75

»Ich wäre fast gestorben, weißt du«, sagte Nick. Er und Tom gingen auf dem leeren Bürgersteig. Der Wind heulte ohne Unterbrechung; als ob ein endloser Geisterzug über ihnen durch den schwarzen Himmel raste. Es war unheimlich. Wenn Tom wach gewesen wäre, wäre er davongelaufen. Aber er war nicht wach - jedenfalls nicht richtig -, und Nick war bei ihm. Hagelkörner trafen sein Gesicht.

»Wirklich?« fragte Tom. »Meine Fresse!«

Nick lachte. Seine Stimme war tief und melodisch. Eine angenehme Stimme. Tom hörte ihr gern zu. »Wirklich. Die Grippe hat mich nicht gekriegt, aber ein kleiner Kratzer am Bein hätte mich fast umgebracht. Sieh dir das an.«

Als ob er die Kälte nicht spürte, öffnete Nick seinen Gürtel und schob die Jeans nach unten. Tom beugte sich vor, neugierig wie ein kleiner Junge, dem jemand eine Warze zeigt, aus der Haare sprießen, oder eine interessante Wunde oder ähnliches. Über Nicks Bein zog sich eine häßliche rote Narbe, die fast verheilt war. Sie begann dicht unterhalb der Leiste und verlief spiralig das Bein hinunter, am Knie vorbei und bis zur Mitte des Schienbeins.

»Und das hätte dich fast umgebracht

Nick zog seine Jeans wieder hoch und schnallte den Gürtel zu. »Die Wunde war nicht tief, aber sie entzündete sich. Das bedeutet, es kamen böse Bazillen in die Wunde. Infektionen sind das Schlimmste, was es gibt, Tom. Durch Infektion sind fast alle Menschen am Supergrippe-Bazillus gestorben. Und es war auch eine Infektion, die die Leute dazu getrieben hat, den Bazillus zu machen. Es war eine Infektion des Geistes.«

»Infektion«, flüsterte Tom fasziniert. Sie gingen weiter, schwebten fast über den Bürgersteig.

»Was Stu jetzt hat, ist eine Infektion, Tom.«

»Nein... nein, sag das nicht, Nick... du machst Tom Cullen Angst, meine Fresse, ja, wirklich!«

»Ich weiß, daß ich dir Angst mache, Tom, und es tut mir leid. Aber du mußt es wissen. Er hat eine doppelseitige Lungenentzündung, weil er fast zwei Wochen lang draußen geschlafen hat. Du mußt ihm helfen. Und vielleicht wird er trotzdem sterben. Du mußt darauf vorbereitet sein.«

»Nein, bitte...«

Nick legte eine Hand auf Toms Schulter, aber Tom spürte nichts... es war, als sei Nicks Hand nichts weiter als Rauch. »Wenn er stirbt, mußt du mit Kojak weiterziehen. Du mußt nach Boulder gehen und den Leuten erzählen, daß du die Hand Gottes in der Wüste gesehen hast. Wenn es Gottes Wille ist, wird Stu mit dir gehen... wenn er wieder gesund ist. Wenn es aber Gottes Wille ist, daß er stirbt, dann wird er sterben. Wie ich.«

»Nick«, sagte Tom flehentlich. »Bitte...«

»Ich habe dir mein Bein aus einem bestimmten Grund gezeigt. Es gibt nämlich Tabletten gegen Infektionen. In Geschäften wie diesem.«

Tom sah sich um und stellte fest, daß sie nicht mehr auf der Straße waren, sondern in einem dunklen Laden. Es war ein Drugstore. An Klavierdrähten hing ein Rollstuhl von der Decke herab, wie ein unheimlicher, mechanischer Leichnam. Daneben wurden auf einem Plakat Hilfen gegen Inkontinenz angepriesen.

»Ja, Sir? Was kann ich für Sie tun?«

Tom fuhr herum. Hinter dem Ladentisch stand Nick in einem weißen Kittel.

»Nick?«

»Ja, Sir.« Nick fing an, Fläschchen mit Tabletten auf dem Ladentisch aufzureihen. »Das ist Penicillin. Sehr gut gegen Lungenentzündung. Das ist Ampicillin; und das hier ist Amoxicillin. Auch beides sehr gut. Und das ist Vacillin. Das gibt man meist Kinder. Manchmal hilft es, wenn die anderen Mittel nicht wirken. Er muß viel trinken. Am besten Fruchtsäfte. Wenn du keine Fruchtsäfte auftreiben kannst, gib ihm dies: Vitamin-C-Tabletten. Außerdem muß er Bewegung haben...«

»Ich kann das alles nicht behalten!« jammerte Tom.

»Du wirst dir Mühe geben müssen. Weil kein anderer da ist. Du bist ganz allein.«

Tom fing an zu weinen.

Nick beugte sich vor. Er holte aus. Es gab keine Ohrfeige - da war bloß dieses Gefühl, daß Nick nur Rauch war und an Tom vorbei oder durch ihn hindurch ging. Trotzdem ruckte Toms Kopf zur Seite.

Irgend etwas in seinem Schädel schien einzurasten.

»Hör auf damit, Tom! Benimm dich nicht wie ein Baby! Sei ein Mann!

Um Himmels willen, sei ein Mann!«

Tom starrte Nick entgeistert an, eine Hand an der Wange, die Augen weit aufgerissen.

»Stu muß aufstehen«, sagte Nick. »Du mußt ihm helfen, auf seinem guten Bein zu stehen. Zieh ihn hoch und stütz ihn. Er darf nicht die ganze Zeit liegen.«

»Er ist nicht bei Verstand«, sagte Tom. »Er schreit... er schreit Leute an, die gar nicht da sind.«

»Er phantasiert. Trotzdem muß er aufstehen, sooft es geht. Gib ihm das Penicillin. Immer eine Tablette. Gib ihm Aspirin. Halt ihn warm. Bete. Das alles kannst du tun.«

»Ja, Nick, ja. Ich will versuchen, ein Mann zu sein. Ich will versuchen, das alles zu behalten. Aber ich wünschte, du könntest bei mir bleiben. Meine Fresse, ja.«

»Tu dein Bestes, Tom. Das ist alles.«

Nick war verschwunden. Tom kam zu sich und stand in dem verlassenen Drugstore vor dem Ladentisch, auf dem vier Fläschchen mit Tabletten lagen. Tom starrte sie lange an, bevor er sie einsteckte.




Als Tom zurückkam, war es vier Uhr morgens. Er hatte einen frostigen Panzer aus Hagelkörnern auf den Schultern. Im Osten wurde der Himmel schon ein wenig hell. Kojak begrüßte Tom mit begeistertem Gebell, und Stu stöhnte und wachte auf. Tom kniete sich neben ihn auf den Boden. »Stu?«

»Tom? Ich kann kaum atmen.«

»Ich habe Medizin, Stu. Nick hat sie mir gezeigt. Du nimmst sie, dann wirst du diese Infektion los. Du mußt gleich eine nehmen.«

Tom holte die vier Fläschchen mit Tabletten und eine große Flasche Fruchtsaft aus einer Plastiktüte. Zu seiner Erleichterung hatte er festgestellt, daß es in der Green River Superette genügend Fruchtsaft gab.

Stu betrachtete die Tabletten, indem er sie ganz dicht vor die Augen hielt. »Tom, woher hast du das?«

»Aus dem Drugstore. Nick hat sie mir gegeben.«

»Nein, also ehrlich.«

»Ehrlich! Ehrlich! Zuerst mußt du das Penicillin nehmen, damit wir sehen, ob es hilft. Auf welcher steht Penicillin?«

»Auf dieser... aber Tom...«

»Nein. Du mußt. Nick hat es gesagt. Und du mußt aufstehen und herumgehen.«

»Ich kann nicht gehen. Mein Bein ist gebrochen. Und ich bin krank.«

Stus Stimme wurde mürrisch, aufsässig. Eine richtige Krankenzimmerstimme.

»Du mußt. Oder ich zieh' dich hoch«, sagte Tom.

Stu fing wieder an zu phantasieren. Tom schob ihm eine Penicillintablette in den Mund und gab ihm Fruchtsaft zu trinken. Stu schluckte den Saft und die Tablette reflexhaft und bekam einen gräßlichen Hustenanfall. Tom klopfte ihm den Rücken, als sei er ein Baby. Dann zerrte er ihn von seinem Lager hoch und schleifte ihn durch die Empfangshalle, wobei Kojak ihnen ängstlich folgte.

»Bitte, lieber Gott«, sagte Tom. »Bitte, lieber Gott. Bitte.«

Stu schrie: »Ich weiß, wo ich ihr ein Waschbrett besorgen kann, Glen! In diesem Musikladen gibt es welche! Ich habe sie im Fenster gesehen!«

»Bitte, lieber Gott«, keuchte Tom. Stus Kopf lehnte an Toms Schulter. Er war heiß wie ein Backofen. Das geschiente Bein schleifte kraftlos über den Fußboden.

Boulder schien nie so weit entfernt gewesen wie an diesem trostlosen Morgen.

Stus Kampf mit der Lungenentzündung dauerte zwei Wochen. Er trank literweise Multivitaminsäfte, V -8, Welch's Traubensaft und verschiedene Marken Orangensaft. Er merkte kaum, was er trank. Sein Urin roch stark und scharf, und sein Stuhlgang war gelb und locker wie der eines Babys. Er konnte nicht zur Toilette gehen. Tom hielt ihn sauber. Tom schleifte ihn durch die Eingangshalle des UtahHotels. Und die ganze Zeit wartete Tom auf die Nacht, in der er aufwachen würde, nicht weil Stu im Schlaf phantasierte, sondern weil seine unregelmäßigen Atemzüge nicht mehr zu hören waren. Nachdem Stu das Penicillin zwei Tage lang genommen hatte, bekam er einen häßlichen roten Hautausschlag, und Tom gab ihm Ampicillin. Dieses Mittel war besser. Als Tom am 7. Oktober aufwachte, sah er, daß Stu tiefer und ruhiger als sonst schlief. Sein ganzer Körper war schweißnaß, aber seine Stirn war kühl. Das Fieber war zurückgegangen. Die nächsten zwei Tage schlief Stu fast ohne Unterbrechung. Tom hatte Schwierigkeiten, ihn soweit wachzurütteln, daß er seine Tabletten und den Würfelzucker aus dem Restaurant des Utah-Hotels nahm.

Am 11. Oktober bekam Stu einen Rückfall, und Tom hatte furchtbare Angst, daß jetzt das Ende käme. Aber das Fieber stieg nicht mehr so hoch, und Stu atmete nicht so mühsam wie an jenen schrecklichen ersten Tagen im Utah-Hotel.

