69

Whitney Horgan fand Lloyd in seinem Zimmer, wo er auf dem großen runden Bett lag, das er noch bis vor kurzem mit Dayna Jürgens geteilt hatte. Auf seiner nackten Brust balancierte er einen großen Gin Tonic. Er betrachtete feierlich sein Bild im Deckenspiegel.

»Komm rein«, sagte er, als er Whitney sah. »Mach keine Umstände, verdammt. Du brauchst nicht klopfen, Dummkopf.« Es hörte sich wie »Dummoff« an.

»Bist du besoffen, Lloyd?« fragte Whitney mißtrauisch.

»Nein. Noch nicht. Aber das kommt noch.«

»Ist er hier?«

»Wer? Der furchtlose Führer?« Lloyd setzte sich auf. »Er muss irgendwo sein. Der Mitternachtsstreuner.« Er lachte und legte sich zurück.

Whitney sagte mit leiser Stimme: »Sei vorsichtig, es ist nicht gut, was du sagst.«

»Scheiß drauf.«

»Vergiß nicht, was mit Heck Drogan passiert ist. Und Strellerton.«

Lloyd nickte. »Du hast recht. Die Wände haben Ohren. Die verdammten Wände haben Ohren. Hast du den Spruch schon mal gehört?«

»Ja, ein- oder zweimal. Hier stimmt es wirklich, Lloyd.«

»Darauf kannst du dich verlassen.« Lloyd richtete sich plötzlich auf und warf den Drink durchs Zimmer. Das Glas zerbarst. »Der ist für die Putzfrau, stimmt's, Whitney?«

»Alles in Ordnung, Lloyd?«

»Mir geht es ausgezeichnet. Willst du einen Gin Tonic?«

Whitney zögerte einen Augenblick. »Nein. Ich mag ihn nicht ohne Zitrone.«

»Herrgott, sag deshalb nicht nein. Ich habe Zitrone. Die muß man aus einer kleinen Flasche quetschen.« Lloyd ging zur Bar und hielt eine Plastikflasche hoch. »Sieht aus wie das linke Ei von Meister Proper. Komisch, was?«

»Schmeckt es wie Zitrone?«

»Natürlich«, sagte Lloyd mürrisch. » Was meinst du denn, wie es schmeckt? Kartoffelchips? Was ist jetzt? Sei ein Mann und trink einen mit mir.«

»Nun... okay.«

»Wir trinken sie am Fenster und genießen die Aussicht.«

»Nein«, sagte Whitney schroff und hastig. Lloyd blieb auf dem Weg zur Bar stehen, sein Gesicht war blaß geworden. Er sah Whitney an, und ihre Blicke trafen sich einen Moment.

»Ja, okay«, sagte Lloyd. »Tut mir leid. Das war geschmacklos.«

»Schon gut.«

Aber es war nicht gut, und sie wußten es. Die Frau, die Flagg als seine »Braut« vorgestellt hatte, war am Vortag gesprungen. Lloyd erinnerte sich daran, daß Ace High gesagt hatte, Dayna könne gar nicht vom Balkon springen, weil die Fenster sich nicht öffnen ließen. Aber das Penthouse hatte ein Sonnendach. Sie mußten geglaubt haben, daß von den wirklich Reichen - meistens Araber - niemand springen würde.

Er machte Whitney einen Gin Tonic, und sie setzten sich und tranken eine Weile schweigend. Draußen ging die Sonne rot leuchtend unter. Schließlich sagte Whitney so leise, daß es kaum zu hören war:

»Glaubst du wirklich, daß sie gesprungen ist?«

Lloyd zuckte die Achseln. »Was spielt das für eine Rolle. Klar. Ich glaube, daß sie gesprungen ist. Würdest du das nicht auch, wenn du mit ihm verheiratet wärst? Hast du schon ausgetrunken?«

Whitney betrachtete sein Glas und stellte erstaunt fest, daß es tatsächlich leer war. Er gab es Lloyd, der es zur Bar trug. Lloyd schenkte reichlich Gin ein, und Whitney war bald ziemlich betrunken. Wieder tranken sie eine Weile schweigend und betrachteten den Sonnenuntergang.

