29

Am selben Abend, als Larry Underwood mit Rita Blakemoor schlief und Frannie Goldsmith allein schlief und ihren sonderbaren, geheimnisvollen Traum träumte, wartete Stuart Redman auf Eider. Er hatte schon drei Tage auf ihn gewartet - und heute abend enttäuschte Eider ihn nicht.

Am Vierundzwanzigsten gleich nach Mittag waren Eider und zwei Pfleger gekommen und hatten das Fernsehgerät abgeholt. Die Pfleger hatten es von der Wand genommen, während Eider seinen Revolver (säuberlich in eine Plastikhülle gewickelt) auf Stu gerichtet hielt. Zu der Zeit wollte und brauchte Stu das Fernsehgerät nicht mehr - es wurde ohnehin nur noch jede Menge verworrener Mist gesendet. Er konnte nur noch an seinem vergitterten Fenster sitzen und auf die Stadt und den Fluß hinuntersehen. Wie der Mann auf der Schallplatte sagte, »you don't need a weatherman to know which way the wind blows« - man braucht keinen Meteorologen, um zu wissen, woher der Wind weht.

Aus den Schornsteinen der Textilfabrik quoll kein Rauch mehr. Die fröhlichen Streifen und Flecken der Farben auf dem Fluß waren verschwunden, das Wasser floß wieder klar und sauber. Die meisten Autos, die aus der Entfernung wie, glitzerndes Spielzeug aussahen, hatten den Parkplatz der Textilfabrik verlassen und waren nicht zurückgekehrt. Gestern, am Sechsundzwanzigsten, fuhren nur noch wenige Autos auf der Mautstraße, und diese wenigen mußten wie Skiläufer bei einem Slalomrennen um die liegengebliebenen Wagen herumfahren. Kein Abschleppwagen war gekommen, um die Fahrzeuge wegzuschaffen.

Das Gebiet der Innenstadt breitete sich wie eine Reliefkarte unter ihm aus, und es wirkte völlig menschenleer. Die Turmuhr, die die Stunden seiner Gefangenschaft gezählt hatte, war seit heute morgen um neun Uhr verstummt, als die kleine Melodie, die jedem Stundenschlag vorausging, schon langgezogen und seltsam geklungen hatte, wie eine Melodie, die unter Wasser von einer absaufenden Musicbox gespielt wurde. Außerhalb der Stadt war in einem Gebäude, das aussah wie ein Cafe oder ein kleines Kaufhaus, ein Feuer ausgebrochen. Es hatte den ganzen Nachmittag wie verrückt gebrannt, schwarzer Qualm war in den blauen Himmel gestiegen, aber keine Feuerwehrfahrzeuge waren zum Löschen gekommen. Wenn das Gebäude nicht mitten auf einem asphaltierten Parkplatz gestanden hätte, vermutete Stu, dann hätte die halbe Stadt in Flammen aufgehen können. Heute abend rauchten die Trümmer immer noch, obwohl es am Nachmittag geregnet hatte. Stu nahm an, daß Eiders letzter Auftrag darin bestand, ihn zu töten. Warum auch nicht? Er wäre nur eine weitere Leiche, und er kannte ihr kleines Geheimnis. Es war ihnen nicht gelungen, ein Gegenmittel zu entwickeln oder festzustellen, welche körperliche Besonderheit ihn von allen denen unterschied, die der Krankheit erlegen waren. Der Gedanke, daß es wahrscheinlich nur noch verschwindend wenig Menschen gab, denen er ihr Geheimnis hätte mitteilen können, hatte wahrscheinlich keinen Eingang in ihre Berechnungen gefunden. Er war ein loser Faden, der von einer Bande dummer Arschlöcher als Geisel gehalten wurde.