Als Tom am 13. Oktober aus einem unruhigen Schlaf in einem der Hotelsessel erwachte, saß Stu aufrecht auf seinem Lager und sah sich um. »Tom«, flüsterte er, »ich lebe.«

»Ja«, jubelte Tom, »meine Fresse, ja!«

»Ich habe Hunger. Könntest du etwas Suppe besorgen, Tom? Vielleicht mit Nudeln drin?«

Am Achtzehnten war er schon etwas zu Kräften gekommen. Tom hatte ihm Krücken aus dem Drugstore geholt, auf denen er durch die Empfangshalle humpelte. Er schaffte schon fünf Minuten, ohne ausruhen zu müssen. Der Heilvorgang in seinem gebrochenen Bein machte sich durch ständiges Jucken bemerkbar, das ihn fast verrückt machte. Verpackt in dicke, wollene Unterwäsche und einen riesigen Schaffellmantel ging er am 20. Oktober zum ersten Mal wieder ins Freie.

Der Tag war warm und sonnig, aber die Luft schmeckte kühl. In Boulder herrschte wahrscheinlich noch mildes Herbstwetter, das die Blätter an den Bäumen golden färbte, aber hier kündigte sich der Winter schon unmißverständlich an. Stu konnte kleine Flecken gefrorenen, körnigen Schnees an jenen schattigen Stellen sehen, die nie ein Sonnenstrahl erreichte.

»Ich weiß nicht, Tom«, sagte er. »Bis Grand Junction könnten wir es vielleicht schaffen, aber weiter weiß ich nicht. Es wird eine Menge Schnee in den Bergen geben, und ich kann mir nicht viel zumuten. Ich muß erst wieder richtig auf die Beine kommen.«

»Wie lange brauchst du, um wieder richtig auf die Beine zu kommen, Stu?«

»Ich weiß es nicht, Tom. Wir müssen einfach abwarten.«

Stu war entschlossen, nichts zu überstürzen, nicht zu drängen - er war dem Tode so nahe gewesen, daß er seine Genesung auskosten wollte. Und er wollte sie so weit fortschreiten lassen wie nur möglich. Sie zogen aus der Empfangshalle in zwei nebeneinanderliegende Zimmer mit einer Verbindungstür im Erdgeschoß. Das Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors wurde Kojaks provisorische Hundehütte. Der Knochen in Stus gebrochenem Bein schien tatsächlich wieder zusammenzuheilen, nur leider ziemlich schief. Wenn er wieder auf zwei geraden Beinen gehen wollte, würde George Richardson den Knochen wieder brechen und richten müssen. Bis dahin würde er nur humpeln können, wenn er die Krücken nicht mehr benutzte.

Trotzdem fing er an, das Bein zu trainieren. Er wußte, daß es lange dauern würde, auch nur fünfundsiebzig Prozent der alten Ausdauer und Beweglichkeit wiederzuerlangen, aber er hatte ja auch viel Zeit: wahrscheinlich einen ganzen Winter.

Am 28. Oktober fiel in Green River ungefähr zehn Zentimeter Schnee.

»Wenn wir hier nicht bald verschwinden«, sagte Stu, als er mit Tom am Fenster stand und sich die Bescherung ansah, »werden wir den ganzen verdammten Winter im Utah-Hotel verbringen.«

Am nächsten Tag fuhren sie in ihrem alten Plymouth zur Tankstelle am Rande der Stadt. Sie tauschten die abgefahrenen Hinterreifen gegen ein Paar Winterreifen mit Spikes. Stu mußte einige Ruhepausen einlegen, und Tom machte die Muskelarbeit. Vorher hatte Stu überlegt, ob sie nicht lieber ein Fahrzeug mit Vierradantrieb nehmen sollten, aber dann hatte er sich - ganz irrational - entschlossen, dem alten Auto, das ihnen Glück gebracht hatte, treu zu bleiben. Zum Schluß lud Tom noch vier Säcke mit je einem halben Zentner Sand in den Plymouth. Sie verließen Green River am Tag vor Allerheiligen und fuhren nach Osten.




Am 2. November mittags kamen sie in Grand Junction an. Und wie sich herausstellte, hätte die Fahrt keine drei Stunden länger dauern dürfen. Der Himmel war schon den ganzen Vormittag bleigrau gewesen, und als sie die Hauptstraße hinunterfuhren, fing es an zu schneien. Die Flocken wirbelten über die lange Kühlerschnauze des Plymouth. Schon unterwegs hatte es ein paar Schneeschauer gegeben, aber das hier war kein Schauer. Der Himmel versprach heftigen Schneefall.

»Such dir aus, wo du wohnen willst, Tom. Hier werden wir wohl eine Weile bleiben.«

Tom zeigte: »Da! Das Motel mit dem Stern drauf!«

Das Motel mit dem Stern drauf war das Grand Junction Holiday Inn. Unter dem Stern und dem bekannten Namenszug war ein Transparent angebracht, auf dem in großen roten Buchstaben zu lesen stand: ILLKOMMEN INGR NDJUNC ION ZUM SOMMERF ST'90! 12. JUNI BIS 4. JULI!

»Okay«, sagte Stu. »Also ins Holiday Inn.« Er fuhr auf den Parkplatz, stellte den Motor ab, und dort blieb der Wagen stehen. Er rührte sich nicht mehr vom Fleck. Jedenfalls nicht für Tom und Stu. Um zwei Uhr nachmittags fiel der Schnee nicht mehr in vereinzelten Flocken vom Himmel, sondern als dichter, weißer Vorhang, und die Flocken tanzten wild nach der verrückten Melodie des Windes. Der Schnee fiel lautlos und scheinbar endlos. Gegen vier Uhr nachmittags hatte der leichte Wind sich in einen Sturm verwandelt, der die Schneemassen vor sich her peitschte und sie mit unglaublicher Schnelligkeit zu hohen Wehen auftürmte. Es schneite die ganze Nacht. Als Stu und Tom am nächsten Morgen aufstanden, saß Kojak hinter der großen Eingangstür und sah hinaus auf eine weiße Welt, in der sich nichts rührte. Nur ein einzelner Blauhäher stolzierte auf den zerfetzten Resten einer Sonnenschutzmarkise herum, die auf der anderen Straßenseite windschief an einem Laden hing.

»Verrückte Krähe«, flüsterte Tom. »Wir sind eingeschneit, Stu, stimmt's?«

Stu nickte.

»Wie können wir nach Boulder kommen durch all das Zeug?«

»Wir warten bis zum Frühling«, sagte Stu.

»So lange?« Tom blickte betrübt drein, und Stu legte einen Arm um die breiten Schultern des kräftigen Mannes, der in seinem Innern noch ein Kind war.

»Die Zeit wird vergehen«, sagte er, aber selbst er war nicht sicher, ob sie die Geduld aufbringen würden, so lange zu warten.




In der Dunkelheit hatte Stu eine Zeitlang gestöhnt und gekeucht. Schließlich stieß er einen Schrei aus, der so laut war, daß er davon erwachte, und der Traum ließ ihn los; er lag, auf die Ellbogen gestützt, wieder in seinem Motelzimmer im Holiday Inn und starrte aus weit aufgerissenen Augen ins Nichts. Er stieß einen langen, zitternden Seufzer aus und tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Er hatte den Schalter bereits zweimal gedrückt, bevor ihm wieder zu Bewußtsein kam, daß es ja gar keinen Strom mehr gab - seltsam, wie schwer es fiel, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Er nahm die Coleman-Lampe vom Fußboden und zündete sie an. Als das Licht neben dem Tisch brannte, benutzte er den Nachttopf. Dann setzte er sich auf den Stuhl neben dem Tisch. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, daß es Viertel nach drei morgens war.

Wieder dieser Traum. Der Frannie-Traum. Der Alptraum. Es war immer dasselbe: Frannie in Schmerzen, ihr Gesicht schweißgebadet, Richardson zwischen ihren Beinen, und Laurie Constable als Assistentin daneben. Frans Füße hingen in Stahlschlingen...

Pressen, Frannie. Kräftig! Gut so.

Aber wenn Stu Georges ernste Augen über der weißen Gesichtsmaske sah, wußte er, daß überhaupt nichts gut war. Im Gegenteil: Irgend etwas stimmte nicht. Laurie tupfte Fran den Schweiß vom Gesicht und strich ihr das Haar aus der Stirn. Steißlage.

Wer hatte das gesagt? Es war eine unheilverkündende, körperlose Stimme. Tief und schleppend, wie von einer zu langsam abgespielten Schallplatte.

Steißlage.

Georges Stimme: Ruf Dick. Sag ihm, vielleicht müssen wir...

Lauries Stimme: Doktor, sie verliert jetzt sehr viel Blut...

Stu zündete sich eine Zigarette an. Sie schmeckte scheußlich, aber nach diesem Traum war alles eine Erholung. Es ist ein Angsttraum. Das ist alles. Das ist die typische Macho-Vorstellung, daß alles schiefgeht, wenn du nicht dabei bist. Vergiß es, Stuart. Es geht ihr gut. Nicht alle Träume werden wahr...

Aber zu viele Träume waren im letzten halben Jahr wahr geworden. Das Gefühl, daß dieser immer wiederkehrende Traum von Frans Entbindung ihm die Zukunft zeigte, wollte ihn nicht loslassen. Er drückte die halb gerauchte Zigarette aus und starrte mit leerem Blick in das sanfte, ruhige Licht der Gaslampe. Heute war der 29. November; das Holiday Inn von Grand Junction war jetzt schon seit vier Wochen ihr Quartier. Die Zeit war langsam und zäh verronnen, aber sie hatten es geschafft, bei Laune zu bleiben, indem sie die ganze Stadt immer wieder nach interessanten Dingen durchstöbert hatten, mit denen man sich beschäftigen und die Zeit totschlagen konnte.

Stu war in der Lagerhalle eines Elektrogroßhandels an der Grand Avenue auf einen mittelgroßen Honda-Elektrogenerator gestoßen, und er und Tom hatten ihn ins Convention Center gegenüber dem Holiday Inn geschleppt, indem sie das Ding mit Hilfe eines Flaschenzuges auf einen Schlitten gehoben und dann zwei Schneemobile vor den Schlitten gespannt hatten - mit anderen Worten: Sie hatten den Generator auf eine ganz ähnliche Art und Weise transportiert wie der Mülleimermann sein allerletztes Geschenk an Randall Flagg.

