32

Jemand hatte die Tür zwischen dem HS -Trakt und dem Zellentrakt gegenüber offengelassen, die Metallwände des Korridors wirkten wie ein natürlicher Verstärker, der das monotone Gebrüll, das schon den ganzen Morgen andauerte, ins Ungeheuerliche steigerte und hallen und widerhallen ließ, bis Lloyd Henreid davon überzeugt war, daß er durch das Geschrei und die sehr menschliche Angst, die er empfand, voll und ganz durchdrehen würde.

»Mutter«, ertönte der heisere, hallende Schrei. »Muutteer

Lloyd saß mit überkreuzten Beinen auf dem Fußboden seiner Zelle. Seine Hände waren blutbeschmiert; er sah aus wie ein Mann, der ein Paar rote Handschuhe angezogen hat. Das hellblaue Baumwollhemd der Gefängniskleidung war ebenfalls voll Blut, denn er hatte immer wieder die Hände daran abgewischt, um besser arbeiten zu können. Es war zehn Uhr morgens, 29. Juni. Gegen sieben Uhr heute morgen hatte er bemerkt, daß das rechte vordere Bein seiner Pritsche lose war, und seitdem versuchte er, die Bolzen herauszudrehen, mit denen es am Fußboden und der Unterkante des Bettrahmens befestigt war. Er versuchte es nur mit den Fingern als Werkzeuge, und es war ihm tatsächlich gelungen, fünf der sechs Bolzen herauszudrehen. Dafür sahen seine Finger jetzt wie rohes Hackfleisch aus. Der sechste Bolzen erwies sich als harte Nuß, aber Lloyd dachte, daß er auch ihn schaffen würde. Darüber hinaus hatte er überhaupt nicht gedacht. Nicht nachzudenken war die einzige Möglichkeit, nackter Panik zu entgehen.

»Muutteeer...«

Er sprang auf die Füße, von seinen verletzten, pochenden Fingern spritzten Blutstropfen auf den Fußboden, packte mit den Händen die Gitterstangen, schob das Gesicht so weit er konnte in den Korridor hinaus, und seine Augen quollen wütend hervor.

»Halt's Maul, Wichser!« schrie er. »Halt's Maul, du machst mich wahnsinnig!«

Eine lange Pause. Lloyd genoß die Stille, wie er früher einen brandheißen Viertelpfünder mit Käse von McD genossen hatte. Schweigen ist Gold hatte er immer für ein dummes Sprichwort gehalten, aber es war doch eindeutig was dran.

»MUUUUTTEERR....«, kam die Stimme wieder aus dem metallenen Hals der Wände zwischen den Zellen, so traurig wie ein Nebelhorn.

»Gott im Himmel«, murmelte Lloyd. »RUHE! RUHE! RUHE, DU ELENDER SCHWACHKOPF!«

»MUUUUUUUTTEEERRR...«

Lloyd wandte sich wieder dem Bein seiner Pritsche zu, machte sich wütend darüber her, wünschte sich wieder, er hätte ein Stemmeisen oder so etwas in seiner Zelle, und versuchte, nicht an die schmerzenden Finger und die Panik in seinem Kopf zu denken. Er versuchte sich zu erinnern, wann er seinen Anwalt zum letzten Mal gesehen hatte - solche Dinge wurden sehr rasch verschwommen in Lloyds Kopf, der den chronologischen Ablauf vergangener Ereignisse etwa so gut halten konnte wie ein Sieb Wasser. Vor drei Tagen. Ja. Am Tag, nachdem Mathers, der Wichser, ihm in die Eier getreten hatte. Zwei Wärter hatten ihn wieder nach unten ins Besprechungszimmer gebracht, und Shockley stand immer noch an der Tür, und hatte ihn begrüßt: Schau, da ist ja unser KlugscheißerSchleimbeutel wieder, was liegt denn an, Schleimbeutel, wieder was Vorlautes zu sagen? Und dann hatte Shockley den Mund aufgemacht, Lloyd mitten ins Gesicht geniest und mit dicker Spucke besprüht. Da hast du ein paar Bazillen, Schleimbeutel. Vom Gefängnisdirektor abwärts sind alle erkältet, und ich glaube, daß der Reichtum gerecht verteilt werden sollte. In Amerika sollte sogar elender Abschaum wie du sich wenigstens erkälten können.