Stu war sicher, daß dem Helden einer Fernsehserie oder eines Romans eine Fluchtmöglichkeit eingefallen wäre, sogar ein paar Leuten im wirklichen Leben, aber zu diesen Leuten gehörte er nicht. Zuletzt hatte er in einer Art panischer Resignation beschlossen, ganz einfach auf Eider zu warten, allzeit bereit., Eider war das beste Indiz dafür, daß auch dieses Institut von der Krankheit infiltriert war, die yom Personal manchmal als »Blau« und manchmal als »Supergrippe« bezeichnet wurde. Die Schwestern nannten ihn Dr. Eider, aber er war kein Doktor. Er war Mitte Fünfzig, hatte eiskalte Augen und war völlig humorlos. Keiner der Ärzte vor Eider hatte es für nötig gehalten, eine Waffe auf ihn zu richten. Eider machte Stu angst, denn einem solchen Mann konnte man weder mit vernünftigen Argumenten noch mit Bitten kommen. Eider wartete auf Befehle. Wenn sie eintrafen, würde er sie ausführen. Er war ein Lanzenträger, die Armee-Version eines Mafia-Killers, und es würde ihm nie einfallen, seine Befehle im Lichte der tatsächlichen Ereignisse zu hinterfragen.

Vor drei Jahren hatte Stu ein Buch mit dem Titel Watership Down gekauft, das er einem Neffen in Waco schicken wollte. Er hatte einen Karton geholt, um das Buch einzupacken, aber da ihm Geschenkeeinpacken noch mehr mißfiel als Lesen, hatte er die erste Seite aufgeschlagen und gedacht, will doch mal nachsehen, um was es geht. Er hatte die erste Seite gelesen, dann die zweite... und dann war er gebannt gewesen. Er war die ganze Nacht wach geblieben, hatte Kaffee getrunken, Zigaretten geraucht und sich zäh durchgebissen, wie es ein Mann eben macht, der nicht daran gewöhnt ist, zur Unterhaltung zu lesen. Wie sich herausstellte, handelte das Buch von Kaninchen, Herrgott noch mal. Die dümmsten, feigsten Tiere auf Gottes Erde... aber der Bursche, der das Buch geschrieben hatte, schilderte sie anders. Man mochte sie wirklich. Es war eine verdammt gute Geschichte, und Stu, der im Schneckentempo las, hatte sie zwei Tage später durch.

Am deutlichsten blieb ihm ein Ausdruck aus dem Buch im Gedächtnis: »tharn werden« oder einfach nur »tharn«. Das begriff er sofort, denn er hatte jede Menge Tiere gesehen, die tharn geworden waren, und er hatte auch schon welche auf dem Highway überfahren. Ein Tier, das tharn geworden war, kauerte mit angelegten Ohren mitten auf der Straße, sah dem Auto entgegen, das dahergerast kam, und konnte dem sicheren Tod nicht entfliehen. Ein Hirsch konnte schon tharn werden, wenn ihm Autoscheinwerfer in die Augen leuchteten. Laute Musik wirkte bei einem Waschbären, unablässiges Pochen gegen den Käfig bei einem Papagei. Eider vermittelte Stu genau dieses Gefühl. Stu sah ihm in die kalten blauen Augen und spürte, wie jegliche Willenskraft aus ihm wich. Wahrscheinlich brauchte Eider nicht einmal die Pistole, um ihn loszuwerden.

Elder hatte wahrscheinlich den schwarzen Gurt in Karate, Savate und obendrein jede Menge schmutzige Tricks auf Lager. Was konnte er gegen so einen Mann schon ausrichten? Wenn er nur an Eider dachte, spürte er die Willenskraft entweichen, es auch nur zu versuchen. Tharn. Ein gutes Wort für eine schlimme geistige Verfassung.

Kurz nach 22.00 Uhr ging das rote Licht über der Tür an, und Stu spürte, wie ihm auf Armen und Gesicht der Schweiß ausbrach. So war es jedesmal, wenn das rote Licht anging, denn irgendwann einmal würde Eider alleine kommen. Er würde alleine kommen, weil er keine Zeugen wollte. Irgendwo würde es ein Krematorium geben, um die Opfer der Seuche zu verbrennen. Eider würde ihn verschnüren und hineinschieben. Zack. Kein loses Rädchen mehr. Eider kam zur Tür herein. Allein.

