49
Als Lucy Swann aufwachte, war es nach ihrer Pulsar-Damenuhr fünfzehn Minuten vor Mitternacht. Im Westen, wo die Berge lagen, blitzte Wetterleuchten auf - die Rocky Mountains, dachte sie ehrfürchtig. Vor dieser Reise war sie nie weiter westlich als Philadelphia gewesen, wo ihr Schwager lebte. Gelebt hatte. Die andere Hälfte des Doppelschlafsacks war leer; das hatte sie geweckt. Zuerst wollte sie sich umdrehen und weiterschlafen - er würde schon zurückkommen, wenn er fertig war -, aber dann stand sie auf und ging langsam zur Westseite des Lagers, wo sie ihn vermutete. Sie ging leise, ohne eine Menschenseele zu stören. Außer den Richter natürlich; seine Wache war von zehn Uhr bis Mitternacht, und Richter Farris schlief nie im Dienst. Der Richter war siebzig und hatte sich ihnen in Joliet angeschlossen. Sie waren jetzt neunzehn, fünfzehn Erwachsene, drei Kinder und Joe.
»Lucy?« sagte der Richter mit leiser Stimme.
»Ja. Haben Sie...«
Ein leises Kichern. »Aber ja. Er ist draußen am Highway. Genau dort, wo er gestern und vorgestern nacht war.«
Sie ging näher zu ihm und sah, daß er die Bibel aufgeschlagen auf dem Schoß hielt. »Richter, Sie werden sich die Augen verderben.«
»Unsinn. Sternenlicht ist das beste Licht dafür. Vielleicht sogar das einzige. Wie gefällt Ihnen dies? Muß nicht der Mensch immer im Streit sein auf Erden, und sind seine Tage nicht wie eines Tagelöhners? Wie ein Knecht sich sehnet nach dem Schatten und ein Tagelöhner nach dem Lohn seiner Arbeit. Also habe ich wohl ganze Monden vergeblich gearbeitet, und elender Nächte sind mir viel geworden. Wenn ich mich legte, sprach ich: Wann werde ich aufstehen? Und der Abend ward mir lang; ich wälzte mich und wurde des satt bis zur Dämmerung.«
»Wahnsinn«, sagte Lucy ohne große Begeisterung. »Sehr schön, Richter.«
»Es ist nicht schön, es ist Hiob. Im Buch Hiob steht nichts Schönes, Lucy.« Er schlug die Bibel zu. »>Ich wälzte mich und wurde des satt bis zur Dämmerung.< Das ist Ihr Mann, Lucy. Das ist haargenau Larry Underwood.«
»Ich weiß«, sagte sie und seufzte. »Wenn ich nur wüßte, was mit ihm los ist.«
Der Richter, der seine Vermutungen hatte, schwieg.
»Die Träume können es nicht sein«, sagte sie. »Die hat keiner mehr, außer vielleicht Joe. Und Joe ist... anders.«
»Ja. Das ist er. Armer Kerl.«
»Und alle sind gesund. Jedenfalls seit Mrs. Vollman gestorben ist.«
Zwei Tage nachdem der Richter zu ihnen gestoßen war, hatte sich ein Paar, das sich als Dick und Sally Vollman vorstellte, zu Larry und seiner zusammengewürfelten Schar Überlebender gesellt. Lucy hielt es für höchst unwahrscheinlich, daß die Grippe einen Mann und dessen Frau verschont haben sollte, und sie vermutete, daß ihre Ehe wild war und noch nicht lange dauerte. Sie waren um die Vierzig und offensichtlich sehr verliebt. Dann war Sally Vollman vor einer Woche im Haus der alten Frau in Hemingford Home krank geworden. Sie hatten zwei Tage kampiert und hilflos darauf gewartet, daß sie wieder gesund würde oder starb. Sie war gestorben. Dick Vollman war immer noch bei ihnen, aber er war nicht mehr derselbe - er war schweigsam, nachdenklich, blaß.
»Das hat er sich zu Herzen genommen, richtig?« fragte sie Richter Farris.
»Larry ist ein Mann, der relativ spät im Leben zu sich selbst gefunden hat«, sagte der Richter und räusperte sich. »Wenigstens kommt mir das so vor. Männer, die spät zu sich selbst finden, bleiben unsicher. Sie sind all das, was ein guter Bürger nach den bürgerlichen Vorstellungen sein sollte; sie ergreifen Partei, sind aber niemals Fanatiker; sie respektieren in jeder Situation die Tatsachen, verändern sie aber nie; fühlen sich in Führungspositionen unwohl, können aber selten Verantwortung ablehnen, wenn sie ihnen übertragen ... oder aufgedrängt wird. In einer Demokratie sind sie die geeignetsten Führer, denn es ist unwahrscheinlich, daß sie sich in die Macht verlieben. Im Gegenteil. Und wenn etwas schiefgeht... wenn eine Mrs. Vollman stirbt... Könnte es Diabetes gewesen sein?« unterbrach der Richter seinen eigenen Gedankengang. »Möglich. Verfärbte Haut, das rasche Koma... möglich, möglich. Aber wenn ja, wo war ihr Insulin? Hat sie vielleicht sogar sterben wollen? Könnte es Selbstmord gewesen sein?«
Der Richter machte eine Denkpause und faltete die Hände unterm Kinn. Er sah aus wie ein großer, brütender schwarzer Raubvogel.
»Sie wollten sagen, was passiert, wenn etwas schiefgeht«, drängte Lucy sanft.
