.

»Ja, das ist er«, sagte Harold mit seltsam gepreßter Stimme hinter ihm.

»Da kommt noch jemand«, sagte Stu.

»W-was?«

»Da.« Stu deutete auf einen zweiten Motorradscheinwerfer hinter dem ersten.

»Oh.« Wieder diese seltsam gepreßte Stimme. Stu drehte sich um.

»Alles klar, Harold?«

»Nur müde.«

Das zweite Fahrzeug gehörte Glen Bateman; es war ein Moped, die einzige Form von Motorrad, an die er sich gewöhnen konnte; Nadines Vespa wirkte dagegen wie eine Harley. Hinter Ralph sass Nick Andres als Sozius.

Nick lud sie alle auf Kaffee und/oder Brandy ins Haus ein, das er mit Ralph bewohnte. Stu war einverstanden, aber Harold, der abgespannt und müde wirkte, lehnte ab.

Er ist so verdammt enttäuscht, dachte Stu und überlegte, daß er nicht nur zum ersten Mal Sympathie für Harold empfand, sondern es auch höchste Zeit dafür war. Er wiederholte Nicks Einladung noch einmal, aber Harold schüttelte nur den Kopf und sagte Stu, er hätte genug für heute. Er wollte nur heim und ausschlafen. Als Harold zu Hause ankam, zitterte er so heftig, daß er kaum den Schlüssel ins Türschloß brachte. Als er die Tür endlich geöffnet hatte, stürzte er ins Haus, als hätte er Angst, ein Wahnsinniger würde sich hinter ihm auf dem Gehweg anschleichen. Er schlug die Tür zu, schloß ab, schob den Riegel vor. Dann lehnte er sich einen Moment mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen gegen die Tür und war am Rande eines hysterischen Weinkrampfs. Als er sich wieder in der Gewalt hatte, tastete er sich durch die Diele ins Wohnzimmer und zündete alle drei Gaslampen an. Das Zimmer wurde hell, und hell war besser.

Er setzte sich in seinen Lieblingssessel und machte die Augen zu. Als sein Herz langsamer schlug, ging er zum Kamin, nahm den losen Stein heraus und holte das HAUPTBUCH. Es beruhigte ihn. In einem Hauptbuch verzeichnete man Schulden, Außenstände und Kapitalerträge. In einem Hauptbuch wurde letztendlich alles abgerechnet.

Er setzte sich wieder, schlug die Seite auf, wo er aufgehört hatte, zögerte und schrieb dann: 14. August 1990. Er schrieb fast anderthalb Stunden lang; sein Kugelschreiber füllte Zeile für Zeile, Seite für Seite. Sein Gesicht war beim Schreiben abwechselnd grimmig amüsiert und düster rechtschaffen, entsetzt und erfreut, verletzt und heiter. Als er fertig war, las er durch, was er geschrieben hatte (»Dies sind meine Briefe an die Welt/die mir nie geschrieben hat...«) und massierte sich dabei abwesend die schmerzende rechte Hand.

Er verbarg das Hauptbuch wieder unter dem lockeren Stein. Er war ruhig; er hatte alles aus sich herausgeschrieben; er hatte sein Entsetzen und seine Wut auf die Seiten fließen lassen, und sein Wille war stark. Das war gut. Manchmal machte der Vorgang des Schreibens ihn unruhig, und dann wußte er, daß er falsch geschrieben hatte oder ohne die Anstrengung, welche erforderlich war, die stumpfe Kante der Wahrheit dahingehend zu schleifen, dass sie schneiden konnte - daß sie Blut fließen ließ. Aber heute abend konnte er das Buch ruhig und gelassen zurücklegen. Wut und Angst und Hilflosigkeit waren wohlbehalten in das Buch übertragen worden, und darüber kam ein Stein, der alles fernhielt, während er selbst schlief.

Harold zog eine Jalousie hoch und sah auf die stumme Straße hinaus. Während er die Flatirons betrachtete, dachte er ruhig darüber nach, daß er nahe daran gewesen war, es einfach doch zu tun, einfach den Achtunddreißiger herauszuziehen und alle vier umzunieten. Das hätte es ihrem stinkenden, selbstgefälligen Ad-hocKomitee gezeigt. Wenn er mit ihnen fertig gewesen wäre, hätten sie nicht einmal eine beschlußfähige Mehrheit mehr übrig gehabt. Aber im letzten Augenblick hatte ein letzter Faden der Vernunft gehalten, anstatt zu reißen. Er war imstande gewesen, die Waffe loszulassen und dem falschen Halunken die Hand zu drücken. Wie, das wußte er nicht, aber es war Gott sei Dank gelungen. Ein Genie erkennt man an seiner Fähigkeit, den rechten Zeitpunkt abzuwarten - und das würde er.

Jetzt war er müde; es war ein langer und ereignisreicher Tag gewesen.

Während er sich das Hemd aufknöpfte, schaltete Harold zwei der drei Gaslampen aus und nahm die letzte, um ins Schlafzimmer zu gehen. Als er durch die Küche ging, blieb er wie angewurzelt stehen. Die Tür zum Keller stand offen.

Er ging hin, hob die Eampe hoch und schritt die ersten drei Stufen hinunter. Angst schlich sich in sein Herz und vertrieb die Ruhe.

»Wer ist da?« rief er. Keine Antwort. Er sah das Hockeyspiel. Die Poster. In der hinteren Ecke ein paar buntgestreifte Krocketschläger in ihrem Gestell.