»Und was tun wir damit?« fragte Tom. »Den Strom im Motel wieder anmachen?«

»Dafür ist dieser Generator zu klein«, sagte Stu.

»Warum nehmen wir ihn dann mit? Wozu?« fragte Tom voller Ungeduld.

»Du wirst schon sehen«, sagte Stu.

Sie stellten den Generator in der kleinen Elektrozentrale der Convention Hall ab, und damit war das Gerät für Tom gestorben und vergessen - und genau das hatte Stu sich erhofft. Am folgenden Tag war er mit dem Schneemobil zum Grand Junction Simplex gefahren und hatte - indem er wieder, diesmal alleine, den Flaschenzug benutzte - einen alten Fünfunddreißig-Millimeter-Filmprojektor aus einem Fenster im zweiten Stock der Lagerhalle, wo er ihn auf einem seiner früheren Streifzüge entdeckt hatte, heruntergehievt. Der Projektor war in Plastikfolie eingewickelt gewesen... und dann, nach der dicken Staubschicht zu urteilen, die sich auf der Schutzfolie angesammelt hatte, schlicht und einfach vergessen worden. Stus Bein hatte ganz gut mitgespielt, aber er hatte dennoch fast drei Stunden gebraucht, um den Projektor durch den Haupteingang der Convention Hall bis in die Mitte des Sitzungssaales zu schleppen. Er hatte dazu drei kleine Transportkarren benutzt und immer damit gerechnet, daß Tom plötzlich auftauchen würde, um nach ihm zu sehen. Mit Toms Hilfe wäre die Arbeit viel schneller vonstatten gegangen, aber es hätte auch die Überraschung verdorben, die Stu Tom bereiten wollte. Aber Tom war offensichtlich in eigener Sache unterwegs, und Stu bekam ihn den Tag über nicht zu Gesicht. Als Tom schließlich gegen fünf Uhr nachmittags ins Holiday Inn zurückkehrte, mit von der Kälte roten Wangen und einem dicken Schal um den Hals, war die Überraschungsparty drüben in der Convention Hall bereits vorbereitet.

Stu hatte alle sechs Filme mitgebracht, die er in einem Kino in Grand Junction gefunden hatte. Nach dem Abendessen sagte er beiläufig:

»Komm mal mit mir rüber zur Convention Hall, Tom.«

»Warum?«

»Du wirst schon sehen.«

Sie überquerten die verschneite Straße. Am Eingang der Convention Hall drückte Stu Tom eine Tüte Popcorn in die Hand.

»Was soll das?« fragte Tom.

»Ist doch schöner, sich 'nen Film anzusehen, wenn man was zu knabbern hat, du großer Dummkopf«, sagte Stu grinsend.

»FILM

»Ja, sicher.«

Tom brach wie ein Unwetter durch die Eingangstür. Sah den Projektor, vorführbereit, mit eingelegter Filmrolle. Sah die große Leinwand der Versammlungshalle, die Stu heruntergelassen hatte. Sah zwei Klappstühle auf dem leeren Mittelgang.

»Whow«, flüsterte er, und das Erstaunen auf seinem Gesicht war so echt und tief und kindlich, wie Stu es sich nur erhoffen konnte.

»Ich habe im Starlite Drive-In drüben in Braintree drei Jahre den Sommer über als Filmvorführer gearbeitet«, sagte Stu. »Ich hoffe, ich habe nicht vergessen, wie man diese verdammten Filmrollen austauscht.«

»Whow«, sagte Tom wieder.

Stu stieg über das Wirrwarr von Kabeln und Anschlüssen hinweg, mit denen Projektor und Generator verbunden waren, ging in die Elektrozentrale und zog kräftig an der Starterschnur. Der kleine Benzinmotor des Generators begann zu tuckern. Stu schloß die Tür zur Elektrozentrale so weit hinter sich, wie es wegen der Kabelstränge möglich war, um das Geräusch des Motors zu dämpfen und knipste dann die Lampen im Versammlungsraum aus. Fünf Minuten später saßen er und Tom Seite an Seite und verfolgten, wie Sylvester Stallone in Rambo IV: The Fire-Fight Hunderte von Drogenhändlern ins Jenseits beförderte. Der DolbySound dröhnte aus den sechzehn Lautsprechern des Versammlungsraums im Conventional Center; manchmal war das Spektakel dermaßen laut, daß sie die Dialoge (was an Dialogen stattfand) kaum mehr verstehen konnten... aber als der Film zu Ende war, hatte die Vorführung ihnen beiden gefallen.

Jetzt, wo er über diese Geschichte nachdachte, lächelte Stu. Jemand, der es nicht besser wußte, hätte ihn als dämlich bezeichnet - denn hätte Stu einen Videorecorder an einen sehr viel kleineren Generator angeschlossen, was möglich gewesen wäre, hätten sie sich auf diese Weise Hunderte von Filmen ansehen können, wahrscheinlich sogar drüben im Holiday Inn. Aber ein Film auf der Leinwand war etwas anderes als auf einem Fernsehbildschirm, war es immer schon gewesen; jedenfalls nach seiner Ansicht. Außerdem ging es eigentlich auch gar nicht darum. Es ging schlicht und einfach darum, daß er und Tom jede Menge Zeit totzuschlagen hatten... und an manchen Tagen wollte die Zeit einfach nicht sterben.

Wie dem auch sei, einer der Filme war eine Neufassung des letzten Disney-Zeichentrickfilms Oliver and Company, der nie auf Videokassette erschienen war. Tom sah sich den Streifen wieder und wieder an, lachte wie ein Kind über die Eskapaden von Oliver und dem Artful Dodger und Fagin, der im Film auf einem Schleppkahn in New York wohnte und auf einem gestohlenen Flugzeugsitz zu schlafen pflegte.

Zusätzlich zu seinem Filmprojekt hatte Stu Modellautos zusammengebaut, mehr als zwanzig Stück, unter anderem einen Rolls-Royce aus 240 Einzelteilen, die vor der Supergrippe 65 Dollar gekostet hatten. Tom hatte aus Papiermache, Gips und diversen Lebensmittelfarben eine seltsame, aber irgendwie ansprechende Landschaft modelliert, die den halben Fußboden eines Tagungsraums im Holiday Inn ausfüllte. Er nannte sein Werk Mondbasis Alpha. O ja, sie hatten sich beschäftigt, aber...

Was du jetzt denkst, ist verrückt.

Er bewegte sein Bein. Es war in besserer Verfassung, als er je zu hoffen gewagt hatte. Zum Teil verdankte er das dem Fitnessraum des Holiday Inn und seinen Übungsgeräten. Das Bein war noch ein wenig steif und schmerzte gelegentlich, aber er konnte ohne Krücken gehen, wenn auch humpelnd. Sie konnten es langsam angehen lassen. Er war sicher, daß er Tom beibringen konnte, eines dieser Schneemobile zu fahren, die hier fast jeder Einwohner in der Garage stehen hatte. Zwanzig Meilen am Tag konnte man mit diesen Dingern wohl schaffen. Zeltbahn, dicke Schlafsäcke und jede Menge gefriergetrocknetes Lebensmittelkonzentrat konnte man sich einpacken...

Sicher. Und wenn am Vail-Paß eine Lawine auf uns zukommt, winken wir ihr mit einer Packung gefriergetrockneter Karotten, und sie wendet sich angewidert ab und geht uns aus dem Weg. Es ist verrückt!

Er löschte das Licht. Aber es dauerte lange, bis er einschlief. Beim Frühstück sagte er: »Tom, möchtest du gern nach Boulder zurück?« »Fran sehen? Und Dick und Sandy? Meine Fresse, nichts auf der Welt möcht' ich lieber als das! Glaubst du, daß sie mein kleines Haus weggegeben haben?«

»Nein, bestimmt nicht. Ich meine: Wäre es dir ein Risiko wert?« Tom sah ihn verwirrt an, und Stu wollte gerade die Frage noch einmal einfacher stellen, als Tom sagte: »Meine Fresse, alles ist ein Risiko, oder nicht?« Und damit war es entschieden. Sie verließen Grand Junction am letzten Novembertag.




Das Schneemobilfahren brauchte er Tom nicht beizubringen. Stu fand eine Monster-Maschine in einem Schuppen des Colorado Highway Department unweit des Holiday Inn. Das Gefährt hatte einen superstarken Motor, eine Verkleidung, um den Wind abzuhalten, und, was das wichtigste war, viel Platz für Gepäck. Es war früher offensichtlich zum Transport von Rettungsgeräten benutzt worden. Hinten war ein großer offener Raum, in dem ein Hund von Kojaks Größe bequem untergebracht werden konnte. Was sie sonst noch brauchten, besorgten sie sich aus den vielen Sport- und Freizeitgeschäften am Ort. Dabei gab es kaum Schwierigkeiten, obwohl die Supergrippe am Sommeranfang zugeschlagen hatte. Sie nahmen leichte Zeltbahnen und leichte Schlafsäcke mit, ebenso ein Paar Langlaufskier (obschon allein der Gedanke, Tom die Grundkenntnisse des Skilanglaufs beibringen zu müssen, Stu das Blut in den Adern gefrieren ließ), einen großen Coleman-Gaskocher, Lampen, Gasflaschen, Ersatzbatterien, Nahrungskonzentrate und ein Garand-Gewehr mit Zielfernrohr.

Am ersten Tag um zwei Uhr mittags wußte Stu, daß seine Angst, sie könnten einschneien und verhungern, grundlos gewesen war. Der Wald wimmelte förmlich von Wild. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Später am Nachmittag schoß er ein Stück Rotwild. Das erste seit seiner Schulzeit. Damals hatte er die Schule geschwänzt, um mit seinem Onkel Dale auf die Jagd zu gehen. Das Tier, das sie geschossen hatten, war eine magere Ricke gewesen, und ihr Fleisch hatte stark nach Wild und ziemlich bitter geschmeckt, weil sie zuviel Nesseln gefressen hatte, wie Onkel Dale sagte. Das Tier, das Stu heute erlegt hatte, war ein schöner, schwerer Bock mit breiter Brust. Aber schließlich, dachte Stu, als er das Tier mit einem großen Messer ausweidete, hat der Winter gerade erst angefangen, und Mutter Natur hat ihre eigene Art, mit Übervölkerungsproblemen fertig zu werden.