»Wenn etwas schiefgeht - wenn eine Sally Vollman an Diabetes oder inneren Blutungen oder was auch immer stirbt -, gibt ein Mann wie Larry sich selbst die Schuld. Der Mann, den Schulbücher vergöttern, nimmt selten ein gutes Ende. Melvin Purvis, der Super-FBI-Agent der dreißiger Jahre, erschoß sich 1959 mit seiner eigenen Dienstpistole. Als Lincoln ermordet wurde, war er ein vor seiner Zeit gealterter Mann am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Wir haben im Fernsehen beobachten können, wie Präsidenten vor unseren Augen verfielen, von Monat zu Monat, sogar von Woche zu Woche - außer natürlich Nixon, der von Macht gediehen ist wie ein Vampir vom Blut seiner Opfer, und Reagan, der wohl einfach ein bißchen zu dumm war, um alt zu werden. Ich glaube, mit Gerald Ford war es genauso.«
»Ich glaube, da ist noch etwas anderes«, sagte Lucy traurig. Er sah sie fragend an.
»Wie lautete der Satz noch? Ich wälzte mich und wurde des satt bis zur Dämmerung?«
Er nickte.
Lucy sagte: »Ziemlich gute Beschreibung eines verliebten Mannes, nicht wahr?«
Er sah sie an und war überrascht, daß sie die ganze Zeit gewußt hatte, was er nicht aussprechen wollte. Lucy zuckte die Achseln und lächelte - ein bitteres Verziehen der Lippen. »Frauen wissen es«, sagte sie. »Frauen wissen es fast immer.«
Bevor er antworten konnte, war sie zur Straße gegangen, wo Larry sitzen und an Nadine Cross denken würde.
»Larry?«
»Hier«, sagte er kurz. »Warum bist du aufgestanden?«
»Mir ist kalt geworden«, sagte sie. Er saß mit untergeschlagenen Beinen am Straßenrand, als würde er meditieren. »Hast du Platz für mich?«
»Klar.« Er rückte. Der Asphalt hatte noch die Wärme des Tages gespeichert, der gerade zu Ende ging. Sie setzte sich. Er legte einen Arm um sie. Nach Lucys Schätzung waren sie heute nacht fünfzig Meilen östlich von Boulder. Wenn sie morgen um neun aufbrachen, konnten sie zum Mittagessen in der Freien Zone Boulder sein.
Der Mann am Funkgerät nannte es Freie Zone Boulder; sein Name war Ralph Brentner, und er sagte (einigermaßen verlegen), dass Freie Zone Boulder eigentlich nichts weiter war als ein Funkverkehrskennwort, aber Lucy gefiel, wie es sich anhörte. Es hörte sich richtig an. Es hörte sich nach einem Neuanfang an. Und Nadine Cross hatte den Namen mit beinahe religiösem Eifer übernommen, als wäre er ein Talisman.
Drei Tage nachdem Larry, Nadine, Joe und Lucy in Stovington angekommen waren und das Seuchenzentrum verlassen vorgefunden hatten, hatte Nadine vorgeschlagen, das CB -Funkgerät einzuschalten und alle vierzig Kanäle abzuhören. Larry hatte diesen Vorschlag begeistert aufgegriffen - wie er die meisten ihrer Vorschläge akzeptiert, dachte Lucy. Sie konnte Nadine Cross überhaupt nicht verstehen. Larry war scharf auf sie, das war klar, aber außerhalb der täglichen Routine schien Nadine nicht viel mit ihm zu tun haben zu wollen.
Wie dem auch sei, das CB war eine gute Idee gewesen, wenn sie auch aus einem Gehirn kam, das eisumschlossen war (wenn es nicht gerade um Joe ging). Es wäre der einfachste Weg, andere Gruppen aufzuspüren, hatte Nadine gesagt, und eventuell einen Treffpunkt auszumachen.
Das führte zu einer verwirrten Diskussion in ihrer Gruppe, die zu diesem Zeitpunkt ein halbes Dutzend zählte; neu hinzugekommen waren Mark Zellman, ein Schweißer aus dem Staat New York, und Laurie Constable, eine sechsundzwanzigjährige Krankenschwester. Und diese verwirrte Diskussion hatte zu einem weiteren beunruhigenden Streit über die Träume geführt.
Laurie hatte als erste eingewendet, sie wüßten genau, wohin sie führen. Sie folgten dem einfallsreichen Harold Lauder und seiner Gruppe nach Nebraska. Natürlich, und zwar aus demselben Grund. Die Träume waren von einer Überzeugungskraft, der man sich nicht entziehen konnte.
Nach einigem Hin und Her war Nadine hysterisch geworden. Sie hatte keine Träume - Wiederholung: keine verdammten Träume. Wenn die anderen gegenseitig Autohypnose praktizieren wollten, bitte sehr. So lange es vernünftige Gründe gab, nach Nebraska zu fahren, zum Beispiel das Schild vor dem Seuchenzentrum in Stovington, bitte sehr. Sie wollte nur klargemacht haben, daß sie nicht auf Grundlage von metaphysischem dummen Zeug mitfuhr. Wenn es ihnen einerlei war, dann vertraute sie lieber auf Funkverkehr als auf Visionen.
Mark hatte die aufgebrachte Nadine nur freundlich angegrinst und gesagt: »Wenn du keine Träume hast, wieso hast du dann gestern nacht im Schlaf geredet und mich damit geweckt?«
Nadine war kalkweiß geworden. »Soll das heißen, ich lüge?« kreischte sie. »Wenn ja, sollte einer von uns besser sofort gehen!«
Joe drückte sich wimmernd an sie.