Stu saß auf dem Bett und hatte eine Hand auf der Stuhllehne liegen. Als er Eider sah, hatte er das schon vertraute, unangenehme Gefühl im Magen. Er verspürte den altbekannten Drang, eine ganze Sturzflut stammelnder, flehentlicher Worte hervorzustoßen, obwohl er wußte, daß dieses Flehen ihm nichts nützen würde. Das Gesicht hinter dem transparenten Helmvisier des weißen Anzugs war keines Mitleids fähig.

Jetzt erschien ihm alles sehr klar, sehr farbig, sehr langsam. Er konnte fast hören, wie seine Augen sich in den feuchten Höhlen drehten, während er Eider mit Blicken ins Zimmer folgte. Er war ein großer, kräftiger Mann, und der weiße Anzug saß zu knapp an ihm. Das Loch am Ende seiner Pistole war so groß wie ein Tunneleingang.

»Wie geht es Ihnen?« fragte Eider, und selbst durch den blechern klingenden Lautsprecher hörte Stu den näselnden Klang von Eiders Stimme. Eider war krank.

»Wie immer«, sagte Stu und war erstaunt darüber, wie gelassen seine Stimme klang. »Sagen Sie, wann komme ich hier raus?«

»Bald«, sagte Eider. Er hielt die Pistole auf Stus ungefähre Richtung, nicht direkt auf ihn, aber auch nicht ganz weg. Er unterdrückte ein Niesen. »Sie sind nicht sehr gesprächig, was?«

Stu zuckte die Achseln.

»Das schätze ich an einem Mann«, sagte Eider. »Schwätzer sind allesamt Jammerlappen, Schwächlinge und Heulsusen. Was Sie betrifft, Mr. Redman, habe ich vor zwanzig Minuten meine Befehle bekommen. Keine wahnsinnig tollen Befehle, aber ich glaube, Sie werden es durchstehen.«

»Was für Befehle?«

»Nun, man hat mir befohlen...«

Stus Blick zuckte über Eiders Schulter hinweg zum genieteten Rahmen der Luftschleuse. »Allmächtiger!« rief er. »Eine Ratte, was ist denn das für ein Laden, wo es Ratten gibt?«

Eider drehte sich um, und Stu war so überrascht vom Erfolg seiner List, daß er beinahe nicht weitergemacht hätte. Dann glitt er vom Bett und packte die Stuhllehne mit beiden Händen, während Eider sich wieder zu ihm umdrehte. Eiders Augen waren plötzlich groß und ängstlich. Stu hob den Stuhl über den Kopf, kam vorwärts, schlug damit zu und legte jedes Gramm seiner neunzig Kilo hinein.

»Zurück!« schrie Eider. »Nicht...«

Der Stuhl traf krachend seinen rechten Arm. Aus der Pistole löste sich ein Schuß, der Plastikbeutel zerriß und die Kugel prallte heulend vom Fußboden ab. Dann fiel die Pistole auf den Teppich. Stu fürchtete, daß er nur noch einen Schlag mit dem Stuhl landen konnte, bevor Eider sich wieder erholt hatte. Eider wollte den gebrochenen rechten Arm heben, konnte es aber nicht. Ein Stuhlbein krachte auf den Helm des weißen Anzugs. Das Plastikvisier splitterte, Eider in Augen und Nase hinein. Er schrie auf und fiel nach hinten.

Er rollte sich auf alle viere, um an die Pistole zu kommen, die auf dem Teppich lag. Stu schwang den Stuhl ein letztes Mal und schmetterte ihn auf Eiders Hinterkopf. Eider brach zusammen. Keuchend bückte Stu sich und hob die Pistole auf. Er trat zurück und richtete sie auf die liegende Gestalt, aber Eider bewegte sich nicht. Einen Augenblick später quälte ihn ein alptraumhafter Gedanke: Wenn Eiders Befehl nun gelautet hatte, ihn freizulassen, nicht zu erschießen? Aber das wäre unsinnig, oder? Wenn Eider den Befehl erhalten hatte, ihn freizulassen, wozu dann das Geschwätz über Wimmern und Winseln? Warum hätte er dann von »keinen wahnsinnig tollen« Befehlen sprechen sollen?