Tom suchte Holz und schichtete es auf, während Stu den Bock, so gut er konnte, zerlegte. Als er das geschafft hatte, war es schon seit drei Stunden dunkel, die Ärmel seines Mantels waren steif und klebrig von Blut, und sein Bein sang das »Ave Maria«. Das Reh, das sein Onkel Dale geschossen hatte, war damals von einem alten Mann namens Schoey aus der Decke geschlagen, ausgeweidet und zerlegt worden. Dieser Mann hatte in einer baufälligen Hütte am Stadtrand von Braintree gewohnt und hatte für seine Arbeit drei Dollar und zehn Pfund vom bitteren Fleisch bekommen.

»Schade, daß der alte Schoey heute abend nicht hier ist«, seufzte Stu.

»Wer?« fragte Tom, der fast eingeschlummert war.

»Ach nichts, Tom. Ich führe Selbstgespräche.«

Die Arbeit hatte sich gelohnt. Das Wildbret war zart und schmeckte vorzüglich. Als sie sich satt gegessen hatten, kochte Stu noch ungefähr dreißig Pfund Fleisch und verstaute es am anderen Morgen in einem der kleinen Gepäckträger des Schneemobils. An diesem ersten Tag hatten sie nur sechzehn Meilen zurückgelegt.




In dieser Nacht war der Traum anders. Stu war wieder im Entbindungszimmer. Überall sah er Blut. Die Ärmel seines weißen Kittels waren steif und klebrig davon. Aber dieses Mal war es kein Tierblut, sondern Frans Blut. Die Kittel, die George und Laurie trugen, waren genauso blutgetränkt wie das Laken, mit dem Frannie zugedeckt war. Und sie schrie.

Es kommt, keuchte George. Seine Zeit ist endlich gekommen. Frannie, es will geboren werden. Pressen! PRESSEN!

Und es kam, es kam in einem letzten Schauer von Blut. George ergriff das Kind bei den Hüften, denn es war mit den Füßen zuerst gekommen...

Laurie fing an zu kreischen. Die Geräte aus rostfreiem Stahl waren vollgespritzt mit -

Denn es war ein Wolf mit einem teuflisch grinsenden menschlichen Gesicht, seinem Gesicht, es war Flagg, er war wieder da, er war nicht tot, noch nicht, er war noch auf der Welt, Frannie hatte Randall Flagg geboren -

Stu erwachte von seinem eigenen Stöhnen. Hatte er geschrien? Tom schlief fest. Er hatte sich so tief in seinen Schlafsack verkrochen, daß nur noch sein blonder Haarschopf zu sehen war. Kojak lag zusammengerollt neben Stu. Es war alles in Ordnung. Es war nur ein Traum gewesen...

Und dann stieg ein Heulen in die Nacht, erhob sich wie der silberne Klang verzweifelten Grauens... das Heulen eines Wolfes, oder vielleicht der Schrei einer Mörderseele.

Kojak hob den Kopf.

Stu überlief eine Gänsehaut die Arme, die Oberschenkel, die Leisten.

Das Heulen kam nicht wieder.

Stu schlief wieder ein. Am Morgen packten sie auf und fuhren weiter. Tom machte Stu darauf aufmerksam, daß die Eingeweide des Rehbocks verschwunden waren. Wo sie gelegen hatten, war nur noch ein Durcheinander von Fußspuren, und die Farbe des Blutes im Schnee war zu einem trüben Rosa verblaßt... aber das war alles.




Das Wetter blieb fünf Tage lang gut, und sie erreichten Rifle. Als sie am nächsten Morgen aufwachten, kündigte sich ein Blizzard an. Stu sagte, sie müßten hier das Ende des Sturms abwarten, und so richteten sie sich in einem Motel des Ortes ein. Tom hielt die Eingangstüren auf, und Stu fuhr das Schneemobil direkt in die Empfangshalle. Und obwohl der schöne Teppichboden ziemlich darunter litt, fand Stu, daß das Schneemobil hier bestens untergebracht sei.




Es schneite drei Tage lang. Als sie am Morgen des 10. Dezember aufbrachen, schien die Sonne hell vom Himmel, und die Temperatur war auf knapp über Null Grad angestiegen. Der Schnee lag jetzt so hoch, daß es Schwierigkeiten machte, den Verlauf der 1-70 zu finden. Aber das war nicht Stus größte Sorge an diesem hellen, warmen und sonnigen Tag. Am späten Nachmittag, als die blauen Schatten länger wurden, fuhr Stu langsamer und stellte schließlich den Motor ab. Er schwieg, den Kopf schräg gelegt, und schien mit seinem ganzen Körper zu lauschen.

»Was ist, Stu? Was...« Dann hörte Tom es auch. Ein leises, tiefes Grollen zu ihrer Linken über ihnen. Es schwoll zu einem lauten Donnern an, raste an ihnen vorbei wie ein Schnellzug und verstummte allmählich.

»Stu?« fragte Tom ängstlich.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte er und dachte: Ich mach' mir schon genug Sorgen, daß es für uns beide reicht.




Das milde Wetter hielt sich, und am 13. Dezember waren sie nahe Shoshone, und der Weg in Richtung Rockies stieg immer noch an. Der höchste Punkt, den sie erreichen würden, bevor es wieder bergab ging, war der Loveland-Paß.

Immer wieder hörten sie das tiefe Grollen der Lawinen. Manchmal weit weg. Manchmal ganz nah. Am zwölften war eine Lawine hinter ihnen zu Tal gegangen und hatte die Spur des Schneemobils, das dort vor einer halben Stunde vorbeigezogen war, unter Tonnen von Pappschnee begraben. Stu fürchtete jeden Tag mehr, daß die Vibrationswellen, die der Motor des Schneemobils produzierte, sie letzten Endes umbringen würden, indem sie eine Lawine auslösten, die sie schon zehn Meter tief begraben hätte, bevor sie wußten, was ihnen geschah. Der weiße Tod. Aber jetzt konnten sie nichts tun, als Tempo zu machen und das Beste zu hoffen.

Als dann die Temperatur sank und die Lawinengefahr etwas nachließ, gab es wieder einen Sturm, der sie am Weiterfahren hinderte. Nach zwei Tagen schaufelten sie sich frei und machten sich erneut auf den Weg... und nachts heulten die Wölfe. Manchmal klang ihr Geheul weit entfernt, aber manchmal war es so nah, dass man glauben konnte, sie stünden direkt vo r dem Zelt. Dann erhob sich Kojak und ließ - angespannt wie eine Stahlfeder - ein tiefes Grollen hören. Aber die Temperaturen blieben tief und die Häufigkeit der Lawinen ließ nach, wenngleich am Achtzehnten wieder eine in unmittelbarer Nähe an ihnen vorüberfegte.

Am 22. Dezember, unweit der Stadt Avon, verlor Stu die Orientierung und kam mit dem Schneemobil vom Highway ab. Für ein paar Sekunden fuhren sie im gewohnten Zehn-Meilen-Tempo weiter, ruhig und sicher, wirbelten Wolken von Schnee hinter sich auf. Tom hatte Stu gerade auf die unter ihnen liegende Stadt aufmerksam gemacht, die mit ihrem weißen Kirchturm und den hohen, jungfräulichen Schneewehen, die bis zu den Dachvorsprüngen der Häuser reichten, still und idyllisch dalag wie auf einem Postkartenfoto. Im nächsten Augenblick senkte sich die Motorhaube des Schneemobils steil nach vorn.

»Verdammte Scheiße...«, sagte Stu, und mehr zu sagen reichte die Zeit nicht.

Das Schneemobil kippte noch steiler ab. Stu riß den Gashebel zurück, aber es war zu spät. Er und Tom hatten das seltsame Gefühl der Schwerelosigkeit, jenes Gefühl, das man verspürt, wenn man von einem Sprungbrett in die Höhe getragen wird und den Scheitelpunkt erreicht, an dem Schwerkraft und Sprungenergie sich die Waage halten. Sie wurden kopfüber aus dem Schneemobil geschleudert. Stu verlor Tom und Kojak aus den Augen. Kalter Schnee drang ihm in die Nase. Als er den Mund öffnete, um zu schreien, rutschte ihm eine eiskalte Portion in den Hals; im nächsten Moment fegte der Schnee über den Rücken seines Mantels hinweg. Taumelnd, rollend, sich überschlagend, rutschte er einen steilen Hang hinunter, bis eine tiefe weiße Schneedecke seinen Sturz beendete.

Stu kämpfte sich wie ein Schwimmer in die Höhe, atmete keuchend die glutheiße Luft. Seine Kehle war wie vereist.

»Tom!« rief er, den Schnee unter sich festtretend. Verrückt, aber er konnte von hier aus genau jene Stelle erkennen, an der sie vom Highway abgekommen waren, wobei sie ihre eigene kleine Lawine ausgelöst hatten. Das Heck des Schneemobils ragte etwa fünfzehn Meter tiefer am Hang aus dem Schnee. Es sah aus wie eine orangefarbene Boje. Seltsam, wie sehr man der Metaphorik von Wasser und Weite verhaftet war... und, verdammt noch mal, sass Tom noch im Sitz und ertrank?

»Tom! Tommy

Kojak brach durch die Schneeoberfläche. Er sah aus, als wäre er von Kopf bis Schwanz mit Puderzucker bestäubt worden. Er wühlte sich in Richtung Stu durch den Schnee.

»Kojak!« brüllte Stu. »Such Tom! Such Tom

Kojak bellte und versuchte, sich wieder in Gegenrichtung voranzukämpfen. Er hielt auf eine zerwühlte Stelle am verschneiten Hang zu und bellte wieder. Schwankend, stürzend, Schnee schluckend erreichte schließlich auch Stu diese Stelle. Er wühlte in der weißen Masse herum. Seine behandschuhte Rechte bekam Toms Jacke zu fassen, und Stu zerrte mit aller Kraft daran, zog Tom hervor. Tom würgte und keuchte, und beide stürzten erschöpft auf den Rücken und blieben liegen. Tom begann zu wimmern.

»Meine Kehle! So heiß! Heiß! Meine Fresse, ach du meine Fresse...«

»Ist die Kälte, Tom. Das geht vorbei.«

»Tom wäre fast ersti...«

»Jetzt ist alles in Ordnung, Tom. Jetzt wird alles wieder gut.«

Sie blieben liegen, bis sie halbwegs zu Atem gekommen waren. Dann legte Stu Tom den Arm um die Schultern, um den großen Kerl zu beruhigen, das Zittern zu stillen. Ein Stück entfernt ging mit dumpfem Rumoren, das bedrohlich anschwoll und dann allmählich verklang, eine weitere Lawine nieder.

