62

Dayna Jürgens lag nackt auf dem riesigen Doppelbett, lauschte dem gleichmäßigen Rauschen des Wassers in der Duschkabine und betrachtete ihr Bild in dem großen runden Deckenspiegel, der genau die gleiche Form und Größe hatte wie das Bett, das er reflektierte. Sie fand, daß der weibliche Körper immer am besten aussieht, wenn er ausgestreckt flach auf dem Rücken liegt, der Bauch flach, die Brüste natürlich aufrecht und nicht von der Schwerkraft nach unten gezogen. Es war neun Uhr dreißig am Morgen des 8. September. Der Richter war seit achtzehn Stunden tot, Bobby Terry - zu seinem Unglück - erst seit beträchtlich kürzerer Zeit.

Die Dusche lief und lief.

Der Mann muß wohl an Waschzwang leiden, dachte sie. Was ist nur los mit ihm, daß er sich jedesmal mehr als eine geschlagene halbe Stunde duschen muß?

Sie mußte wieder an den Richter denken. Wer hätte das gedacht? In gewisser Weise war es eine brillante Idee gewesen. Wer hätte einen so alten Mann verdächtigt?

Nun, Flagg ganz offensichtlich. Irgendwie hatte er bestimmt gewußt, wann und vermutlich auch wo der Richter auftauchen würde. Eine lange Postenkette überwachte die gesamte Grenze zwischen Oregon und Idaho, und die Männer hatten den strikten Befehl, ihn zu töten, sobald sie seiner ansichtig wurden.

Aber irgend etwas mußte schiefgegangen sein. Seit gestern abend liefen die Männer der Sicherheitsabteilung hier in Las Vegas mit käsigen Gesichtern und gesenkten Blicken herum. Whitney Horgan, sonst ein sehr guter Koch, hatte etwas serviert, das wie Hundefutter aussah und so angebrannt war, daß es nach nichts schmeckte. Der Richter war tot, aber etwas war schiefgegangen.

Sie stand auf, trat ans Fenster und sah auf die weite Wüstenlandschaft hinaus. Auf der US 95 sah sie zwei große Busse der High School von Las Vegas unter der heißen Sonne nach Westen rollen; sie fuhren wahrscheinlich zur Airbase von Indian Springs, wo, wie Dayna aus sicherer Quelle wußte, Lehrgänge für den Umgang mit Düsenflugzeugen abgehalten wurden. Im Westen waren mehr als ein Dutzend Leute, die fliegen konnten, aber zum großen Glück - für die Freie Zone - hatte keiner eine Ausbildung für die Jets der Nationalgarde in Indian Springs.

Aber sie lernten. O ja.

Für Dayna war am Tod des Richters momentan nur wichtig, daß sie etwas gewußt hatten, was sie eigentlich nicht wissen durften. Hatten sie auch einen Spion in der Freien Zone? Das war möglich, vermutete sie; Spionieren war ein Spiel, das auch zwei spielen konnten. Aber Sue Stern hatte ihr gesagt, von der Entscheidung, Spione nach Westen zu schicken, wüßte nur das Komitee, und sie bezweifelte stark, daß einer der sieben auf der Seite von Flagg stand.

Mutter Abagail hätte gewußt, wenn das Komitee verderbt geworden wäre. Da war Dayna ganz sicher.

Damit blieb eine äußerst unangenehme Alternative. Flagg selbst hatte es einfach gewußt.

Dayna war jetzt schon acht Tage in Las Vegas, und soweit sie wußte, war sie ohne Einschränkungen in die Gemeinschaft aufgenommen worden. Sie hatte schon genügend Informationen über das gesammelt, was hier vor sich ging, um die Leute in Boulder in nackte Angst zu versetzen. Dazu würden schon die Auskünfte über das Programm für die Ausbildung an den Düsenflugzeugen reichen. Was ihr aber persönlich am meisten Angst machte, war die Art, wie die Leute sich abwandten, wenn man Flaggs Namen erwähnte, wie sie taten, als hätten sie nichts gehört. Manche kreuzten die Finger, andere machten einen Knicks, wieder andere hinter der vorgehaltenen Hand das Zeichen des Bösen Blicks. Er war der große Da/Nicht-da.

Das war am Tage. Aber abends, wenn man ruhig in der Club Bar des Grand oder im Silver Slipper Room im The Cashbox saß, hörte man Geschichten über ihn, die einen Mythos begründeten. Sie sprachen langsam und stockend und ohne den anderen anzusehen, und dabei tranken sie meistens Bier. Wenn man stärkere Sachen trank, kon nte man zu leicht die Kontrolle über das Mundwerk verlieren, und das war gefährlich. Sie wußte, daß nicht alles stimmte, was geredet wurde, aber es war schon fast unmöglich, Schein und Sein zu unterscheiden. Sie hatte gehört, er wäre ein Gestaltveränderer, ein Werwolf, er habe selbst die Seuche auf das Land losgelassen, er sei der Antichrist, dessen Kommen in der Offenbarung geweissagt worden war. Sie hatte von der Kreuzigung von Hector Drogan gehört, wie er einfach gewußt hatte, daß Heck Drogen nahm... wie er anscheinend auch gewußt hatte, daß der Richter unterwegs war. Und bei diesen nächtlichen Gesprächen wurde er niemals Flagg genannt; es war, als glaubten sie, ihn beim Namen zu nennen, würde ihn herbeirufen wie den Geist aus der Flasche. Sie nannten ihn den dunklen Mann. Den Wandelnden Gecken. Den großen Mann. Und Rattie Erwins nannte ihn den alten kriechenden Judas. Wenn er alles über den Richter gewußt hatte, war es dann nicht logisch, daß er auch alles über sie wußte?

Die Dusche wurde abgestellt.

Ruhig bleiben, Liebling. Er unterstützt den Hokus-Pokus. Das läßt ihn größer erscheinen. Es könnte durchaus sein, daß er in der Freien Zone einen Spion hat - es muß nicht unbedingt ein Mitglied des Komitees sein, vielleicht nur jemand, der ihm erzählt hat, daß Richter Farris nicht der Typ eines Überläufers ist.

»Puppe, du solltest nicht ohne Kleider herumlaufen. Sonst machst du mich sofort wieder geil.«

Sie drehte sich mit strahlendem, einladendem Lächeln zu ihm um und dachte dabei, sie wäre am liebsten mit ihm nach unten in die Küche gegangen und hätte das Ding, auf das er so verdammt stolz war, in Whitney Horgans elektrischen Fleischwolf gesteckt. »Was meinst du denn, warum ich so herumlaufe?«

Er sah auf die Uhr. »Wir haben vielleicht noch vierzig Minuten.« Sein Penis geriet schon in zuckende Bewegung... wie eine Wünschelrute, dachte Dayna gallig amüsiert.

»Gut, dann komm.« Er trat auf sie zu, und sie deutete auf seine Brust. »Und nimm das Ding ab. Es macht mir Gänsehaut.«

Lloyd Henreid betrachtete das Amulett, die dunkle Träne mit dem roten Fleck, zog es aus und legte es auf den Nachttisch. Die feingliedrige Kette machte ein zischendes Geräusch. »Besser?«

»Viel besser.«

Sie breitete die Arme aus. Einen Augenblick später lag er auf ihr. Einen Augenblick danach drang er stoßend in sie ein.

»Magst du das?« keuchte er. »Magst du das Gefühl, Süße?«

»O Gott, ich mag es«, stöhnte sie und dachte dabei an den Fleischwolf, Emaille und Edelstahl rostfrei.

»Was?«

»Ich habe gesagt, ich mag es!« schrie sie.

Kurz danach täuschte sie einen Orgasmus vor, verzerrte die Lippen, schrie auf. Er kam Sekunden später (sie teilte jetzt seit vier Tagen das Bett mit Lloyd und kannte seinen Rhythmus schon nahezu perfekt), und während sie spürte, wie sein Samen an ihrem Schenkel hinabfloß, sah sie auf den Nachttisch.

Schwarzer Stein.

Roter Makel.

Er schien sie anzustarren.

Plötzlich hatte sie das schreckliche Gefühl, daß er sie tatsächlich anstarrte, daß der Stein sein Auge war, dem die Kontaktlinse der Menschlichkeit abgenommen worden war, das sie anstarrte wie das Auge Saurons Frodo im dunklen Barad-Dur angesehen hatte, im Lande Mordor, wo die Schatten dröhn.

Es sieht mich, dachte sie voll hoffnungslosem Entsetzen in diesem schutzlosen Augenblick, bevor die Vernunft wieder die Oberhand gewinnen konnte. Schlimmer: Es DURCHSCHAUT mich.

Anschließend redete Lloyd, wie sie gehofft hatte. Auch das gehörte zu seinem Rhythmus. Er legte einen Arm um ihre nackten Schultern, rauchte eine Zigarette, betrachtete ihre Spiegelbilder an der Decke und erzählte ihr, was sich hier abspielte.

»Ich hätte nicht in Bobby Terrys Haut stecken mögen«, sagte er.