Er ging noch drei Stufen hinunter. »Ist da jemand?«

Nein, er hatte nicht das Gefühl. Aber das vertrieb die Angst nicht. Er ging ganz nach unten und hielt die Lampe hoch über den Kopf; auf der anderen Seite des Zimmers folgte ein monströser SchattenHarold, so riesig und schwarz wie der Affe in der Rue Morgue, seinem Beispiel.

War da etwas auf dem Fußboden da drüben? Ja. Eindeutig. Er ging an der Autorennbahn vorbei zum Fenster, durch das Fran eingestiegen war. Auf dem Fußboden lag hellbrauner Staub. Harold stellte die Lampe daneben. Mitten im Staub, so deutlich wie ein Fingerabdruck, war der Abdruck eines Turn- oder Tennisschuhs... kein Waffel- oder Zickzackmuster, sondern eine Anordnung von Kreisen und Linien. Er sah ihn an, brannte ihn sich ins Gedächtnis ein, dann kickte er den Staub zu einer Wolke auf und verwischte den Abdruck. Im Licht der Coleman-Lampe wirkte sein Gesicht wie das einer Wachsfigur.

»Das werdet ihr büßen«, sagte Harold leise. »Wer von euch es auch war, das werdet ihr büßen! Ja, das werdet ihr!«

Er ging wieder die Treppe hinauf und durchsuchte das ganze Haus nach weiteren Spuren des Eindringlings. Er fand keine. Er gelangte zuletzt ins Wohnzimmer und war nicht mehr müde. Er glaubte schon, daß jemand - vielleicht ein Kind - aus Neugier eingebrochen war, als ihn plötzlich der Gedanke HAUPTBUCH wie eine Explosion durchzuckte. Das Motiv für den Einbruch war so klar, so entsetzlich, daß er es fast völlig übersehen hätte.

Er lief zum Kamin, entfernte den Stein und riß das HAUPTBUCH heraus. Zum ersten Mal begriff er, wie gefährlich das Buch war. Wenn jemand es fand, war alles aus. Das sollte gerade er am besten wissen; hatte nicht alles mit Frans Tagebuch angefangen? Das HAUPTBUCH. Der Fußabdruck. Bedeutete letzterer, dass ersteres entdeckt worden war? Natürlich nicht. Aber wie konnte er Gewißheit bekommen? Es gab keine Möglichkeit, das war die pure, höllische Wahrheit der Sache.

Er legte den Stein wieder an seinen Platz und nahm das Buch mit ins Schlafzimmer. Zusammen mit dem Smith & Wesson-Revolver legte er es unter das Kopfkissen und dachte, er sollte es verbrennen. Das Beste, das er je geschrieben hatte, war zwischen diesen beiden Buchdeckeln, das einzige Geschriebene, das je aus Glaube und persönlicher Überzeugung entstanden war.

Er legte sich hin und machte sich auf eine schlaflose Nacht gefaßt, während er im Geiste rastlos mögliche Verstecke durchging. Unter einem lockeren Brett? Hinten im Schrank? Konnte er möglicherweise den alten Trick mit dem entwendeten Brief durchziehen und es tollkühn aufs Bücherregal stellen, ein Band unter vielen, zwischen einem Reader's Digest Auswahlbuch auf der einen und Die sinnliche Frau auf der anderen Seite? Nein - das war zu tollkühn; dann könnte er das Haus nicht mehr ruhigen Gewissens verlassen. Wie wäre es mit einem Bankschließfach? Nein, das war nicht gut - er wollte es bei sich haben, damit er es ansehen konnte.

Schließlich döste er ein, und sein Verstand, der vom aufziehenden Schlaf freigesetzt wurde, schwebte ohne Führung des Bewußtseins davon, eine Flipperkugel in Zeitlupe. Er dachte: Es muß versteckt werden, darauf kommt es an... wenn Frannie ihres besser versteckt hätte... wenn ich nicht gelesen hätte, was sie wirklich von mir hält... ihre Scheinheiligkeit... wenn sie...

Harold richtete sich kerzengerade im Bett auf, stieß einen leisen Schrei aus und riß die Augen auf.

So saß er lange Zeit, und nach einer Weile fing er an zu zittern. Wußte sie es? War es Frans Fußabdruck? Tagebücher... Alben... Hauptbücher...

Schließlich legte er sich wieder hin, aber es dauerte lange, bis er einschlafen konnte. Er überlegte ständig, ob Fran Goldsmith für gewöhnlich Tennis- oder Turnschuhe trug. Und wenn, was für ein Muster hatten ihre Sohlen?

Sohlenmuster, Seelenmuster. Als er endlich einschlief, quälten ihn unbehagliche Träume und er schrie mehr als einmal kläglich in der Dunkelheit auf, als wollte er Wesen vertreiben, denen er längst für immer Einlaß gewährt hatte.




Stu kam Viertel nach neun. Fran lag zusammengerollt auf dem Doppelbett, trug eines seiner Hemden - das ihr fast bis zu den Knien reichte - und las ein Buch mit dem Titel Fünfzig Nutzpflanzen. Sie stand auf, als er eintrat.