Larry hatte geschlichtet und dem Vorschlag mit dem CB-Gerät zugestimmt. Seit etwa einer Woche fingen sie Funksprüche auf, nicht aus Nebraska (das schon verlassen war, bevor sie es erreichten - das hatten die Träume ihnen gesagt; aber auch die Träume waren schwächer geworden und hatten an Dringlichkeit verloren), sondern aus Boulder, Colorado, sechshundert Meilen weiter westlich - Signale, die Ralphs leistungsstarkes Gerät aussandte. Lucy erinnerte sich noch an die erfreuten, fast ekstatischen Gesichter, als Ralph Brentners gedehnter Oklahoma-Akzent nasal durch die statischen Geräusche drang: »Hier spricht Ralph Brentner, Freie Zone Boulder. Wenn Sie mich hören, antworten Sie auf Kanal 14. Wiederhole, Kanal 14.«
Sie konnten Ralph hören, hatten aber keinen Sender, der stark genug war zu antworten, noch nicht. Aber inzwischen waren sie näher und hatten seit dem ersten Empfang festgestellt, daß die alte Frau, sie hieß Abagail Freemantle (wenn sie auch für Lucy immer Mutter Abagail bleiben würde), und ihre Gruppe als erste dort angekommen war, aber seitdem waren noch Leute zu zweit und zu dritt und in Gruppen bis zu dreißig eingetroffen. Als Brentner zum ersten Mal Kontakt mit ihnen aufnahm, waren in Boulder schon zweihundert Leute gewesen; heute abend erfuhren sie im Gespräch (sie konnten Boulder inzwischen auch mit ihrem Gerät erreichen), daß es schon dreihundertfünfzig waren. Zusammen mit ihrer Gruppe würden es fast vierhundert sein.
»Ein Penny für deine Gedanken«, sagte Lucy zu Larry und legte ihm eine Hand auf den Arm.
»Ich habe an diese Uhr und den Untergang des Kapitalismus gedacht«, sagte Larry und deutete auf ihre Pulsar. »Es hieß friß oder stirb, und wer am meisten fraß, hatte einen rotweißblauen Cadillac und eine Pulsar-Uhr. Jetzt haben wir eine wahre Demokratie. Jede Lady in Amerika kann eine Pulsar-Digital und einen blauen Nerz haben.« Er lachte.
»Mag sein«, sagte sie. »Aber ich will dir was sagen, Larry. Ich weiss vielleicht nicht viel über den Kapitalismus, aber ich weiß etwas über diese Uhr für tausend Dollar. Ich weiß, daß sie nichts taugt.«
»Nein?« Er sah sie erstaunt an und lächelte. Es war nur ein kurzes Lächeln, aber es war echt. Sie war froh, dieses Lächeln zu sehen - ein Lächeln, das ihr galt. »Warum nicht?«
»Weil niemand weiß, wie spät es ist«, sagte Lucy schnippisch. »Vor vier oder fünf Tagen habe ich Mr. Jackson und Mark und dich gefragt, einen nach dem anderen. Und ihr habt mir alle drei verschiedene Zeiten genannt und gesagt, daß eure Uhren mindestens einmal stehengeblieben sind... weißt du noch, es gibt diesen Ort, wo die Weltzeit festgehalten wird. Ich habe beim Arzt im Wartezimmer in einer Illustrierten einen Artikel darüber gelesen. Es war enorm. Sie hatten die Zeit bis auf eine Mikro-mikro-Sekunde genau bestimmt. Sie hatten Pendel und Solaruhren und alles mögliche. Jetzt denke ich manchmal an diesen Ort, und es macht mich verrückt. Dort müssen alle Uhren stehengeblieben sein, und ich habe eine Pulsar für tausend Dollar, die ich bei einem Juwelier gekauft habe, und sie zeigt die Zeit nicht einmal wie vorgesehen auf die Sekunde genau an. Wegen der Grippe. Der verdammten Grippe.«
Sie verstummte, und sie saßen eine Weile ohne zu reden da. Dann deutete Larry zum Himmel. »Sieh mal!«
»Was? Wo?«
»Drei Uhr hoch. Jetzt zwei.«
Sie sah hoch, erkannte aber nicht, worauf er deutete, bis er die warmen Hände an ihre Wangen preßte und ihr Gesicht zum richtigen Himmelsquadranten drehte. Dann sah sie es und hielt den Atem an. Ein helles Licht, so hell wie die Sterne, aber hart und ohne Flimmern. Es zog rasch auf Ost-WestKurs über den Himmel.
»Mein Gott«, rief sie, »es ist ein Flugzeug, nicht wahr, Larry? Ein Flugzeug?«
»Nein. Ein Erdsatellit. Er wird die Erde wahrscheinlich die nächsten siebenhundert Jahre umkreisen.«
Sie sahen ihm nach, bis er hinter dem dunklen Massiv der Rockies verschwunden war.
»Larry«, sagte sie leise. »Warum hat Nadine es nicht zugegeben? Das mit den Träumen?«
Er verkrampfte sich kaum merklich, und sie bedauerte schon, dass sie es erwähnt hatte. Aber sie hatte es getan, und jetzt war sie entschlossen, das Thema weiter zu verfolgen... es sei denn, er lehnte es ab, darüber zu sprechen.