»Was hörst du von diesem Cullen?« fragte Whitney schließlich.

»Nichts. Nullo. Finito. Ich höre nichts. Und Barry hört auch nichts. Nicht von der Route 40, von Route 30, von Route 2. und 74 oder der 1-15. Nichts von den Nebenstraßen. Dabei werden sie alle überwacht. Er ist irgendwo draußen in der Wüste, und wenn er nachts unterwegs ist und weiß, wo Osten ist, wird er durchkommen. Was spielt das für eine Rolle? Was kann er ihnen erzählen ?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich auch nicht. Laßt ihn laufen, das ist meine Meinung.«

Whitney fühlte sich unbehaglich. Lloyd war wieder gefährlich nahe dran, den Boß zu kritisieren. Er selbst begann den Alkohol zu spüren, und darüber war er froh. Vielleicht fand er bald den Mut zu sagen, warum er gekommen war.

»Ich will dir was sagen«, meinte Lloyd und beugte sich nach vorne.

»Er kippt bald. Hast du den Spruch schon mal gehört? Wir sind in der achten Spielrunde, und er ist am-Kippen. Und niemand ist auf der Reservebank, der an seine Stelle treten könnte.«

»Lloyd, ich...«

»Noch einen?«

»Meinetwegen.«

Lloyd machte ihnen frische Drinks. Er reichte Whitney einen, und als Whitney trank, durchlief ihn ein leichter Schauer. Es war fast purer Gin.

»Er ist bereits am Kippen«, fuhr Lloyd fort. »Erst Dayna, dann dieser Cullen. Seine eigene Frau - wenn sie das war - geht hin und springt vom Dach. Glaubst du etwa, daß ihr doppelter Rittberger vom Terrassendach auf dem Spielplan stand?«

»Wir sollten nicht darüber sprechen.«

»Und der Mülleimermann. Sieh doch mal, was der alles ganz allein geschafft hat. Wenn man solche Freunde hat, braucht man dann noch Feinde? Das möchte ich gern wissen.«

»Lloyd...«

Lloyd schüttelte den Kopf. »Ich begreife das Ganze nicht. Es lief alles so gut. Bis zu dem Abend, an dem er ankam und uns erzählte, daß die alte Dame drüben in der Freien Zone gestorben ist. Er sagte, das letzte Hindernis sei jetzt aus dem Weg geräumt. Aber gerade seit dem Zeitpunkt ist fast alles schiefgegangen. «

»Lloyd, wir sollten wirklich nicht...«

»Ich weiß nicht mehr, was Sache ist. Wir können sie im nächsten Frühjahr wahrscheinlich mit Landstreitkräften erledigen. Aber wer weiß, was sie bis zum nächsten Frühjahr selbst auf die Beine gestellt haben? Wir wollten sie schlagen, bevor sie uns ei ne komische Überraschung bereiten können, aber das geht jetzt nicht mehr. Und, Gott im Himmel, wir müssen noch an Mülli denken. Er ist irgendwo draußen in der Wüste, und ich bin verdammt sicher ...«

»Lloyd«, sagte Whitney mit leiser, erstickter Stimme. »Hör mir zu.«

Lloyd beugte sich vor. »Was? Was ist los, altes Haus?«

»Ich wußte nicht, ob ich überhaupt den Mut haben würde, dich zu fragen«, sagte Whitney. Er umklammerte das Glas krampfhaft. »Ich und Ace High und Ronnie Sykes und Jenny Engstrom. Wir hauen ab. Willst du mitkommen? Mein Gott, ich muß verrückt sein, dir das zu sagen, wo du doch seine rechte Hand bist.«

»Abhauen? Wohin?«

»Wahrscheinlich Südamerika. Brasilien. Das dürfte weit genug sein.«

Er schwieg, suchte nach Worten, dann sprach er schnell weiter.