»Wo warst du? Ich habe mir Sorgen gemacht!«

Stu berichtete Harolds Vorschlag, nach Mutter Abagail zu suchen, damit sie sie wenigstens im Auge behalten konnten. Von Heiligen Kühen sagte er nichts. Als er sein Hemd aufknöpfte, kam er zum Ende: »Wir hätten dich mitgenommen, Kleines, aber du warst unauffindbar.«

»Ich war in der Bibliothek«, sagte sie und sah ihm zu, wie er das Hemd auszog und in den Wäschesack stopfte, der hinter der Tür hing. Er war ziemlich behaart, an Brust und Rücken, und sie dachte, bis sie Stu kennengelernt hatte, hatte sie haarige Männer immer ein wenig abstoßend gefunden. Sie vermutete, die Erleichterung, dass sie ihn wiederhatte, machte sie etwas albern im Kopf. Harold hatte ihr Tagebuch gelesen, das wußte sie jetzt. Sie hatte entsetzliche Angst gehabt, daß Harold versuchen würde, Stu allein zu erwischen, um... nun, um ihm etwas anzutun. Aber warum jetzt, heute, wo sie es herausgefunden hatte? Wenn Harold den schlafenden Hund so lange nicht geweckt hatte, war es dann nicht logisch anzunehmen, daß er den Hund überhaupt nicht wecken wollte? Und war es nicht möglich, daß Harold bei der Lektüre ihres Tagebuchs eingesehen hatte, daß es völlig sinnlos war, ihr dauernd nachzustellen? So kurz nach der Neuigkeit von Mutter Abagails Verschwinden war sie genau in der richtigen Stimmung gewesen, böse Vorzeichen in Hühnereingeweiden zu sehen, aber schließlich hatte Harold nur ihr Tagebuch gelesen, kein Geständnis aller Verbrechen der Welt. Und wenn sie Stu erzählte, was sie festgestellt hatte, würde sie dumm dastehen und ihn unnütz gegen Harold aufbringen... und wahrscheinlich gegen sie selbst, weil sie so albern gewesen war.

»Keine Spur von ihr, Stu?«

»Nee.«

»Was hat Harold für einen Eindruck gemacht?«

Stu zog die Hosen aus. »Ganz erschlagen. Enttäuscht, daß seine Idee nichts gebracht hat. Ich habe ihn zum Essen eingeladen, wann immer er will. Hoffentlich bist du einverstanden. Weißt du, ich glaube, der Kerl könnte mir doch gefallen. Wenn du mir das an dem Tag gesagt hättest, als wir uns in New Hampshire getroffen haben, hätte ich es nicht geglaubt. War es falsch, ihn einzuladen?«

»Nein«, sagte sie nach einer nachdenklichen Pause. »Nein, ich möchte gern ein gutes Verhältnis zu Harold haben.« Ich sitze hier zu Hause und denke, daß Harold ihm vielleicht den Kopf wegpusten will, dachte sie, und Stu lädt ihn zum Essen ein. Das nenne ich Hirngespinste einer schwangeren Frau!

Stu sagte: »Wenn Mutter Abagail bei Tagesanbruch noch nicht zurück ist, werde ich Harold bitten, wieder mit mir rauszufahren.«

»Ich würde gern mitfahren«, sagte Fran hastig. »Und es gibt noch andere Leute, die überzeugt sind, daß sie nicht von den Raben gefüttert wird. Dick Vollman ist einer. Larry Underwood ein anderer.«

»Okay, prima«, sagte er und legte sich zu ihr ins Bett. »Sag mal, was hast du eigentlich unter diesem Hemd an?«

»Das sollte ein großer starker Mann wie du eigentlich auch ohne meine Hilfe herausfinden können«, sagte Fran schnippisch.

Wie sich herausstellte, gar nichts.




Am nächsten Tag brach der Suchtrupp bescheiden um acht Uhr mit einem halben Dutzend Suchenden auf - Stu, Fran, Harold, Dick Vollman, Larry Underwood und Lucy Swann. Am Mittag war die Zahl auf zwanzig gestiegen, bei Einbruch der Dämmerung (die wie immer von einem kurzen Regenschauer und Wetterleuchten in den Vorgebirgen begleitet wurde), durchkämmten mehr als fünfzig Leute das Unterholz westlich von Boulder, stapften durch Bäche, jagten Täler rauf und runter und überlasteten den CB-Kanal. Eine seltsame Stimmung resignierter Niedergeschlagenheit hatte die gestrige Hinnähme ersetzt. Trotz der Macht der Träume, die Mutter Abagail in den Augen der Leute in der Zone als halbe Göttin erscheinen ließen, waren sie realistisch, was ihre Überlebenschancen anbetraf. Die alte Frau war weit über hundert und schon die ganze Nacht draußen. Und jetzt brach bereits die zweite Nacht an.

Der Bursche, der sich mit zwölf Leuten von Louisiana bis Boulder durch das Land gequält hatte, faßte es perfekt zusammen. Er war gestern mittag mit seinen Leuten angekommen. Als er erfuhr, dass Mutter Abagail verschwunden war, warf dieser Mann, der Norman Kellogg hieß, seine Houston-AstrosBaseballmütze auf den Boden und sagte: »Was für ein verdammtes Pech... und wen habt ihr losgeschickt, um sie zu suchen?«

Charlie Impening, der mehr oder weniger zum ständigen Schwarzseher der Zone geworden war (er hatte die frohe Botschaft verbreitet, daß es im September schneien würde), meinte, wenn Mutter Abagail verschwunden sei, wäre das für alle anderen ein Zeichen, ebenfalls zu verschwinden. Boulder lag einfach zu nahe. Zu nahe woran? Ihr wißt doch alle, woran zu nahe, und Impenings Sohn Charlie würde sich in New York oder Boston echt sicherer fühlen. Er fand keine Anhänger. Die Leute waren müde und wollten bleiben. Wenn es kalt wurde und keine Heizung gab, zogen sie vielleicht weiter, aber vorher nicht. Sie genasen. Impening wurde höflich gefragt, ob er allein gehen wollte. Impening sagte, er würde warten, bis noch ein paar Leute einsichtig geworden seien. Man hörte, wie Glen Bateman die Meinung bekundete, daß Charlie Impening einen reichlich armseligen Moses abgeben würde.