»Sie sagt, sie hat keine Träume.«
»Sie hat aber welche - Mark hat recht. Und sie spricht im Schlaf. Einmal war sie so laut, daß sie mich geweckt hat.«
Jetzt sah er sie an. Nach einer langen Pause fragte er: »Was hat sie gesagt?«
Lucy überlegte und versuchte, sich genau zu erinnern. »Sie wälzte sich in ihrem Schlafsack herum und sagte immer wieder: >Tu's nicht, es ist so kalt, tu's nicht, ich kann es nicht ertragen, wenn du es tust, es ist so kalt, so kalt.< Und dann riß sie sich an den Haaren. Sie riss sich im Schlaf an den Haaren. Und stöhnte. Mir wurde ganz unheimlich zumute.«
»Man kann doch Alpträume haben, Lucy. Das bedeutet nicht, daß... nun, daß sie von ihm handeln.«
»Es ist besser, nach Einbruch der Dunkelheit nicht viel über ihn zu reden, richtig?«
»Ja, das ist besser.«
»Sie benimmt sich, als würde sie durchdrehen, Larry. Weißt du, was ich meine?«
»Ja.« Er wußte es. Obwohl sie darauf beharrte, daß sie nicht träumte, hatte sie dunkle Ringe unter den Augen gehabt, als sie in Hemingford Home ankamen. Ihr wunderschönes dichtes Haar war deutlich weißer geworden. Und wenn er sie berührte, fuhr sie zusammen. Sie zuckte zurück.
Lucy sagte: »Du liebst sie, nicht wahr?«
»Oh, Lucy«, sagte er vorwurfsvoll.
»Nein, ich will doch nur, daß du weißt...« Sie schüttelte heftig den Kopf, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Ich muß es sagen. Ich sehe doch, wie du sie anschaust... wie sie dich manchmal anschaut, wenn du mit etwas anderem beschäftigt bist... und es sicher ist. Sie liebt dich, Larry. Aber sie hat Angst.«
»Angst wovor? Angst wovor?«
Er dachte an seinen Versuch, mit ihr zu schlafen - drei Tage nach dem Fiasko von Stovington. Seitdem war sie still geworden - sie war gelegentlich immer noch heiter, aber neuerdings schien sie sich zur Heiterkeit zu zwingen. Joe hatte geschlafen. Larry hatte sich neben sie gesetzt, und sie hatten sich eine Weile unterhalten, nicht über ihre gegenwärtige Situation, sondern über vergangene Dinge. Larry hatte versucht, sie zu küssen. Sie hatte ihn weggestoßen und sich abgewandt, aber vorher hatte er gespürt, was Lucy ihm gerade gesagt hatte. Er hatte es noch einmal versucht, grob und zärtlich zugleich, weil er sie so begehrt hatte. Und einen Augenblick hatte sie sich ihm hingegeben und ihm gezeigt, wie es sein könnte, wenn...
Dann hatte sie sich losgerissen und war von ihm abgerückt, das Gesicht blaß, die Hände vor der Brust verschränkt, den Kopf gesenkt.
Mach das nie wieder, Larry. Bitte nicht. Sonst muß ich Joe nehmen und gehen.
Warum? Warum, Nadine? Warum muß es denn so ein Getue sein? Sie hatte nicht geantwortet. Hatte einfach mit gesenktem Kopf dagestanden, und die braunen, aufgedunsenen Ringe unter ihren Augen hatten sich schon herausgebildet.
Wenn ich es dir sagen könnte, würde ich es tun, sagte sie schließlich und ging fort, ohne sich umzuschauen.
»Ich hatte mal eine Freundin, die sich ein wenig wie sie benommen hat«, sagte Lucy. »In meinem letzten Jahr an der High School. Sie hieß Joline. Joline Majors. Joline war nicht an der High School. Sie war abgegangen, um ihren Freund zu heiraten. Er war bei der Marine. Als sie geheiratet haben, war sie schwanger, aber sie hat das Baby verloren. Ihr Mann war häufig fort und Joline ... die ging gern auf Parties. Zu gern, aber ihr Mann war ein eifersüchtiger Bär. Er sagte ihr, wenn er je rauskriegen würde, daß sie was hinter seinem Rücken trieb, würde er ihr beide Arme brechen und ihr Gesicht verunstalten. Kannst du dir vorstellen, wie dieses Leben gewesen sein muß? Dein Mann kommt heim und sagt: >Nun, ich fahr' jetzt zur See, Schatz. Gib mir 'nen Kuß, dann wälzen wir uns noch eine Runde im Heu, und übrigens, wenn ich heimkomme und jemand erzählt mir, daß du rumgevögelt hast, breche ich dir beide Arme und mach dir das Gesicht kaputt.<«
»Ja, das ist schlimm.«
»Nach einer Weile lernte sie einen Typ kennen«, sagte Lucy. »Er war Turnlehrer an der Burlington High. Sie haben miteinander rumgemacht und dabei immer über die Schulter gesehen, und ich weiß nicht, ob ihr Mann jemanden auf sie angesetzt hatte, aber nach einer Weile war das auch unwichtig. Nach einer Weile wurde Joline echt nervös. Sie war so weit, daß sie dachte, ein Typ, der an der Ecke auf den Bus wartete, wäre ein Freund ihres Mannes. Oder der Vertreter, der sich nach ihr und Herb in einer verlausten Absteige eintrug. Das dachte sie auch, wenn sie sich in einem x-beliebigen Motel irgendwo im Staat New York trafen. Vielleicht gehörte sogar der Polizist dazu, der ihnen den Weg zu einem Picknickplatz erklärte, wenn sie zusammen waren. Es wurde so schlimm, daß sie geschrien hat, wenn der Wind eine Tür zuwehte, und zusammengezuckt ist, wenn jemand die Treppe raufkam. Und da sie in einem Haus wohnte, das in sieben kleine Wohnungen unterteilt war, kam immer irgend jemand die Treppe rauf. Herb bekam Angst und verließ sie. Er bekam keine Angst vor Jolines Mann - er bekam Angst vor ihr. Kurz bevor ihr Mann auf Landurlaub kam, hatte Joline einen Nervenzusammenbruch. Und nur, weil sie sich zu gerne verliebte... und er krankhaft eifersüchtig war. Nadine erinnert mich an dieses Mädchen, Larry. Sie tut mir leid. Ich glaube, ich kann sie nicht besonders gut leiden, aber sie tut mir leid. Sie sieht schrecklich aus.«
»Willst du damit sagen, Nadine hat Angst vor mir, wie dieses Mädchen Angst vor ihrem Mann gehabt hat?«
Lucy sagte: »Vielleicht. Ich will dir eines sagen - wo immer Nadines Mann ist, hier ist er nicht.«
Er lachte ein wenig unbehaglich. »Wir sollten wieder schlafen gehen. Morgen wird ein schwerer Tag.«
»Ja«, sagte sie und dachte, daß er kein Wort begriffen hatte. Und plötzlich fing sie an zu weinen.