»Viele Leute verschwinden. Nun ja, so viele nicht, aber immerhin einige, und es werden jeden Tag mehr. Sie glauben nicht, daß Flagg es schafft. Einige gehen nach Norden, nach Kanada. Das ist mir zu kalt. Aber ich muß raus. Ich würde in den Osten gehen, wenn ich sicher sein könnte, daß sie mich aufnehmen.« Whitney schwieg. Er sah Lloyd kläglich an. Das Gesicht eines Mannes, der fürchtet, zu weit gegangen zu sein.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Lloyd leise. »Ich werde dich nicht verpfeifen, altes Haus.«

»Es ist einfach... alles so schlecht geworden«, sagte Whitney verzweifelt.

»Wann willst du verschwinden?« fragte Lloyd.

Whitney sah ihn mißtrauisch an.

»Ach, vergiß, daß ich gefragt habe«, sagte Lloyd. »Fertig?«

»Noch nicht«, sagte Whitney und sah in sein Glas.

»Ich schon.« Er ging zur Bar. Mit dem Rücken zu Whitney sagte er:

»Ich kann nicht.«

»Hm?«

»Kann nicht!« sagte Lloyd schneidend und drehte sich zu Whitney um. »Ich schulde ihm was. Ich schulde ihm eine Menge. Er hat mich in Phoenix aus einer schlimmen Klemme befreit, und seither bin ich bei ihm. Scheint länger her zu sein, als es in Wirklichkeit ist. Scheint eine Ewigkeit zu sein.«

»Jede Wette.«

»Aber es ist mehr als das. Er hat etwas mit mir angestellt, mich schlauer gemacht oder so. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich bin nicht mehr der alte, Whitney. Ganz und gar nicht. Vor... ihm... war ich nur dritte Garnitur. Jetzt läßt er mich den Laden hier schmeißen, und ich mache es gut. Es scheint, als könnte ich besser denken. Ja, er hat mich schlauer gemacht.« Lloyd hob den Stein mit dem Makel von der Brust, betrachtete ihn kurz und ließ ihn wieder fallen. Er wischte sich die Hände an den Hosen ab, als hätte er etwas Ekliges angefaßt. »Ich weiß, ich bin immer noch kein Genie. Ich muß alles in ein Notizbuch schreiben, was ich erledigen muß, sonst vergesse ich es. Aber mit ihm hinter mir kann ich Befehle geben, und meistens klappt alles ganz gut. Vorher konnte ich nur Befehle empfangen und in Schwulitäten geraten. Ich habe mich verändert... und er hat mich verändert. Ja, scheint länger her zu sein, als es in Wirklichkeit ist. Als wir nach Vegas kamen, waren nur sechzehn Leute hier. Ronnie war einer davon; ebenso Jenny und der arme alte Heck Drogan. Sie haben auf ihn gewartet. Als er in die Stadt kam, fiel Jenny Engstrom auf die hübschen Knie und hat ihm die Stiefel geküßt. Ich wette, das hat sie dir im Bett nie erzählt.« Er lächelte Whitney schief an. »Und jetzt will sie die Platter machen. Nun, ich mache ihr keinen Vorwurf, und dir auch nicht. Aber es ist wahrscheinlich nicht viel erforderlich, eine gute Sache zu verderben, was?«

»Du bleibst?«

»Bis zum bitteren Ende, Whitney. Seinem oder meinem. Das bin ich ihm schuldig.« Er fügte nicht hinzu, daß er immer noch genügend Glauben in den dunklen Mann hatte zu denken, daß Whitney und die anderen höchstwahrscheinlich am Kreuz enden würden. Und da war noch etwas. Hier war er Flaggs Stellvertreter. Was konnte er in Brasilien sein? Whitney und Ronnie waren beide schlauer als er. Er und Ace High würden als unterste Ränge enden, und das war nicht nach Lloyds Geschmack. Früher hätte ihm das nichts ausgemacht, aber die Lage hatte sich verändert. Und wenn sich der Kopf veränderte, mußte er feststellen, war die Veränderung meistens unumkehrbar.