»Nein, Sir, auf keinen Fall. Der Boß wollte den Kopf des alten Furzes völlig unbeschädigt und ohne eine einzige Schramme. Wollte ihn über die Rockies zurückschicken. Und was passiert? Der Dummsack schießt ihm zwei Fünfundvierzigerkugeln ins Gesicht. Auf kurze Entfernung. Ich schätze, er hat verdient, was er bekommen hat, aber ich bin froh, daß ich nicht dabei war.«

»Was ist mit ihm passiert?«

»Nicht fragen, Süße!«

»Wie konnte er es wissen? Der Boß?«

»Er war da.«

Es überlief sie kalt.

»Zufällig?«

»Ja. Er ist immer zufällig da, wo es Ärger gibt. Mein Gott, wenn ich daran denke, was er mit Eric Strellerton, diesem neunmalklugen Anwalt gemacht hat, mit dem Mülli und ich nach Los Angeles gefahren waren...«

»Was hat er denn mit ihm gemacht?«

Lange glaubte sie, daß er nicht antworten würde. Gewöhnlich gelang es ihr, ihn ganz sanft dorthin zu bringen, wo sie ihn haben wollte, indem sie ihn ganz leise und höflich fragte, so daß er sich (wie es ihre kleine Schwester einmal so unvergeßlich formulierte) vorkam wie Graf Rotz. Aber heute hatte sie das Gefühl, daß sie zu weit gegangen war, bis Lloyd schließlich mit gepreßter Stimme sagte:

»Er hat ihn nur angesehen. Eric trug seine ganze Scheiße vor, wie das seiner Meinung nach in Vegas laufen müßte... wir sollten dies und jenes tun. Der arme alte Mülli - er ist ja selbst nicht ganz dicht - hat ihn angestarrt wie einen Fernsehstar. Eric lief auf und ab, als würde er sich an Geschworene wenden und überzeugt sein, daß er sie in der Tasche hatte. Und er sagte - ganz leise - >Eric<. Genau so. Und Eric sah ihn an. Ich habe nichts weiter gesehen. Aber Eric hat ihn lange angesehen. Vielleicht fünf Minuten. Seine Augen wurden immer größer... dann fing er an zu sabbern... und dann fing er an zu kichern.,. und er kicherte mit Eric, und das machte mir Angst. Wenn Flagg lacht, hat man immer Angst. Aber Eric hörte nicht auf zu kichern, und dann sagte er: >Wenn ihr zurückfahrt, setzt ihn in der Mojave-Wüste aus.< Und das haben wir dann auch getan. Und vielleicht läuft Eric dort immer noch herum. Er sah Eric nur fünf Minuten an, und Eric verlor den Verstand.«

Er zog kräftig an seiner Zigarette und drückte sie aus. Dann legte er einen Arm um sie. »Warum reden wir eigentlich über diese ganze Scheiße?«

»Ich weiß es nicht... wie sieht es draußen in Indian Springs aus?«

Lloyd strahlte. Das Projekt Indian Springs war sein Baby. »Gut. Echt gut. Bis zum ersten Oktober haben drei Jungs ihre Ausbildung an den Skyhawks, vielleicht sogar schon früher. Hank Rawson macht sich ganz hervorragend. Und dieser Mülleimermann ist ein wahres Genie. In mancher Hinsicht ist er nicht so helle, aber wenn es um Waffen geht, ist er unglaublich.«

Sie hatte den Mülleimermann zweimal gesehen. Jedesmal war es ihr kalt über den Rücken gelaufen, als er sie mit seinen trüben Augen ansah, und sie hatte sichtliche Erleichterung empfunden, als er den Blick wieder abwandte. Ganz offensichtlich sahen viele andere - Lloyd, Hank Rawson, Ronnie Sykes, der Rattenmann - in ihm eine Art Maskottchen, einen Glücksbringer. Sein lädierter Arm war eine scheußliche Masse von frisch verheiltem verbrannten Gewebe, und vor zwei Tagen war ihr abends etwas Eigenartiges aufgefallen. Hank Rawson sprach. Er steckte eine Zigarette in den Mund, zündete ein Streichholz an und sprach zu Ende, bevor er sich die Zigarette ansteckte und das Streichholz löschte. Dayna sah, wie der Mülleimermann auf die Streichholzflamme starrte, wie er den Atem anzuhalten schien. Er schien sich mit seiner ganzen Existenz auf diese winzige Streichholzflamme zu konzentrieren. Es war, als würde ein Verhungernder eine Mahlzeit mit neun Gängen vor sich sehen. Dann hatte Hank das Streichholz ausgeschnippt und den schwarzen Stummel in den Aschenbecher geworfen. Der Augenblick war vorbei gewesen.

»Er kann also gut mit Waffen umgehen?« fragte sie Lloyd.

»Großartig. Die Skyhawks haben Luft-Boden-Raketen unter den Tragflächen. Shrike-Raketen. Ist es nicht komisch, wie sie den ganzen Mist nennen? Kein Mensch wußte, wie man die gottverdammten Dinger an den Flugzeugen anbringt. Kein Mensch wußte, wie man sie scharf macht und zündet. Wir haben schon einen ganzen Tag gebraucht, um uns zu überlegen, wie man sie aus den Halterungen im Arsenal herausbekommt. Und Hank sagte: >Wir sollten Mülli holen, wenn er wieder hier ist, vielleicht kommt er damit zurecht.<«

»Wenn er wieder hier ist?«

»Er ist ein komischer Kerl. Diesmal ist er schon fast eine Woche hier in Vegas, aber er wird bald wieder verschwinden.«

»Wohin geht er denn?«

»In die Wüste. Er nimmt einen Landrover und fährt einfach los. Er ist ein komischer Kauz, das kann ich dir sagen. Auf seine Art ist Müll genauso unheimlich wie der Boß. Westlich von hier liegt nur Wüste und gottverlassene Öde. Ich muß es wissen. Ich habe da in einem Höllenloch namens Brownsville Station im Knast gesessen. Ich weiss nicht, wovon er da draußen lebt, aber er schafft es. Er sucht neues Spielzeug und bringt immer etwas mit zurück. Ungefähr eine Woche nachdem ich mit ihm aus L.A. zurückgekommen war, schleppte er ein paar >Maschinengewehre, die immer treffen<. Das letzte Mal brachte er Tellerminen, Tretminen, Splitterminen und einen Kanister voll Parathion. Er sagte, er habe jede Menge Parathion gefunden. Außerdem genug Entlaubungsmittel, um den ganzen Staat Colorado so kahl wie ein Hühnerei zu machen.«

»Wo findet er das?«

»Überall«, sagte Lloyd schlicht. »Er riecht es, Süße. Das Ganze ist gar nicht so verwunderlich. Große Teile von West-Nevada und OstKalifornien haben den guten alten Vereinigten Staaten gehört. Dort haben sie ihre Spielsachen getestet, einschließlich Atombomben. Eines Tages wird er auch noch so eine anschleppen.«

Er lachte. Dayna fühlte sich plötzlich kalt, schrecklich kalt.

»Auch die Supergrippe hat irgendwo da draußen angefangen«, sagte Lloyd. »Darauf wette ich jeden Betrag. Vielleicht findet Mülli die Stelle. Ich sagte dir ja, er kann so was riechen. Der Boß sagt, man soll ihm seinen Willen lassen, und er soll fahren, wohin er will. Das macht er. Kennst du schon sein neuestes Lieblingsspielzeug?«

»Nein«, sagte Dayna. Sie war nicht sicher, ob sie es wissen wollte, aber weshalb war sie denn hier?

»Flammenwerfer.«

»Was sind Flammenwärter?«

»Nicht Wärter, Werfer. In Indian Springs hat er fünf Stück nebeneinander aufgestellt wie Formel-Eins-Rennwagen.« Lloyd lachte. »Die wurden in Vietnam eingesetzt. Die Jungs nannten sie Zippos. Sie sind mit Napalm gefüllt. Mülli liebt sie.«

»Schön«, murmelte sie.

»Als Müll diesmal zurückkam, haben wir ihn nach Springs gebracht. Er hat sich die Shrikes angesehen, gesummt und gemurmelt, und sie innerhalb von sechs Stunden montiert und scharf gemacht. Ist das zu glauben? Techniker der Air Force müssen sie schätzungsweise neunzig Jahre dafür ausbilden. Aber sie sind eben nicht Müll. Er ist ein Genie.«

Du meinst, ein Fachidiot. Ich wette, ich weiß, woher seine Brandwunden stammen.

Lloyd sah auf die Uhr und richtete sich auf. »Da wir gerade von Indian Springs reden, ich muß hinfahren. Die Zeit reicht nur noch zum Duschen. Kommst du mit?«

»Diesmal nicht.«

Als die Dusche wieder rauschte, zog sie sich an. Bisher war es ihr immer gelungen, sich an- oder auszuziehen, wenn er nicht im Zimmer war, und so sollte es auch bleiben.

Sie schnallte sich das Messer um den Arm und schob es in die Klammer mit der Feder. Eine rasche Bewegung des Handgelenks, und sie hätte eine Zehnzollklinge in der Hand.