»He«, sagte er. »He.« Er versuchte, einen Arm um sie zu legen. Sie schlug ihn weg. »Von mir bekommst du, was du willst, das kannst du dir sparen!«
Es war immer noch so viel von dem alten Larry in ihm, daß er sich fragte, ob man ihre Stimme im Lager hören konnte.
»Lucy, ich habe dich nicht gezwungen«, sagte er grimmig.
»Oh, du bist so dumm!« schrie sie und schlug nach seinem Bein.
»Warum sind Männer so dumm, Larry? Du siehst nur Schwarz und Weiß. Nein, du hast mich nicht gezwungen. Ich bin nicht wie sie. Du könntest sie zwingen, und sie würde dir trotzdem ins Gesicht spucken und die Beine zusammenkneifen. Für Mädchen wie mich haben Männer Wörter, die schreiben sie an Toilettenwände, hab' ich gehört. Aber es geht doch nur darum, daß man Wärme braucht, sich warm fühlen muß. Daß man Liebe braucht. Ist das so schlimm?«
»Nein. Nein, das ist es nicht. Aber Lucy...«
»Aber das glaubst du ja nicht«, sagte sie verächtlich. »Du läufst weiter Miss Rührmichnichtan nach, denn du hast ja Lucy, die du nach Sonnenuntergang flachlegen kannst.«
Er saß schweigend da und nickte. Es stimmte, jedes Wort. Er war zu müde, zu geschlagen, um zu widersprechen. Das schien sie zu merken; ihr Gesicht entspannte sich wieder, und sie legte eine Hand auf seinen Arm.
»Wenn du sie erwischst, Larry, bin ich die erste, die mit Blumen kommt. Ich habe noch nie im Leben gegen jemanden Groll gehegt. Nur... versuch, nicht allzu enttäuscht zu sein.«
»Lucy...«
Ihre Stimme schwoll plötzlich an, rauh und mit unerwarteter Schärfe; einen Moment bekam Larry eine Gänsehaut. »Ich glaube nun einmal, daß Liebe sehr wichtig ist; nur Liebe kann uns helfen, dies alles zu überstehen, und gutes Einvernehmen, denn gegen uns steht Haß, schlimmer noch, Leere.« Ihre Stimme wurde wieder leiser. »Du hast recht. Es ist spät. Ich geh' wieder schlafen. Kommst du mit?«
»Ja«, sagte er, und als sie aufstanden, nahm er sie ohne Berechnung in die Arme und küßte sie fest. »Ich liebe dich, so sehr ich kann, Lucy.«
»Das weiß ich«, sagte sie und lächelte ihn müde an. »Das weiß ich, Larry.«
Diesmal wehrte sie sich nicht, als er den Arm um sie legte. Sie gingen gemeinsam ins Lager zurück, liebten sich zaghaft und schliefen ein.
Zwanzig Minuten nachdem Larry Underwood und Lucy Swann ins Lager zurückgekommen waren und zehn Minuten nach ihrem zögernden Liebesakt, als sie schon wieder schliefen, wachte Nadine wie eine Katze im Dunkeln auf.
Der schrille Ton des Entsetzens erklang in ihren Adern.
Jemand will mich, dachte sie und lauschte ihrem Herzschlag, der sich langsam normalisierte. Ihre Augen, weit aufgerissen und voll Dunkelheit, starrten nach oben, wo die überhängenden Zweige einer Ulme Schatten an den Himmel zeichneten. So ist es. jemand will mich. Es stimmt.
Aber... es ist so kalt.
Ihre Eltern und ihr Bruder waren bei einem Autounfall umgekommen, als sie sechs Jahre alt war; sie war an jenem Tag nicht mitgefahren, Onkel und Tante besuchen, sondern zu Hause geblieben, um mit ihrer Freundin zu spielen. Sie hatten ihren Bruder sowieso lieber gehabt, das wußte sie noch. Der Bruder war nicht so wie sie gewesen, kein kleiner Wechselbalg, den sie im Alter von viereinhalb Monaten aus der Krippe eines Waisenhauses gestohlen hatten. Bruders Herkunft war klar. Bruder war - Fanfaren, bitte - ihr Eigenes. Aber Nadine hatte immer und ewig nur Nadine gehört. Sie war das Kind der Erde.