Nein - Eider war hergeschickt worden, um ihn umzubringen. Stu betrachtete zitternd die Gestalt am Boden. Wenn Eider jetzt aufstand, überlegte Stu, würde er ihn wahrscheinlich auf kürzeste Entfernung mit allen fünf Kugeln verfehlen. Aber er glaubte nicht, daß Eider aufstehen würde. Jetzt nicht; überhaupt nie mehr. Plötzlich war der Wunsch, hier wegzukommen, so übermächtig, dass er beinahe blind durch die Luftschleuse und in den angrenzenden Raum gestolpert wäre. Er war seit über einer Woche eingesperrt, jetzt wollte er nur noch frische Luft atmen und weit, weit weg von diesem gräßlichen Gefängnis.

Aber er mußte vorsichtig sein.

Stu ging zur Luftschleuse, trat hinein und drückte einen Knopf mit der Aufschrift MECHANISMUS. Eine Pumpe sprang an, lief kurze Zeit, dann ging die äußere Tür auf. Dahinter lag ein kleiner Raum, der nur mit einem Schreibtisch möbliert war. Draußen lagen ein dünner Stoss medizinischer Diagramme... und seine Kleidungsstücke. Diejenigen, die er auf dem Flug von Braintree nach Atlanta getragen hatte. Der kalte Finger des Grauens berührte ihn wieder. Diese Sachen wären zweifellos mit ihm zusammen im Krematorium gelandet. Medizinische Unterlagen, seine Kleidung. Leb wohl, Stuart Redman. Stuart Redmann wäre zur Unperson geworden. Sogar... Stu hörte ein leises Geräusch hinter sich und fuhr herum. Eider taumelte gebückt auf ihn zu und ließ dabei die Arme schlaff herunterhängen. Ein gezackter Plastiksplitter steckte in einem bluttriefenden Auge. Eider lächelte.

»Stehenbleiben!« sagte Stu. Er zielte mit der Pistole, aber obwohl er sie mit beiden Händen hielt, zitterte der Lauf.

Eider schien nichts gehört zu haben. Er kam weiter auf Stu zu. Stu verzog das Gesicht und drückte ab. Die Pistole ruckte in seinen Händen. Eider blieb stehen. Das Lächeln war zur Grimasse geworden, als hätte er plötzlich schmerzhafte Blähungen. Jetzt hatte sein weißer Anzug vorn an der Brust ein kleines Loch. Einen Augenblick schwankte er, dann brach er zusammen. Stu konnte ihn einen Moment nur entsetzt anstarren und stolperte dann in den Raum, wo seine persönlichen Habseligkeiten auf dem Schreibtisch gestapelt waren.

Er probierte die Tür am anderen Ende des Büros, die sich öffnen ließ. Hinter dem Büro lag ein von gedämpften Neonleuchten erhellter Gang. Auf halbem Weg zu den Fahrstühlen, wahrscheinlich vor der Schwesternstation, stand ein leerer Medikamentenwagen. Er konnte ein schwaches Stöhnen hören. Jemand hustete, ein rauher, würgender Laut, der nicht mehr aufzuhören schien.

Er ging ins Büro zurück, sammelte seine Sachen auf und klemmte sie sich unter den Arm. Dann ging er hinaus, machte die Tür hinter sich zu und schritt den Korridor hinunter. Seine Hand schwitzte am Griff von Eiders Pistole. Als er den Wagen erreicht hatte, drehte er sich um, weil Stille und Einsamkeit ihn nervös machten. Der Huster hatte aufgehört. Stu rechnete immer noch damit, daß Eider hinter ihm herkriechen oder -schleichen würde, um seinen letzten Befehl auszuführen. Er ertappte sich dabei, daß er sich nach den geschlossenen und vertrauten Dimensionen seiner Zelle zurücksehnte.