Dann hatten sie ihn hineingeführt, und Devins hatte wie ein Mann ausgesehen, der versucht, ein paar ziemlich gute Neuigkeiten zurückzuhalten, falls sie sich letztendlich vielleicht doch als schlechte Neuigkeiten entpuppen sollten. Der Richter, der Llodys Fall anhören sollte, lag mit Grippe im Bett. Zwei andere Richter waren ebenfalls krank, entweder mit der Grippe, die umging, oder mit etwas anderem, daher waren die verbliebenen auf der Ersatzbank überlastet. Vielleicht konnten sie eine Verschiebung herausschinden. Halten Sie uns die Daumen, sagte der Anwalt. Wann wissen wir es? hatte Lloyd gefragt. Wahrscheinlich erst in allerletzter Minute, hatte Devins geantwortet. Keine Bange, ich lasse es Sie wissen. Aber seither hatte Lloyd ihn nicht mehr gesehen, und als er jetzt daran zurückdachte, fiel ihm ein, daß der Anwalt selbst eine laufende Nase gehabt hatte und ...

»Aaauuuuuuu Scheiße!«

Er sackte die Finger der rechten Hand in den Mund und schmeckte Blut. Aber der verdammte Bolzen hatte ein wenig nachgegeben, und das bedeutete, daß er ihn todsicher rauskriegen würde. Nicht einmal über den Mutter-Schreier hinten im Korridor ärgerte er sich mehr... wenigstens nicht so sehr. Er würde ihn kriegen. Danach brauchte er nur noch abzuwarten, was geschehen würde. Er saß mit den Fingern im Mund da und gönnte ihnen etwas Ruhe. Wenn er fertig war, würde er sein Hemd in Streifen reißen und sie verbinden.

»Mutter?«

»Ich weiß, was du mit deiner Mutter machen kannst«, murmelte Lloyd. Am Abend, nachdem er Devins zum letzten Mal gesehen hatte, wurden die ersten kranken Gefangenen hinausgebracht, sie wurden hinausgetragen, um es nicht noch deutlicher zu sagen, denn sie schafften nur die weg, die total hinüber waren. Trask, der Mann in Lloyds rechter Nachbarzelle, hatte ihn darauf hingewiesen, daß auch die meisten Wärter sich anhörten, als hätten sie selbst die Nase voll Rotz. Vielleicht bringt uns das was, sagte Trask. Was, hatte Lloyd gefragt. Ich weiß nicht, sagte Trask. Er war ein hagerer Mann mit langem Bluthund-Gesicht und erwartete im HS-Trakt seinen Prozess wegen bewaffnetem Raubüberfalls und Körperverletzung mit einer tödlichen Waffe. Vielleicht Aufschub, sagte er. Keine Ahnung.

Trask hatte sechs Joints unter der dünnen Matratze seiner Pritsche und gab vier davon einem Wärter, der noch okay zu sein schien, damit er ihm erzählte, was draußen vor sich ging. Der Wärter sagte, daß die Leute Phoenix in alle Himmelsrichtungen verließen. Viele seien krank, und die Leute krächzten schneller, als ein Pferd traben konnte. Die Regierung behauptete, daß bald ein geeigneter Impfstoff zur Verfügung stehen werde, aber die meisten Leute hielten das für Käse. Viele kalifornische Radiosender berichteten echt schreckliche Dinge über Kriegsrecht und Straßensperren durch die Armee, Nationalgardisten mit automatischen Waffen und Gerüchte, die besagten, daß die Leute zu Zehntausenden starben. Der Wärter sagte, er würde sich nicht wundern, wenn sich herausstellte, daß die langhaarigen perversen Sympathisanten etwas ins Trinkwasser getan hätten.