Nach dem Unfall zog sie zu Tante und Onkel, weil sie die einzigen Verwandten waren. In die White Mountains im Osten von New Hampshire. Sie konnte sich noch erinnern, wie die beiden an ihrem achten Geburtstag mit ihr in der Zahnradbahn auf den Mount Washington fuhren, sie in der Höhenluft Nasenbluten bekam und sie böse mit ihr gewesen waren. Tante und Onkel waren zu alt, sie waren Mitte Fünfzig gewesen, als sie sechzehn wurde, in dem Jahr, als sie unter dem Mond durch das taufeuchte Gras gerannt war - die Nacht des Weins, als Träume aus der dünnen Luft kondensierten wie die nächtliche Milch der Phantasie. Eine Liebesnacht. Und wenn der Junge sie eingeholt hätte, wäre sie bereit gewesen, ihm den Preis zu geben, den sie zu geben hatte, und was machte es schon aus, ob er sie einholte? Sie waren gerannt, war das nicht das wichtigste? Aber er hatte sie nicht eingeholt. Eine Wolke hate sich vor den Mond geschoben. Der Tau fühlte sich naßkalt, unangenehm und beängstigend an. Der Geschmack des Weins in ihrem Mund war sauer geworden. Eine Art Verwandlung hatte stattgefunden, ein Gefühl, daß sie warten sollte, warten mußte.
Und wo war er damals gewesen, ihr vorbestimmter, ihr dunkler Bräutigam? Auf welchen Straßen, welchen Gassen in der Dunkelheit der Vorstadt draußen, während drinnen das spröde Klirren des Cocktailgeplauders die Welt in hübsche, rationale Sektionen einteilte? Welche kalten Winde trieben ihn? Wie viele Stangen Dynamit waren in seinem abgewetzten Rucksack? Wer wußte, wie sein Name lautete, als sie sechzehn war? Wie uralt er war? Wo seine Heimat lag? Welche Mutter ihn an die Brust gedrückt hatte? Sie wußte nur, daß er eine Waise war, genau wie sie, und seine Zeit noch kommen würde. Er ging größtenteils auf Straßen, die noch nicht gebaut waren, während sie nur einen Fuß auf eben diesen Straßen hatte. Die Kreuzung, an der sie sich treffen würden, lag noch weit voraus. Er war Amerikaner, das wußte sie, ein Mann, der Milch und Apfelkuchen mochte, der die schlichte Schönheit von etwas Rotkariertem oder Baumwollenem zu würdigen wußte. Seine Heimat war Amerika, und seine Wege waren die geheimen Wege, die verborgenen Straßen, die Verbindungswege unter der Erde, wo die Richtungen in Runen geschrieben sind. Er war der andere Mann, das andere Gesicht, der Hartgesottene, der dunkle Mann, der wandelnde Geck, dessen abgetretene Absätze in lauen Sommernächten über stille Wege klapperten.
Wer weiß, wann der Bräutigam kommt?
Sie hatte auf ihn gewartet, ein unberührtes Gefäß. Mit sechzehn wäre sie fast gefallen, und noch einmal am College. Aber beide Jungen waren wütend und verwirrt weggegangen, wie Larry jetzt, sie hatten die Kreuzwege in ihr gespürt, die Ahnung jenes vorherbestimmten mystischen Treffpunkts.
Boulder war der Ort, wo die Straßen auseinanderliefen. Die Zeit war nahe. Er hatte gerufen, sie zu sich befohlen. Nach dem College hatte sie sich in ihre Arbeit vergraben, hatte mit zwei anderen Mädchen ein Haus gemietet. Was für zwei Mädchen? Nun, sie kamen und gingen. Nur Nadine blieb, und sie war freundlich zu den jungen Männern, die ihre wechselnden Mitbewohnerinnen nach Hause brachten, aber sie selbst hatte nie einen jungen Mann. Wahrscheinlich redeten sie über sie, nannten sie eine künftige alte Jungfer, hielten sie vielleicht sogar für eine heimliche Lesbierin. Das stimmte nicht. Sie war nur...
Unberührt.
Wartend.
Manchmal war es ihr vorgekommen, als würde sich eine Veränderung anbahnen. Wenn sie am Ende des Tages im stillen Klassenzimmer Spielzeug wegräumte, blieb sie manchmal plötzlich stehen, mit flackernden und wachen Augen und vielleicht einem Kastenteufel achtlos in der Hand. Und dann dachte sie: Eine Veränderung wird kommen... ein großer Wind wird wehen. Manchmal, wenn sie diesen Gedanken hatte, sah sie wie eine Verfolgte über die Schulter. Dann verschwand der Gedanke, und sie lachte unsicher.
Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr war ihr Haar allmählich grau geworden - dem Jahr, als sie gejagt, aber nicht eingeholt wurde -, zuerst nur ein paar Strähnen, die in dem Schwarz erschreckend deutlich sichtbar waren, und nicht grau, nein, das war das falsche Wort... weiß, sie waren weiß.
Jahre später hatte sie im Kellerraum des Hauses einer Studentenverbindung an einer Party teilgenommen. Das Licht war schummrig gewesen, und nach einiger Zeit waren die Leute paarweise auf den Zimmern verschwunden. Viele Mädchen - unter ihnen Nadine - hatten sich für die Nacht von ihren Internatshäusern beurlauben lassen. Sie hatte damals vollauf beabsichtigt, es hinter sich zu bringen... aber etwas, das noch unter Monaten und Jahren begraben lag, hatte sie zurückgehalten. Und am nächsten Morgen, im kalten Licht um sieben Uhr früh, hatte sie sich im Badezimmer des Internats in einem der vielen Spiegel betrachtet und gesehen, daß das Weiß scheinbar über Nacht zugenommen hatte - obwohl das natürlich unmöglich war.