Das Stöhnen setzte wieder ein, diesmal lauter. Bei den Fahrstühlen verlief ein zweiter Korridor im rechten Winkel zu diesem, und dort lehnte ein Mann an der Wand, in dem Stu einen seiner Pflege r erkannte. Sein Gesicht war geschwollen und schwarz, die Brust hob und senkte sich in kurzen Stößen. Als Stu ihn ansah, fing er wieder an zu stöhnen. Hinter ihm lag, in Embryohaltung zusammengerollt, ein Toter. Weiter unten im Gang lagen drei weitere Leichen, darunter eine Frau. Der Pfleger - Vic, erinnerte sich Stu, sein Name war Vic - fing wieder an zu husten.

»Herrgott«, sagte Vic. »Herrgott, was machen Sie hier draußen? Sie dürfen nicht raus.«

»Eider kam und wollte sich meiner annehmen, aber ich habe mich statt dessen seiner angenommen«, sagte Stu. »Ich hatte Glück, dass er krank war.«

»Heiliger Strohsack. Kann man wohl sagen, daß Sie Glück hatten«, sagte Vic, und ein neuerlicher Hustenanfall, wenn auch ein etwas schwächerer, schüttelte seine Brust. »Das tut weh, Mann, Sie glauben gar nicht, wie weh das tut. Es ist alles total versaut. Verdammte Scheiße!«

»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte Stu linkisch.

»Wenn Sie es ernst meinen, können Sie mir den Lauf ins Ohr stecken und abdrücken. Ich huste mich innerlich in Fetzen.« Er fing wieder an zu husten.

Aber Stu konnte das nicht, und als Vics Stöhnen kein Ende nehmen wollte, verlor er die Nerven. Er lief zu den Fahrstühlen, weg von diesem schwarzen Gesicht, das aussah wie der Mond bei einer halben Finsternis, und rechnete fast damit, daß Vic ihm in dem schrillen und quengelnd rechtschaffenen Ton etwas hinterherrufen würde, den Kranke immer anzuschlagen scheinen, wenn sie etwas von Gesunden wollen. Aber Vic stöhnte nur weiter, und das war irgendwie schlimmer.

Die Fahrstuhltür hatte sich schon geschlossen, und die Kabine fuhr nach unten, als Stu plötzlich daran dachte, daß eine Falle eingebaut sein könnte. Das würde ihnen ähnlich sehen. Vielleicht Giftgas oder eine Schaltung, die die Kabel lösen und den Lift abstürzen und unten zerschmettern lassen würde. Er trat in die Mitte der Kabine und sah sich nervös nach verborgenen Ventilen oder Schlitzen um. Klaustrophobie liebkoste ihn mit ihrer Gummihand, und plötzlich schien der Fahrstuhl nicht größer als eine Telefonzelle zu sein, dann eng wie ein Sarg. Jemand an einer vorzeitigen Beerdigung interessiert?

Er streckte einen Finger zum Nothalt-Knopf aus, aber dann fragte er sich, was es bringen würde, zwischen zwei Etagen steckenzubleiben. Bevor er diese Frage beantworten konnte, kam der Fahrstuhl weich und ganz normal zum Stillstand.

Wenn draußen nun bewaffnete Männer stehen?

Aber die einzige Wache, die er sah, als die Tür zurückglitt, war eine tote Frau in Schwesterntracht. Sie lag in Embryohaltung vor einer Tür mit der Aufschrift DAMEN.

Stu betrachtete sie so lange, daß die Tür sich wieder schloß. Er streckte die Hand hindurch, und die Tür glitt gehorsam wieder zurück. Er trat nach draußen. Der Korridor führte zu einer T-förmigen Abzweigung, und er ging darauf zu, wobei er einen weiten Bogen um die tote Schwester machte.