Nun, dachte sie, als sie die Bluse anzog, ein paar Geheimnisse muss ein Mädchen schon haben.




Am Nachmittag arbeitete sie in einem Trupp, der die Straßenlaternen wartete. Die Arbeit bestand darin, mit einem simplen Gerät zu prüfen, ob die Birnen noch intakt waren, und sie gegebenenfalls auszuwechseln, wenn sie ausgebrannt oder zur Zeit der Grippe in L. A. von Vandalen zertrümmert worden waren. Sie arbeiteten mit vier Leuten und benutzten einen Kirschenpflücker mit ausfahrbarer Plattform, mit dem sie von einer Laterne zur anderen und von Straße zu Straße rollten.

Am späten Nachmittag stand Dayna auf der Plattform des Kirschenpflückers, löste die Plexiglaskugel von einer der Straßenlaternen und überlegte, wie sympathisch ihr die Leute eigentlich waren, mit denen sie zusammenarbeitete, besonders Jenny Engstrom, eine energische und hübsche ehemalige Nachtklubtänzerin, die jetzt den Kirschenpflücker fuhr. Als Mädchen war sie der Typ, den Dayna gern als beste Freundin gehabt hätte, und sie wunderte sich darüber, daß Jenny auf der Seite des dunklen Mannes stand. Sie wunderte sich so sehr, daß sie es nicht wagte, Jenny um eine Erklärung zu bitten.

Die anderen waren auch in Ordnung. Sie fand, daß der Anteil der Dummen in Vegas größer war als in der Zone, aber keiner hatte Reißzähne, und sie verwandelten sich auch nicht in Fledermäuse, wenn der Mond aufging. Die Leute hier arbeiteten viel härter als die in der Zone. In der Freien Zone sah man die Leute zu jeder Tageszeit im Park Spazierengehen, und viele dehnten ihre Mittagspause auf zwei Stunden aus. So etwas passierte hier nicht. Von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags arbeitete hier jeder, entweder in Indian Springs oder bei den Wartungstrupps hier in der Stadt. Und auch die Schule hatte wieder angefangen. In Vegas waren ungefähr zwanzig Kinder im Alter von vier (das war Daniel McCarthy, der Liebling aller, den die meisten Dinny nannten) bis fünfzehn. Sie hatten zwei Leute mit Lehrbefähigung gefunden, und an fünf Tagen in der Woche fand der Unterricht statt. Lloyd, der die Schule schon verlassen hatte, nachdem er die vorletzte Klasse zweimal wiederholt hatte, betonte immer wieder seinen Stolz auf die Bildungsmöglichkeiten, die es hier gab. Die Apotheken waren geöffnet und wurden nicht bewacht. Die Leute gingen ständig ein und aus... aber sie nahmen nichts Schlimmeres mit als ein paar Aspirin oder eine Flasche Gelusil. Ein Drogenproblern gab es im Westen nicht. Wer gesehen hatte, was mit Hector Drogan passiert war, kannte die Strafe für Sucht. Es gab keine Rieh Moffats. Alle waren freundlich und ehrlich. Und es war vernünftig, nichts Stärkeres als Flaschenbier zu trinken.

Deutschland im Jahre 1938, dachte sie. Die Nazis? Oh, das sind nette Leute. Sehr athletisch. Sie besuchen keine Nachtklubs, die Nachtklubs sind für die Touristen. Was machen sie? Sie machen Uhren.

War das ein fairer Vergleich, fragte sich Dayna unbehaglich und dachte an Jenny Engstrom, die sie so gerne hatte. Sie wußte es nicht... aber wahrscheinlich schon.

Sie prüfte die Birne in der Kuppel des Lichtmastes. Die war defekt. Sie schraubte sie aus, legte sie vorsichtig zwischen ihre Füße und schraubte ihre letzte neue ein. Gut, der Tag war ohnehin zu Ende. Es war...

Sie schaute nach unten und erstarrte.

Die Leute aus Indian Springs kamen von der Bushaltestelle. Alle sahen beiläufig nach oben, so wie Leute eben nach oben schauen, wenn sich oben etwas abspielt. Das Gratis-Zirkus -Syndrom. Dieses Gesicht, das zu ihr hochsah.

Dieses breite, lächelnde, erstaunte Gesicht.

Gott im Himmel, ist das Tom Cullen?

Salziger Schweiß lief ihr in die Augen, so daß sie doppelt sah. Als sie sich die Augen ausgewischt hatte, war das Gesicht verschwunden. Die Leute von der Bushaltestelle waren schon ein ganzes Stück die Straße hinuntergegangen, ließen ihre Frühstücksbehälter baumeln, sprachen und scherzten miteinander. Dayna suchte den Mann, den sie für Tom gehalten hatte, aber von hinten war er schwer zu erkennen...

Tom? Würden sie Tom schicken?

Sicherlich nicht. Das war so verrückt, das war fast...

Fast vernünftig.

Aber sie konnte es einfach nicht glauben.

»He, Jürgens!« schrie Jenny frech. »Bist du da oben eingeschlafen oder spielst du an dir rum?«

Dayna beugte sich über das niedrige Geländer der Plattform und schaute in Jennys nach oben gewandtes Gesicht. Sie zeigte ihr den Finger. Jenny lachte. Dayna schraubte die letzte Birne ein, und als sie es geschafft hatte, war auch schon Feierabend. Auf der Rückfahrt in die Garage war sie schweigsam und in sich gekehrt... so schweigsam, daß Jenny eine Bemerkung machte.

»Ich glaube, ich hab' einfach nichts zu sagen«, meinte Dayna halb lächelnd.

Das konnte nicht Tom Cullen gewesen sein.

Oder doch?




»Wach auf! Wach auf! Verdammt, wach auf, du Miststück!«

Sie erwachte aus einem trüben Schlaf, als sie einen Fußtritt in den Rücken bekam, der sie aus dem runden Bett auf den Fußboden schleuderte. Sie war sofort wach und blinzelte verwirrt. Lloyd stand vor ihr und sah sie mit kalter Wut an. Whitney Horgan. Ken DeMott. Ace High. Jenny. Aber auch Jennys gewöhnlich freundliches Gesicht war leer und kalt.

»Jen...?«

Keine Antwort. Dayna kam auf die Knie und war sich vage ihrer Nacktheit bewußt; die kalten Gesichter der Leute um sie herum nahm sie deutlicher wahr. Lloyds Gesichtsausdruck war der eines Mannes, der betrogen wurde und diesen Betrug entdeckt hatte.

»Zieh dich an, verdammt, du verlogene Schnüfflerin!«

Träume ich das?

Okay, es war also kein Traum. Vor Entsetzen verkrampfte sich ihr der Magen, aber sie hatte es geahnt. Sie waren dem Richter auf die Spur gekommen und jetzt ihr. Er hatte es ihnen gesagt. Sie sah auf die Uhr auf dem Nachttisch. Es war kurz nach vier Uhr morgens. Die Stunde der Gestapo, dachte sie.

»Wo ist er?« fragte sie.

»In der Nähe«, sagte Lloyd böse. Sein Gesicht war blaß und glänzend. Im offenen V seines Hemdkragens sah Dayna das Amulett. »Du wirst sehr bald wünschen, daß er weit weg wäre.«

»Lloyd?«

»Was ist?«

»Ich habe dir eine Geschlechtskrankheit angehängt. Ich hoffe, er fault dir ab.«

Er trat sie gegen das Brustbein; sie fiel auf den Rücken.

»Ich hoffe, er fault dir ab, Lloyd.«

»Halt's Maul und zieh dich an.«

»Raus mit euch. Ich zieh' mich nicht vor Männern an.«

Wieder trat Lloyd sie, diesmal an den Bizeps des rechten Oberarms. Die Schmerzen waren entsetzlich, ihr Mund verzog sich zu einem zitternden Bogen, aber sie schrie nicht.

»Steckst in der Scheiße, Lloyd, was? Hast mit Mata Hari geschlafen?« Sie grinste ihn mit Tränen des Schmerzes in den Augen an.

»Komm, Lloyd«, sagte Whitney Horgan. Er sah Mordlust in Lloyds Augen, trat rasch auf ihn zu und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Wir gehen ins Wohnzimmer. Jenny kann aufpassen, wenn sie sich anzieht.«

»Und wenn sie nun aus dem Fenster springt?«

»Die Gelegenheit wird sie nicht haben«, sagte Jenny. Ihr breites Gesicht war tot und leer, und jetzt merkte Dayna zum ersten Mal, daß sie eine Pistole an der Hüfte trug.

»Sie könnte es ohnehin nicht«, sagte Ace High. »Die Fenster hier oben sehen nur so aus, wußtet ihr das nicht? Mancher, der an den Tischen viel verloren hat, möchte gern tief springen, und das wäre keine gute Reklame für das Hotel. Deshalb lassen sie sich nicht öffnen.« Sein Blick fiel auf Dayna, und in seinen Augen lag ein Anflug von Mitleid. »Und du, Baby, bist jetzt wirklich die große Verliererin.«

»Komm, Lloyd«, wiederholte Whitney. »Wenn du jetzt nicht hier rauskommst, machst du vielleicht etwas, was du später bereuen wirst.«

»Okay.« Sie gingen gemeinsam zur Tür, und Lloyd drehte sich noch einmal um. »Er wird dir ganz schön einheizen, Miststück.«

»Du warst der beschissenste Liebhaber, den ich je hatte, Lloyd«, sagte sie freundlich.