Sie brauchten den Rest dieses Tages, um die dreiviertel Meile zwischen dem Unfallort und der Stadt Avon zurückzulegen. Es gab keine Möglichkeit, das Schneemobil oder einen der Ausrüstungsgegenstände zu bergen, die daran festgezurrt waren; der Hang war einfach zu steil und zu gefährlich. Das Schneemobil würde mindestens bis zum Frühjahr bleiben, wo es war - vielleicht auch für immer, so, wie die Dinge jetzt lagen.

Sie erreichten die Stadt eine halbe Stunde nach Einbruch der Dämmerung. Es war zu kalt und zu windig, als daß sie irgend etwas anderes hätten unternehmen können, als ein Feuer zu entfachen, um einen halbwegs warmen Platz für die Nacht zu haben. Ihr Schlaf war traumlos - der Schlaf der völligen Erschöpfung. Am folgenden Morgen beschäftigten sie sich damit, sich neu auszurüsten. In der Kleinstadt Avon war dies eine weit schwierigere Aufgabe als seinerzeit in Grand Junction. Wieder erwog Stu die Möglichkeit, einfach hier zu bleiben und zu überwintern. Hätte er Tom gesagt, dies sei das richtige - Tom hätte erst gar keine Fragen gestellt. Zu deutlich hatte die gestrige Lektion gelehrt, was Leuten passieren kann, die ihr Glück herausfordern. Aber letztendlich verwarf Stu den Gedanken, in Avon zu bleiben. Das Baby würde, wenn alles gutging, Anfang Januar geboren werden. Er wollte an Ort und Stelle sein, wenn es zur Welt kam. Er wollte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß mit dem Baby alles in Ordnung war. Am Ende von Avons kurzer Hauptstraße stießen sie auf eine JohnDeere-Niederlassung, und in der Werkstatt hinter dem Ausstellungsraum fanden sie zwei gebrauchte Deere -Schneemobile. Keines von beiden war zwar annähernd so leistungsstark wie die Maschine des Highway Department, die Stu von der Straße gelenkt hatte, aber eine der beiden hatte eine besonders breite Spurweite, und Stu glaubte, daß sie ihren Zweck erfüllen würde. Nahrungskonzentrate fanden sie nicht, also mußten sie sich wieder auf Konserven verlegen. Die zweite Tageshälfte verbrachten sie damit, Häuser auf der Suche nach Campingausrüstungen zu durchstöbern, eine Arbeit, die keinem von beiden schmeckte. Überall fanden sich Opfer der Seuche; Leichen, die sich in verweste, grotesk deformierte Schaustücke einer Eishöhle verwandelt hatten. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit fanden sie das meiste von dem, was sie den Tag über vergeblich gesucht hatten, in einer großen Ferienpension in unmittelbarer Nähe der Hauptstraße. Bevor die Supergrippe zugeschlagen hatte, war die Pension offensichtlich bis auf den letzten Platz von jungen Leuten belegt gewesen - jener Sorte junger Leute, die nach Colorado kamen, um all die Dinge zu tun, die John Denver zu besingen pflegte. Allerdings fand Tom in einem versteckten Winkel unter der Treppe eine große grüne PlastikAbfalltüte, die mit einer Spielart von »Rocky Mountain High« gefüllt war, die eine durchschlagende Wirkung haben mußte.

»Was ist das? Ist es Tabak, Stu?«

Stu grinste. »Na ja, das haben vermutlich so einige andere Leute auch gedacht. Es ist Narrenkraut, Tom. Leg's dorthin zurück, wo du's gefunden hast.«

Sie beluden sorgfältig das Schneemobil, verstauten die Konserven, schnürten neue Schlafsäcke und Zeltbahnen an das Fahrzeug. Inzwischen leuchteten die ersten Sterne auf, und sie beschlossen, noch eine weitere Nacht in Avon zu verbringen.

Während sie langsam über den verharschten Schnee zum Haus fuhren, in dem sie ihr Quartier aufgeschlagen hatten, kam Stu eine ziemlich verblüffende Erkenntnis: morgen war Heiligabend. Es erschien ihm unglaublich, daß die Zeit so schnell vergangen war, aber ein Blick auf die Datumsanzeige seiner Armbanduhr bestätigte dies. Sie hatten Grand Junction vor mehr als drei Wochen verlassen. Als sie das Haus erreichten, sagte Stu: »Geh du schon mal mit Kojak rein und mach ein Feuer an. Ich habe noch eine kleine Besorgung zu machen.«

»Was ist es denn, Stu?«

»Na ja, es soll eine Überraschung sein«, sagte Stu.

»Überraschung? Werde ich erfahren, was es ist?«

»Ja.«

»Wann?« Toms Augen leuchteten auf.

»In ein paar Tagen.«

»Ein paar Tage kann Tom Cullen nicht auf eine Überraschung warten, meine Fresse, nein.«

»Tom Cullen wird's aber müssen«, sagte Stu grinsend. »In einer Stunde bin ich zurück.«

»Tja... okay.«

Es dauerte länger als anderthalb Stunden, bis Stu genau das gefunden hatte, was er suchte. Nach seiner Rückkehr versuchte Tom ihn auszuquetschen, aber Stu hielt den Mund, und als sie sich schließlich zur Ruhe begaben, hatte Tom die Geschichte bereits völlig vergessen.

Als sie in der Dunkelheit lagen, sagte Stu: »Ich wette, jetzt wünschst du dir, wir wären in Grand Junction geblieben, was?«

»Meine Fresse, nein«, antwortete Tom schläfrig. »Ich möchte so schnell ich kann zu meinem kleinen Haus zurück, nichts weiter. Ich hoffe nur, wir kommen nicht noch mal von der Straße ab und fallen in den Schnee. Tom Cullen wäre fast erstickt!«

»Wir müssen einfach langsamer fahren und uns mehr Mühe geben«, sagte Stu und verschwieg wohlweislich, was wahrscheinlich mit ihnen passierte, falls es noch einmal passierte... zu Fuß konnten sie dann keinen Zufluchtsort mehr erreichen.

»Wann glaubst du, kommen wir an, Stu?«

»Es wird noch ein Weilchen dauern, alter Quälgeist. Aber wir werden ankommen. Und ich glaube, jetzt sollten wir besser schlafen, nicht wahr?«

»Glaub' ich auch.«

Stu löschte das Licht.

In dieser Nacht träumte er, daß Frannie und ihr gräßliches Wolfskind bei der Geburt gestorben seien. Aus weiter Ferne hörte er George Richardson sagen: Es ist die Grippe. Wegen der Grippe wird es keine Babys mehr geben. Schwangerschaft ist Tod, wegen der Grippe. Ein Huhn in jeden Topf und ein Wolf in jede Gebärmutter. Wegen der Grippe. Wir sind erledigt. Die ganze Menschheit ist erledigt. Wegen der Grippe.

Und von irgendwoher, sehr viel näher, schloß sich an diese Worte das heulende Gelächter des dunklen Mannes an.




Am Heiligen Abend begann eine Zeit des schnellen, ungestörten Vorankommens, die fast bis zum Neuen Jahr andauern sollte. Die Schneedecke war in der Kälte verharscht. Der Wind wirbelte Wolken von Eiskristallen darüber hinweg und häufte sie zu kleinen, pulverigen, fischgrätenartigen Dünen auf, die das John-DeereSchneemobil mühelos durchschnitt. Stu und Tom trugen Sonnenbrillen zum Schutz gegen Schneeblindheit.

Heiligabend kampierten sie nach ihrer ersten Tagesetappe vierundzwanzig Meilen östlich von Avon, in der Nähe von Silverstone. Sie hatten jetzt den Zugang zum Loveland-Paß erreicht, und der verstopfte, begrabene Eisenhower Tunnel lag irgendwo im Osten tief unter ihnen. Während sie warteten, bis ihr Abendessen aufgewärmt war, machte Stu eine überraschende Entdeckung. Als er, um sich die Zeit zu vertreiben, mit einer Axt die verharschte Schneedecke aufschlug und mit der Hand den pulvrigen Schnee darunter hervorwühlte, ertastete er genau an der Stelle, an der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, in Armestiefe eine glatte Metalloberfläche. Fast hätte er Tom auf seine Entdeckung aufmerksam gemacht, doch er ließ es bleiben. Es war ein höchst unbehaglicher Gedanke, daß sie weniger als einen halben Meter über einer Stelle lagerten, unter der sich ein Fahrzeugstau befand... weniger als einen halben Meter über Gott weiß wie vielen Leichen.




Als Tom am Morgen des Fünfundzwanzigsten um halb sieben erwachte, war Stu schon auf und machte Frühstück. Das war erstaunlich, denn sonst erwachte Tom immer zuerst. Über dem Feuer hing ein Topf mit Campbell's Gemüsesuppe, der gerade anfing zu brodeln. Kojak beobachtete den Topf mit großer Begeisterung.

»Guten Morgen, Stu«, sagte Tom, zog sich die Jacke zu und kroch aus seinem Schlafsack.

»Morgen«, antwortete Stu beiläufig. »Und ein frohes Weihnachtsfest.«

»Weihnachtsfest?« Tom sah ihn an und vergaß ganz, daß er so dringend pinkeln mußte. »Weihnachten?« sagte er noch einmal.

»Weihnachtsmorgen.« Er zeigte mit dem Daumen zu einer Stelle links von Tom. »Was Besseres konnte ich nicht auftreiben.«

In der Schneekruste steckte die etwa sechzig Zentimeter hohe Spitze einer Tanne. Sie war mit kleinen silberglänzenden Eiszapfen geschmückt. Stu hatte sie im Hinterzimmer des Avon Five and Ten gefunden.

»Ein Baum«, flüsterte Tom ehrfurchtsvoll. »Und Geschenke. Das sind doch Geschenke, nicht wahr, Stu?«

Im Schnee unter dem Baum lagen drei Pakete, alle in hellblaues Seidenpapier mit silbernen Hochzeitsglocken eingewickelt - Weihnachtspapier hatte er im Five and Ten nicht gefunden, nicht einmal im Hinterzimmer.

»Ganz richtig, das sind Geschenke. Für dich. Ich nehme an, sie sind vom Weihnachtsmann.«

Tom sah Stu böse an. »Tom Cullen weiß, daß es keinen Weihnachtsmann gibt! Meine Fresse, nein! Sie sind von dir!« Er sah jetzt bekümmert aus. »Und ich hab' überhaupt nichts für dich! Ich hab' es vergessen... ich wußte nicht, daß Weihnachten ist... ich bin dumm! Dumm!« Er ballte die Faust und schlug sich vor die Stirn. Er war den Tränen nahe.