Er hörte ein Geräusch hinter sich, fuhr herum und riß die Pistole hoch. Aber es war nur die Fahrstuhltür, die sich zum zweiten Mal schloß. Er betrachtete sie einen Augenblick, schluckte heftig und ging weiter. Die Gummihand war wieder da und spielte Melodien am Ansatz seines Rückgrats und sagte ihm: Scheiß darauf, unauffällig und langsam zu gehen; verschwinden wir von hier, bevor jemand... etwas... uns noch erwischen kann. Das Echo seiner Schritte im halbdunklen Korridor des Verwaltungsflügels weckte zu sehr Gedanken an makabere Gesellschaft - Kommst du zum Spielen, Stuart? Sehr gut. Türen mit Ornamentglasscheiben zogen an ihm vorüber, und jede erzählte ihre eigene Geschichte:

DR. SLOANE. AKTEN UND ABSCHRIFTEN.

MR.BALLINGER. MIKROFILME.

REGISTRATUR. MRS.WIGGS.

An der T-förmigen Abzweigung war ein Trinkbrunnen, aber der warme Chlorgeschmack des Wassers drehte ihm den Magen um. Links war kein Ausgang; auf einem Schild an der Fliesenwand, von dem ein orangefarbener Pfeil nach unten zeigte, stand BIBLIOTHEK. Auf dieser Seite schien der Korridor meilenweit zu verlaufen. Etwa fünfzig Meter weiter lag der Leichnam eines Mannes im weißen Anzug, wie ein seltsames Tier, das an eine steile Küste gespült worden war.

Er verlor langsam die Übersicht. Die Anlage war viel größer, als er sich vorgestellt hatte. Nicht, daß er sich nennenswert viel hätte vorstellen können, schließlich hatte er seit seiner Einlieferung kaum etwas gesehen - zwei Korridore, einen Fahrstuhl, ein Zimmer. Jetzt vermutete er, daß das Ganze die Ausmaße eines Großstadtkrankenhauses haben mußte. Er könnte stundenlang hier herumstolpern, wo seine Schritte hallten und Echos erzeugten, und ab und zu über einen Leichnam stolpern. Die lagen hier verstreut wie Preise bei einer grausigen Schatzsuche. Er erinnerte sich noch daran, daß er Norma, seine Frau, in ein großes Krankenhaus in Houston gebracht hatte, als man bei ihr Krebs feststellte. Wohin man dort auch ging, überall hingen kleine Pläne an den Wänden, wo Pfeile auf einen Punkt deuteten. Auf jedem Pfeil standen die Worte: SIE BEFINDEN SICH HIER. Sie hatten sie angebracht, damit die Leute sich nicht verirrten. Wie er jetzt. Er hatte sich verirrt. O Mann, das war schlimm. Das war so schlimm.

»Jetzt werd bloß nicht tharn, du hast es fast geschafft«, sagte er, und seine Worte hallten fremd und tonlos wider. Er hatte nicht laut sprechen wollen, das machte es noch schlimmer.

Er wandte sich nach rechts und ließ den Bibliothekstrakt hinter sich liegen, ging an weiteren Büros vorbei und kam zu einem anderen Korridor und bog dort ein. Er sah sich immer häufiger um und vergewisserte sich, daß ihm niemand folgte - Eider vielleicht -, konnte es aber kaum glauben. Der Korridor endete an einer geschlossenen Tür mit der Aufschrift RADIOLOGIE. Am Türknauf hing ein handgeschriebenes Schild:

BIS AUF WEITERES GESCHLOSSEN. RANDALL.

Stu ging zurück und spähte um die Ecke in die Richtung, aus der er gekommen war. Der Leichnam im weißen Anzug sah aus der Entfernung winzig aus, wenig mehr als ein Fleck, aber als er ihn dort so unveränderlich und für alle Ewigkeit liegen sah, wollte er nur so schnell wie möglich weglaufen.