Und so waren die Jahre vergangen, waren dahingetickt wie Jahreszeiten in einem trockenen Zeitalter, und sie hatte Gefühle gehabt, ja, Gefühle, und manchmal war sie im toten Grab der Nacht heiß und kalt zugleich erwacht, schweißgebadet, auf lustvolle Weise lebendig und sich in der Kuhle ihres Bettes ihrer selbst bewußt, und dann hatte sie auf Gossenweise an unheimlichen dunklen Sex gedacht. Sich in heißer Flüssigkeit gewälzt. War gekommen und hatte gebissen, gleichzeitig. Und am Morgen danach hatte sie in den Spiegel geblickt und sich eingebildet, daß sie mehr Weiß sah. Diese Jahre hindurch war sie äußerlich nur Nadine Cross gewesen: lieb, gut zu den Kindern, gut in ihrer Arbeit, alleinstehend. Früher hätten solche Frauen in der Gemeinschaft Neugier und dumme Bemerkungen auf sich gezogen, aber die Zeiten hatten sich geändert. Und ihre Schönheit war so einmalig, daß es für sie irgendwie genau richtig erschien, so und nicht anders zu sein.
Und jetzt änderten die Zeiten sich wieder.
Jetzt kam die Veränderung, und in ihren Träumen lernte sie ihren Bräutigam kennen, lernte ihn ein wenig verstehen, obwohl sie nie sein Gesicht gesehen hatte. Er war derjenige, auf den sie gewartet hatte. Sie wollte zu ihm gehen... und wollte es doch wieder nicht. Sie war für ihn bestimmt, aber ihr graute vor ihm.
Dann war Joe gekommen und nach ihm Larry. Damit war alles äußerst kompliziert geworden. Sie fühlte sich wie der Preisring bei einem Wettbewerb im Tauziehen. Sie wußte, daß ihre Reinheit, ihre Jungfräulichkeit für den dunklen Mann irgendwie wichtig war. Wenn sie sich Larry hingab (oder einem anderen Mann), war der dunkle Zauberbann gebrochen. Und sie fühlte sich zu Larry hingezogen.
Sie hatte sich ihm bewußt hingeben, hatte es wieder einmal hinter sich bringen wollen. Sollte er sie haben, sollte es vorbei sein, sollte alles vorbei sein. Sie war müde, und Larry war richtig. Sie hatte zu lange auf den anderen gewartet, zu vi ele trockene Jahre lang.
Aber Larry war nicht richtig... schien es jedenfalls anfangs. Sie hatte seine ersten Avancen mit einer Art Verachtung abgetan, so wie eine Mähre eine Fliege mit dem Schweif verscheuchen mochte. Sie erinnerte sich, wie sie gedacht hatte: Wenn er nicht mehr zu bieten hat, wer kann mir zum Vorwurf machen, daß ich seinen Antrag ablehne?
Aber sie war ihm gefolgt. Das war eine Tatsache. Doch sie hatte sich verzweifelt gesehnt, andere Menschen zu finden, nicht nur wegen Joe, sondern weil sie schon fast soweit gewesen war, den Jungen zu verlassen und auf eigene Faust nach Westen zu gehen, um den Mann zu finden. Nur jahrelanges Pflichtgefühl gegenüber den Kindern, die ihrer Obhut anvertraut worden waren, hatte sie daran gehindert, das zu tun... und das Wissen, daß Joe auf sich allein gestellt sterben würde.
In einer Welt, in der so viele gestorben sind, ist es sicher die größte Sünde, weiteres Sterben herbeizuführen.
Und so war sie mit Larry gegangen, der immerhin besser als nichts oder niemand war.
Aber wie sich herausstellte, war viel mehr als nichts oder niemand an Larry Underwood dran, er war wie ein optische Täuschung (vielleicht sogar für sich selbst), wo das Wasser seicht aussieht, nur drei, vier Zentimeter tief, aber wenn man die Hand hineinstreckt, ist der Arm plötzlich bis zur Schulter naß. Wie er Joes Zuneigung gewonnen hatte, war eines. Wie Joe auf ihn ansprach, etwas anderes, und ihre wachsende Eifersucht auf die Beziehung zwischen Joe und Larry das dritte. In der Motorradvertretung in Wells hatte Larry dem Jungen die Finger beider Hände anvertraut und gewonnen.
Hätten sie nicht ihre volle Aufmerksamkeit auf den Deckel über dem Benzintank konzentriert, hätten sie sehen können, wie sie vor Überraschung den Mund aufklappte. Sie hatte dagestanden und sie beobachtet, hatte sich nicht bewegen können, den Blick einzig auf das helle Metall der Brechstange gerichtet und darauf gewartet, dass sie erst wackeln und dann wegkippen würde. Erst als es vorbei war, wurde ihr klar, daß sie auf die Schreie gewartet hatte. Der Deckel war offen und beiseite geklappt, und sie erkannte ihre Fehleinschätzung, einen geradezu fundamentalen Fehler ihrerseits. In diesem Fall hatte er Joe besser gekannt als sie, ohne besondere Ausbildung und schon nach kürzester Zeit. Sie begriff nur intuitiv, wie bedeutend der Vorfall mit der Gitarre gewesen war, wie schnell und grundlegend dieser Larrys Beziehung zu Joe bestimmt hatte. Und was lag im Mittelpunkt dieser Beziehung?