Der Wärter sagte, ihm selbst ginge es gut, aber nach der Schicht würde er sofort abhauen. Er habe gehört, die Armee würde ab morgen früh die US 17, US 1-10 und die US 80 sperren, aber vorher wolle er seine Frau und sein Kind in den Wagen laden, dazu so viele Lebensmittel, wie er auftreiben konnte, und in den Bergen bleiben, bis alles vorbei sei. Er habe dort oben eine Hütte, sagte der Wärter, und wenn einer sich auf mehr als dreißig Meter näherte, würde er ihm eine Kugel durch den Kopf jagen.

Am nächsten Morgen fing Trasks Nase an zu laufen, und er sagte, er habe Fieber. Lloyd erinnerte sich, während er an den Fingern saugte, daß Trask vor Angst ganz fickrig geworden war. Trask hatte jeden Wärter, der vorüberkam, angeschrien, er solle ihn hier rausholen, bevor er ernstlich krank würde. Aber die Wärter würdigten weder ihn noch die anderen Gefangenen, die jetzt so unruhig waren wie hungrige Löwen im Zoo, auch nur eines Blickes. Auch Lloyd bekam es nun mit der Angst zu tun. Normalerweise hielten sich bis zu zwanzig Wärter auf dem Korridor auf. Wie kam es, daß er höchstens vier oder fünf verschiedene Gesichter jenseits der Gitter gesehen hatte?

Seit diesem Tag, dem Siebenundzwanzigsten, aß Lloyd nur noch die Hälfte der Mahlzeiten, die zwischen den Gitterstäben durchgeschoben wurden, und bewahrte die andere Hälfte - erbärmlich wenig - unter der Matratze seiner Pritsche auf. Gestern hatte Trask plötzlich Krämpfe bekommen. Sein Gesicht war so schwarz wie das Pik-As geworden, und er war gestorben. Lloyd hatte sehnsüchtig zu Trasks halb gegessenem Frühstück gesehen, aber es war unerreichbar für ihn. Gestern nachmittag waren immer noch ein paar Wärter auf dem Korridor gewesen, aber sie brachten niemanden mehr zur Krankenstation, ganz gleich wie krank. Vielleicht starben sie auch schon unten in der Krankenstation, und die Wärter hatten beschlossen, sich nicht mehr die Mühe zu machen. Niemand kam, um Trasks Leiche wegzuschaffen.

Gestern am späten Nachmittag schlief Lloyd ein wenig. Als er aufwachte, waren die Korridore des HST wie ausgestorben. Das Abendessen war nicht serviert worden. Jetzt hörte sich der Trakt tatsächlich wie das Löwenhaus im Zoo an. Lloyd hatte nicht genug Phantasie sich auszumalen, wieviel wilder es sich angehört hätte, wenn der HS -Trakt voll belegt gewesen wäre. Er hatte keine Ahnung, wie viele noch lebten und kräftig genug waren, nach ihrem Essen zu schreien, aber das Echo täuschte eine größere Anzahl vor. Lloyd wußte nur, daß Trasks Leiche rechts nebenan Fliegen anzog. Die Zelle links von ihm war leer. Ihr früherer Insasse, ein junger, NiggerSlang redender Schwarzer, der versucht hatte, eine alte Dame zu berauben, und sie statt dessen getötet hatte, war schon vor Tagen in die Krankenstation gebracht worden. Gegenüber sah er zwei leere Zellen und die herabbaumelnden Beine eines Mannes, der seine Frau und seinen Schwager im Verlauf eines Pokeno-Spiels um Centstücke umgebracht hatte. Der Pokeno-Killer, wie er genannt wurde, mußte sich mit seinem Gürtel oder, wenn man ihm den weggenommen hatte, mit der eigenen Hose erhängt haben. Später am Abend, als sich das Licht automatisch eingeschaltet hatte, aß Lloyd von den Bohnen, die er vorgestern aufbewahrt hatte. Sie schmeckten scheußlich, aber er aß sie trotzdem. Er spülte sie mit Wasser aus der Kloschüssel runter, kroch dann auf die Pritsche, zog die Knie an die Brust und verfluchte Poke, daß er ihm das alles eingebrockt hatte. Es war alles Pokes Schuld. Lloyd wäre allein nie ehrgeizig genug gewesen, sich mehr als kleinen Ärger einzuhandeln.