Stu hockte sich neben ihn in den Schnee. »Tom«, sagte er. »Du hast mir dein Weihnachtsgeschenk doch schon vorher gegeben.«

»Nein, Sir, hab' ich nicht. Hab' ich vergessen. Tom Cullen ist ein Dummkopf. M-O-N-D, und das buchstabiert man Dummkopf.«

»Bist du nicht. Du hast mir das allerschönste Weihnachtsgeschenk gemacht. Ich lebe noch. Und das habe ich dir zu verdanken.«

Tom sah ihn verständnislos an.

»Wenn du nicht rechtzeitig gekommen wärst, hätte ich an dem unterspülten Straßenstück westlich von Green River sterben müssen. Und wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich im Utah Hotel an Lungenentzündung oder Grippe oder was es auch immer war sterben müssen. Ich weiß nicht, wie du die richtigen Pillen gefunden hast... ob es Nick war oder Gott oder ganz einfach Glück, aber du hast sie gefunden. Du bist ja verrückt, dich einen Dummkopf zu nennen. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich dieses Weihnachtsfest nie erlebt. Ich bin tief in deiner Schuld.«

»Ach, das ist doch nicht dasselbe«, sagte Tom, aber er strahlte über das ganze Gesicht.

»Es ist dasselbe«, sagte Stu ernst.

»Aber...«

»Komm, mach deine Geschenke auf. Schau nach, was er dir gebracht hat. Ich habe doch mitten in der Nacht seinen Schlitten gehört. Ich denke, bis zum Nordpol ist die Grippe nicht gekommen.«

»Du hast ihn gehört?« Tom sah Stu mißtrauisch an, um zu sehen, ob er ihn auch nicht anschwindelte.

»Irgend etwas habe ich gehört.«

Tom nahm das erste Paket und wickelte es sorgfältig aus - ein batteriebetriebener kleiner Spielautomat, von der Art, wie ihn sich die meisten Kinder schon im vergangenen Jahr zu Weihnachten gewünscht hatten. Er war in eine Plastikfolie eingeschweißt. Toms Augen leuchteten, als er ihn sah.

»Schalt ihn an«, sagte Stu.

»Nein, ich will erst sehen, was ich sonst noch gekriegt habe.«

Es war ein Sweatshirt mit einem völlig erschöpften Skiläufer auf krummen Skiern, der sich auf seine Skistöcke stützt.

»Darunter steht ICH WAR AUF DEM LOVELAND PASS«, erklärte Stu. »So weit sind wir zwar noch nicht, aber ich glaube, wir werden's schaffen.«

Tom zog sofort seinen Parka aus, streifte das Sweatshirt über und zog den Parka wieder an.

»Toll! Wirklich toll, Stu!«

Das letzte Paket war das kleinste. Es enthielt einen schlichten Silberanhänger an einer feinen Gliederkette aus Silber. Tom kam die Figur vor wie eine liegende Acht. Er hielt sie hoch und betrachtete sie erstaunt.

»Was ist das, Stu?«

»Es ist ein griechisches Symbol. Das weiß ich noch aus irgendeiner Fernsehsendung. Es bedeutet Unendlichkeit, Tom. Immer und ewig.« Er streckte den Arm nach Tom aus und nahm die Hand, die die Figur hielt. »Ich glaube, wir werden Boulder erreichen, Tommy. Ich glaube, das war uns von Anfang an bestimmt. Ich möchte gern, daß du es trägst, wenn es dir nichts ausmacht. Und wenn du irgendwann etwas brauchst und nicht weißt, wen du fragen sollst, dann schau dieses Symbol an und denk an Stuart Redman. Okay?«

»Unendlichkeit«, sagte Tom und drehte die Figur in der Hand.

»Immer und ewig.«

Er hängte sich die Kette um den Hals.

»Ich werde daran denken«, sagte er. »Tom Cullen wird daran denken.«

»Scheiße! Das hätte ich doch fast vergessen!« Stu griff in seinen Schlafsack und holte noch ein Paket hervor. »Frohes Weihnachtsfest, Kojak! Ich will es mal für dich aufmachen.« Er entfernte das Papier, und ein Karton HartzMountain-Hundekuchen kam zum Vorschein. Er warf eine Handvoll in den Schnee, und Kojak verschlang sie mit Heißhunger. Dann stellte er sich vor Stu und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.

»Später gibt's mehr«, sagte Stu. »Lerne endlich Manieren, bei allem, was du tust, wie der alte Glatzkopf gesagt... gesagt hätte.« Er merkte, wie seine Stimme brüchig wurde und ihm Tränen in die Augen traten. Plötzlich vermißte er Glen, vermißte Larry, vermißte Ralph mit seinem Federhut. Plötzlich vermißte er sie alle, sie alle, die gestorben waren, vermißte sie schrecklich. Mutter Abagail hatte gesagt, sie würden durch Ströme von Blut waten, bis alles vorüber sei, und sie hatte recht gehabt. In seinem Herzen verfluchte und segnete Stuart Redman sie gleichzeitig.

»Stu? Ist alles in Ordnung?«

»Ja, Tommy, alles klar.« Plötzlich umarmte er Tom heftig, und Tom erwiderte die Umarmung. »Frohe Weihnachten, du alter Klotz.«

Zögernd sagte Tom: »Darf ich noch singen, bevor wir gehen?«

»Gern, wenn du möchtest.« Stu erwartete »Jingle B ells« oder »Frosty the Snowman« und eine Kinderstimme, die zaghaft und falsch sang. Aber was kam, waren Teile aus »The First Noel«, die Tom mit einer überraschend klaren Tenorstimme sang.

»The first Noel«, klang Toms Stimme über die weiße Einöde und kam als schönes Echo zurück, »the angels did say... was to certain poor shepherds in fields as they lay ...In fields ...as they... lay keeping their sheep... on a cold winter's night that was so deep...«

Stu fiel in Toms Gesang ein. Seine Stimme war nicht so gut wie Toms, aber trotzdem klang ihr gemeinsamer Gesang angenehm, und die schöne alte Hymne stieg in die tiefe Kathedralenstille des Weihnachtsmorgens auf:

»Noel, Noel, Noel, Noel... Christ is born in Israel...«

»Das ist die einzige Strophe, die ich noch weiß«, sagte Tom ein wenig schuldbewußt, als ihre Stimmen verhallten.

»Es war schön«, sagte Stu. Er war wieder den Tränen nahe. Viel fehlte nicht, und er hätte geweint, aber das hätte Tom aus der Fassung gebracht. Stu drängte die Tränen zurück.

»Wir sollten langsam aufbrechen. Es bleibt um diese Jahreszeit nicht so lange hell.«

»Ja.« Er sah Stu an, der sich am Fahrzeug zu schaffen machte. »So ein schönes Weihnachten habe ich noch nie erlebt, Stu.«

»Das freut mich, Tommy.«

Und wenig später waren sie wieder unterwegs und fuhren unter der hellen kalten Weihnachtssonne nach Osten zu den Bergen hinauf.




In dieser Nacht kampierten sie am Loveland-Paß in der Nähe des höchsten Punktes, fast 3500 Meter über dem Meeresspiegel. Während die drei gemeinsam gut geschützt schliefen, sanken die Temperaturen auf etwa sechs Grad unter Null. Kalt wie die Klinge eines Küchenmessers fegte der Wind über den Loveland-Paß. Im Sternenglanz der Winternacht heulten unter den hohen Schatten der Felsen die Wölfe. Nach Osten und Westen hin schien die Welt unter ihnen eine einzige Gruft zu sein.

Früh am nächsten Morgen, noch vor dem ersten Licht, weckte Kojak sie mit seinem Gebell. Mit dem Gewehr in der Hand kroch Stu nach draußen.

Zum ersten Mal kamen die Wölfe in Sicht. Sie waren aus den Schluchten gekommen und bildeten fast einen Ring um ihr Lager. Sie heulten nicht, sondern starrten nur stumm herüber. Ihre Augen hatten einen tiefgrünen Schimmer, und die Tiere schienen herzlos zu grinsen.

Stu gab wahllos sechs Schüsse ab, und sie zerstreuten sich. Einer fuhr hoch und sank als Bündel in sich zusammen. Kojak lief hin und beschnüffelte den Kadaver. Dann urinierte er darauf.

»Die Wölfe sind seine Geschöpfe. Und sie werden es immer sein.«

Tom schien noch halb zu schlafen. Seine Augen blickten schläfrig und verträumt. Stu wurde plötzlich klar, daß Tom wieder in jenen unheimlichen, tranceähnlichen Zustand verfallen war.

»Tom... ist er tot? Weißt du das?«

»Er stirbt nie«, sagte Tom. »Er ist in den Wölfen, meine Fresse, ja.

Den Krähen. Den Klapperschlangen. Er ist der Schatten einer Eule um Mitternacht und der Skorpion am hellen Mittag. Er hängt mit dem Kopf nach unten bei den Fledermäusen, und er ist blind wie sie.«

»Wird er zurückkommen?« fragte Stu drängend. Er fühlte sich eiskalt.

Tom antwortete nicht.

»Tommy...«

»Tom schläft. Er ist gegangen, den Elefanten zu sehen.«

Draußen erschien ein kalter weißer Streifen am Himmel und schob sich hinter der gezackten Öde der Berggipfel langsam höher.

»Ja. Sie warten. Sie warten. Sie warten auf Nachricht. Sie warten auf den Frühling. Alles in Boulder ist ruhig.«

»Kannst du Frannie sehen?«

Toms Miene hellte sich auf. »Frannie, ja. Sie ist dick. Ich glaube, sie kriegt ein Kind. Sie wohnt bei Lucy Swann. Lucy kriegt auch ein Kind. Aber Frannie kriegt ihres zuerst. Außer...« Toms Miene verfinsterte sich wieder.

»Tom? Außer was?«

»Das Baby...«

»Was ist mit dem Baby?«

Tom sah sich verwirrt um. »Haben wir nicht Wölfe geschossen? Bin ich eingeschlafen, Stu?«

Stu zwang sich zu einem Lächeln. »Ein wenig, Tom.«

»Ich habe von einem Elefanten geträumt. Komisch, was?«

»Ja.« Was ist mit dem Baby? Was ist mit Fran?

Er begann den Verdacht zu hegen, daß sie zu spät kommen würden; daß was immer Tom gesehen hatte, geschehen würde, bevor sie ankamen.




Drei Tage vor Neujahr war mit dem guten Wetter Schluß, und sie mußten in der kleinen Stadt Kittredge bleiben. Sie waren Boulder jetzt schon so nahe, daß diese weitere Verzögerung für sie eine bittere Enttäuschung war - selbst Kojak schien aufgeregt und ruhelos zu sein.