»Resignierte Niedergeschlagenheit«, darin erschöpften sich die Empfindungen der Gemeinschaft, glaubte Glen Bateman, denn trotz aller Träume und trotz ihrer Angst vor dem, was möglicherweise westlich der Rockies vor sich ging, waren sie immer noch vernünftig denkende Menschen. Aberglaube braucht, genau wie wahre Liebe, Zeit zu wachsen und sich auf sich selbst zu besinnen... Wenn ihr eine Scheune gebaut habt, sagte er zu Nick, Stu und Fran, als die Dunkelheit der Suche ein Ende machte, hängt ihr ein Hufeisen mit den Enden nach oben an die Tür, um das Glück zu beschwören. Aber wenn ein Nagel herausfällt und das Hufeisen sich dreht und mit den Enden nach unten hängt, gebt ihr die Scheune nicht auf.

»Der Tag mag kommen, da unsere Kinder die Scheune vielleicht aufgeben, wenn das Hufeisen kein Glück mehr bringt, aber das ist noch Jahre entfernt. Im Augenblick fühlen wir uns alle ein wenig seltsam und verloren. Aber das geht vorbei, denke ich. Wenn Mutter Abagail tot ist - weiß Gott, ich hoffe, sie ist es nicht -, hätte es wahrscheinlich zu keinem besseren Zeitpunkt für den geistigen Gesundungsprozeß dieser Gemeinschaft kommen können.«

Nick schrieb: »Aber wenn sie als Gegenpol zu unserem Widersacher gedacht war, als sein Gegenspieler, als jemand, der das Gleichgewicht bewahren soll...«

»Ja, ich weiß«, sagte Glen düster. »Ich weiß. Die Tage, als Hufeisen wirklich nicht wichtig waren, gehen vielleicht dem Ende entgegen... oder sind schon zu Ende. Glaubt mir, ich weiß es.«

Frannie sagte: »Glaubst du wirklich, daß unsere Enkel abergläubische Wilde sein werden, Glen? Die Hexen verbrennen und sich über die Schulter spucken, damit sie Glück haben?«

»Ich kann nicht in die Zukunft sehen, Fran«, sagte Glen, und sein Gesicht sah im Lampenschein alt und verfallen aus - vielleicht das Gesicht eines gescheiterten Zauberers. »Ich hatte nicht einmal den Einfluß begriffen, den Mutter Abagail auf die Gemeinschaft hatte, bis Stu mich in der Nacht auf dem Flagstaff Mountain darauf hingewiesen hat. Aber eines weiß ich: Wir alle sind aus zwei Gründen in dieser Stadt. Die Supergrippe können wir der Dummheit der Menschen zuschreiben. Es spielt keine Rolle, ob wir es getan haben, die Russen oder die Letten. Wer den Kanister verschüttet hat, ist nicht so wichtig, wenn man die allgemeine Wahrheit bedenkt: Am Ende aller Vernunft steht das Massengrab. Die Gesetze der Physik, die Gesetze der Biologie, die Axiome der Mathematik sind alle Teil dieses Todes-Trips, denn wir sind nun einmal, was wir sind. Wenn es nicht Captain Trips gewesen wäre, dann etwas anderes. Es war Mode, alles auf die >Technologie< zu schieben, aber die >Technologie< ist der Stamm des Baumes, nicht die Wurzel. Die Wurzel ist Rationalismus, und dieses Wort würde ich so definieren: Nationalismus ist die Vorstellung, daß wir einmal alles über das Dasein begreifen können.< Es ist ein Todes -Trip. Das ist es immer gewesen. Man kann die Seuche dem Rationalismus zuschreiben, wenn man will. Aber der andere Grund für unser Hiersein sind die Träume, und die Träume sind irrational. Wir waren uns einig, daß wir diese einfache Tatsache nicht im Komitee diskutieren, aber dies ist keine Sitzung des Komitees. Deshalb sage ich, was wir alle wissen: Wir werden von Kräften geleitet, die wir nicht begreifen. Für mich bedeutet das, wir akzeptieren vielleicht allmählich - vorerst noch unterbewußt und mit zahlreichen, kulturell bedingten Rückschlägen - eine neue Definition von Existenz. Die Vorstellung, daß wir niemals etwas über das Dasein begreifen können. Und wenn Rationalismus ein Todes-Trip ist, dann könnte Irrationalismus möglicherweise ein Lebens-Trip sein... jedenfalls so lange, bis das Gegenteil bewiesen ist.«

Stu sagte sehr langsam: »Nun, ich bin abergläubisch. Ich bin dafür ausgelacht worden, aber ich bin es. Ich weiß, es spielt keine Rolle, ob jemand zwei oder drei Zigaretten mit einem Streichholz anzündet, aber zwei machen mich nicht nervös, drei schon. Ich gehe nicht unter Leitern durch und sehe es nicht gern, wenn mir eine schwarze Katze über den Weg läuft. Aber ganz ohne Wissenschaft leben... möglicherweise die Sonne anbeten... vielleicht zu denken, dass Ungeheuer Bowlingkugeln über den Himmel rollen, wenn es donnert... ich kann nicht sagen, daß mich diese Vorstellung besonders anmacht, Platte. Das scheint mir wie eine Art Sklaverei zu sein.«

»Aber angenommen, das alles stimmt?« sagte Glen leise.