Mit der Zeit hatte das Geschrei nach Essen nachgelassen, und Lloyd vermutete, daß er nicht der einzige war, der sich einen kleinen Vorrat angelegt hatte. Aber er hatte nicht viel. Wenn er wirklich geglaubt hätte, daß es so kommen würde, hätte er sich mehr zurückgelegt. Und irgend etwas spukte ihm im Kopf herum, dem er nicht ins Gesicht sehen wollte. Es war, als würden im Hinterzimmer seines Verstands Vorhänge flattern, hinter denen etwas verborgen war. Man konnte nur die knochigen Skelettfüße des Dings unter dem Saum der Vorhänge sehen. Aber mehr wollte man auch nicht sehen. Denn die Füße gehörten einem nickenden ausgemergelten Leichnam, und der hieß HUNGERTOD!

»O nein«, sagte Lloyd. »Jemand wird kommen. Ganz bestimmt. So sicher, wie Scheiße am Bettlaken klebt.«

Aber er mußte immer wieder an das Kaninchen denken. Er konnte nicht anders. Er hatte das Kaninchen samt Käfig in der Schule bei einer Tombola gewonnen. Sein Vater wollte nicht, daß er es behielt, aber Lloyd hatte ihn irgendwie überzeugt, daß er es versorgen und von seinem eigenen Taschengeld Futter kaufen würde. Er liebte das Kaninchen, und er kümmerte sich darum. Anfangs. Das Schlimme war, daß er nach einiger Zeit alles vergaß. So war es immer gewesen. Und eines Tages, als er in dem alten Autoreifen schaukelte, der hinter ihrem schäbigen Haus in Marathon, Pennsylvania, an einem verkrüppelten Ahornbaum hing, war er plötzlich kerzengerade hochgeschreckt und hatte an das Kaninchen gedacht. Er hatte schon seit... nun, mehr als zwei Wochen nicht mehr an das Kaninchen gedacht. Er hatte es einfach völlig vergessen.

Er lief zu dem kleinen Schuppen neben der Scheune. Es war Sommer, genau wie jetzt, und als er in den Schuppen trat, schlug ihm der Geruch des toten Kaninchens entgegen wie ein gewaltiger rechter Schwinger. Das Fell, das er so gern gestreichelt hatte, war zottig und verdreckt. In den Höhlen, in denen die hübschen rosa Augen des Kaninchens gewesen waren, krochen geschäftige weiße Maden. Die Pfoten des Tieres waren aufgekratzt und blutig. Er versuchte sich einzureden, daß die Pfoten blutig waren, weil es versucht hatte, sich aus dem Käfig zu befreien, und so war es zweifellos auch gewesen, aber eine flüsternde Stimme in einem dunklen, kranken Teil seines Verstands sagte, daß das Kaninchen im letzten Extremstadium des Hungers versucht hatte, sich selbst zu fressen.

Lloyd hatte das Kaninchen genommen, ein tiefes Loch ausgehoben und es mitsamt dem Käfig begraben. Sein Vater hatte ihn nie nach dem Kaninchen gefragt, hatte vielleicht sogar vergessen, daß sein Sohn überhaupt ein Kaninchen gehabt hatte - Lloyd war nicht sonderlich gescheit, aber verglichen mit seinem Vater war er ein Geistesriese -, aber Lloyd hatte es nie vergessen. Er hatte immer lebhaft geträumt, aber der Tod des Kaninchens löste eine Serie schrecklicher Alpträume aus. Die Vision des Kaninchens hatte er jetzt wieder deutlich vor Augen, als er mit zur Brust gezogenen Knien auf der Pritsche saß und sich sagte, daß jemand kommen würde, daß ganz bestimmt jemand kommen und ihn freilassen würde. Er hatte diese Captain-Trips-Grippe nicht; er hatte nur Hunger. Wie sein Kaninchen Hunger gehabt hatte. So einfach war das. Kurz nach Mitternacht war er eingeschlafen, und heute morgen hatte er angefangen, am Bein der Pritsche zu arbeiten. Und als er seine blutigen Finger betrachtete, dachte er mit neuem Entsetzen an die blutigen Pfoten seines einstigen Kaninchens, dem er nichts zuleide hatte tun wollen.