Er ging nach rechts und ließ ihn wieder hinter sich liegen. Knapp zwanzig Meter weiter endete der Flur wieder in einer T-förmigen Abzweigung. Stu bog rechts ein und ging an weiteren Büros vorbei. Der Korridor führte zum mikrobiologischen Labor. In einer der Laborkabinen war ein junger Mann in kurzen Hosen am Schreibtisch zusammengesunken. Er war im Koma und blutete aus Nase und Mund. Sein Atem rasselte wie Wind, der durch tote Maishülsen weht. Und dann fing Stu an zu laufen, von einem Korridor in den anderen, und kam immer mehr zu der Überzeugung, daß es keinen Ausgang gab, wenigstens nicht auf dieser Ebene. Das Echo seiner Schritte verfolgte ihn, als hätte entweder Eider oder Vic noch lange genug gelebt, um ihm eine Geisterschwadron MPs auf den Hals zu hetzen. Dann wurde das von einer anderen Vorstellung verdrängt, die er irgendwie mit den seltsamen Träumen der letzten paar Nächte in Verbindung brachte. Diese Vorstellung wurde so übermächtig, dass er Angst davor hatte, sich umzudrehen und eine Gestalt im weißen Anzug zu sehen, die ihn verfolgte, eine weißgekleidete Gestalt ohne Gesicht, hinter deren Plexiglashelmvisier nur Schwärze zu sehen war. Eine entsetzliche Erscheinung, ein Killer von jenseits jeglicher Vernunft in Zeit und...

Keuchend bog Stu um eine Ecke und lief etwa zehn Schritte, bis er merkte, daß der Korridor eine Sackgasse war, und gegen eine Tür prallte, über der ein Schild hing. Auf dem Schild stand AUSGANG. Er drückte gegen den Riegel und war überzeugt, daß dieser sich nicht rühren würde, aber er ließ sich leicht öffnen. Stu ging vier Stufen zu einer weiteren Tür hinunter. Links vom Treppenabsatz führte eine andere Treppe in dichte Dunkelheit hinab. Die obere Hälfte der zweiten Tür hatte eine mit Drahtgitter verstärkte Glasscheibe. Dahinter lag nur die Nacht, die wunderschöne milde Sommernacht, und alle Freiheit, von der ein Mann nur träumen kann. Stu sah gebannt nach draußen, als eine Hand aus der Dunkelheit der Treppe schnellte und ihn am Knöchel packte. Ein Schrei zerkratzte Stus Hals wie ein Dorn. Er drehte sich um - sein Magen war eine treibende Eisscholle - und erblickte ein aus der Dunkelheit heraufstarrendes blutiges und grinsendes Gesicht.

»Komm runter und laß uns zusammen bibbern, schöner Knabe«, flüsterte es mit gebrochener, sterbender Stimme. »Es ist ja soooooo dunkel...«

Stu kreischte und versuchte sich loszureißen. Das grinsende Ding aus der Dunkelheit aber hielt ihn fest und redete und grinste und kicherte. Blut oder Kotze floß ihm aus den Mundwinkeln. Stu trat gegen die Hand, die seinen Knöchel festhielt, dann stampfte er darauf. Das Gesicht, das im Dunkel des Treppenschachts schwebte, verschwand. Eine Reihe polternder Geräusche waren zu hören... dann fingen die Schreie an. Ob Schreie des Schmerzes oder Schreie der Wut, wußte Stu nicht. Es war ihm auch einerlei. Er warf sich mit der Schulter gegen die äußere Tür. Sie flog auf, und er taumelte nach draußen, wild mit den Armen rudernd, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er verlor es trotzdem und stürzte auf den betonierten Weg.

Er richtete sich langsam, fast argwöhnisch auf. Die Schreie hinter ihm waren verstummt. Ein kühler Abendwind strich ihm übers Gesicht und trocknete den Schweiß auf seiner Stirn. Er stellte beinahe erstaunt fest, daß hier Rasen und Blumenbeete angelegt waren. Noch nie hatte eine Nacht so angenehm für ihn geduftet. Eine Mondsichel beherrschte den Himmel. Stu sah dankbar nach oben, dann ging er über den Rasen zur Straße, die in die Stadt Stovington hinunterführte. Das Gras war taubenetzt. Er konnte den Wind in den Fichten flüstern hören.

»Ich lebe«, rief Stu Redman in die Nacht. Er fing an zu weinen. »Ich lebe, Gott sei Dank, ich lebe, ich danke dir, Gott, ich danke dir, Gott, ich danke dir...«

Leicht schwankend machte er sich auf den Weg die Straße hinunter.

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