»Können wir bald weiterfahren, Stu?« fragte Tom hoffnungsvoll.

»Ich weiß es nicht«, sagte Stu. »Ich hoffe. Hätten wir nur zwei Tage länger schönes Wetter gehabt, hätte es gereicht, glaub' ich. Verdammt!« Er seufzte, zuckte die Achseln. »Na ja, vielleicht sind es nur Schneeschauer.«




Aber es waren keine Schneeschauer, wie sich herausstellte. Es war der stärkste Sturm des Winters. Fünf Tage hielt der Schneefall an, und es bildeten sich Verwehungen, die an manchen Stellen drei, ja bis zu vier Meter hoch waren. Als sie sich am zweiten Januar ins Freie gruben, war die Sonne so klein und trübe wie eine angelaufene Kupfermünze, und die Landschaft hatte sich in eine endlose weiße Wüste verwandelt, in der keine markanten Punkte mehr zu erkennen waren. Der größte Teil des kleinen Einkaufs viertels der Stadt war zwar nicht vom Schnee begraben, aber unzugänglich. Der Wind hatte die Schneewehen und Schneedünen zu bizarren, gekrümmten Gebilden geformt. Sie hätten sich ebensogut auf einem anderen Planeten befinden können.

Als das Wetter aufklart e, ging es langsamer voran als je zuvor. War es vorher nur lästig gewesen, ständig die Straße suchen zu müssen, so war es jetzt ein ernsthaftes Problem. Wiederholt blieb das Schneemobil stecken, und sie mußten es freischaufeln. Und am zweiten Tag des Jahres 1991 begann wieder das Güterzuggerumpel der Lawinen.

Am vierten Januar erreichten sie die Stelle, wo die US 16 von der Interstate abzweigt und nach Golden führt, und obwohl keiner von ihnen es wußte - es hatte keine Träume oder Vorahnungen gegeben -, war dies der Tag, an dem Frannie Goldsmith' Wehen begannen.

»Okay«, sagte Stu, als sie an der Abzweigung anhielten. »Jetzt haben wir wenigstens keine Mühe mehr, die Straße zu finden. Sie ist aus dem soliden Fels herausgesprengt worden. Wir hatten allerdings verdammtes Glück, die Abzweigung zu finden.«

Auf der Straße zu bleiben war leicht, aber durch den Tunnel zu kommen war schwer. Manchmal mußten sie die Überreste von Lawinen beseitigen. Und auf der blanken Straße in den Tunneln brüllte und knatterte das Schneemobil gequält.

Schlimmer noch, es war unheimlich in den Tunneln - was ihnen sowohl Larry als auch der Mülleimermann hätte sagen können. Sie waren schwarz wie Grubenschächte, von dem schmalen Lichtkegel des Schneemobils abgesehen, denn beide Ausgänge waren meistens von Schnee verschüttet. In den Tunneln fühlte man sich wie in einen dunklen Kühlschrank eingesperrt. Es ging quälend langsam voran, und die Ausfahrt am anderen Ende zu schaffen, erforderte einigen technischen Einsatz. Stu hatte Angst davor, auf einen Tunnel zu stoßen, der unpassierbar war, ganz gleich, welche Mühe sie sich auch gaben, die Wagen, die in den Tunnels steckengeblieben waren, aus dem Weg zu schieben oder zu heben. Denn wenn das passierte, wären sie gezwungen, umzukehren und wieder die Interstate zu befahren. Und das würde bedeuten, daß sie mindestens eine Woche Zeit verlören. Das Schneemobil einfach stehenzulassen, kam nicht in Frage - dies wäre einer qualvollen Methode des Selbstmords gleichgekommen.

Und dabei war Boulder nahe, so nahe.

Am siebten Januar, zwei Stunden nachdem sie sich aus einem weiteren Tunnel herausgewühlt hatten, stand Tom hinten im Schneemobil auf und zeigte nach vorn. »Was ist das, Stu?«

Stu war müde und mißmutig, nicht voll auf der Höhe. Die Träume kamen nicht mehr, aber auf perverse Weise war das noch beängstigender, als wenn sie kamen. »Steh während der Fahrt nicht dauernd auf, Tom. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Am Ende fällst du hinten runter und kopfüber in den Schnee und...«

»Ja, aber was ist es? Es sieht wie eine Brücke aus. Haben wir denn irgendwo einen Fluß gesehen, Stu?«

Stu schaute hin, nahm das Gas weg und hielt an.

»Was ist es?« fragte Tom besorgt.

»Die Überführung«, murmelte Stu. »Ich... ich kann es einfach nicht glauben...«

»Überführung? Überführung?«

Stu drehte sich um und packte Tom bei den Schultern. »Die Überführung bei Golden, Tom! Das ist die 119 da oben, Route 119!

Die Straße nach Boulder! Wir sind nur noch zwanzig Meilen von der Stadt entfernt. Vielleicht noch weniger.«

Endlich begriff Tom. Sein Unterkiefer klappte herunter, und er machte ein so komisches Gesicht, daß Stu laut lachen mußte. Er klopfte Tom auf die Schulter. Nicht einmal der dumpfe Schmerz in seinem Bein störte ihn mehr.

»Sind wir wirklich fast zu Hause, Stu?«

»Ja, ja, jaaaaa

Sie faßten sich an den Händen und tanzten unbeholfen im Schnee herum. Sie bewarfen sich mit dem Zeug. Kojak schaute erstaunt zu... aber nach einer Weile sprang er ebenso ausgelassen im Schnee herum, bellend und schwanzwedelnd.




Sie übernachteten in Golden und stießen am frühen Morgen auf die 119 in Richtung Boulder. Keiner von ihnen hatte in der letzten Nacht gut geschlafen. Eine solche Vorfreude hatte Stu in seinem ganzen Leben noch nicht empfunden ... aber in diese Vorfreude mischte sich die quälende Sorge um Frannie und das Baby.

Etwa um ein Uhr nachmittags verringerte sich die Geschwindigkeit des Schneemobils plötzlich, und dann bewegte es sich nur noch ruckweise vorwärts. Stu stellte den Motor ab und griff nach dem Reservekanister, der in Kojaks kleiner Kabine hing. »Oh, verdammt!« sagte er, als er spürte, wie leicht das Ding war.

»Was ist denn los, Stu?«


Als sie sich am zweiten Januar ins freie gruben, war die Sonne so klein und trübe wie eine angelaufene Kupfermünze, und die Landschaft hatte sich in eine endlose weiße Wüste verwandelt, in der keine markanten Punkte mehr zu erkennen waren.

»Ich! Ich bin los. Ich wußte, daß dieser verdammte Kanister leer war, und ich hab' vergessen, ihn wieder zu füllen. Ich war so verdammt aufgeregt. Wie gefällt dir diese Dummheit?«

»Wir haben keinen Sprit mehr?«

Stu warf den leeren Kanister weg. »Worauf du dich verlassen kannst. Wie konnte ich nur so dämlich sein?«

»Wahrscheinlich hast du an Frannie gedacht. Und was machen wir nun, Stu?«

»Wir gehen oder versuchen es wenigstens. Du mußt deinen Schlafsack mitnehmen. Wir teilen die Konserven unter uns auf. Das Schutzzelt müssen wir hierlassen. Es tut mir leid, Tom. Das Ganze war mein Fehler.«

»Ist schon in Ordnung, Stu. Was ist mit den Planen?«

»Ich glaube, die lassen wir besser hier, alter Junge.«

An diesem Tag erreichten sie Boulder nicht mehr. Statt dessen kampierten sie im Freien. Als es dämmerte, machten sie halt. Das Waten durch den Pulverschnee hatte sie sehr angestrengt und sie, obwohl er so leicht schien, buchstäblich zum Kriechgang verurteilt. An diesem Abend hatten sie kein Feuer. Es lag kein Holz herum, und sie waren zu erschöpft, welches auszugraben. Um sie herum riesige Schneewehen. Auch als es schon völlig dunkel war, erkannte Stu noch keinen Lichtschein am Horizont, wie sehr er auch danach Ausschau hielt.

Sie aßen kalt zu Abend, und anschließend verschwand Tom ohne jedes weitere Wort sofort in seinem Schlafsack. Stu war ebenfalls müde, und sein Bein schmerzte entsetzlich. Ich kann noch von Glück sagen, wenn ich mir das Bein nicht endgültig versaut hab', dachte Stu.

Aber morgen abend würden sie in Boulder sein, in richtigen Betten schlafen ... ein verlockender, tröstlicher Gedanke. Als er in seinen Schlafsack kroch, stieg eine beunruhigende Vorstellung in ihm auf: Sie erreichen endlich Boulder, und Boulder war leer - so leer, wie Grand Junction gewesen war und Avon und Kittredge. Leere Häuser, leere Läden, Gebäude, die Dächer unter der Schneelast eingebrochen. Die Straßen unter Schneewehen erstickt. Kein Geräusch. Nur das Tropfen, wenn bei einem der winterlichen Wärmeeinbrüche der Schnee schamhaft schmilzt. Und die waren in Boulder nicht so selten - Stu hatte mal gelesen, daß dort im Winter die Temperaturen plötzlich auf zwanzig Grad ansteigen konnten. Aber alle würden verschwunden sein, wie die Leute, von denen man träumt, verschwunden sind, wenn man aufwacht. Weil es in der ganzen Welt niemanden mehr gab außer Stu Redman und Tom Cullen.

Es war ein verrückter Gedanke, aber er konnte ihn nicht abschütteln. Er kroch aus seinem Schlafsack und schaute nach Norden und hoffte, den schwachen Lichtschein am Horizont zu sehen, den man immer sieht, wenn in der Nähe viele Menschen wohnen. Er müßte doch irgend etwas erkennen können. Er versuchte, sich daran zu erinnern, welche Bevölkerungszahl Glen für den Winter angenommen hatte, wenn der Schnee das Reisen unmöglich machte. Aber er kriegte die Zahl nicht mehr zusammen. Achttausend? Hatte Glen diese Zahl genannt? Achttausend Menschen waren nicht viel; mit starkem Lichtschein war bei einer solchen Einwohnerzahl nicht zu rechnen, selbst bei voller Beleuchtung in den Häusern und auf den Straßen.

Vielleicht... Vielleicht solltest du ein wenig schlafen und den ganzen Unsinn vergessen. Morgen ist noch ein Tag.

Er legte sich hin, und nachdem er sich ein paar Minuten unruhig hin und her gewälzt hatte, forderte die grausame Erschöpfung ihr Recht. Er schlief. Und er träumte, er sei in Boulder. In Boulder im Sommer, und die Rasen waren gelb und tot von der Hitze und weil sie kein Wasser hatten. Das einzige Geräusch war eine offene Tür, die im Wind hin und her schlug. Sie waren alle weg. Selbst Tom war verschwunden.