Am 29. Juni um ein Uhr nachmittags hatte er das Bein der Pritsche gelöst. Am Ende hatte der Bolzen lächerlich leicht nachgegeben, das Bein war auf den Boden der Zelle gepoltert, und er hatte es eine Weile betrachtet und sich gefragt, wozu in aller Welt er es überhaupt gewollt hatte. Es war etwa neunzig Zentimeter lang. Er trug es zum vorderen Gitter der Zelle und begann wütend gegen die Stahlstäbe zu hämmern. »He!« brüllte er unter dem tief hallenden, gongartigen Dröhnen der Stangen. »He, ich will raus! Ich will raus, habt ihr nicht gehört? He, verdammt noch mal, hei«

Er schwieg und lauschte, während die Echos verstummten. Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille, dann kam von unten aus dem Zellentrakt die heisere, inbrünstige Antwort: »Mutter! Hier unten, Mutter! Ich bin hier unten!«

»Scheeeiiiiße!« schrie Lloyd und warf das Pritschenbein in die Ecke. Er hatte sich stundenlang abgemüht und praktisch die Finger kaputtgemacht, nur um dieses Arschloch zu wecken.

Er setzte sich auf die Pritsche, hob die Matratze an und nahm ein Stück Schwarzbrot heraus. Er fragte sich, ob er eine Handvoll Datteln dazu nehmen sollte, sagte sich, er sollte sie aufheben, und nahm sie dann doch. Er aß eine nach der anderen und verzog dabei das Gesicht, und das Brot hob er bis zuletzt auf, um den schleimigen fruchtigen Geschmack aus dem Mund zu bekommen.

Als er diesen jämmerlichen Ersatz für eine Mahlzeit hinter sich hatte, ging er rastlos zur rechten Seite der Zelle. Er sah nach unten und unterdrückte einen Aufschrei des Ekels. Trask lag halb auf der Pritsche, seine Hosenbeine waren ein wenig hochgerutscht. Über den Gefängnispantoffeln, die sie einem hier gaben, waren die bloßen Knöchel zu sehen. Eine große schlanke Ratte tat sich an Trasks Bein gütlich. Ihr widerlicher rosa Schwanz war fein säuberlich um den grauen Leib geringelt.

Lloyd ging in die andere Ecke seiner Zelle und hob das Pritschenbein auf. Er ging zurück und wartete ab, ob die Ratte ihn sehen und einen Ort mit etwas stillerer Gesellschaft aufsuchen würde. Aber die Ratte wandte ihm den Rücken zu, und soweit Lloyd abschätzen konnte, ahnte sie nicht einmal etwas von seiner Anwesenheit. Lloyd schätzte die Entfernung mit dem Auge ab und kam zum Ergebnis, daß das Pritschenbein einen Volltreffer landen würde.

»Hah!« machte Lloyd und holte mit dem Pritschenbein aus. Es quetschte die Ratte gegen Trasks Bein, und Trask rutschte mit einem steifen Platscher von der Pritsche. Die Ratte lag betäubt auf der Seite und atmete nur noch schwach. Sie hatte Blutstropfen in den Schnurrhaaren. Ihre Hinterbeine bewegten sich, als würde das kleine Rattenhirn ihr den Rat geben wegzulaufen, aber irgendwo entlang der Wirbelsäule schienen die Signale völlig durcheinanderzugeraten. Lloyd schlug noch einmal zu und machte ihr den Garaus.