Er wollte sie anspringen, aber Whitney und Ken DeMott hielten ihn fest und schoben ihn durch die Tür. Die Doppeltüren schlössen sich mit einem leisen, klickenden Geräusch.

»Zieh dich an, Dayna«, sagte Jenny.

Dayna stand auf und rieb den purpurnen Bluterguß am Arm.

»Gefallen dir solche Leute?« fragte sie. »Mit solchen Leuten steckst du unter einer Decke? Mit Leuten wie Lloyd Henreid?«

»Du hast mit ihm geschlafen, nicht ich.« Zum erstenmal war ihr eine Gefühlsregung anzumerken. Wütende Mißbilligung. »Findest du es schön, hierherzukommen und die Leute auszuspionieren? Du verdienst alles, was dir bevorsteht. Und dir steht eine Menge bevor, Schwester.«

»Ich hatte meine Gründe, mit ihm zu schlafen.« Sie zog ihren Slip an. » Und auch für das Spionieren.«

»Warum hältst du nicht einfach den Mund?«

Dayna drehte sich um und sah Jenny an. »Was glaubst du, geht hier vor, Mädchen? Warum bilden sie in Indian Springs Leute an Düsenmaschinen aus? Glaubst du, daß Flagg mit diesen ShrikeRaketen auf der nächsten Kirmes seinem Mädchen eine Puppe schießen will?«

Jenny verkniff die Lippen. »Das geht mich nichts an.«

»Geht es dich auch nichts an, wenn sie die Jets dazu verwenden, nächstes Frühjahr über die Rockies zu fliegen und alle umzubringen?«

»Hoffentlich machen sie das. Ihr oder wir, das sagt er. Und ich glaube ihm.«

»Hitler haben sie auch geglaubt. Aber du glaubst ihm nicht. Du hast nur Schiß vor ihm.«

»Zieh dich an, Dayna.«

Dayna zog ihre Hose an und machte Knöpfe und Reißverschluß zu. Dann hielt sie sich die Hand vor den Mund. »Ich... ich glaube, ich muß mich übergeben ... oh, Gott...« Sie packte die Bluse mit den langen Ärmeln, drehte sich um und lief ins Badezimmer. Sie verriegelte die Tür und machte laute würgende Geräusche.

»Mach die Tür auf, Dayna! Mach auf, oder ich schieße das Schloss raus!«

»Schlecht...« sie würgte noch einmal laut. Auf Zehenspitzen tastete sie mit der Hand über den Medikamentenschrank, dankte Gott, dass sie das Messer hier oben liegengelassen hatte, betete um noch zwanzig Sekunden...

Sie hatte das Messer. Sie schnallte es um. Jetzt hörte sie andere Stimmen im Schlafzimmer.

Mit der linken Hand drehte sie den Wasserhahn über dem Waschbecken auf. »Moment, mir ist schlecht, verdammt noch mal!«

Aber sie ließen ihr nicht einmal einen Moment. Jemand trat gegen die Badezimmertür, und sie bewegte sich in ihrem Rahmen. Dayna schob die Klinge zurück. Sie lag in ihrem Unterarm wie ein tödlicher Pfeil. In fliegender Hast streifte sie sich die Bluse über und knöpfte die Ärmel zu. Spritzte sich Wasser über den Mund. Zog die Wasserspülung.

Wieder ein Tritt gegen die Tür. Dayna drehte am Knopf, und sie stürzten herein. Lloyd mit wildem Blick, Jenny stand mit gezückter Pistole hinter Ken DeMott und Ace High.

»Ich hab' gekotzt«, sagte Dayna kalt. »Schade, daß du nicht zuschauen konntest, was?«

Lloyd packte sie an den Schultern und stieß sie ins Schlafzimmer.

»Ich sollte dir das Genick brechen, Fotze.«

»Denkt an die Stimme eures Herrn.« Sie knöpfte ihre Bluse vorn zu und sah die Umstehenden mit blitzenden Augen an. »Er ist euer Hundegott, nicht wahr? Leckt ihm den Arsch, und ihr werdet ihm gehören.«

»Du solltest lieber das Maul halten«, sagte Whitney grob. »Du machst alles nur noch schlimmer für dich.«

Sie sah Jenny an und begriff nicht, wie sich dieses kecke Mädchen mit dem offenen Lächeln in ein Nachtwesen mit leerem Gesicht verwandeln konnte. »Seht ihr denn nicht, daß er mit allem wieder von vorn anfangen will?« fragte sie verzweifelt. »Dem Töten, dem Schießen... der Seuche

»Er ist der Größte und der Stärkste«, sagte Whitney merkwürdig sanft. »Er wird eure Leute vom Antlitz der Erde tilgen.«

»Schluß mit dem Gerede«, sagte Lloyd. »Gehen wir.«

Sie wollten sie an den Armen packen, aber sie wich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. »Ich gehe«, sagte sie.




Außer einigen Männern mit Gewehren, die an den Türen saßen oder standen, war das Kasino leer. Diese betrachteten interessiert die Wände, die Decke und die verlassenen Spieltische, als die Fahrstuhltür aufging und Lloyds Gruppe Dayna vorführte. Sie wurde an den Kassenschaltern vorbei zu einer Tür gebracht. Lloyd öffnete sie mit einem kleinen Schlüssel, und sie traten hindurch. Sie wurde rasch durc h einen Raum getrieben, der wie eine Bank aussah: Dort standen Rechenmaschinen, Papierkörbe voller Bänder und Schalen mit Gummiringen und Büroklammern. Computer-Bildschirme, die jetzt grau und leer waren. Aufgerissene Schubladen. Geld war aus einigen herausgefallen und lag auf dem Kachelboden. Hauptsächlich Fünfziger und Hunderter. Am Ende des Schalterraumes öffnete Whitney eine zweite Tür, und Dayna wurde durch einen mit Teppichen ausgelegten Flur in ein unbesetztes Empfangsbüro geführt. Geschmackvoll ausgestattet. Ein schön gestalteter weißer Schreibtisch für eine geschmackvolle Sekretärin, die vor einigen Monaten gestorben war und dabei große, grüne Brocken Schleim gehustet hatte. An der Wand ein Bild, das ein Druck von Paul Klee sein konnte. Ein hellbrauner Zottelteppich. Das Vorzimmer zur Macht.

Angst tröpfelte in ihre Körperhöhlungen wie kaltes Wasser, und sie kam sich linkisch und unbeholfen vor. Lloyd lehnte sich über den Schreibtisch und drückte einen Kippschalter. Dayna sah, daß er leicht schwitzte.

»Wir haben sie, R.F.«

Sie spürte hysterisches Gelächter in sich hochblubbern und konnte es nicht zurückhalten - es war ihr auch gleichgültig. »R.F.! R.F.! Oh, das ist gut! Alles klar, J.R.!« Sie ließ eine Kichersalve los, bis Jenny ihr ins Gesicht schlug.

»Sei still!« zischte sie. »Du weißt nicht, was dir bevorsteht.«

»Ich weiß es«, sagte Dayna. »Aber du und der Rest, ihr wißt es nicht.«

Aus der Gegensprechanlage erklang eine angenehme, fröhliche Stimme: »Sehr gut, Lloyd, danke. Schick sie bitte herein.«

»Allein?«

»Ja, durchaus.« Ein nachsichtiges Kichern war zu hören, als die Sprechanlage ausgeschaltet wurde. Als Dayna es hörte, wurde ihr Mund trocken.

Lloyd drehte sich zu ihr um. Er schwitzte jetzt stärker, Schweißtropfen liefen ihm von der Stirn und wie Tränen über die Wangen. »Du hast ihn gehört. Los jetzt!«

Sie verschränkte die Arme unter den Brüsten, so daß das Messer innen war. »Und wenn ich nicht will?«

»Dann schleife ich dich rein.«

»Sieh dich doch an, Lloyd. Du hast solche Angst, daß du nicht mal einen jungen Hund reinschleifen könntest.« Sie sah die anderen an.

»Ihr habt alle Angst. Jenny, du machst dir schon fast in die Hose. Das ist nicht gut für deinen Teint, Beste. Schon gar nicht für die Hose.«

»Hör auf, du widerliche Schlange«, flüsterte Jenny.