»Was?«

»Angenommen, das Zeitalter des Rationalismus ist vorbei. Ich selbst bin fast überzeugt, daß es so ist. Es war früher schon dicht am Ende, weißt du; in den sechziger Jahren, dem sogenannten Zeitalter des Wassermanns, war es fast vorbei, und im Mittelalter hat es praktisch ununterbrochen Ferien gemacht. Und angenommen... angenommen, wenn der Rationalismus nicht mehr ist, dann ist es, als wäre eine Weile ein grelles Flimmern weg, und wir sehen...« Er verstummte. Sein Blick war nach innen gerichtet.

»Sehen was?« fragte Frannie.

Er sah ihr in die Augen; seine waren grau und seltsam, ein inneres Licht schien darin zu leuchten.

»Dunkle Magie«, sagte er leise. »Ein Universum der Wunder, in dem Wasser bergauf fließt, Trolle im tiefen Wald leben und Drachen unter Bergen hausen. Strahlende Wunder, weiße Macht. >Lazarus, komm heraus.< Wasser in Wein. Und... und nur vielleicht...

Teufelsaustreibung.«

Er machte eine Pause und lächelte.

»Der Lebens-Trip.«

»Und der dunkle Mann?« fragte Fran leise.

Glen zuckte die Achseln. »Mutter Abagail nennt ihn den Dämon des Teufels. Vielleicht ist er der letzte Zauberer rationalen Denkens, der die Werkzeuge der Technologie gegen uns sammelt. Vielleicht auch mehr, vielleicht etwas viel Dunkleres. Ich weiß nur, daß er ist, und ich glaube nicht mehr, daß ihm Soziologie oder Psychologie oder sonst eine -ologie ein Ende machen können. Ich glaube, das kann nur weiße Magie... und unser weißer Magier ist irgendwo da draußen und streift alleine herum.« Glens Stimme brach fast, er sah rasch nach unten.

Draußen herrschte Dunkelheit, der Regen vom Berg herab wehte frische Schauer gegen das Fenster von Stus und Frans Wohnzimmer. Glen zündete die Pfeife an. Stu hatte eine Handvoll Kleingeld aus der Tasche genommen, schüttelte es und machte dann die Hand auf, um zu sehen, wie oft er Kopf und wie oft er Zahl hatte. Nick malte komplexe Kringel auf das oberste Blatt seines Blocks; in Gedanken sah er die verlassenen Straßen von Shoyo und hörte - ja, hörte - eine Stimme flüstern: Er kommt zu dir, Stummer. Er ist schon viel näher.

Nach einer Weile machten Glen und Stu Feuer im Kamin, und sie sahen alle in die Flammen und sprachen wenig.




Als sie gegangen waren, fühlte Fran sich niedergeschlagen und unglücklich. Stu war auch in keiner guten Verfassung. Er sieht müde aus, dachte sie. Wir sollten morgen zu Hause bleiben, einfach zu Hause bleiben, miteinander reden und am Nachmittag ein Nickerchen machen. Wir sollten alles nicht so schwer nehmen. Sie betrachtete die Coleman-Gaslampe und sehnte sich nach elektrischem Licht, hellem elektrischen Licht, das aufleuchtete, wenn man einen Schalter an der Wand drückte.

Sie spürte, wie ihr Tränen in den Augen brannten. Sie ermahnte sich wütend, nicht anzufangen, nicht ihre Probleme noch zu vergrößern, aber der Teil von ihr, der die Wasserpumpen bediente, wollte nicht aufhören.

Dann strahlte Stu plötzlich. »Jemine! Fast hätte ich es vergessen, oder?«

»Was vergessen?«

»Ich zeig's dir! Bleib da!« Er ging zur Tür hinaus und polterte die Treppe hinunter. Sie ging zur Tür, und nach einem Augenblick hörte sie ihn zurückkommen. Er hatte etwas in der Hand, und es war ein... ein...

»Stuart Redman, wo hast du das denn auf getrieben?« fragte sie freudig überrascht.

»Folk Arts Music«, sagte er grinsend.

Sie nahm das Waschbrett und drehte es hin und her. Das bläuliche Metall glänzte im Licht. »Folk...?«

»Unten in der Walnut Street.«

»Ein Waschbrett in einem Musikgeschäft?«

»Ja. Da stand auch ein total wahnsinniger Waschzuber, aber in den hatte schon jemand ein Loch gebohrt und einen Baß daraus gemacht.«

Sie fing an zu lachen. Sie legte das Waschbrett aufs Sofa, kam zu ihm und nahm ihn fest in die Arme. Seine Hände wanderten zu ihren Brüsten, und sie umarmte ihn noch fester. »Der Arzt hat gesagt, es soll Blasmusik hören«, flüsterte sie.

»Hm?«

Sie drückte ihr Gesicht an seinen Hals. »Dann fühlt es sich wohl. So heißt es jedenfalls in dem Lied. Kannst du dafür sorgen, daß ich mich wohl fühle, Stu?«

Lächelnd hob er sie hoch. »Nun«, sagte er. »Ich könnte es ja mal versuchen.«




Am nächsten Nachmittag um Viertel nach zwei stürzte Glen Bateman, ohne anzuklopfen, in die Wohnung. Fran war bei Lucy Swann, wo die beiden Frauen versuchten, einen Sauerteig zu bereiten. Stu las einen MaxBrand-Western.