»Nun, vielleicht wird es für uns alle gut«, sagte Whitney halbherzig.

»Klar«, sagte Lloyd und dachte: Aber ich möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn Flagg sich am Ende doch durchsetzt. Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn du in Brasilien bist und er endlich Zeit hat, sich um dich zu kümmern. An einem Kreuz zu hängen dürfte dann deine geringste Sorge sein.

Lloyd hob sein Glas. »Ein Trinkspruch, Whitney.«

Auch Whitney hob sein Glas.

»Keinem wird was geschehen«, sagte Lloyd. »Das ist mein Trinkspruch. Keinem wird was geschehen.«

»Mann, darauf trinke ich gerne«, sagte Whitney nachdrücklich, und sie stießen an.

Bald darauf ging Whitney. Lloyd trank weiter. Gegen halb zehn war er volltrunken und schlief auf seinem runden Bett ein. Er schlief traumlos, und das war genug Entschädigung für den Kater am nächsten Tag.

Als die Sonne am Morgen des 17. September aufging, schlug Tom Cullen nördlich von Gunlock, Utah, sein Lager auf. Es war so kalt, daß er seinen Atem Wölkchen bilden sah. Seine Ohren waren abgestorben und kalt. Aber er fühlte sich gut. In der Nacht war er ganz dicht an der Nebenstraße vorbeigekommen und hatte drei Männer an einem kleinen Lagerfeuer sitzen sehen. Alle drei waren bewaffnet.

Als er versuchte, über ein Geröllfeld an ihnen vorbeizuschleichen - er war jetzt am westlichen Rand der Wüste von Utah -, lösten sich ein paar Steine und rollten in ein ausgetrocknetes Flußbett. Tom erstarrte. Warmes Pipi lief ihm an den Beinen hinab, aber er merkte erst eine Stunde später, daß er sich in die Hose gemacht hatte wie ein kleines Baby.

Alle drei Männer drehten sich um, zwei von ihnen brachten ihre Gewehre in Anschlag. Tom hatte sich nicht mehr verstecken können. Er war ein Schatten unter Schatten. Der Mond stand hinter einer Wolkenbank. Wenn er in diesem Augenblick herauskam... t Einer entspannte sich. »Es ist nur ein Reh«, sagte er. »Davon gibt es hier genug.«

»Vielleicht sollten wir das lieber prüfen«, sagte der zweite.

»Steck dir den Daumen in den Arsch, dann kannst du den prüfen«, sagte der dritte, und damit hatte es sich. Sie blieben ruhig am Feuer sitzen, und Tom kroch vorsichtig weiter und achtete auf jeden Schritt. Viel zu langsam wurde das Lagerfeuer hinter ihm kleiner. Aber nach einer Stunde war es nur noch als kleiner Funke zu erkennen. Schließlich war es weg, und ihm fiel ein Stein vom Herzen. Jetzt fühlte er sich wieder sicher. Er war immer noch im Westen, und er wußte, daß er aufpassen mußte - meine Fresse, ja -, aber die Gefahr erschien nicht mehr so drohend, als wären überall um ihn herum Indianer oder Räuber.

Und jetzt, als die Sonne aufging, rollte er sich in einem dichten Gebüsch zusammen, um zu schlafen. Ich muß mir ein paar Wolldecken besorgen, dachte er. Es wird kalt. Dann überkam ihn der Schlaf plötzlich und fest, wie immer.

Er träumte von Nick.

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