»Solche Angst hatte ich in der Freien Zone nie«, sagte sie. »Dort habe ich mich wohl gefühlt. Ich bin gekommen, weil ich mich auch in Zukunft wohl fühlen will. Noch politischer war die Sache nicht. Ihr solltet darüber nachdenken; vielleicht verkauft er Angst, weil er sonst nichts zu verkaufen hat

»Madame«, sagte Whitney höflich, »ich hätte mir noch gern den Rest Ihres Vortrags angehört, aber der Mann wartet. Es tut mir leid, aber Sie sagen entweder Amen und gehen freiwillig durch diese Tür, oder ich zerre Sie rein. Sie können ihm Ihre Geschichte erzählen, wenn Sie drinnen sind... das heißt, wenn Sie dann noch den Mumm aufbringen. Aber bis dahin unterstehen Sie unserer Verantwortung.«

Und das Seltsame ist, dachte sie, er hört sich aufrichtig bedauernd an. Zu dumm, daß er sich auch aufrichtig ängstlich anhörte.

»Das ist nicht nötig.«

Sie zwang ihre Füße, sich in Bewegung zu setzen, dann ging es ein wenig leichter. Sie ging in den Tod; das war ihr völlig klar. Wenn es so war, sollte es eben so sein. Sie hatte das Messer. Zuerst für ihn, wenn sie konnte, und dann für sie selbst, wenn notwendig.

Sie dachte: Mein Name ist Dayna Roberta Jürgens, ich habe Angst, aber ich habe schon öfter Angst gehabt. Er kann mir nur etwas nehmen, was ich eines Tages sowieso aufgeben muß - mein Leben. Ich werde mich nicht von ihm brechen lassen. Ich werde nicht zulassen, daß er mich zu weniger macht als ich bin, wenn ich es verhindern kann. Ich will mit Würde sterben... und ich werde meinen Willen bekommen.

Sie drehte den Knauf herum und betrat das innere Büro und das Reich von Randall Flagg.




Das Büro war groß und fast leer. Der Schreibtisch war ganz an die hintere Wand gerückt worden, der teure Drehstuhl dahinter eingeklemmt. Die Bilder an den Wänden waren mit Tüchern verhängt. Das Licht war ausgeschaltet.

Am anderen Ende des Raumes gab der zurückgezogene Vorhang den Blick auf ein riesiges Panoramafenster frei, durch das man die Wüste sehen konnte. Dayna fand, daß sie noch nie im Leben ein so steriles und trostloses Bild gesehen hatte. Oben hing der fast runde Mond wie eine polierte Silbermünze. Er war beinahe voll. Am Fenster sah sie die Gestalt eines Mannes.

Er sah immer noch nach draußen und wandte ihr gleichgültig den Rücken zu, als sie schon lange eingetreten war. Wie lange braucht ein Mann dazu, sich umzudrehen? Zwei, höchstens drei Sekunden. Aber Dayna kam es vor, als würde der dunkle Mann sich ewig umdrehen und dabei immer mehr von sich zeigen, wie der zunehmende Mond, zu dem er hinaufgesehen hatte. Sie wurde wieder ein Kind, das von der schrecklichen Neugier großer Angst gebannt wird. Er hatte sie einen Augenblick völlig im Netz seiner Anziehungskraft, seines Glamours, gefangen. Und sie war überzeugt, wenn er sich endlich ganz umgedreht hatte, unbekannte Äonen später, würde sie das Gesicht ihrer Träume sehen: einen grotesken Mönch in seiner Kutte, nur Dunkelheit unter der Kapuze. Das Negativ eines Mannes ohne Gesicht. Sie würde ihn sehen und wahnsinnig werden.

Dann sah er sie an, lächelte freundlich, ging auf sie zu, und ihr entsetzter Gedanke war: Mein Gott, er ist in meinem Alter!

Randy Flagg hatte dunkles, zerzaustes Haar. Sein Gesicht war hübsch und wettergegerbt, als würde er viel Zeit im Wüstenwind verbringen. Seine Gesichtszüge waren beweglich und sensibel, die Augen strahlten vor Freude wie die eines kleinen Kindes mit einem großen und wunderschönen Geheimnis.

»Dayna!« sagte er. »Hallo.«

»H-H-Hallo.« Mehr brachte sie nicht heraus. Sie hatte geglaubt, auf alles vorbereitet zu sein, aber daraufwar sie nicht vorbereitet. Ihr Verstand ging k.o. auf die Matte. Flagg lächelte über ihre Verwirrung. Dann breitete er die Hände aus, aus wollte er sich entschuldigen. Er trug ein verblichenes Paisleyhemd mit abgewetztem Kragen, Nietenjeans und ein Paar sehr alte Cowboystiefel mit abgelaufenen Absätzen.

»Was hast du erwartet? Einen Vampir?« Sein Lächeln wurde breiter und verlangte fast, daß sie zurücklächelte. »Einen Gestaltwandler? Was haben sie dir über mich erzählt

»Sie haben Angst«, sagte sie. »Lloyd... hat geschwitzt wie ein Schwein.« Sein Lächeln verlangte immer noch ein Lächeln als Antwort; sie mußte ihre ganze Willenskraft aufbieten, es ihm zu verweigern. Sie war auf seinen Befehl mit Fußtritten aus dem Bett gejagt worden. Sie war zu ihm gebracht worden, um... was? Zu gestehen? Alles zu sagen, was sie über die Freie Zone wußte? Sie glaubte nicht, daß es viel gab, was er nicht schon wußte.

»Lloyd«, sagte Flagg und lachte leutselig. »Lloyd hat in Phoenix Schlimmes erlebt, als die Grippe grassierte. Er spricht nicht gern darüber. Ich habe ihn vor dem sicheren Tod gerettet und...« Sein Lächeln wurde noch entwaffnender, wenn das überhaupt möglich war, »und vor einem schlimmeren Schicksal als dem Tod. Er assoziiert dieses Erlebnis in hohem Maße mit mir, obwohl seine Situation nicht mein Tun war. Glaubst du mir?«

Sie nickte langsam. Sie glaubte ihm und fragte sich, ob Lloyds ständiges Duschen etwas mit seinem schlimmen Erlebnis in Phoenix zu tun hatte. Darüber hinaus empfand sie etwas für ihn, das sie im Zusammenhang mit Lloyd Henreid nie für möglich gehalten hätte: Mitleid.

»Gut, setz dich, meine Liebe.«

Sie sah sich fragend um.

»Auf den Fußboden. Der Fußboden ist gut. Wir müssen miteinander reden und die Wahrheit sagen. Lügner sitzen auf Stühlen, darum verzichten wir darauf. Wir sitzen einander gegenüber wie Freunde auf zwei Seiten eines Lagerfeuers. Setz dich, Mädchen.« Seine Augen sprühten förmlich vor unterdrückter Heiterkeit, und es sah aus, als wollte er bersten vor mühsam zurückgehaltenem Lachen. Er setzte sich, kreuzte die Beine, sah zu ihr hoch, und sein Ausdruck schien zu sagen: Du wirst mich doch nicht allein auf dem Fußboden dieses lächerlichen Büros sitzen lassen, oder?

Nach kurzer Überlegung setzte sie sich. Sie kreuzte die Beine und legte die Hände locker auf die Knie. Sie spürte das beruhigende Gewicht des Messers.

»Du bist hergeschickt worden, um zu spionieren, meine Liebe«, sagte er. »Ist das eine zutreffende Beschreibung der Situation?«

»Ja.« Es hatte keinen Zweck zu leugnen.

»Und du weißt, was in Kriegszeiten gewöhnlich mit Spionen geschieht?«

»Ja.«

Sein Lächeln wurde strahlend wie ein Sonnenaufgang. »Ist es dann nicht ein Glück, daß zwischen deinen und meinen Leuten kein Krieg ist?«

Sie sah ihn völlig überrascht an.

»Du weißt doch, daß keiner ist«, sagte er freundlich.

»Aber... Sie...« Tausend wirre Gedanken schössen ihr durch den Kopf. Indian Springs. Die Shrikes. Der Mülleimermann mit seinem Entlaubungsmittel und den Zippos. Wie die Unterhaltungen immer verstummten, wenn der Name des Mannes genannt wurde oder er selbst auftauchte. Und dieser Anwalt Eric Strellerton, der mit ausgebranntem Gesicht durch die MojaveWüste wanderte.

Er hat ihn nur angesehen.

»Haben wir eure sogenannte Freie Zone angegriffen? In irgendeiner Weise feindselig gehandelt?«

»Nein... aber...«

»Und habt ihr uns angegriffen?«

»Natürlich nicht.«

»Nein. Und wir haben auch keine diesbezüglichen Pläne. Sieh her!«

Er hob plötzlich die Hand und formte sie zu einem Kreis. Als sie hindurchsah, konnte sie die Wüste jenseits des Panoramafensters sehen.

»Die große westliche Wüste!« rief er. »Das große Scheiß-Drauf!