»Was ist denn los?« fragte er Glen schneidend. »Ist... hat jemand sie gefunden?«

»Nein«, sagte Glen. Er setzte sich so rasch, als würden seine Beine ihn nicht mehr tragen. »Keine schlechte Nachricht, eine gute. Aber es ist sehr seltsam.«

»Was? Was denn?«

»Es ist Kojak. Ich hatte mich nach dem Essen ein wenig hingelegt, und als ich aufstand, schlief Kojak auf der Veranda. Er ist übel zugerichtet, Stu, sieht aus, als hätte man ihn durch einen Mixer mit stumpfen Messern gedreht, aber er ist es.«

»Du meinst den Hund? Den Kojak?«

»Den meine ich.«

»Bist du sicher?«

»Auf der Hundemarke steht Woodsville, N. H. Dasselbe rote Halsband. Derselbe Hund. Er ist klapperdürr und muß gekämpft haben. Dick Ellis - Dick war überglücklich, daß er endlich mal ein Tier behandeln konnte - er sagt, daß ein Auge nicht mehr zu retten ist. Er hat böse Kratzer an Flanken und Bauch, ein paar sind entzündet, aber Dick hat sie behandelt. Er hat ihm ein Beruhigungsmittel gegeben und ihn verbunden. Dick meint, er muß mit einem Wolf aneinandergeraten sein, vielleicht mehreren. Aber keine Tollwut. Er ist sauber.« Glen schüttelte langsam den Kopf, zwei Tränen liefen ihm über die Wangen. »Der elende Hund ist zu mir zurückgekommen. Ich wünsche bei Gott, ich hätte ihn nicht allein zurückgelassen, Stu. Ich komme mir so mies vor.«

»Es wäre unmöglich gewesen, Glen. Nicht mit den Motorrädern.«

»Ja, aber... er ist mir gefolgt, Stu. Solche Geschichten liest man sonst im Star Weekly... Treuer Hund folgt seinem Herrn zweitausend Meilen. Wie hat er das nur geschafft? Wie?«

»Vielleicht so wie wir. Hunde träumen, weißt du - auf jeden Fall. Hast du nie gesehen, wie einer auf dem Küchenboden liegt und mit den Pfoten zuckt? In Arnette lebte ein alter Mann, Vic Palfrey, der hat gesagt, Hunde hätten zwei Träume, einen guten und einen schlechten. Den guten haben sie, wenn die Pfoten zucken. Den schlechten, wenn sie knurren. Wenn man einen Hund im schlechten Traum aufweckt, ist die Gefahr groß, daß er einen beißt.«

Glen schüttelte wie betäubt den Kopf. »Willst du damit sagen, er hat geträumt...«

»Das ist nicht seltsamer als das, was du gestern abend erzählt hast«, tadelte Stu ihn.

Glen grinste und nickte. »Oh, so was könnte ich stundenlang erzählen. Ich bin einer der größten Laberer aller Zeiten. Aber wenn wirklich etwas passiert ...«

»In Theorie aufgepaßt, im praktischen Unterricht geschlafen.«

»Hol dich der Teufel, Ost-Texaner. Willst du dir meinen Hund ansehen?«

»Darauf kannst du Gift nehmen.«

Glens Haus lag in der Spruce Street, etwa zwei Blocks vom Hotel Boulderado entfernt. Die Efeuranken an den Verandastreben waren größtenteils abgestorben, ebenso der Rasen und fast alle Blumen in Boulder ohne tägliche Bewässerung durch die städtische Wasserversorgung hatte das trockene Klima triumphiert.

Auf der Veranda stand ein kleiner runder Tisch mit einem Glas Gin Tonic (»Ist das ohne Eis nicht absolut gräßlich?« fragte Stu, und Glen antwortete: »Nach dem dritten merkt man das nicht mehr so sehr.«). Neben dem Glas stand ein Aschenbecher mit fünf Pfeifen, Ausgaben von Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, Ball Four und Ich ziehe schneller - alle waren an verschiedenen Stellen aufgeschlagen. Dazu noch ein offener Karton Käsecracker von Kraft. Kojak lag auf der Veranda und hatte die verletzte Schnauze friedlich auf den Vorderpfoten liegen. Der Hund war dürr und erbärmlich zugerichtet, aber Stu erkannte ihn auf den ersten Blick. Er kauerte sich nieder und streichelte Kojaks Kopf. Kojak wachte auf und sah Stu glücklich an. Er schien auf Hundeweise zu grinsen.

»Ja, braver Hund«, sagte Stu, der einen albernen Kloß im Hals spürte. Wie bei einem Kartenspiel, das rasch offen ausgeteilt wird, sah er jeden Hund vor sich, den er gehabt hatte, seit seine Mom ihm Old Spike gab, als Stu gerade fünf Jahre alt war. Viele Hunde. Vielleicht nicht einen für jede Karte im Spiel, aber trotzdem eine Menge Hunde. Ein Hund war etwas Schönes, und soweit er wußte, war Kojak der einzige in Boulder. Er sah zu Glen auf und rasch wieder hinunter. Er ging davon aus, daß nicht einmal alte glatzköpfige Soziologen, die drei Bücher auf einmal lasen, sich gerne erwischen ließen, wenn ihnen die Augen tränten.

»Braver Hund«, wiederholte er, und Kojak klopfte mit dem Schwanz auf die Verandadielen und wollte damit wahrscheinlich bekräftigen, daß er wahrhaftig ein braver Hund war.

»Ich geh' mal eben rein«, sagte Glen mit belegter Stimme. »Muss aufs Klo.«

»Klar«, sagte Stu, ohne aufzusehen. »He, guter Junge, was, Kojak, warst du nicht ein guter Junge? Bist du nicht einer?«

Kojak wedelte zustimmend mit dem Schwanz.