»Das hast du davon, Mistvieh«, sagte Lloyd. Er legte das Pritschenbein weg und ging zur Koje zurück. Ihm war heiß, ängstlich und zum Weinen zumute. Er blickte über die Schulter zurück und schrie: »Wie gefällt es dir in der Rattenhöhle, elender kleiner Pisser?«

»Mutter?« antwortete eine fröhliche Stimme. »Muuutter!«

»Halt's Maul!« brüllte Lloyd. »Ich bin nicht deine Mutter! Deine Mutter ist in einem Hurenhaus in Asshole, Indiana, fürs Blasen zuständig!«

»Mutter?« sagte die Stimme voller Zweifel. Dann verstummte sie. Lloyd fing an zu weinen. Dabei rieb er sich wie ein kleiner Junge mit den Fäusten die Augen. Er wollte ein Steak-Sandwich, er wollte mit seinem Anwalt sprechen, er wollte hier raus.

Schließlich legte er sich auf die Pritsche, legte einen Arm über die Augen und masturbierte. Die Methode war zum Einschlafen so gut wie jede andere.




Als er wieder aufwachte, war es fünf Uhr nachmittags, und im Hochsicherheitstrakt herrschte Totenstille. Benommen stand Lloyd von der Pritsche auf, die sich jetzt wie betrunken zu der Seite hinabneigte, wo ihr ein Bein fehlte. Er ergriff das Bein und schlug damit gegen die Gitterstäbe wie der Koch auf einer Farm, der das Gesinde zum Essen ruft. Essen. Welch ein Wort, hatte es je ein schöneres gegeben? Schweinesteaks mit Kartoffeln und Soßen und jungen grünen Erbsen und Milch mit Hershey-Schokoladensirup drin. Und ein großer Becher Erdbeereis als Nachtisch. Nein, es gab kein Wort, daß sich mit Essen vergleichen ließ.

»He, ist niemand da?« rief Lloyd, und seine Stimme überschlug sich. Keine Antwort. Nicht einmal der Ruf nach der Mutter. In diesem Augenblick hätte er sich sogar darüber gefreut. Selbst Verrückte waren bessere Gesellschaft als Tote.

Lloyd ließ das Pritschenbein klirrend auf den Boden fallen. Er stolperte zu seiner Pritsche zurück, hob die Matratze hoch und machte Inventur. Noch zwei Kanten Brot, zwei Handvoll Datteln, ein halb abgenagtes Kotelett, ein Stück Wurst. Er riß die Wurst in zwei Teile und aß das größere Stück, aber das regte nur seinen Appetit an und entfachte ihn um so mehr.

»Jetzt nichts mehr«, flüsterte er, dann nagte er den Rest Fleisch vom Knochen und machte sich bittere Vorwürfe und fing wieder an zu weinen. Er würde hier drinnen sterben, so wie das Kaninchen in seinem Käfig gestorben war und Trask in seiner Zelle. Trask.

Er sah lange und nachdenklich in Trasks Zelle und beobachtete die Fliegen beim Kreisen, Landen und Wiederaufsteigen. Trasks Gesicht war ein regelrechter L. A. International Airport für Fliegen. Schließlich nahm Lloyd das Pritschenbein, ging zu den Gitterstäben und schob es hindurch. Wenn er sich auf Zehenspitzen stellte, konnte er den Kadaver der Ratte gerade noch erreichen und in seine Zelle herüberziehen.

Als sie nahe genug war, kniete Lloyd sich hin und zog die Ratte auf seine Seite. Er hob sie am Schwanz hoch und ließ den Kadaver lange vor seinen Augen baumeln. Dann legte er sie unter die Matratze, wo die Fliegen sie nicht erreichen konnten, aber er legte den schlaffen Körper getrennt von den Resten seiner Verpflegung hin. Er starrte die Ratte eine lange Zeit an, bevor er die Matratze fallen ließ und das Tier gnädig vor seinen Blicken verbarg.

»Für alle Fälle«, flüsterte Lloyd Henreid in die Stille. »Nur für alle Fälle.«

Dann stieg er auf das andere Ende der Pritsche, zog die Knie bis ans Kinn und saß still.

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