Selbstverständlich Abhängigkeit - was sonst hätte diesen plötzlichen Stromstoß der Eifersucht durch ihren ganzen Körper jagen können? Wenn Joe von Larry abhängig gewesen wäre, dann wäre das eine Sache gewesen, normal und akzeptabel. Sie war beunruhigt, weil Larry auch von Joe abhängig war und Joe auf eine Weise brauchte, wie sie nicht... und Joe wußte es.
Hatte sie Larrys Charakter falsch eingeschätzt? Jetzt glaubte sie, daß die Antwort darauf ja lautete. Dieses nervöse, selbstsüchtige Äußere war eine Larve, die vom vielen Gebrauch abgenutzt wurde. Allein die Tatsache, daß er sie während dieser weiten Reise alle zusammengehalten hatte, sprach für seine Entschlossenheit. Die Schlußfolgerung schien klar. Hinter der Entscheidung, mit Larry zu schlafen, war ein Teil von ihr immer noch diesem anderen Mann verpflichtet... und wenn sie mit Larry schlief, war das, als würde sie diesen Teil für immer abtöten. Sie war nicht sicher, ob sie das konnte.
Und inzwischen war sie nicht mehr die einzige, die von dem dunklen Mann träumte.
Das hatte sie erst beunruhigt, dann geängstigt. Als sie es mit Joe und Larry zu tun gehabt hatte, war es Angst gewesen; als sie Lucy Swann getroffen hatten und diese behauptete, sie habe dieselben Träume gehabt, wurde die Angst zu einer Art rasendem Entsetzen. Sie konnte sich nicht länger einreden, daß deren Träume sich nur wie ihre anhörten. Und wenn alle Überlebenden sie hatten? Wenn die Zeit des dunklen Mannes endlich gekommen war - nicht nur für sie, sondern für alle, die noch auf diesem Planeten lebten?
Mehr als alles andere löste dieser Gedanke widerstreitende Empfindungen von höchstem Entsetzen und starker Anziehung in ihr aus. Sie hatte sich fast panisch an den Gedanken an Stovington geklammert. Es stand allein durch die Natur seiner Funktion als Symbol der Normalität und Vernunft gegen die ansteigende Flut dunkler Magie ringsum. Aber Stovington war verlassen, ein Hohn auf den sicheren Hort, zu dem sie es in ihren Vorstellungen gemacht hatte. Das Symbol von Normalität und Vernunft, ein Totenhaus.
Während sie nach Westen fuhren und weitere Überlebende um sich scharten, war die Hoffnung, es könnte ohne Konfrontation für sie enden, erloschen. Sie erlosch, und Larry stieg in ihrer Wertschätzung. Er schlief jetzt mit Lucy Swann, aber was machte das schon? Über sie war entschieden. Die anderen hatten zwei entgegengesetzte Träume gehabt: der dunkle Mann und die alte Frau. Die alte Frau schien, genau wie der dunkle Mann, eine Art elementare Kraft zu verkörpern. Die alte Frau war der Kern, um den sich die anderen allmählich sammelten.
Nadine hatte nie von ihr geträumt.
Nur von dem dunklen Mann. Und während die Träume der anderen plötzlich so unerklärlich verblaßten, wie sie gekommen waren, schienen ihre eigenen an Kraft und Klarheit zuzunehmen. Sie wußte vieles, was die anderen nicht wußten. Der dunkle Mann hieß Randall Flagg. Diejenigen im Westen, die sich ihm widersetzt oder gegen sein Vorgehen Einwände erhoben hatten, waren entweder gekreuzigt oder irgendwie wahnsinnig gemacht und in den kochenden Hexenkessel des Death Valley geschickt worden. In San Francisco und Los Angeles gab es kleinere Gruppen von technisch versierten Leuten, aber das war nur vorübergehend; bald würden sie sich nach Las Vegas begeben, wo sich die Hauptmacht seiner Leute konzentrierte. Er hatte keine Eile. Der Sommer neigte sich dem Ende zu. Bald würden die Pässe der Rocky Mountains einschneien, und es gab zwar Schneepflüge, um sie freizumachen, aber nicht genügend warme Leiber, um die Pflüge zu bemannen. Ein langer Winter würde folgen, in dem sie sich konsolidieren konnten. Und im nächsten April... oder Mai...
Nadine lag im Dunkeln und sah zum Himmel empor.
Boulder war ihre letzte Hoffnung. Die alte Frau war ihre letzte Hoffnung. Die Normalität und Vernunft, die sie in Stovington zu finden gehofft hatte, schien sich in Boulder abzuzeichnen. Sie waren die Guten, dachte sie, die Guten; könnte es doch auch für sie so einfach sein, die sie sich in einem verrückten Netz widerstreitender Begierden verfangen hatte.
Über allem erklang wie ein vorherrschender Akkord ihr fester Glaube, daß Mord in einer so dezimierten Welt die schwerste Sünde war, und ihr Herz sagte ihr deutlich und bestimmt, daß der Tod Randall Flaggs Geschäft war. Aber oh, wie sehnte sie sich nach seinem kalten Kuß - viel mehr als nach den Küssen des Jungen von der High School oder des Jungen vom College... mehr sogar, fürchtete sie, als nach Larry Underwoods Küssen und Umarmungen.
Morgen werden wir in Boulder sein, dachte sie. Vielleicht werde ich dann wissen, ob die Reise zu Ende ist oder...
Eine Sternschnuppe zog ihre Feuerspur am Himmel, und wie ein kleines Kind wünschte sie sich etwas.