»Kannst du herumrollen? Stell dich tot, Junge. Los.«

Kojak drehte sich gehorsam auf den Rücken, streckte die Hinterbeine von sich und die Vorderpfoten in die Luft. Stus Gesicht wurde besorgt, als er mit der Hand behutsam über die steifen weißen Verbände strich, die Dick Ellis angelegt hatte. Weiter oben konnte er rote, aufgedunsen aussehende Kratzer erkennen, die unter dem Verband zweifellos zu tiefen Wunden wurden. Etwas war hinter ihm hergewesen, das stimmte, und sicher kein anderer streunender Hund. Ein Hund hätte nach Schnauze oder Hals geschnappt. Kojak war von etwas angegriffen worden, das niederer als ein Hund war. Verstohlener. Möglicherweise ein Wolfsrudel, aber Stu bezweifelte, ob Kojak einem Wolfsrudel hätte entkommen können. Wie auch immer, er hatte Glück gehabt, daß er nicht ausgeweidet worden war.

Die Tür schlug zu, als Glen wieder auf die Veranda kam.

»Was ihn angegriffen hat, hat die lebenswichtigen Organe nur knapp verfehlt«, sagte Stu.

»Die Wunden waren tief, er hat viel Blut verloren«, stimmte Glen zu.

»Ich komme einfach nicht darüber hinweg, daß das alles auf mein Konto geht.«

»Dick hat von Wölfen gesprochen.«

»Wölfe, vielleicht Kojoten... aber er hielt es für unwahrscheinlich, dass Kojoten so etwas machen, und ich habe zugestimmt.«

Stu tätschelte Kojaks Rumpf, Kojak drehte sich wieder auf den Bauch. »Wie kommt es, daß fast alle Hunde ausgestorben, aber noch genügend Wölfe da sind - auch noch östlich der Rockies -, dass sie einen guten Hund so zurichten können?«

»Das werden wir wohl nie erfahren«, sagte Glen. »Genausowenig, warum die gottverdammte Seuche alle Pferde umgebracht hat, aber nicht die Rinder und die meisten Menschen, aber nicht uns. Ich will nicht einmal mehr darüber nachdenken. Ich werde mir einen großen Vorrat an Hundefutter anlegen und ihn füttern.«

»Ja.« Stu sah Kojak an, dem die Augen zugefallen waren. »Er ist ziemlich lädiert, aber seine Organe sind noch in Ordnung - das hab' ich gesehen, als er sich umgedreht hat. Wir sollten uns nach einer Hündin umsehen, findest du nicht auch?«

»Ja, stimmt«, sagte Glen nachdenklich. »Willst du einen warmen Gin Tonic, Ost-Texaner?«

»Um Gottes willen, nein. Ich mag zwar nur ein Jahr die Berufsschule besucht haben, aber deswegen bin ich kein Barbar. Hast du ein Bier?«

»Eine Dose Coors könnte ich vielleicht auftreiben. Aber warm.«

»Gekauft.« Bevor er Glen ins Haus folgte, drehte er sich mit dem Türgriff in der Hand noch einmal zu dem schlafenden Hund um.

»Schlaf gut, alter Junge«, sagte er dem Hund. »Schön, daß du hier bist.«

Glen und er gingen hinein.




Aber Kojak schlief nicht.

Er befand sich irgendwo dazwischen, wo sich die meisten Lebewesen befinden, wenn sie schwer verletzt sind, aber nicht so schwer, daß der Schatten des Todes über ihnen liegt. Ein Juckreiz lag in seinem Bauch, der Juckreiz der Heilung. Glen würde viele Stunden damit verbringen müssen, ihn von diesem Juckreiz abzulenken, damit er sich nicht den Verband abriß, die Wunden aufkratzte und erneut infizierte. Aber das kam später. Vorläufig gab sich Kojak damit zufrieden (der sich gelegentlich immer noch für Big Steve hielt, denn das war sein ursprünglicher Name gewesen), in diesem Dazwischen vor sich hinzudämmern. Die Wölfe waren in Nebraska über ihn hergefallen, als er noch verzweifelt an dem Haus auf Wagenhebern in der kleinen Stadt Hemingford Home schnüffelte. Der Geruch des MANNES - das Gefühl des MANNES - hatten ihn hergeführt und dann aufgehört. Wohin war er verschwunden? Kojak wußte es nicht. Und dann waren die Wölfe, vier an der Zahl, mit gesträubtem Nackenhaar wie Totengeister aus dem Mais gekommen. Ihre Augen hatten Kojak angefunkelt, die Lefzen hatten sie von den Zähnen gefletscht und das tiefe, fauchende Knurren ihrer bösen Absicht herausgelassen. Kojak war vor ihnen zurückgewichen und hatte selbst geknurrt und mit steifen Pfoten den Sand von Mutter Abagails Hof aufgescharrt. Links hing die Reifenschaukel, die einen flachen, runden Schatten warf. Der Leitwolf hatte in dem Augenblick angegriffen, als Kojaks Hinterteil im Schatten der Veranda verschwand. Er kam von unten und wollte an den Bauch, die anderen folgten. Kojak sprang auf und über das schnappende Maul des Leitwolfs hinweg, präsentierte ihm den Bauch, und als er ihn biß, grub Kojak die Zähne in die Kehle des Wolfs und biß so fest zu, daß Blut kam, der Wolf heulte und sich losriß und plötzlich keinen Mut mehr hatte. Bevor er sich befreien konnte, biß Kojak ihm in die empfindliche Schnauze, und der Wolf stieß einen heulenden Schmerzensschrei aus, als ihm die Nase bis zu den Nüstern aufgerissen und zerfetzt wurde. Er floh heulend vor Qual, schüttelte wild den Kopf hin und her, so daß Blut nach allen Seiten spritzte, und aufgrund der groben Telepathie, die verwandte Tiere miteinander verbindet, konnte Kojak seinen unablässigen Gedanken lesen:

(Wespen in mir o die Wespen die Wespen in meinem Kopf mein Kopf ist voller Wespen o)

Und dann fielen die anderen über ihn her, einer von links, einer von rechts, wie riesige weiche Geschosse, und der dritte kam schnappend von unten und wollte ihm die Eingeweide herausreißen. Mit heiserem Gebell war Kojak nach rechts gesprungen, hatte wütend gekläfft und sich erst um diesen kümmern wollen, damit er unter die Veranda kriechen konnte. Wenn er unter die Veranda kam, konnte er sie abwehren, vielleicht für immer. Jetzt lag er auf Glens Veranda und erlebte den Kampf noch einmal in einer Art Zeitlupe: das Knurren und Heulen, das Zuschnappen und Zurückweichen, den Blutgeruch, der ihm ins Gehirn gedrungen war und ihn in eine Kampfmaschine verwandelt hatte, so daß er die eigenen Wunden nicht spürte, erst später. Den Wolf, der von rechts angegriffen hatte, nahm er an wie den ersten, biß ihm ein Auge aus und fügte ihm eine klaffende und wahrscheinlich tödliche Wunde am Hals zu. Aber der Wolf hatte auch ihn verletzt; das meiste war oberflächlich, aber am Bauch hatte er zwei tiefe Wunden, die zu hartem Gewebe in Form eines gekritzelten kleinen t vernarben würden. Und noch als ganz altem Hund (Kojak lebte noch sechzehn Jahre, als Glen Bateman schon lange gestorben war) machten ihm diese Narben an feuchten Tagen zu schaffen und pochten. Er hatte sich freigekämpft und war unter die Veranda gekrochen, und als einer der beiden Wölfe in seiner Blutgier versuchte, ihn bis unter die Veranda zu verfolgen, sprang Kojak ihn an, nagelte ihn fest und zerfleischte ihm den Hals. Der andere zog sich fast bis zum Rand des Maisfelds zurück und winselte nervös. Wenn Kojak sich zum Kampf gestellt hätte, wäre der Wolf mit eingezogenem Schwanz davongerannt. Aber Kojak kam nicht heraus, noch nicht. Er war am Ende. Er konnte nur auf der Seite liegen, rasch und schwach hecheln, sich die Wunden lecken, und immer wenn er sah, daß der Schatten des Wolfs sich näherte, leise knurren. Dann war es dunkel, und ein nebelverhangener Halbmond stand am Himmel über Nebraska. Und jedesmal wenn der letzte Wolf hörte, daß Kojak noch lebte und vermutlich bereit war, ihn anzuspringen, zog er sich winselnd zurück.

Irgendwann nach Mitternacht verschwand er und ließ Kojak allein zurück. In den frühen Morgenstunden hatte er die Anwesenheit eines anderen Tieres gespürt, von etwas, das ihn so in Angst versetzte, daß er mehrmals leise winselte. Es war etwas im Maisfeld, etwas, das durch den Mais ging und vielleicht nach ihm suchte. Kojak blieb zitternd liegen und wartete ab, ob dieses Wesen ihn finden würde, dieses schreckliche Wesen, das nach seinem Gefühl ein Mann und ein Wolf und ein Auge war, ein dunkles Wesen im Mais, wie ein altes Krokodil. Eine unbekannte Zeitspanne später, als der Mond untergegangen war, spürte Kojak, daß es verschwunden war. Er schlief ein. Er hatte drei Tage unter der Veranda gelegen und war nur herausgekommen, wenn Hunger und Durst ihn trieben. Unter der Handpumpe auf dem Hof fand er immer etwas Wasser, das sich dort angesammelt hatte, und im Haus gab es alle möglichen Brocken, hauptsächlich Reste der Mahlzeit, die Mutter Abagail für Nicks Gruppe zubereitet hatte. Als Kojak sich in der Lage fühlte weiterzulaufen, wußte er, wohin. Das sagte ihm nicht seine Witterung; es war ein Hitzegefühl tief in seinem sterblichen Wesen, daß sich weit im Westen Hitze konzentrierte. Und so kam er, hinkte den größten Teil der letzten fünfhundert Meilen auf drei Beinen, und der Schmerz nagte ständig in seinem Leib. Von Zeit zu Zeit roch er den MANN und wußte, daß er auf der richtigen Spur war. Schließlich war er angekommen. Der MANN war hier. Hier waren keine Wölfe. Hier gab es Futter. Hier spürte er das dunkle Wesen nicht... den Mann mit dem Gestank eines Wolfes, der ein Auge hatte, mit dem er über Meilen sehen konnte. Vorerst war alles in Ordnung. Mit diesen Gedanken (soweit ein Hund in einer Welt denken kann, die er fast nur mit dem Gefühl wahrnimmt) entschlummerte Kojak tiefer, nun in richtigen Schlaf, in einen Traum, einen guten Traum, in dem er Kaninchen durch Klee und Wiesenlischgras jagte, das ihm bis zum Bauch reichte und taufeucht war. Sein Name war Big Steve. Dies war der vierzigste Breitengrad. Und an diesem grauen und endlosen Morgen waren überall Kaninchen... Während er träumte, zuckte er mit den Pfoten.

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