Frannie! rief er, aber nur der Wind antwortete. Und die Tür, die immer wieder gegen den Pfosten schlug.




Am nächsten Tag um zwei Uhr hatten sie sich wieder ein paar Meilen weitergekämpft. Mal ging der eine, mal der andere voraus. Stu glaubte allmählich, daß sie noch einen weiteren Tag unterwegs sein würden. Aber nur er war schuld daran, daß es so langsam ging. Sein Bein machte ihm Schwierigkeiten. Bald werde ich kriechen müssen, dachte er. Meistens war Tom vorausgegangen, um den Weg zu spuren.

Als sie Rast machten, um eine kalte Konserve zu essen, fiel Stu ein, daß er Frannie noch nie in hochschwangerem Zustand gesehen hatte. Vielleicht habe ich die Chance noch. Aber eigentlich glaubte er nicht mehr daran. Er war mehr und mehr davon überzeugt, daß sich alles ohne ihn abgespielt hatte... zum Guten oder zum Schlechten. Jetzt, eine Stunde nach dem Essen, beschäftigte er sich immer noch so sehr mit seinen eigenen Gedanken, daß er fast Tom umgerannt hätte, der vor ihm stehengeblieben war.

»Gibt's Probleme?« fragte Stu und rieb sich das Bein.

»Die Straße«, sagte Tom, und Stu trat rasch heran, um es sich anzusehen.

Nachdem er lange erstaunt dagestanden hatte, sagte Stu: »Da will ich mich doch glatt teeren lassen.«

Sie standen auf einer verharschten Schneeverwehung, die fast drei Meter hoch war. Der Hang fiel steil zu einer Straße ab, auf der kein Schnee zu sehen war, und rechts sahen sie ein Schild: BOULDER CITY LIMITS.

Stu fing an zu lachen. Er setzte sich in den Schnee und warf den Kopf zurück. Er brüllte vor Lachen und kümmerte sich nicht um Toms erstauntes Gesicht. Endlich sagte er: »Sie haben die Straßen mit Schneepflügen geräumt. Verstehst du? Wir haben es geschafft, Tom! Wir haben es geschafft! Kojak! Komm her!«

Stu warf die restlichen Hundekuchen in den Schnee, und Kojak verschlang sie, während Stu rauchte und Tom auf die Straße starrte, die wie die Fata Morgana eines Verrückten nach ungezählten Meilen Schnee plötzlich vor ihnen auftauchte.

»Wir sind wieder in Boulder«, murmelte Tom leise. »Das sind wir wirklich. C-I-T-Y-L-I-M-I-T-S, das buchstabiert man Stadtgrenze, meine Fresse, ja.«

Stu schlug ihm auf die Schulter und warf seine Zigarette weg. »Also los, Tom. Laß und schnellstens nach Hause gehen.«

Gegen vier fing es wieder an zu schneien. Um sechs war es dunkel, und der schwarze Teer der Straße war ein gespenstisches Weiss unter ihren Füßen. Stu humpelte wieder stark. Er wankte nur noch. Tom fragte ihn, ob er sich ein wenig ausruhen wolle, aber Stu schüttelte nur den Kopf.

Um acht Uhr herrschte wieder dichtes Schneetreiben. Ein- oder zweimal verloren sie die Orientierung und irrten in den Schneewehen am Straßenrand umher, bis sie die Richtung wieder gefunden hatten. Es wurde glatt. Tom stürzte zweimal, und dann, gegen Viertel nach acht, fiel Stu auf sein verletztes Bein. Er biß die Zähne zusammen, um nicht laut zu stöhnen. Tom rannte sofort herbei, um ihm zu helfen.

»Es ist nichts passiert«, sagte Stu und stand wieder. Zwanzig Minuten später hörten sie eine junge nervöse Stimme aus der Dunkelheit rufen.

»H-halt! W-wer da?«

Sie blieben wie angewurzelt stehen.

Kojak knurrte, und sein Nackenfell richtete sich auf. Tom hielt den Atem an. Und beim Heulen des Windes gerade noch wahrzunehmen, hörte Stu einen Laut, der ihn schaudern ließ: Ein Gewehr wurde durchgeladen.

Wachen. Sie haben Wachen aufgestellt. Es wäre sehr komisch, nach dieser langen Reise vor dem Shopping Center in Table Mesa erschossen zu werden. Wirklich komisch. Ein Witz, der sogar Randall Flagg gefallen würde.

»Stu Redman!« brüllte er in die Dunkelheit. »Hier ist Stu Redman!«

Er schluckte, und in seiner Kehle klickte es hörbar. »Wer ist denn da drüben?«

Dummes Zeug. Den kenn' ich doch sowieso nicht...

Aber die Stimme, die durch den Schnee herüberdrang, klang vertraut. »Stu? Stu Redman?«

»Tom Cullen ist auch hier... verdammt noch mal, schießen Sie bloss nicht!«

»Ist das vielleicht ein Trick?« Die Stimme schien Überlegungen anzustellen.

»Es ist kein Trick! Tom, sag was.«

»Hallo«, sagte Tom gehorsam.

Eine Pause. Der Schnee wirbelte um sie herum, und der Sturm kreischte. Dann rief der Posten (ja, die Stimme klang vertraut): »Stu hatte in seiner alten Wohnung ein Bild an der Wand hängen. Was war das für ein Bild?«

Stu überlegte fieberhaft. Er hatte dauernd nur das Geräusch beim Durchladen im Kopf. Mein Gott, dachte er, ich stehe hier im Schneesturm und muß mir überlegen, was für ein Bild im Zimmer meiner alten 'Wohnung hängt - in meiner alten Wohnung hat er gesagt. Fran muß also zu Lucy gezogen sein. Lucy hat sich über das Bild immer lustig gemacht. Sie sagte immer, John Wayne wartet schon auf diese Indianer, man sieht ihn nur nicht...

»Ein Bild von Frederic Remington!« Er brüllte, so laut er konnte. »Es heißt >Auf dem Kriegspfad

»Stu!« brüllte die Wache zurück. Ein schwarzer Schatten löste sich aus dem Schnee und rannte auf sie zu, wobei er dauernd in Gefahr war, auszurutschen und auf die Nase zu fallen. »Ich kann es einfach nicht glauben...«

Dann stand er vor ihnen, und Stu erkannte Billy Gehringer, der ihnen im letzten Sommer mit seinen Amokfahrten so viel Ärger gemacht hatte.

»Stu! Tom! Und Kojak auch noch! Wo sind Glen Bateman und Larry? Wo ist Ralph?«

Stu schüttelte müde den Kopf. »Weiß nicht. Wir müssen aus der Kälte raus, Billy. Wir erfrieren.«

»Klar, der Supermarkt ist gleich da hinten. Ich hole Norm Kellogg...

Harry Dunbarton... Dick Ellis... ach, Scheiße, ich werde die ganze Stadt wecken! Das ist ja wunderbar! Ich kann's nicht glauben!«

»Billy...«

Als Billy Gehringer sich abwandte, packte Stu ihn an der Schulter.

»Billy, Fran sollte ein Baby bekommen...«

Bill wurde ganz still. Dann flüsterte er: »Scheiße, daran habe ich überhaupt nicht mehr gedacht.«

»Hat sie es schon?«

»George. George Richardson kann es dir sagen, Stu. Oder Dan Lathrop. Das ist unser neuer Arzt. Er kam ungefähr vier Wochen nachdem ihr weggegangen wart. Er ist eigentlich Hals-Nasen-OhrenArzt, aber er ist sehr g...«

Stu schüttelte Billy kurz und schnitt damit sein beinahe hektisches Gebrabbel ab.

»Stimmt was nicht?« fragte Tom. »Stimmt was nicht mit Frannie?«

»Sag's mir, Billy«, sagte Stu. »Bitte.«

»Mit Fran ist alles in Ordnung«, sagte Billy.

»Hat man dir das nur erzählt?«

»Nein, ich hab' sie selbst gesehen. Ich und Tony Donahue sind zusammen raufgegangen. Wir hatten ein paar Blumen aus dem Treibhaus mit. Das Treibhaus ist Tonys Projekt, er baut da alles mögliche an, nicht nur Blumen. Der einzige Grund, warum sie noch im Krankenhaus ist... sie hatte eine, wie nennt man das noch... eine Operation...«

»Einen Kaiserschnitt?«

»Ja, richtig, denn das Baby kam verkehrt. Aber keine Sorge. Drei Tage nach der Geburt haben wir sie besucht, das war am siebten Januar, vor zwei Tagen. Wir brachten ihr ein paar Rosen. Wir dachten, sie könnte eine kleine Aufmunterung gebrauchen, weil...«

»Das Baby gestorben ist?« fragte Stu bedrückt.

»Es ist nicht tot«, sagte Billy. »Noch nicht«, fügte er dann widerwillig hinzu.

Stu fühlte sich plötzlich weit weg. Er fiel ins Leere. Er hörte Gelächter... und das Heulen von Wölfen...

Ganz rasch sprach Billy weiter: »Es hat die Grippe. Es hat Captain Trips. Das ist das Ende für uns alle, sagen die Leute. Frannie kriegte ihr Kind am vierten, ein Junge, ungefähr sechs Pfund, und zuerst war er okay, und ich glaube, alle in der Zone haben sich besoffen, Dick Ellis sagte, es war wie Pfingsten und Weihnachten an einem Tag, und dann am sechsten hat... hat er es dann einfach gekriegt. Ja, Mann«, sagte Billy, und seine Stimme klang belegt. »Er hat es, o Scheiße, ist das vielleicht ein schöner Empfang für dich, Stu, es tut mir so verdammt leid, Stu...«

Stu streckte die Hände aus, packte Billy an den Schultern und zog ihn näher heran.

»Zuerst sagten alle, vielleicht geht's ihm bald wieder besser, vielleicht ist das nur 'ne gewöhnliche Grippe... oder Bronchitis... vielleicht Diphtherie... aber die Ärzte sagen, daß Neugeborene so was nie kriegen. Es ist wie eine natürliche Immunität, weil sie so klein sind. Und George und Dan haben im letzten Jahr so viel von der Supergrippe gesehen...«

»Verdammte Scheiße«, murmelte Stu. Er wandte sich von Billy ab und humpelte die Straße hinunter.

»Stu, wohin willst du?«

»Ins Krankenhaus«, sagte Stu. »Zu meiner Frau.«

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