Nevada! Arizona! New Mexico! Kalifornien! Gruppen meiner Leute sind in Washington, in der Gegend von Seattle, und in Portland, Oregon. Je eine Handvoll in Idaho und New Mexico. Wir sind so weit verstreut, daß wir dieses Jahr nicht einmal mehr an eine Volkszählung denken können! Wir sind viel verwundbarer als eure Freie Zone. Die Freie Zone ist wie ein gut organisierter Bienenstaat, eine Gemeinschaft. Wir hier sind bestenfalls ein lockerer Bund mit mir als nominellem Oberhaupt. Es ist Platz für uns beide. Und auch im Jahr 2190 wird noch Platz für uns beide sein. Das heißt, wenn die Babys überleben, was wir hier frühestens in fünf Monaten wissen. Wenn das der Fall ist und die Menschheit weiterexistiert, sollen unsere Großväter es austragen, wenn sie Groll hegen. Oder deren Großväter. Aber was, in Gottes Namen, haben wir für einen Grund zu kämpfen?«

»Keinen«, murmelte sie. Sie war wie betäubt. Und empfand noch etwas anderes... war es Hoffnung! Sie sah ihm in die Augen. Sie schien den Blick nicht abwenden zu können. Sie würde nicht verrückt werden. Er würde sie nicht in den Wahnsinn treiben. Er war... ein sehr vernünftiger Mann.

»Wir haben weder wirtschaftliche Gründe zu kämpfen noch technologische. Unsere politischen Ansichten sind anders, aber das ist nebensächlich, zumal die Rockies zwischen uns liegen...«

Er hypnotisiert mich!

Mit einer gewaltigen Anstrengung wandte sie die Augen von seinen ab und betrachtete über seine Schulter den Mond. Flaggs Lächeln wurde dünner; ein Schatten der Veränderung schien über sein Gesicht zu huschen. Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Als sie ihn wieder ansah (diesmal wachsamer), lächelte er wieder freundlich.

»Sie haben den Richter töten lassen«, sagte sie schroff. »Sie wollen etwas von mir, und wenn Sie es haben, werden Sie auch mich töten lassen.«

Er sah sie geduldig an. »Entlang der ganzen Grenze zwischen Idaho und Oregon waren Wachen aufgestellt, die den Auftrag hatten, nach Richter Farns Ausschau zu halten, das stimmt. Aber nicht, ihn zu töten. Ihr Befehl lautete, ihn zu mir zu bringen. Ich war bis gestern in Portland. Ich wollte mit ihm reden, wie ich jetzt mit dir rede: ruhig, gelassen und vernünftig. Zwei meiner Posten haben ihn in Copperfield, Oregon, gestellt. Er stieg aus und schoß, verwundete einen meiner Männer tödlich und erschoß den anderen auf der Stelle. Der Verwundete tötete den Richter, bevor er selbst starb. Es tut mir leid, daß es so geschehen ist, mehr als du wissen oder begreifen kannst.« Seine Augen wurden dunkler, und das glaubte sie ihm sogar... aber wahrscheinlich nicht so, wie er sie glauben machen wollte. Und dann spürte sie wieder diese Kälte.

»Die Leute haben es mir anders erzählt.«

»Du kannst ihnen glauben oder mir, Liebe. Aber vergiß nicht, ich gebe ihnen die Befehle.«

Er war so überzeugend... so verdammt überzeugend. Er schien fast harmlos zu sein - aber das stimmte nicht, oder? Der Eindruck rührte nur daher, daß er ein Mensch war... oder etwas, das wie ein Mensch aussah. Das brachte so viel Erleichterung mit sich, daß sie sich zu einer dummen Pute machen ließ. Er besaß eine Präsenz und die Gabe eines Politikers, einem sämtliche Befürchtungen zu zerstreuen... aber das machte er alles auf eine Weise, die sie äußerst beunruhigend fand.

»Wenn Sie keinen Krieg führen wollen, warum dann die Düsenflugzeuge und alles andere in Indian Springs?«

»Verteidigungsmaßnahmen«, sagte er prompt. »Wir machen Ähnliches in Searles Lake in Kalifornien und in der Edwards Air Force Base. Eine Gruppe arbeitet im Atomreaktor am Yakima Ridge in Washington. Deine Leute werden dasselbe tun... wenn sie nicht schon dabei sind.«

Dayna schüttelte ganz langsam den Kopf. »Als ich die Zone verließ, versuchten sie immer noch, den Strom wieder einzuschalten.«

»Und ich hätte ihnen gern zwei oder drei Techniker geschickt, wenn ich nicht wüßte, daß es Brad Kitchner schon gelungen ist. Gestern hatten sie noch einen kurzen Stromausfall, aber er hat das Problem sehr schnell gelöst. Es war eine Überlastung in der Arapahoe.«

»Woher wissen Sie das alles?«

»Ich habe so meine Methoden«, sagte Flagg freundlich. »Übrigens ist die alte Frau zurückgekommen. Die nette alte Frau.«

»Mutter Abagail?«

»Ja.« Seine Augen waren distanziert und verhangen; möglicherweise traurig. »Sie ist tot. Schade. Ich hatte wirklich gehofft, sie persönlich kennenzulernen. «

»Tot? Mutter Abagail ist tot?«

Der verhangene Blick wurde klar, und er lächelte sie an. »Überrascht dich das so sehr?«

»Nein. Aber es überrascht mich, daß sie zurückgekommen ist. Und es überrascht mich noch mehr, daß Sie es wissen.«

»Sie ist zurückgekommen, um zu sterben.«

»Hat sie noch etwas gesagt?«

Einen Augenblick verrutschte die Maske freundlicher Gelassenheit und zeigte schwarze und wütende Fassungslosigkeit.

»Nein«, sagte er. »Ich dachte, sie würde... würde sprechen. Aber sie starb im Koma.«

»Sind Sie sicher?«

Er lächelte wieder so strahlend wie die Sommersonne, die Bodennebel vertreibt.

»Vergiß es, Dayna. Laß uns über angenehmere Dinge reden, zum Beispiel deine Rückkehr in eure Zone. Ich bin sicher, daß du lieber dort sein möchtest als hier. Ich habe etwas, das du mitnehmen sollst.« Er griff in sein Hemd, zog einen Lederbeutel heraus und entnahm ihm drei Straßenkarten. Er reichte sie Dayna, die sie mit wachsender Verblüffung betrachtete. Die Karten zeigten die sieben westlichen Staaten. Bestimmte Regionen waren rot gekennzeichnet. Die handgeschriebene Legende unten auf jeder Karte wies sie als Gebiete aus, die wieder bevölkert waren.

»Sie möchten, daß ich die mitnehme?«

»Ja. Ich weiß, wo eure Leute sind, ihr sollt wissen, wo meine sind. Als Geste guten Willens und der Freundschaft. Und wenn du zurückgehst, sollst du ihnen folgendes sagen: Flagg will ihnen nichts Böses, und seine Leute wollen ihnen auch nichts Böses. Sag ihnen, sie sollen keine Spione mehr schicken. Wenn sie Leute zu uns schicken wollen, sollten sie es eine diplomatische Mission nennen... oder Studentenaustausch... oder was sie wollen. Aber sie sollen nicht heimlich kommen. Wirst du ihnen das sagen?«

Sie fühlte sich überrumpelt und durcheinander. »Natürlich. Ich werde es ihnen sagen, aber...«

»Das ist alles.« Er breitete wieder die leeren, offenen Handflächen aus. Sie sah etwas und beugte sich beunruhigt vor.

»Was siehst du?« Seine Stimme klang nervös.

»Nichts.«


Aber sie hatte etwas gesehen, und sie sah an seinem verkniffenen Gesichtsausdruck, daß er es gemerkt hatte. Flaggs Handflächen hatten keine Linien. Sie waren so glatt und leer wie die Haut am Bauch eines Kindes. Keine Lebenslinie, keine Liebeslinie, keine Ringe oder Schnörkel oder Schlingen. Nur... leer.

Sie sahen einander lange an.

Dann sprang Flagg auf die Füße und ging zum Schreibtisch. Auch Dayna stand auf. Sie glaubte inzwischen tatsächlich, daß er sie vielleicht gehen lassen würde. Er setzte sich auf die Schreibtischkante und zog das Sprechgerät zu sich.

»Ich werde Lloyd sagen, daß er bei deinem Motorrad das Öl wechseln und neue Zündkerzen einsetzen soll«, sagte er und drückte auf den Knopf. »Ich sage ihm auch, er soll es volltanken lassen. Heute gibt es keine Sorgen wegen Ölknappheit mehr, hm? Es gibt alles im Überfluß. Aber es gab Zeiten - ich erinnere mich noch daran, und du wahrscheinlich auch, Dayna, als es ausgesehen hat, als würde die ganze Welt wegen einer Knappheit an bleifrei Super in einem Feuerball aufgehen.« Er schüttelte den Kopf. »Die Menschen sind sehr, sehr dumm.« Er drückte den Daumen auf die Sprechanlage. »Lloyd?«

»Ja, zur Stelle.«

»Sorg bitte dafür, daß Daynas Motorrad gewartet und aufgetankt und vor das Hotel gebracht wird. Sie wird uns verlassen.«

»Ja.«

Flagg schaltete aus. »Das war's, meine Liebe.«

»Ich kann... einfach gehen?«

»Ja, Ma'am. Es war mir ein Vergnügen.« Er hob die Hand und deutete auf die Tür... Handfläche nach unten.

Sie ging zur Tür. Sie hatte kaum den Knauf berührt, als er sagte:

»Da wäre noch etwas. Nur... eine Kleinigkeit.«

Dayna drehte sich zu ihm um. Er grinste sie an, und es war ein freundliches Grinsen, aber einen Sekundenbruchteil erinnerte er sie an eine riesige schwarze Bulldogge, deren Zunge zwischen spitzen weißen Zähnen hervorhängt, mit denen sie einen Arm abreißen könnte, als sei er ein Wischlappen.

»Das wäre?«

»Noch einer von euren Leuten ist hier«, sagte Flagg. Sein Lächeln wurde breiter. »Wer könnte das sein?«

»Wie in aller Welt soll ich das wissen?« fragte Dayna, und ein Gedanke schoß ihr durch den Kopf: Tom Cullen!... Kann er es wirklich gewesen sein?

»Komm schon, Mädchen. Ich dachte, wir hätten alles geregelt.«

»Wirklich«, sagte sie. »Betrachten Sie es einmal unvoreingenommen, dann werden Sie sehen, daß ich absolut ehrlich bin. Das Komitee hat mich geschickt... und den Richter... und wer weiß wie viele andere... und sie waren sehr vorsichtig. Damit wir einander nicht verpetzen können, falls etwas... Sie wissen schon, passiert.«

»Falls wir beschließen, ein paar Fingernägel auszureißen?«

»Okay, ja. Susan Stern hat sich an mich gewandt. Wahrscheinlich hat Larry Underwood... er ist ja auch im Komitee...«

»Ich weiß, wer Mr. Underwood ist.«

»Ja. Nun, ich denke, daß er mit dem Richter gesprochen hat. Aber was die anderen betrifft...« Sie schüttelte den Kopf. »Es könnte jeder sein. Möglicherweise hat jedes der sieben Mitglieder des Komitees einen Spion rekrutiert. «

»Ja, das könnte sein, ist es aber nicht. Es ist nur noch einer, und du weißt, wer es ist.« Er grinste noch breiter, und jetzt bekam sie Angst. Es war ein unnatürliches Grinsen. Es erinnerte sie an toten Fisch, verunreinigtes Wasser, die Oberfläche des Mondes, durch ein Teleskop gesehen. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihre Blase schlaff und voll heißer Flüssigkeit.

»Du weißt es«, wiederholte Flagg.

»Nein, ich...«

Flagg beugte sich wieder über das Sprechgerät. »Ist Lloyd schon weg?«

»Nein, ich bin noch da.« Eine teure Gegensprechanlage, ausgezeichnete Verständigung.

»Warte noch mit Daynas Motorrad«, sagte er. »Wir müssen noch etwas ...« Er sah sie mit nachdenklich leuchtenden Augen an, »... miteinander klären.«

»Okay.«

Mit einem Klick schaltete sich die Sprechanlage aus. Flagg lächelte und sah sie mit gefalteten Händen an. Er sah sie sehr lange an. Dayna fing an zu schwitzen. Seine Augen schienen größer und dunkler zu werden. Als würde man in sehr tiefe, sehr alte Brunnen sehen. Sie versuchte wegzuschauen, aber diesmal konnte sie es nicht.

»Sag es mir«, sagte er. »Wir wollen nichts, meine Liebe.«

Von weit weg hörte sie ihre eigene Stimme sagen: »Das Ganze war inszeniert, richtig? Ein kleiner Einakter.«

»Meine Liebe, ich weiß nicht, was du meinst.«

»Das wissen Sie ganz genau. Der Fehler war, daß sich Lloyd so schnell gemeldet hat. Wenn Sie hier Frosch sagen, dann springen alle. Er hätte mit meinem Motorrad schon halb den Strip runter sein müssen. Es sei denn, Sie hätten ihm gesagt, daß er bleiben soll, weil Sie gar nicht die Absicht haben, mich gehen zu lassen.«

»Meine Liebe, du leidest an schwerer Paranoia. Ich vermute, das liegt an deinem Erlebnis mit diesen Männern. Denen mit dem fahrenden Zoo. Muß schrecklich für dich gewesen sein. Dies könnte auch schrecklich werden, aber das wollen wir doch nicht, oder?«

Alle Kraft verließ sie; sie spürte sie als Energiestrom aus den Beinen fließen. Mit letzter Kraft ballte sie die gefühllose rechte Hand zur Faust und versetzte sich selbst einen Schlag über dem rechten Auge. Schmerz explodierte in ihrem Schädel; ihre Sicht verschwamm. Mit einem dumpfen Knall schlug ihr Kopf gegen die Tür. Aber sie hatte den Blick von ihm abgewendet und spürte, dass ihre Willenskraft zurückkehrte. Und die Kraft zum Widerstand.

»Oh, Sie sind gut«, sagte sie abgehackt.

»Du weißt, wer er ist«, sagte er. Er stand vom Schreibtisch auf und kam auf sie zu. »Du weißt es, und du wirst es mir sagen. Dich selbst an den Kopf zu schlagen, wird dir nichts nützen, meine Liebe.«

»Wie kommt es, daß Sie es nicht wissen?« schrie sie ihn an. »Sie wußten vom Richter und von mir. Wie kommt es, daß Sie nichts über...«

Seine Hände legten sich mit schrecklicher Macht auf ihre Schultern, sie waren kalt, kalt wie Marmor. »Wer?«

»Ich weiß nicht.«

Er schüttelte sie wie eine Puppe; sein Gesicht war grinsend und verzerrt und schrecklich. Seine Hände waren kalt, aber sein Gesicht strahlte die Backofenhitze der Wüste aus. »Du weißt es. Sag es mir. Wer?«

»Warum wissen Sie es nicht?«

»Weil ich es nicht sehen kann!« brüllte er und schleuderte sie durch den Raum. Sie wurde zu einem schlaffen Bündel ohne Skelett, und als sie den Suchscheinwerfer seines Gesichts in der Düsternis über sich sah, konnte sie ihre Blase nicht mehr kontrollieren, und Wärme breitete sich an ihren Beinen entlang aus. Das sanfte und hilfsbereite Gesicht der Vernunft war nicht mehr da. Randy Flagg war nicht mehr da. Vor ihr stand der Wandelnde Geck, der große Mann, der Boss, und Gott mochte ihr gnädig sein.

»Du wirst es sagen«, erklärte er. »Du wirst mir sagen, was ich wissen will.«

Sie sah ihn an und stand langsam auf. Sie spürte das Gewicht des Messers an ihrem Unterarm.

»Ja, ich werde es Ihnen erzählen«, sagte sie. »Kommen Sie näher heran.«

Er trat einen Schritt auf sie zu und grinste.

»Nein. Noch näher. Ich will es Ihnen ins Ohr flüstern.«

Er kam noch näher. Sie spürte glühende Hitze, eisige Kälte. Sie hatte ein hohes, atonales Singen in den Ohren. Sie roch nasse Fäulnis, intensiv, süßlich und erstickend. Sie roch Wahnsinn, wie verrottetes Gemüse in einem dunklen Keller.

»Näher«, flüsterte sie heiser.

Er kam noch einen Schritt näher, und sie machte eine wütende Bewegung mit dem rechten Handgelenk. Sie hörte die Feder klicken. Das Gewicht des Messers glitt in ihre Hand.

»Hier!« schrie sie hysterisch und riß den Arm mit einer heftigen, ausholenden Geste hoch, um ihm den Leib aufzuschlitzen, damit er blind im Raum umhertorkelte und seine Eingeweide als dampfende Wülste heraushängen sollten. Statt dessen brüllte er vor Lachen, stemmte die Hände in die Hüften und warf das gerötete, vor Heiterkeit verzerrte Gesicht zurück.

»Aber meine Liebe!« rief er und konnte sich kaum halten vor Lachen. Sie betrachtete verblüfft ihre Hand. Statt des Messers hielt sie eine feste gelbe Banane mit einem blau-weißen Chiquita-Aufkleber. Entsetzt ließ sie sie auf den Teppich fallen, wo sie wie ein gelbes, häßliches Grinsen aussah, das Flaggs eigenes Grinsen nachahmte.

»Du wirst es mir sagen«, flüsterte er. »O ja, das wirst du.«

Und Dayna wußte, daß er recht hatte.

Sie wirbelte so schnell herum, daß selbst der dunkle Mann überrascht war. Mit einer der schwarzen Hände versuchte er, sie festzuhalten, bekam aber nur ihre Bluse zu fassen, aus der er einen Fetzen Seide herausriß.

Dayna lief zum Panoramafenster.

»Nein!« kreischte er, und sie spürte ihn hinter sich wie einen schwarzen Wind.

Sie stieß sich auf den Beinen ab, benützte sie wie Sprungfedern und prallte mit dem Kopf gegen die Scheibe. Ein dumpfes, klirrendes Geräusch war zu hören, und sie sah erstaunlich dicke Glasscherben nach unten auf den Angestelltenparkplatz fallen. Von der Stelle, wo das Fenster zersplittert war, sprangen Risse wie Quecksilberspritzer nach allen Seiten. Die Wucht des Aufpralls hatte sie halb durch die Scheibe getragen; dort hing sie nun, blutend.


Sie fühlte seine Hände auf den Schultern und fragte sich, wie lange er brauchen würde, bis er sie zum Reden brachte. Eine Stunde? Zwei? Sie lag im Sterben, das wußte sie, aber es ging nicht schnell genug.

Es war Tom, und du kannst ihn nicht fühlen oder wie immer du deine Informationen bekommst, weil er anders ist, er ist...

Er riß sie zurück.

Sie tötete sich durch eine heftige Kopfbewegung nach rechts. Eine rasiermesserscharfe Glasscheibe bohrte sich tief in ihren Hals. Eine andere ins rechte Auge. Ihr Körper wurde einen Moment steif, und sie schlug mit den Händen gegen das Glas. Dann erschlaffte sie. Als der dunkle Mann sie hereinzog, war sie nur noch ein blutendes Bündel.

Sie war tot, und vielleicht hatte sie noch im Tod triumphiert.

Flagg schrie seine Wut hinaus und trat nach ihr. Die schlaffen, nachgebenden Bewegungen ihres Körpers machten ihn noch wütender. Brüllend und knurrend kickte er sie durch den Raum. Aus seinen Haaren sprangen Funken, als wäre ein Zyklotron in ihm angesprungen und hätte ein elektrisches Feld aufgebaut und ihn in eine Batterie verwandelt. Seine Augen sprühten dunkles Feuer. Er brüllte und trat, trat und brüllte.

Draußen wurden Lloyd und die anderen blaß. Sie sahen einander an. Schließlich konnten sie es nicht mehr ertragen. Jenny, Ken und Whitney gingen weg - ihre kalkweißen Gesichter waren verschlossen, die Gesichter von Leuten, die nichts hören und auch weiterhin nichts sehen wollen.

Nur Lloyd blieb - nicht weil er wollte, sondern weil er wußte, daß es von ihm erwartet wurde. Schließlich rief Flagg ihn hinein.





Er saß mit gekreuzten Beinen auf dem großen Schreibtisch und hatte die Hände auf die Knie der Jeans gelegt. Er sah über Lloyds Kopf hinweg in die Ferne. Es zog, und Lloyd sah, daß das Panoramafenster in der Mitte eingeschlagen war. Die gezackten Ränder des Lochs waren blutig.

Am Boden lag zusammengekrümmt eine vage menschliche Gestalt, die in einen Vorhang gehüllt war.

»Schaff das weg«, sagte Flagg.

»Okay.« Lloyds Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. »Soll ich den Kopf nehmen?«

»Schaff das Ding in den Osten der Stadt, gieß Benzin darüber und verbrenne es. Hast du verstanden? Verbrenn es! Verbrenn das ganze verdammte Ding

»Gut.«

»Ja.« Flagg lächelte gütig.

Zitternd, mit trockenem Mund und vor Angst fast stöhnend, versuchte Lloyd das unförmige Bündel anzuheben. Die Unterseite war klebrig. In seinen Armen knickte es zu einem U zusammen, entglitt ihm und fiel mit einem dumpfen Aufprall auf den Teppichboden zurück. Er warf Flagg einen entsetzten Blick zu, aber der saß immer noch halb erschlafft da und sah nach draußen. Lloyd packte noch einmal zu und schleifte das Bündel zur Tür.

»Lloyd?«

Er blieb stehen und drehte sich um. Ein leises Stöhnen entfuhr ihm. Flagg war immer noch halb im Lotussitz, aber jetzt schwebte er etwa zwanzig Zentimeter über dem Schreibtisch, den Blick immer noch heiter durchs Zimmer gerichtet.


»W-W-W-as?«

»Hast du noch den Schlüssel, den ich dir in Phoenix gegeben habe?«

»Ja.«

»Halte ihn bereit. Die Zeit rückt heran.«

»G-G-Gut.«

Er wartete, aber Flagg sagte nichts mehr. Er schwebte in der Dunkelheit wie ein Hindu-Fakir, der einen verwirrenden Trick vorführt, sah hinaus, lächelte gelöst.

Lloyd verschwand, so schnell er konnte, wie immer froh, daß er Leben und Verstand noch hatte.




Der Tag war ruhig in Vegas. Als Lloyd gegen zwei Uhr nachmittags zurückkam, roch er nach Benzin. Der Wind war stärker geworden, und um fünf fegte er über den Strip und erzeugte heulende, wehklagende Laute zwischen den Hotels. Die Palmen, die abstarben, weil sie im Juli und August nicht von der Stadt bewässert worden waren, bogen sich im Wind; ihre Wedel flatterten wie zerfetzte Kriegsfahnen. Seltsam geformte Wolken zogen am Himmel auf.

In der Cub Bar saßen Whitney Horgan und Ken DeMott, tranken Flaschenbier und aßen Sandwiches mit Eiersalat. Drei alte Damen - alle nannten sie die Unheimlichen Schwestern - hielten am Stadtrand Hühner, und niemand schien von den Eiern genug zu bekommen. Unter Whitney und Ken im Kasino kroch der kleine Dinny McCarthy fröhlich auf einem der Spieltische herum und spielte mit einer Armee Plastiksoldaten.

»Schau dir den kleinen Knirps an«, sagte Ken zärtlich. »Man hat mich gebeten, eine Stunde auf ihn aufzupassen. Ich würde eine ganze Woche auf ihn aufpassen. Bei Gott, ich wünschte, er wäre meiner. Meine Frau hatte nur einen, und der kam zwei Monate zu früh. Nach drei Tagen starb er im Brutkasten.« Er sah auf, als Lloyd hereinkam.

»He, Dinny!« rief Lloyd.

»Yoyd! Yoyd!« schrie Dinny. Er krabbelte zum Rand des Tischs, sprang herunter und lief ihm entgegen. Lloyd hob ihn hoch, schwenkte ihn herum und drückte ihn fest.

»Einen Kuß für Lloyd?« fragte er.

Dinny gab ihm einen schmatzenden Kuß.

»Ich hab' was für dich«, sagte Lloyd und nahm eine Handvoll eingewickelte Hershey's Kisses aus der Brusttasche. Dinny krähte vor Vergnügen und packte sie. »Lloyd?«

»Was, Dinny?«

»Warum riechst du wie ein Benzinfaß?«

Lloyd lächelte. »Ich habe Abfälle verbrannt, Kleiner. Nun geh wieder spielen. Wer ist denn jetzt deine Mom?«

»Angelina.« Er sprach es Antschejiinah aus. »Dann wieder Bonnie. Ich mag Bonnie. Aber ich mag auch Angelina.«

»Sag ihr nicht, daß Lloyd dir Süßigkeiten gegeben hat. Angelina würde Lloyd hauen.«

Dinny versprach, es ihr nicht zu erzählen, und kicherte bei dem Gedanken, daß Angelina Lloyd hauen könnte. Gleich darauf saß er wieder auf dem Spieltisch und dirigierte, den Mund voll Schokolade, seine Armee. Whitney kam in seiner weißen Schürze herbei und reichte Lloyd zwei Sandwiches und eine kalte Flasche Hamm's.

»Danke«, sagte Lloyd. »Sieht gut aus.«

»Das ist selbstgebackenes syrisches Brot«, sagte Whitney stolz. Lloyd kaute eine Weile. »Hat jemand ihn gesehen?« fragte er schließlich.

Ken schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er ist wieder weg.«

Lloyd dachte darüber nach. Draußen heulte eine ungewöhnlich starke Bö, die sich in der Wüste einsam und verloren anhörte. Dinny hob einen Moment unruhig den Kopf und spielte dann weiter.

»Ich glaube, er ist noch irgendwo in der Nähe«, sagte Lloyd schließlich. »Ich weiß nicht, warum, aber ich bin ganz sicher... Ich glaube, er ist in der Nähe und wartet auf etwas. Ich weiß nur nicht, auf was.«

Whitney sagte mit leiser Stimme: »Glaubst du, daß er es aus ihr herausgekriegt hat?«

»Nein«, sagte Lloyd und beobachtete Dinny. »Das glaube ich nicht. Irgendwie ist die Sache für ihn schiefgelaufen. Sie... sie hat Glück gehabt oder schneller gedacht als er. Und das kommt nicht oft vor.«

»Auf lange Sicht spielt es keine Rolle«, sagte Ken, aber er sah dennoch besorgt aus.

»Nein, sicher nicht.« Lloyd lauschte eine Weile dem Wind. »Vielleicht ist er wieder nach L.A.« Aber das glaubte er nicht, und man sah es seinem Gesicht an.

Whitney ging in die Küche zurück und holte noch eine Runde Bier. Sie tranken schweigend, erfüllt von beunruhigenden Gedanken. Zuerst der Richter und nun die Frau. Beide tot. Und keiner hatte geredet. Keiner war unversehrt geblieben, wie er es befohlen hatte. Es war, als hätten die alten Yankees mit Mantle und Marris und Ford die beiden Eröffnungsspiele der FootballMeisterschaft verloren; es war kaum zu glauben - und beängstigend.

Der Wind wehte die ganze Nacht hindurch.

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